Der gegenwärtig viel diskutierte Terrorismus von rechts in der Bundesrepublik wird auf seine historischen Vorläufer seit 1918/19 hin befragt. Dabei lassen sich mehrere Organisationsprinzipien der Gewalt von rechts nachzeichnen: Attentate, Putschismus und der von der SA geprägte „Kampf um die Straße“ sind die dominierenden Erscheinungsformen in der Weimarer Republik. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus als institutionalisiertem Terrorsystem von rechts gibt es in der Bundesrepublik 1959/60 wieder Anzeichen rechter Gewalt: Rie antisemitischen Ausschreitungen waren gekennzeichnet von provokativen Formen der Gewalt. Die Aktivitäten des NPD-Ordnerdienstes 1968/69 und die neonazistischen Gewalttätigkeiten nach 1975 werden als radikalisierte Formen rechtsextremer Militanz interpretiert, die sich in je spezifischer Weise auf die historischen Vorläufer beziehen. Im zweiten Teil werden die derzeit gebräuchlichen Ansatzpunkte zur Analyse rechtsextremer Gewalt Überblickshaft vorgestellt und auf ihre Aussagenreichweite hin überprüft, wobei einige Untersuchungen zum Linksterrorismus einbezogen werden. Das Fazit plädiert für eine Neubetrachtung des (Rechts-) Terrorismusproblems: Nicht die isolierte Aktion, sondern das wechselseitige Zusammenspiel von terroristischen Handlungen, Reaktionen des Staates, der Bevölkerung und des kulturellen Systems ist zu einem Strukturproblem in der Terrorismus-Frage geworden. Dieses Wechselspiel, interpretiert als Interaktionssystem, bedarf verstärkter Aufmerksamkeit.
Einleitung
Die in den letzten Jahren ansteigende Bereitschaft von Rechtsextremisten, offene Gewalt als politisches Mittel anzuwenden, beunruhigt die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Es sind jedoch weniger die jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder, journalistische Hintergrundberichte und sozialwissenschaftliche Analysen, sondern vielmehr spektakuläre Ereignisse kriminellen Zuschnitts, welche das öffentliche Interesse beschäftigen: Der Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest im Herbst 1980, mutmaßlich von einem Sympathisanten der verbotenen Wehrsportgruppe Hoffmann verübt, die Schießerei an der Schweizer Grenze Ende desselben Jahres, als der 23 jährige Neonazi Frank Schubert Selbstmord beging, nachdem er zwei Schweizer Grenzbeamte getötet hatte, Anschläge von „Deutschen Aktionsgruppen''auf Ausländerund Asylantenwohnheime und Waffenfunde in der Lüneburger Heide mit anschließender Selbsttötung des Hauptbeschuldigten stellen einige Höhepunkte dieser Entwicklung in den vergangenen Jahren dar. Die am stärksten auf offene Gewaltbereitschaft ausgerichtete Organisation dieses politischen Lagers, die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit" (VSBD/PdA) ist Ende Januar 1982 einschließlich ihrer Jugendorganisation Junge Front“ vom Bundesinnenminister verboten worden, unter anderem deshalb, weil — so eine Erklärung des Ministeriums — „ihre Aktivitäten nicht länger hingenommen werden (konnten), um so mehr, als sie durch eine zunehmend militante Haltung im rechtsextremistischen Lager eine Signalund Sogwirkung ausübt"
Die jüngsten Eskalationen manifester politischer Gewaltanwendung sind nicht beschränkt auf die Bundesrepublik: In durchaus unterschiedlichen Darstellungsformen ist vor allem Italien, wo Teile des rechten Protestpotentials eine — wie der Bombenanschlag auf den Bahnhof in Bologna im August 1980 unterstreicht — den roten Brigaden verwandte Strategie des Terrorismus anwenden, davon betroffen. In Spanien läßt die Besetzung des Parlaments mit Waffengewalt im Februar 1981 auf ungebrochene Traditionen der Franco-Herrschaft in Kreisen des Militärs schließen. Auf den ersten Blick ganz anders, wenn auch nicht weniger besorgniserregend, verläuft die Entwicklung in England, wo das Immigrantenproblem verschiedene Formen rassistischen Terrors gegen farbige Einwanderer hervorgebracht hat. In einer vom britischen Innenminister Whitelaw im November 1981 herausgegebenen Studie über politische Gewalttaten aus rassischen Gründen wird darauf hingewiesen, daß die Mehrzahl der Gewalttäter von rechtsextremen Ideen und Organisationen beeinflußt, jedoch nicht Mitglied in derartigen Vereinigungen ist
Damit ist auf ein Kernproblem der stichwortartig skizzierten Entwicklungen verwiesen: Es handelt sich hierbei um Eskalationen einer rechtsextremen Militanz, die in ihrer sozialen Basis und ihren potentiellen Resonanzfeldern weit über die bloße Mitgliedschaft in Parteien und sonstigen Vereinigungen hinausgeht und tieferliegende politische, gesellschaftliche und historische Ursachen hat. Die angesprochenen Vorfälle sind in einer bestimmten Weise die „Spitze eines Eisbergs“, die darunterliegenden Konturen sind nur wenig bekannt. Ihnen ist politisch sehr viel schwerer zu begegnen als den offenen und sichtbaren kriminellen Gesetzesverstößen. Seit 1976 gibt es einen Infor-mations-und Planungsaustausch zwischen den EG-Staaten, der die internationale Bekämpfung des Terrorismus unter ausdrücklicher Einbeziehung auch des Terrorismus von rechts erleichtern soll Auf der Ebene der multilateralen politischen Koordination sind damit Konsequenzen gezogen worden, welche darauf hinauslaufen, künftige Eskalationen einzudämmen, die aber als solche nicht geeignet sind, strukturell bedingte Ursachen wirksam zu erkennen und zu bekämpfen.
Die folgenden Bemerkungen gehen davon aus, daß der gebräuchliche Terminus eines „Terrorismus" von rechts, nicht nur durch die begriffliche Anspielung auf das Pendant von links, in seiner analytischen Qualität, d. h. in der Fähigkeit, reale Erscheinungen begrifflich möglichst genau zu erfassen, problematisiert werden muß, denn er unterstellt eine durch Analogien zum Linksterrorismus hergestellte Qualität offenen Protests von rechts, die in dieser analogischen Vereinfachung nicht aufgeht. Seine Einführung in den öffentlichen Sprachgebrauch ist ganz wesentlich durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes beschleunigt und legitimiert worden: Im November 1979 entschied das Gericht in einem Grundsatzurteil, daß im Falle des Neonazi Michael Kühnen eine Anklage der Bundesanwaltschaft wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung aufgrund bloßer Mitgliedschaft zulässig ist Auf der Ebene der Strafverfolgung war damit, ebenso wie schon zuvor auf der des internationalen Informations-und Planungsaustauschs, eine Gleichbehandlung „rechter" mit „linken" Terroristen legitimiert. Zugleich ist damit aber auch eine problematische Verlängerung von strafrechtlich relevanten Interpretationen im Sinne einer Gleichbehandlung der Terroristen von links und rechts auf die Ebene von Alltagswahrnehmungen und -deutungsmustern absehbar. Mit dieser eigentümlichen Aufwertung der Gewalt von rechts zeichnet sich aber auch eine Verzerrung politischer Sachverhalte ab: Nicht die offen sichtbare, spektakuläre kriminelle Aktion ist eine Gefahr für die Demokratie, sondern die dahinterliegenden soziokulturellen Milieus sowie historische Strukturen und Antriebskräfte. Nicht nur die vereinzelten, in den Massenmedien geradezu unzulässig aufgewerteten kriminellen Gewalttaten verlangen nach Gegenwehr, sondern auch diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen bedürfen verstärkter Aufmerksamkeit, die dies erst zulassen oder gar stimulieren.
Der Begriff „Rechtsterrorismus“ ist also neueren Datums, nicht aber der Terror von rechts. Davon ausgehend skizzieren die folgenden Ausführungen verschiedene historische Stadien und Kontinuitäten in der Entwicklung rechtsextremer Gewaltanwendung, um so verschiedene Strategien und Aktionsformen, aber auch zugrundeliegende politische und gesellschaftliche Ursachen wenigstens in Umrissen zu rekonstruieren. Das Ziel ist nicht eine umfassende Sozialgeschichte der Gewalt von rechts, sondern der exemplarische Nachweis verschiedenartiger Organisationsprinzipien, in denen sich die Preisgabe demokratischer Spielregeln abbildet und die somit als Fundament für theoretische Betrachtungen angesehen werden müssen. Ein daran anschließender Überblick über theoretische Erklärungsansätze soll über die wesentlichen, gegenwärtig in der Rechtsextremismusforschung diskutierten Fragestellungen und Untersuchungsperspektiven orientieren. Eine zentrale Ausgangsüberlegung ist die Annahme, daß Erscheinungsformen der zeitgenössischen rechtsextremen Militanz historischen Vorbildern folgen, ohne deren Kenntnis eine abgewogene Beurteilung aktueller Vorgänge nicht möglich ist. Rechtsextremismus in unseren Tagen ist vor allem ein Problem der politischen Kultur und das heißt: sehr viel stärker traditionsgebunden, als dies gemeinhin angenommen wird.
Es gibt, so scheint es, Konjunkturen der Ge-walt von rechts, Phasen gesellschaftlicher Entwicklung, wo dieses Problem zunimmt, und andere, wo es weniger virulent ist. Dies führt zu der Ausgangsfrage des abschließenden Ausblicks: Ist rechtsextreme Militanz Resultat und Begleiterscheinung besonderer historischer Umstände oder ein quasi-normaler Defekt westlicher demokratisch verfaßter politischer Systeme? Handelt es sich um eine Tatsache, mit der wir leben müssen, um ein im eiB gentlichen Wortsinn nicht „lösbares" Strukturproblem, oder geht es um eine reale, ja bedrohliche Gefahr, die entsprechende Gegenstrategien erfordert?
Die nachfolgenden Ausführungen plädieren für eine Neubetrachtung des Terrorismus-Problems: Eine angemessene Sichtweise muß stärker als bisher das objektive Wechselspiel von Politik, Massenmedien, Reaktionen der Bevölkerung und rechtsextremen Gruppen berücksichtigen. Es bleibt noch darauf hinzuweisen, daß eine einleitende Begriffsbestimmung (was ist zu verstehen unter „Extremismus", „Terrorismus", „Militanz", „Gewalt") nicht nur unter dem pragmatischen Aspekt eines beschränkten Umfanges nicht durchgeführt wird, sondern vor allem deshalb, weil diese Begriffe durch formale Definitionen nur schwer zu klären sind. Die Übergänge von extremen Einstellungen, durchgeführten politisch-kriminellen Handlungen und Terrorismus sind in Wirklichkeit fließend, so daß eine Bestimmung des Gewaltcharakters politischen Handelns der Darstellung und Analyse konkreter Vorfälle selbst Vorbehalten ist.
I. Historische Stadien des Terrorismus von rechts in Deutschland — Ein Überblick
Abbildung 2
Vollwaisen Tod des Vaters Tod der Mutter Todesfälle unter den Eltern insgesamt Scheidung der Eltern Einschneidende biographische Ereignisse 4 9 13 26 9 5 15 6 26 10 13 19 4 36 9 3 14 9 26 5 0 12 6 18 17 0 0 0 0 17 Rechtsterroristen % Linksterroristen % Linksterroristen nach Geburtsjahr 1945 und früher % 1946 bis 1950 % 1951 bis 1955 % 1956 und später %
Vollwaisen Tod des Vaters Tod der Mutter Todesfälle unter den Eltern insgesamt Scheidung der Eltern Einschneidende biographische Ereignisse 4 9 13 26 9 5 15 6 26 10 13 19 4 36 9 3 14 9 26 5 0 12 6 18 17 0 0 0 0 17 Rechtsterroristen % Linksterroristen % Linksterroristen nach Geburtsjahr 1945 und früher % 1946 bis 1950 % 1951 bis 1955 % 1956 und später %
1. Attentate, Putschismus und „Kampf um die Straße" in der Weimarer Republik
Die erste deutsche Demokratie war von Anfang an bedroht von den Feinden der Demokratie. Bis auf die Jahre der relativen ökonomischen Stabilisierung (1924— 1928) gab es ständig auch mit militanten Mitteln vorgetragene Angriffe auf die Republik. Mit einem Begriff der modernen Politikwissenschaft würde man sagen, sie hatte ganz erhebliche „Legitimitätsdefizite". Maßgeblich dafür waren vor allem die relativ ungebrochene Kontinuität autoritär-obrigkeitsstaatlicher Ordnungsvorstellungen des Kaiserreichs in den Institutionen des Staates selbst, d. h.: einer demokratischen Staatsverfassung, Ergebnis der nicht zu Ende geführten Revolution von 1918/19, stand ein nicht-demokratischer politisch-gesellschaftlicher Unterbau gegenüber: „Die Klassen der Republik waren die Klassen des Kaiserreichs, so wie zuletzt der Krieg sie getönt hatte. Die Revolution hatte die politische Ordnung verändert, nicht die Gesellschaft."
Der Strukturfehler der Weimarer Republik wurde überlagert und zugleich verschlimmert durch die Folgen des Krieges: Reparationen und eine „verlorene" Frontkämpfergeneration, die nur zu einem Teil in den republikanischen Grundkonsens sich einfügen konnte waren die Ausgangsbedingungen für gewalttätige Versuche von rechts zur Liquidation der Republik. Ihre Organisationsprinzipien lassen sich anhand von vier Begriffen erläutern: Verschwörung, politische Attentate und Putschismus, getragen von antisemitischen, militä-risch-männerbündischen Verbänden, beherrschten die Anfangsjahre der Weimarer Republik (bis 1924). „Kampf um die Straße" im Zuge der sich formierenden NS-Massenbewegung war das Organisationsprinzip der Gewalt von rechts in den letzten Jahren der Republik (1930 bis 1933).
Allein im Zeitraum zwischen Januar 1919 und Juni 1922, als die Republik bereits ihr sechstes Kabinett erlebte (Wirth, Zentrumspartei), sind 354 politische Morde von rechts präzise dokumentiert Nachdem 1919 führende Köpfe der sozialistischen Linken durch Mörderhand gefallen waren (u. a. Rosa Luxemburg, Karl Lieb-knecht, Kurt Eisner), setzte ab 1921 eine Serie von Attentaten ein, die der aus ehemaligen Frontkämpfern gebildeten „Brigade Ehrhardt“ und ihrem halblegalen Nachfolgeverband „Organisation Consul" zuzuschreiben sind.
Die Brigade Ehrhardt war erstmals in Erscheinung getreten im März 1920, als sie in Berlin einmarschierte und dem Kapp-Putsch militäri5 sehen Begleitschutz gab. Nach der Auflösung der Brigade und ihrer geheimbündlerischen Reformierung als „Organisation Consul" ist sie mitverantwortlich für eine Serie politischer Morde Der USP-Abgeordnete Gareis wurde im Juni 1921 nachts vor seinem Haus erschossen, nur wenige Wochen später, im August, wurde der Zentrumsabgeordnete Mathias Erzberger bei einem Spaziergang von zwei Männern überfallen und erschossen.
Beide Politiker galten in nationalistischen Kreisen als „Vaterlandsverräter". Gareis, weil er im Bayerischen Landtag entschieden gegen die geheimen Waffenlager der Einwohnerwehren aufgetreten war und einen Untersuchungsausschuß zur Aufklärung der politischen Morde gefordert hatte, Erzberger, weil er für die bedingungslose Annahme des Versailler Friedensvertrages einschließlich der Reparationsverpflichtungen eingetreten war. Ähnliche Motive, die noch zusätzlich bestärkt wurden durch eine antisemitische Hetzpropaganda gegen den „Erfüllungspolitiker“ Walther Rathenau, bewirkten das Attentat auf den jüdischen Außenminister im Juni 1922, der auf der Fahrt ins Amt erschossen wurde. Nur wenige Tage zuvor war ein Blausäureattentat auf den sozialdemokratischen ersten Reichsministerpräsidenten Scheidemann knapp gescheitert. Die oben erwähnte „Organisation Consul" war nicht nur für die hier geschilderten Fälle verantwortlich. „Die Marinebrigade Ehrhardt, die er im Anschluß an die Revolutionskämpfe in den Garnisonen der Wasserkante zusammengestellt hat, gilt jahrelang als eine der bestdisziplinierten Truppen, ihr Führer als Condottiere großen Stils", bemerkt Ernst Ottwalt 1932 In ihrem politischen Selbstverständnis als paramilitärische Eingreifreserve „bei roten Aufständen" und „antinationalen Veranstaltungen", dem Ziel der „Erhaltung der Wehrfähigkeit und Erziehung der Jugend zum Waffengebrauch" im Führerprinzip und in ihrer rechtsextremen Ideologie sind aus heutiger Sicht deutliche organisationssoziologische Parallelen zur verbotenen „Wehrsportgruppe Hoffmann" erkennbar. Im Gegensatz zu dieser konnte jedoch die Brigade Ehrhardt und ihre Nachfolgeorganisation mit einer breiten publizistischen Unterstützung „nationaler“
Kreise ebenso rechnen wie mit einer relativ milden Behandlung durch die Justiz. Auch in bürgerlichen Kreisen und bei Polizeibehörden gab es Tendenzen unverhohlener Sympathien und aktiver Unterstützung für die politische Kriminalität von rechts „Kein Wunder, daß die Justiz in solcher Atmosphäre und z. T. auch unter dem Druck staatlicher Stellen diese Auffassungen durch milde Urteile oder gar Freisprüche sanktionierte, was angesichts der überaus harten Rechtsprechung gegen die . Landesverräter'von links, deren publizistische Enthüllungen über die illegale Aufrüstung durchaus dem positiven Recht entsprachen, als offene Parteilichkeit wirkte. Aus die-sen Gründen war auch die politische Kriminalität der Kommunisten keine allgemeine Gefahr; sie fand in Deutschland nirgendwo außerhalb ihres Urheberkreises Unterstützung, weder moralisch noch finanziell, und wurde von der Justiz unnachsichtig verfolgt und bestraft.“
Die Tatsache, daß „der politische Mord in Deutschland unter den sozial wie politisch verwahrlosten jungen Leuten der Rechten, der . Frontgeneration'heimisch geworden war“ ist zugleich Resultat und Stimulans einer politischen Kultur von rechts, welche die Demokratie zutiefst ablehnte. Rechte Terrororganisationen und Geheimbünde waren nur deren politisch sehr folgenreiche Ausdrucksformen. Die Brigade Ehrhardt und die Organisation Consul waren weder gesellschaftspolitisch isoliert noch als Organisation vereinzelt: Bereits für die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Februar 1919 war eine rechtsradikale Geheimgesellschaft mitverantwortlich, die „Thule-Gesellschaft", der damals auch u. a. die späteren NS-Funktio-näre Rosenberg und Hess angehörten Putschversuche von rechts als offener und direkter Versuch, die Regierung zu stürzen, waren im geschilderten Kontext die folgerichtige Variante und Konsequenz rechtsextremer Gewaltbereitschaft. Auf den Kapp-Putsch im März 1920 folgten einige weitere Umsturzver-suche kleinerer rechtsgerichteter Gruppierungen. Hervorzuheben sind vor allem der Aufstand der illegalen „Schwarzen Reichs-wehr", ein Zusammenschluß ehemaliger Frontkämpfer, die keine Aufnahme in der auf 100 000 Mann reduzierten Reichswehr gefunden hatten, im Oktober 1923 und der „Hitler-Putsch" im November desselben Jahres in München.
Die NSDAP, vor 1930 als Partei und soziale Bewegung relativ unbedeutend, war von Anbeginn an in gewalttätige Versuche zur Beseitigung der Republik verstrickt. Die legalisierten Greueltaten und Massaker des Dritten Reiches haben ihre historischen Wurzeln in der durch Attentate und Geheimbündelei gesellschaftlich deklassierter ehemaliger Frontkämpfer geprägten Kultur des politischen Mordes in den Anfangsjahren der Republik und — organisationsgeschichtlich — in der Gründung der SA 1920/21. Ursprünglich als Saalschutz bei politischen Veranstaltungen gedacht, entwickelte sie sich bis zu ihrer gewaltsamen Zerschlagung im Juli 1934 nicht nur zum kämpferischen „linken" Teil der NS-Massenbewegung, sondern auch zum militanten, nicht immer durch die Parteileitung kontrollierbaren Terrorinstrument der NSDAP in ihrer „Kampfzeit" vor 1933.
Das erste größere öffentliche Auftreten der SA als militante Formation außerhalb Münchens war der 1922 von den „Vaterländischen Verbänden" veranstaltete „Deutsche Tag" in Coburg Die als Begleitung Hitlers angereisten 800 SA-Leute mißachteten das Verbot, in geschlossenen Formationen durch die Stadt zu ziehen, provozierten Schlägereien mit den Polizeikräften und verließen die Stadt als „Sieger" einen Tag später. Ähnliche Erscheinungsbilder der SA als politisches Rollkommando gegen die Behörden und die deklarierten politischen Gegner, vornehmlich Kommunisten, haben sich bis 1933 unzählige Male wiederholt; der „Handlungsspielraum" ging dabei bis hin zum brutalen Fememord Es ist hier nicht möglich, dem NS-Terror vor 1933 sozial-historisch en dtail weiter nachzugehen. Stattdessen sollen einige Überlegungen zur Funktion der permanenten rechtsextremen Militanz innerhalb der NSDAP vor 1933 angestellt werden
Die Funktion der Militanz kann differenziert werden in einen parteiinternen Wirkungsbereich und einen externen, öffentlichen. Intern entspricht der Terror den Ideologien und der Programmatik der NSDAP: Kampf gegen die „Vaterlandsverräter“ und „Erfüllungspolitiker" des Bürgertums und der SPD, die durch die Anerkennung des Versailler Vertrages deutschen Interessen zuwiderhandeln, Kampf aber auch gegen das angebliche jüdisch-bolschewistische Finanzkapital und den Marxismus und zugleich für das „Dritte Reich". Stärker als andere Gruppierungen hat es die NSDAP vermocht, Utopien und quasi-religiöse Erlösungserwartungen als tragende Momente in die politische Aktion einzubeziehen und als Movens ihrer Anhängerschaft in politisches Handeln umzusetzen. Intern entspricht der Terror darüber hinaus aber auch den psycho-physischen Bedürfnissen ihrer aktiven Anhänger: Frontkämpfermentalität und Freikorpsgeist verlangten im Zusammenspiel mit der NS-Pro-grammatik den „politischen Soldaten" der sich bedingungslos für die Sache einsetzt und bereit ist, dafür Opfer zu bringen (nicht zufällig hat der Begriff „Opfer“ religiöse Hintergründe). Es verwundert daher nicht, daß bei „alten Kämpfern" der NSDAP eine Interpretation bzw. ein rückblickendes Selbstverständnis als „politische Abenteurer" nachgewiesen ist Beides, „politischer Soldat" und „alter Kämpfer", fällt zusammen in der Person des SA-Mannes Horst Wessel, der nach seiner Ermordung durch Kommunisten im Februar 1930 zunächst zum identitätsstiftenden Märtyrer der „Bewegung", nach 1933 dann zum Gegenstand eines regelrechten Horst-Wessel-Kults gemacht wurde Die externe Funktion des Terrors vor 1933 bestand vor allem in dem Nachweis der Durchschlagskraft des Nationalsozialismus als politischer Massenbewegung. Er hat in einem heute nur mehr schwer vorstellbaren Ausmaß politischer Kriminalität von rechts nach 1918 wesentlich dazu beigetragen, die Dynamik der Massenbewegung herzustellen und nach außen Stärke und Durchsetzungsvermögen zu demonstrieren. Diese Dynamik war fähig, die labilen Abwehrmechanismen des (zumindest bis 1930) demokratisch verfaßten Rechtsstaates bloßzustellen und ihn schließlich im Bündnis mit rechtskonservativen Eliten zu zerstören.
2. Gewalt von rechts in der Bundesrepublik: Stufen dr Radikalisierung
Nach 1945 war der Nationalsozialismus als Herrschaftssystem zerschlagen, nicht aber rechtsextreme Ideologien und organisatorische Bestrebungen, an die NS-Tradition anzuknüpfen. Obwohl der Neonazismus stigmatisiert und ins politisch-gesellschaftliche Abseits gedrängt wurde, gibt es nach 1945 eine bemerkenswerte organisationsgeschichtliche und ideologische Kontinuität Sie rechtfertigt die kontinuitätsperspektivische These Harry Pross', derzufolge das Dritte Reich nicht als monolithischer Block zu behandeln ist, sondern als etwas, „das mit tausend Fasern mit dem Vorher und dem Nachher verbunden ist" Die kollektive Erfahrung des Rechtsextremismus als institutionalisiertem System des Terrors nach innen und außen hat nach 1945 im Kontext von Bemühungen um Aufarbeitung der Vergangenheit dazu geführt, daß — im Gegensatz zur Weimarer Republik — Gewaltbereitschaft von rechts in ihrer gesamten Wirkungsbreite auf diese Erfahrungen bezogen werden mußte, wobei der internationale Druck der Siegermächte diese Tendenz noch verstärkte. Insofern können wir von einer nach dem Zweiten Weltkrieg wirksamen Nicht-Hintergehbarkeit des Dritten Reiches sprechen, oder, anders formuliert: alle öffentlich bekannten rechtsextremen Vorfälle werden bei ihrer Bearbeitung durch Massenmedien, Schulen, Parteien, Verbände und Behörden auf die Erfahrung des Dritten Reiches rückprojiziert und von diesen Erfahrungen her interpretiert.
Die Formen rechtsextremer Militanz nach 1945 sind nicht ohne die Berücksichtigung dieses institutionell eingeführten und in der politischen Kultur der Bundesrepublik fest verankerten Blickwinkels verstehbar, denn: die sich häufende Form des provokativen Terrors ist eine spezifische Regelverletzung, indem sie auf einen Grundkonsens, der durch eine hohe politische Sensibilität gekennzeichnet ist, abzielt. Es hat sich dabei gezeigt, daß das politische System der Bundesrepublik zu „Überreaktionen" bei Vorfällen mit rechtsextremem Hintergrund tendiert. Auf der anderen Seite sind Anknüpfungspunkte der Täter an die historischen Vorbilder in der Weimarer Republik unverkennbar.
Fallbeispiel 1: Hintergründe der antisemitischen Ausschreitungen 1959/60 Am 16. Januar 1960 wandte sich Bundeskanzler Adenauer über den Rundfunk und das Fernsehen mit einer Erklärung zu den antisemitischen Ausschreitungen um die Jahres-wende 1959/60 an die bundesdeutsche Bevölkerung. Aus dem gleichen Anlaß hat nur wenige Wochen später die. Bundesregierung ein Weißbuch herausgegeben, das Bundesinnenminister Gerhard Schröder in der Bundestagsdebatte am 18. Februar 1960 erläutert hat Welches waren die Ereignisse und Hintergründe, die einen derart hohen Aufmerksamkeitswert bewirkten? In der Weihnachts-Nacht 1959 wurden in Köln ein Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus und die Synagoge mit Lackfarbe beschmiert Die beiden 25jährigen Täter waren Mitglieder der rechtsextremen Deutschen Reichspartei (DRP). Das Landgericht Köln, das sie zu 14 bzw. 10 Monaten Gefängnis verurteilte, sprach in der Urteilsbegründung von „Wirrköpfen" und „psychopathischer" bzw. „primitiver geistiger Veranlagung"
Die Kölner Ereignisse bewirkten eine militante Kettenreaktion des rechtsextremen Lagers in der Bundesrepublik Bis zum Jagen, neonazistischen Äußerungen in der Öffentlichkeit, Verteilen von Flugblättern usw. Obwohl der Aussagewert der im Weißbuch verwendeten Kategorien schwach und ihre sozialwissenschaftliche Brauchbarkeit dadurch eingeschränkt ist 28), genügt für unseren Zusammenhang der Hinweis, daß hier die Art der rechsextremen Militanz grundlegend verschieden ist von den dominierenden Spielarten in der Weimarer Republik. Es handelt sich durchweg nicht um zielgerichtet-geplante und nuar 1960 wurden 470 Aktionen registriert. Bemerkenswert ist die Art der Straftaten und darüber hinaus die im Weißbuch der Bundesregierung genannten Tatmotive. 48 von 470 Fällen sind objektgerichtet (z. B. Friedhofs-und. Denkmalschändungen), 66 gegen Einzelpersonen (überwiegend nicht körperlich gewaltsam, sondern in der Form von Beleidigungen, anonymen Briefen, Telefonanrufen usw.). Die übrigen Fälle konzentrieren sich auf Schmieraktionen an öffentlichen Einrichtun' strategisch durchdachte terroristische Aktionen. Das bei den Attentaten und Putschversuchen nach 1918 sichtbare Ausmaß an Brutalität tritt hier zurück zugunsten provokativer Motive, die sich gegen einen im Gegensatz zur Weimarer Republik ungleich sensibler behandelten politisch-moralischen Grundkonsens richteten.
Für die Kettenreaktionen nach der Kölner Sy-
nagogen-Schändung liegt eine Erklärung nahe, die sich auf den Ende der fünfziger Jahre erreichten Entwicklungsstand des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik bezieht Der vor allem durch rigide Verbotspolitik nach dem Verbot der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 erreichte Grad an politischer Ausgrenzung und Gettoisierung hatte Ende der fünfziger Jahre zu subkulturellen Erscheinungen und Lagermentalitäten geführt In dieser Situation mußte die große öffentliche Resonanz der individuellen Kölner Vorfälle aus der Sicht des „Lagers" als willkommener Anlaß aufgefaßt werden, durch weitere provokative Taten das Getto wenigstens publizistisch zu durchbrechen. Diese Absicht ist gelungen und hat auch zu einer Reformierung des „Lagers" geführt: Wenige Jahre später, 1964, wurde die NPD gegründet.
Die Ausschreitungen 1959/60 dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß terroristische Aktionsformen, über einen längeren Zeitraum betrachtet, nicht das Medium rechtsextremer Aktivität schlechthin sind, sondern daß sie andere Agitationsweisen unterstützen und zumeist hinter diese zurücktreten. Im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1960 und 30. Juni 1966 sind 757 Urteile gegen Rechtsextremisten gefällt worden wegen 1309 Gesetzesverstößen. Davon können etwa 7 Prozent als terroristisch qualifiziert werden; überwiegend handelt es sich um Sprengstoffverbrechen, Brandstiftung und Nötigung oder Bedrohung'
Fallbeispiel 2: Der NPD-Ordnerdienst Im Zeitraum des parlamentarischen Aufstiegs und Niedergangs der NPD, 1964— 1971, währenddessen die Partei immerhin 4, 3 Stimmenprozente bei der Bundestagswahl 1969 und den Einzug in mehrere Länderparlamente erreichte, kam es 1968 zu einer folgenschweren Entscheidung des Parteivorstandes. Bedrängt von antifaschistischen Demonstrationen der APO und Bürgerinitiativen gegen die NPD setzte sich die Partei mit der Gründung eines „Ordnerdienstes" für den Saalschutz und als militante Kerntruppe zur Wehr. In Aufmachung und öffentlichem Auftreten während der Parteiveranstaltungen erinnerte der Ordnerdienst an historische Vorbilder: „Die neue SA" überschrieb der sozialdemokratische „Vorwärts" einen Beitrag am 31. Juli 1969. Der Hessische Landtag sah sich im Oktober 1969 veranlaßt, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen, um über die Aktivitäten des Ordnerdienstes aufzuklären. Darin heißt es u. a.: „Die Organisationsbemühungen der NPD deuten unverkennbar auf die Aufstellung eines zentral geleiteten und schnell verfügbaren para-militärischen Verbandes hin." Im Zeitraum zwischen Ende März und September sind vom hessischen Innenministerium zwölf . Ausschreitungen und Übergriffe“ an verschiedenen Orten registriert worden, die Staatsanwaltschaft führte Ermittlungsverfahren durch wegen des Verdachts vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung, Nötigung, Beamtennötigung, Beleidigung und Volksverhetzung Besonders aufschlußreich für die Qualität der Gewaltbereitschaft des Ordnerdienstes sind zwei Ereignisse im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes 1969. Ende Juli inszenierte der Ordnerdienst bei einer NPD-Veranstaltung in Frankfurt bandenmäßig durchgeführte Schlägereien mit Gegendemonstranten und erfüllte mehrfach den Straftatbestand schwerer Körperverletzung. Die Tagesund Wochenpresse berichtete, daß die Angehörigen des rund 40köpfigen Ordnerdienstes paramilitärisch geleitet worden und zum Einsatz unmittelbarer körperlicher Gewalt nicht nur bereit gewesen seien, sondern diesen geradezu gesucht hätten Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Gewalttätigkeiten am 16. September 1969 bei einer NPD-Veranstaltung in Kas-sei, als der Ordner Kolley im Verlauf einer Demonstration eine Pistole zog und zwei Gegen-demonstranten durch Schüsse verletzte. Die Tat selbst ist durchaus nicht als affektive Handlung eines irregeleiteten Mitläufers zu bezeichnen, denn Kolley hatte — wie aus einem Bericht des NPD-Parteivorstandes hervorgeht — eine „einschlägige" rechtsextreme Karriere bis zum Zeitpunkt der Tat hinter sich: Bereits in den fünfziger Jahren wegen Amtsanmaßung und unerlaubtem Waffenbesitz vorbestraft, war er seit Januar 1965 Mitglied der NPD, begann 1968 mit dem regionalen Aufbau von Ordnerdiensten und war hierfür zum Zeitpunkt der Tat der NPD-„Bundes-beauftragte". Im Mai 1970 wurde er von einem Kasseler Schwurgericht wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu 18 Mopaten Haft verurteilt
Die Aktivitäten des NPD-Ordnerdienstes belegen im Vergleich zu den antisemitischen Ausschreitungen 1959/60 eine radikalisierte Stufe rechtsextremer Militanz: Beschränkten sich die Ereignisse damals noch auf provokativen, nicht-physischen Terror, so sind jetzt deutliche Anknüpfungspunkte an Strategien der SA festzustellen. Die Ursachen für den Radikalisierungsprozeß, mit denen wir uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen wollen, liegen im Bereich der politischen Kultur: Massive Gegendemonstrationen der APO erlaubten den offenen „Kampf um die Straße" im Kontext einer aufstrebenden Partei; verstärkter Zuzug von Ausländern sowie der Berliner Mauerbau und der Frankfurter Auschwitz-Prozeß wenige Jahre zuvor trugen zur ideologischen und organisatorischen Re-Formation rechtsextremer Denkmuster und Handlungspotentiale bei.
Fallbeispiel 3: Rechtsextreme Militanz seit Mitte der siebziger Jahre Nach Art und Umfang der Gewaltbereitschaft sind die in den vergangenen Jahren, besonders nach 1975, begangenen Aktionen als weitere, fortgeschrittene Stufe eines Ende der fünfziger Jahre begonnenen Radikalisierungsprozesses aufzufassen. Eine vergleichende Betrachtung der Verfassungssschutzberichte des Bundes im Zeitraum von 1974 (136) bis 1980 (1643) ergibt eine kontinuierlich steigende Verzwölffachung der behördlich registrierten Ausschreitungen mit rechtsextremem Hintergrund. Im Hinblick auf die Vorläufer fusionieren sie den provokativen Terror 1959/60 mit den SA-Kampfmustern des NPD-Ordnerdienstes zu einer neuen Qualität: Zu der des Terrorismus. Für dieses Urteil ist nicht die seit Jahren ansteigende und in den jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichten und in dem Organ „Innere Sicherheit“ dokumentierte Anzahl rechtsextremer Ausschreitungen maßgeblich, sondern die Qualität der durchgeführten und geplanten Aktionen selbst Der Essener Historiker Lutz Niethammer bezeichnet prägnant die veränderte Situation: „Dieses Geflecht, in dem Gewalt-, Militär-und Nazisymbolik (inklusive entsprechender Symbolfiguren) eine besondere Rolle spielen, wird jedoch überwiegend nicht von ehemaligen NS-Funktionären getragen, sondern von Angehörigen der jungen und mittleren Generation, die auf öffentliche Provokationen, Gewaltausübung und vergleichbare Aggressionsentladungen ausgehen und sich dabei der Identifikation mit dem Nazismus sozusagen als sicherstem Sprengstoff bedienen."
Nach wie vor werden, ähnlich den antisemitischen Provokationen von 1959/60, Schmieraktionen festgestellt, nach wie vor gibt es paramilitärische Jugendorganisationen, die dem NPD-Ordnerdienst vergleichbar sind. Die Innenministerien haben aber gerade bei solchen Organisationen das Verbotsinstrumentarium offen oder verdeckt in jüngster Zeit häufiger angewandt, wo paramilitärisch-militante Aus-richtungen das hervorstechende Merkmal waren: Die Hamburger „Aktionsfront Nationaler Sozialisten" (ANS) wurde durch Verhaftung führender Mitglieder wegen krimineller Vergehen bis zur Bedeutungslosigkeit und inneren Auflösung geschwächt, die Wehrsportgruppe Hoffmann und die VSBD wurden als Organisationen verboten.
Bemerkenswert sind die in jüngster Zeit verstärkt hervorgetretenen offen-gewaltbereiten Elemente des Rechtsextremismus, die partiell die historischen Aktionsformen der „Organi-sdtion Consul" nach 1919 mit denen des zeitgenössischen internationalen Terrorismus von links verbinden, vor allem:
— Attentate (z. B.der Mord an einem jüdischen Verleger in Nürnberg, mutmaßlich verübt von Mitgliedern der Wehrsportgruppe Hoffmann) und — Sprengstoffanschläge (z. B. auf Asylantenwohnheime und beim Münchener Oktoberfest),
wobei geheimbündlerische Vereinigungen (Wehrsportgruppen) die Legalitätstaktik der NPD abzulösen beginnen und ein neues, historisch aber längst bekanntes Organisationsprinzip begründen. Eingebettet sind diese bis-lang noch vereinzelten Entwicklungen in einen „exogenen“ Faktor, nämlich die zweifellos identitätsstiftenden rechtsterroristischen Aktionen im und personelle Querverbindungen zum westlichen Ausland. Eingebettet sind sie darüber hinaus in die „endogenen“, auf die Bundesrepublik bezogenen Faktoren — eines negativen Lernprozesses: Das parla-mentarische Scheitern der NPD nach 1971 verstärkte die Plausibilität außerparlamentarischer, spektakulärer Aktionen — einer erheblichen politischen Kriminalität von rechts: Radikalisierungstendenzen in der Publizistik und der Import nazistischer Pamphlete aus dem Ausland sind hierfür beispielhaft — durchaus absehbarer potentieller positiver gesellschaftlicher Resonanzfelder: Die aufse-henerrregende „Sinus-Studie“ ermittelt ein „Akzeptanzpotential" für rechtsterroristische Gewalt von 6 Prozent (!) in der bundesdeutschen Wahlbevölkerung
— im Zusammenhang damit ein — wie der Bundesminister für Jugend, Familie und Ge-
sunheit formuliert — „diffuses Gewaltpotential von beträchtlichem Umfang", wobei für verschiedene Jugendkulturen „die Anwendung von Gewalt zum Teil auch die Funktion einer Gegensprache (hat)"
II. Erklärungsansätze: Fragestellungen, Forschungsrichtungen
Abbildung 3
Abbildung 3
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Die in der Bundesrepublik betriebene Rechtsextremismus-Forschung befindet sich in einem Dilemma: Sie ist weder als eigenständige sozialwissenschaftliche Teildisziplin anerkannt noch als historische und empirische Forschungsrichtung institutionalisiert, noch verfügt sie über ein allgemein anerkanntes, über kleine „scientific communities" hinausreichendes begriffliches und methodisches Instrumentarium. Erschwerend kommt noch die sehr hohe politische Brisanz des Themas hinzu, die sich nur mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus auf jegliche Bearbeitungsform nach 1945 erklären läßt. Politik und Moral sind bei unserem Gegenstand sehr viel en-ger miteinander verflochten als bei historisch und geographisch fernerliegenden Themen der Zeitgeschichte. Je nach Fragestellung und Ausrichtung des Forschers zehren die Untersuchungen durchweg von — den aus Kreisen der Arbeiterbewegung und der linken Opposition gegen den Nationalsozialismus vor und nach 1933 entwickelten marxistischen Faschismustheorien, — liberalen Faschismustheorien, — sozialpsychologischen Deutungen des Führermythos, — empirischen Untersuchungen über „autori-tätsgebunderie" Charaktere, — Einstellungsuntersuchungen, überwiegend in Zusammenhang mit der Erhebung von Da-ten über Antisemitismus und Autoritarismus.
Aus verschiedenen Gründen sind diese disparaten Ansätze heute nur mehr sehr beschränkt verwendungsfähig, denn — sie sind zielgerichtet auf Rechtsextremismus als Massenbewegung und Bündnispartner für konservative Eliten (Faschismustheorien), -— sie bearbeiten latente Strukturen und Dispositionen (sozial-psychologische Ansätze), die nicht in der Lage sind, manifeste Gewaltprozesse und deren terroristische Qualität vor allem nach 1945 hinreichend zu erklären Sie berücksichtigen viel zu wenig, daß der Rechtsextremismus und insbesondere seine militante Version ein Problem der politischen Kultur ist, somit aber auch die Wechselwirkungen von konkreten Erscheinungsformen und dahinterliegenden soziokulturellen Milieus auf der einen, Reaktionen des politischen und kulturellen Systems auf der anderen Seite zum Ausgangspunkt gemacht werden müssen. Dementsprechende — zwangsläufig finanziell und personell aufwendige — Untersuchungen liegen derzeit nicht vor
Aufgrund des hier knapp skizzierten Dilemmas der Rechtsextremismusforschung im engeren Sinn liegt es nahe, Fragestellungen und Ergebnisse der Extremismusforschung, die sich zumeist auf die extreme Linke schwerpunktmäßig konzentriert, sowie die in den letzten Jahren fortgeschrittenen Analysen zum Terrorismus daraufhin zu befragen, inwieweit sie für das Problem rechtsextremer Militanz konzeptuelle Hilfestellungen abgeben. Darüber hinaus wäre zu fragen, welche konkreten Ergebnisse vorliegen und wie sie zu interpretieren sind.
Es ist bisher nicht gelungen, ein verallgemeinerungsfähiges Ablaufmodell zu konstruieren, welches genau jenen Punkt anzugeben Vermag, an dem extremistische Bewegungen in manifeste Gewalttätigkeit umschlagen Die Erklärungsansätze für konkrete Eskalationen sind aus diesem Grund noch immer angewiesen auf die situativen Zusammenhänge als primärem Erklärungsmoment. Offene Gewalttaten müssen also bislang als etwas historisch „Besonderes" aufgefaßt werden, das immanent und historisch-rekonstruktiv zu behandeln ist, wobei mittelfristige Zeitspannen die traditionell-historische Frage klären helfen, „wie es möglich war". So läßt sich zum Beispiel der „weiße Terror" der Freikorps und der Brigade Ehrhardt aus der Freikorpsmentalität und den Strukturfehlern der Weimarer Republik einigermaßen erhellen. Das Aktionsmuster des „Kampfes um die Straße" der SA kann, ebenso wie die Fallbeispiele rechtsextremer Militanz in der Bundesrepublik, nur unter Einbeziehung der je besonderen historischen Faktorenkonstellationen als erstem und wichtigstem Ansatzpunkt verstanden werden. Dennoch erlauben die theoretischen Konzepte der Extremismus-und Terrorismusforschung die Entwicklung einiger Fragestellungen und Hypothesen, die auf diejenigen politisch-gesellschaftlichen Randbedingungen abzielen, welche den Terrorismus begünstigen. Die nachfolgend kurz dargelegten Konzepte erlauben für sich genommen also keine schlüssige Erklärung manifester Gewalt, sie sind jedoch als Ansatzpunkte zur Untersuchung des gesellschaftlichen Vorfeldes als Schritte auf dem Weg zu einer schlüssigen Theorie der (rechts) extremistischen Gewalt aufzufassen. Jenseits der verbreiteten Alltags-theorien und -erklärungsmuster (die Behörden seien zu lasch und nachgiebig, Jugendliche hätten zu viele Freiheiten und keine Ideale, ihre Eltern seien schuld usw.) sind folgende Erklärungsansätze zu erwähnen: — Kontinuitätstheoretisch sind überwiegend von Historikern durchgeführte Versuche, Phänomene des Terrorismus aus den besonderen nationalen Eigenheiten, historischen Entwicklungen und historisch ausgeprägten Struktur-bedingungen eines Landes oder eines Kulturkreises abzuleiten. Auf diese Weise müßte beispielsweise in bezug auf den Rechtsterrorismus in Italien und der Bundesrepublik der Frage nachgegangen werden, in welchem historischen Verhältnis diese Phänomene zu den in beiden Ländern zeitweilig als politisches System herrschenden Faschismen stehen und in welcher Weise umgekehrt die Reaktionen des politischen und kulturellen Systems in beiden Ländern durch diese je besonderen Erfahrungen der nationalen Geschichte geprägt sind. Auf einem erweiterten und anspruchsvollen Argumentationsniveau wäre zu diskutieren, ob es — ökonomischen Konjunkturen vergleichbare — „Wellenbewegungen" terroristischer Gewalt gibt und worauf sie zu-13 rückgeführt werden müssen. Walter Laqueur hat aus diesem Blickwinkel in seiner breit angelegten Studie über den Terrorismus darauf hingewiesen, daß es derzeit drei voneinander relativ unabhängige und aus nationalen Besonderheiten ableitbare „Wellen" gibt: separatistisch-nationalstaatlicher (Ulster, Baskenland, Naher Osten), lateinamerikanischer, sowie „städtischer Terrorismus" in Nordamerika, Westeuropa und Japan
Eine kontinuitätstheoretische Betrachtungsperspektive hat gegenüber anderen Ansätzen den wichtigen konzeptuellen Vorteil, terroristische Erscheinungsformen im Kontext sozialer Bewegungen behandeln zu können. Da es sich durchweg nicht um individuell-vereinzelte Aktionen von Alleintätern handelt, sondern um Taten zumindest einer oder gar mehrerer Gruppen, ist so die Möglichkeit gegeben, gewaltsame Phänomene auf die Gruppen-strukturen funktional beziehen zu können und auf diese Weise etwas über Zweck, Zielrichtungen und Dynamik militanter Bewegungen in Erfahrung zu bringen. Das Beispiel des Nationalsozialismus vor 1933 ist hier relativ aussagekräftig: Die Militanz der SA hatte für die Basis der Bewegung im politischen Alltag den Sinn, Durchschlagskraft und Tatendrang der ehemaligen Freikorps zu demonstrieren bzw. zu befriedigen, darüber hinaus aber durch die faktisch durchgeführte „Propaganda der Tat" die Dynamik des Nationalsozialismus als sozialer Massenbewegung zu forcieren. Diese, für die Parteileitung aufgrund ihrer formellen Gebundenheit an rechtsstaatliche Prinzipien etwa im Reichstag und bei der Suche nach rechtskonservativen Bündnispartnern dysfunktionalen Aktionsformen wurden legalistisch kompensiert, indem die Parteileitung nach außen hin stets ihre Verfassungstreue versicherte und versichern mußte
Für rechtsterroristische Erscheinungen in der Bundesrepublik steht unter kontinuitätstheoretischen Aspekten die Beantwortung von Fragestellungen noch aus, die für den Links-terrorismus längst in Angriff genommen worden sind: In welchem Verhältnis stehen entwicklungsgeschichtlich die oben skizzierten Stadien rechtsextremer Militanz zueinander und wie hat sich der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik als Subkultur nach 1945 entwickelt? Es muß hypothetisch davon ausgegangen werden, daß es nach 1945 zu Gruppenbildungen und -Strukturen gekommen ist, wel-* ehe von Mythen der Verfolgung und Entrechtung geprägt waren. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Rechtsterrorismus eine Forniveränderung rechtsextremen Protests, die daraufhin befragt werden muß, inwieweit terroristische Aktionen als Ausbruchsversuche aus den Gettos und Subkulturen rechtsaußen zu interpretieren sind. Entsprechende Arbeiten stehen noch aus
— Einstellungsuntersuchungen haben aufgrund der in den letzten 20 Jahren verfeinerten Untersuchungsinstrumente der empirischen Sozialforschung an Umfang und Bedeutung zugenommen. Die an großen finanziellen Aufwand gebundenen, zumeist als zweck-orientierte Auftragsforschung außerhalb der Universitäten durchgeführten Untersuchungen sind in der Lage, Meinungspotentiale in einer bestimmten Gesellschaft schichtspezifisch und unter Berücksichtigung lokaler und regionaler Unterschiede zu quantifizieren. Daher fungieren sie sowohl bei Parteien als auch in der Werbeindustrie als gern und häufig benutzte Frühwarnsysteme und Prognoselieferanten. Sie sind in der Lage, Meinungsprofile in repräsentativer Weise herauszuarbeiten, nicht jedoch Handlungsperspektiven exakt vorauszusagen. Der Dualismus von Einstellung und Verhalten, Meinen und Handeln bleibt bei der Einstellungsforschung bestehen und kann mit ihren Mitteln nicht aufgelöst werden.
Für das Problem rechtsextremer Militanz als Handlungsbereitschaft kann die Einstellungsforschung jedoch stärker als bisher nutzbar gemacht werden, obwohl auf diese Weise die Handlungsorientierungen der Gewalttäter selbst nicht direkt abschätzbar sind: Ausgehend davon, daß Rechtsextremismus unter funktionalen Gesichtspunkten ein Interaktionssystem ist, bei dem mehrere Systeme miteinander kommunizieren (gewaltbereite Gruppen, politisches und kulturelles System, Bevölkerung, veröffentlichte Meinung), kann demoskopisch stärker als bisher die Wirkung rechtsextremer Gewalt: Ablehnungsgrad, Indifferenz und Akzeptanz, untersucht werden. Sinnvolle und praktikable Gegenstrategien können auf dieser Basis für die politische Pädagogik entwickelt werden.
Aus einer anderen Sichtweise haben Methoden der Umfrage-und Einstellungsforschung bei Analysen des Rechtsextremismus eine bis heute nicht abgeschlossene Tradition. In der Nachfolge von Studien über autoritäre Charakterstrukturen, die von Mitarbeitern des Frankfurter Instituts für Soziälforschung in den vierziger Jahren in den USA durchgeführt wurden ist eine Fülle an ähnlich gerichteten Arbeiten vorgelegt worden. Diese sogenannte „Vorurteilsforschung" beschäftigt sich mit dem tatsächlichen Ausmaß und der Reichweite von Vorurteilen, Stereotypen und verhärteten Denkstrukturen, die sich als latente oder manifeste Verhaltensdispositionen prinzipiell gegen die Demokratie richten können und insofern als antidemokratischer Nährboden und potentielles Resonanzfeld für rechtsextreme Agitation zu betrachten sind. Besonders das nach wie vor hohe Ausmaß des Antisemitismus konnte auf diese Weise kontinuierlich verfolgt werden. Aus einer jüngst erschienenen empirischen Untersuchung geht z. B. hervor, „daß in der Bundesrepublik Deutschland ein Bevölkerungspotential von etwa zwanzig Prozent mit ausgeprägt antisemitischen Vorurteilen lebt und daß bei weiteren dreißig Prozent Antisemitismus in Latenz mehr oder weniger stark vorhanden ist.“ Da in der Bundesrepublik derzeit nur noch rund 30 000 Juden leben, deutet dieser Befund auf einen „Antisemitismus ohne Juden" hin, und: antidemokratische Vorurteile werden in der politischen Kultur tradiert selbst dann, wenn ein direkter, an konkreten Erfahrungen gemessener Bezug (zum Beispiel zu jüdischen Mitbürgern) gar nicht mehr vorhanden ist. Bemerkenswert sind einige Befunde der zuletzt erschienenen Shell-Jugendstudie: Während die , Autoritarismus" -Skala relativ große, bis zu vierzigprozentige Zustimmungswerte zu rechtsradikalen Parolen erbringt (z. B. «Deutsche Ausbildungsstätten für deutsche Jugendliche!“, „Deutschland den Deutschen!" usw.), werden vorhandene rechtsradikale Gruppierungen von nur 4 Prozent der Jugendlichen positiv eingeschätzt Dies deutet darauf hin, daß das potentielle Resonanzfeld für rechtsextreme Ideologien auch und gerade unter Jugendlichen nach wie vor hoch ist, während gleichzeitig die vorhandenen rechtsextremen Formen des Engagements durchweg abgelehnt werden.
Insgesamt betrachtet, hat die Vorurteilsforschung einen zwar sekundären, aber nicht zu unterschätzenden Wert für die Analyse des Rechtsterrorismus: Militanz wird hier zwar nicht direkt thematisiert, aber immerhin ist die Ermittlung und Analyse von Strukturen „autoritärer" Vorurteile in der Gesellschaft geeignet, das latente Resonanzfeld rechtsextremer Agitation zu beschreiben und zu differenzieren. — Relative Deprivation bezeichnet in der Konfliktforschung eine gesellschaftliche Entwicklungstendenz, bei der Erwartungshaltungen und gesellschaftlich mögliche Chancen der Bedürfnisbefriedigung tendenziell auseinanderfallen und von außen in die Identität und das Selbstverständnis von Individuen und Gruppen eingegriffen wird Indikatoren hierfür sind zum Beispiel Arbeitslosigkeit und erzwungene Mobilität. Unbestritten ist, daß Unzufriedenheit ein Ausgangspunkt für extremistisches Stimmverhalten und individuelle extremistische Karrieren ist und daß im Einzelfall eine auf eine Vielzahl von Faktoren zurückführbare „relative Deprivation" wirksam ist. Ebenso unbestreitbar ist die steigende Gefahr des politischen Extremismus bei massenhaften Prozessen relativer Deprivation, etwa bei erhöhter Arbeitslosigkeit. Aber das Konzept bietet auch deshalb keinen unmittelbaren Ansatzpunkt zur Analyse rechtsextremer Militanz, weil Gewaltbereitschaft nicht nur als Ventil für Unzufriedenheit, sondern auch als instrumentell-taktisches Mittel dienen kann -Insofern ist es nicht möglich, terroristische Aktionen aus empirisch nachweisbaren Phänomenen relativer Deprivation direkt abzuleiten. — Konzepte aus dem Bereich der politischen Sozialisation spielen in der Extremismusforschung eine zunehmend wichtigere Rolle als Zuträger von Erkenntnissen über subjektive Faktoren terroristischen Handelns Fragen nach biographischen Entwicklungen und politischen Lernprozessen sind zunächst geeignet, weitverbreiteten Vorurteilen entgegenzuwirken: Politische Gewalttäter seien psychisch krank und als Pathologen zu behandeln. Diese korrigierende Funktion biographischer Ansätze ist deshalb besonders hervorzuheben, weil bezüglich des Rechtsextremismus in der Nachkriegszeit bis etwa Anfang der sechziger Jahre Tabuzonen und gesellschaftliche Ausgrenzungen neben einer rigiden Verbotspolitik vor allem durch Pathologisierung erreicht wurden Aber auch in der gegenwärtig betriebenen empirischen Sozialforschung finden sich noch Tendenzen unsachgemäßer Pathologisierung. Eine Untersuchung der Infratest-Wirtschaftsforschung, die „psychische Gesundheit als Anpassung an die geltenden Verhaltensnormen unserer Gesellschaft" definiert, rechnet Maoisten, diffus Linke und hedonistische Linke zum Spektrum „psychopathologischer Störungen", während unorthodoxe Marxisten und traditionelle Kommunisten über dem Mittelwert des definierten Kriteriums psychischer Gesundheit liegen
Die Diskussion zwischen Bundesinnenminister Baum und dem ehemaligen Terroristen der „Rote-Armee-Fraktion", Horst Mahler, sowie eine Fülle an veröffentlichtem biographischem und autobiographischem Material haben für den Bereich des Linksterrorismus dazu beigetragen, in der politischen Diskussion das Argument der Pathologisierung weitgehend zurückzudrängen zugunsten eines Einlassens auf die konkreten Lebensläufe und Erfahrungsmuster. Für den Bereich des Rechts-extremismus und -terrorismus fehlt es noch an öffentlich zugänglichem Primärmaterial Die bislang am breitesten angelegte Studie über Lebensläufe von Terroristen kommt u. a. zu dem Schluß, daß „für eine generelle Pathologisierung der Terroristen jeder Anhaltspunkt (fehlt)"
Lebenslauf-Analysen als spezielle Variante der Forschungen zur politischen Sozialisation stehen vor der doppelten Aufgabe, terroristisches Handeln „verstehbar" zu machen im
Sinne von begründeter Nachvollziehbarkeit von Biographien auf der einen Seite und politische Karrieren von Individuen vergleichend daraufhin zu befragen, welche äußeren Einflüsse das terroristische Handeln gefördert, begünstigt oder sogar ausgelöst haben auf der anderen Seite. Zum Beispiel eröffnet der Hinweis der Angeklagten Vorderbrügge beim Prozeß gegen die „Deutschen Aktionsgruppen" in Stuttgart-Stammheim, die von einer Bekannten ihr überzeugend eingeredete Annahme, das „Tagebuch der Anne Frank" sei eine Fälschung und habe bei ihr zur Hinwendung zum Rechtsterrorismus geführt bei Konzepten politischer Sozialisation und Lebenslauf-Analyse eine Fülle entsprechender Fragestellungen: Welche Vorgeschichte in der Persönlichkeitsentwicklung hat die Angeklagte für diese „Initialzündung" aufnahmebereit werden lassen, bzw. gibt es einen kontinuierlichen Verlauf ihrer rechtsextremen Karriere nach der einmal begonnenen Rechts-Wendung? Das Instrument der Lebenslauf-Analyse erscheint derzeit ebenso vielversprechend wie methodologisch unterentwickelt und in bezug auf die notwendig aufwendige Datenaufbereitung in der Durchführung problematisch Biographische Lebenslauf-Analysen von Links-Terroristen haben in fast allen Fällen „psychodynamische Besonderheiten" ergeben (Trennung vom Lebenspartner, Heimerziehung, geschiedene Eltern etc.) ohne daß aus diesen eine zwangsläufige Rekrutierung für den Terrorismus ableitbar wäre. Erkennbar sind daraus aber immerhin einige Dispositionen, die eine extremistische Orientierung begünstigen können: Die von Jäger u. a. untersuchte Gruppe von Linksterroristen (N = 227) wies zum Beispiel nur einen Anteil von 76 Prozent auf, der in vollständigen Familien, also mit beiden Eltern, bis zum vierzehnten Lebensjahr aufgewachsen war. Dieser Anteil liegt erheblich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt (= 87 Prozent) Die folgende Tabelle gibt einen Eindruck über die relativ hohe biographische Belastung späterer Terroristen in der Kindheit und Adoleszenz, obwohl die Angaben nicht repräsentativ sind (und es aus verschiedenen Gründen auch nicht sein können) Obwohl die Datenbasis der Untersuchung von Jäger u. a. unter dem Aspekt repräsentativer Sozialforschung schmal ist, und obwohl frühkindliche Sozialisationsprozesse weitgehend ausgespart sind, erhärten die Befunde die These von überdurchschnittlich stark wirksamen Prozessen relativer Deprivation. Unter diesem Gesichtspunkt hat terroristisches Verhalten sowohl von rechts wie von links die objektive Funktion einer Nach-Sozialisation.
Bemerkenswert sind die Ausführungen über die Rolle der Militanz in terroristischen Gruppen. Die Akzeptanz der unmittelbaren physischen Gewaltausübung als Mittel der Politik wird erklärt mit dem allmählichen Hineinwachsen in eine terroristische „Subkultur mit eigenem Wertesystem" „Sie wollen den in der Gruppe an sie gestellten Erwartungen genügen und leiden unter Schuldgefühlen, wenn sie hinter solchen Erwartungen Zurückbleiben. Sie setzen sich Gefahren aus, wenn das Kollektiv, dem sie sich zugehörig fühlen, es ihnen abverlangt. Sie sind zu Gewalt und Tötung imstande, wenn es um die Tötung von Feinden und die Ziele und Interessen der eigenen Gruppe geht. Da sie sich im Sinne der Gruppennormen konform verhalten, werden Handlungen, die nach dem in der Gesamtgesellschaft geltenden Recht kriminell sind, für sie zu keinem Gewissensproblem. Diejenigen, die solche Situationen zunächst konflikthaft erleben, entscheiden sich letztlich im Sinne der Gruppennormen und Gruppenziele.'' Das moralische Bewußtsein schuldhaften Handelns wird aus dieser Sicht durch das neue akzeptierte Wertesystem strukturell ausgeblendet und erleichtert so die Bereitschaft, Entführungen und Mord instrumentell und gruppenkonform zu interpretieren. Obwohl direkte Vergleiche links-und rechtsextremer Gewaltbereitschaft beim derzeitigen Kenntnisstand vorläufigen und hypothetischen Charakter ha-ben müssen, ergeben sich aus der Untersuchung von Hennig u. a. zur rechtsextremen Militanz unter Jugendlichen Hinweise auf Parallelen, aber auch Unterschiede zur Gewalt von links
Auch in rechtsterroristischen Gruppen wird Gewalt moralisch legitimiert durch das gruppeninterne, gesamtgesellschaftlich nonkonforme Wertesystem. Es ist jedoch ganz offensichtlich weniger „rational“ (d. h. theoretisch) durchdacht, sondern viel stärker traditionalistisch durch eine emotionsgeladene, positive Beziehung zum „Vorbild“ des Nationalsozialismus. Hennig u. a. unterscheiden verschiedene Formen des Selbstverständnisses rechtsextremer Gewalt in den Gruppen selbst: defensivverteidigend gegen eine als feindlich erlebte und interpretierte Übermacht des Staates und der Gesellschaft, „Gegengewalt" als Reaktion auf Angriffe z. B. von Linken und offensive Gewaltbereitschaft als Resultat einer sozialdarwinistisch erfahrenen Umwelt und rigorose Konsequenz aus den zur Verfügung stehenden Mitteln politischer Gewaltanwendung.
III. Ausblick: Politischer Extremismus und offene Gewaltbereitschaft — Ein Strukturproblem moderner Demokratien?
Es hat in der ersten und zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in allen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik vergleichbaren westlichen Industriegesellschaften links-und rechtsterroristische Bewegungen gegeben, die mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, demokratische Strukturen mit gewaltsamen Mitteln zu beseitigen. Dabei fällt allerdings auf, daß linksterroristische Bewegungen in hoch-entwickelten westlichen Industriegesellschaften nach den bisher gewonnenen Erfahrungen ohne jede Chance auf die Gewinnung einer Bevölkerungsmehrheit oder gar die Übernahme der Regierungsgewalt sind. Demgegenüber hat der Rechtsterrorismus es immerhin vermocht, vor allem in Italien, Spanien und Deutschland zeitweise das politische System zu erobern. Daraus ließe sich folgern, daß von diesen historischen Erfahrungen her interpretiert die Aufmerksamkeitsrichtungen in der Bundesrepublik eigentümlich verschoben sind: Sie richten sich zu stark nach den aktuellen zahlenmäßigen Größenverhältnissen, nach der Publizität und richtungspolitischen Verwertbarkeit spektakulärer Aktionen und tief-sitzenden antikommunistischen Vorurteilen, nicht jedoch nach historischen Einsichten. Diese müßten nämlich dazu führen, jenseits spektakulärer Aktionen sich stärker mit den Problemen der Gewalt von rechts und ihren Ursachen und Hintergründen zu beschäftigen.
Von einem anderen Gesichtspunkt führt eine Betrachtung der historischen Erfahrungen zu dem Ergebnis, daß politischer Extremismus empirisch gesehen offensichtlich eine „normale Pathologie westlicher Industriegesellschaften" ist (E. Scheuch). Alltägliche, in der Bundesrepublik vorfindliche Deutungsmuster ziehen daraus oft vorschnelle Konsequenzen nach der einen oder anderen Seite. Der häufige Verweis auf das schlechte Abschneiden der NPD bei Bundes-und Landtagswahlen beispielsweise kann dazu führen, die realen Gefahren rechtsextremer Einstellungen und die Wirkungsmöglichkeiten kulturkämpferischer außerparlamentarischer Basisarbeit rechts außen zu unterschätzen. Gerade die in den letzten Jahren sich abzeichnende Konzentration einiger Fraktionen dieses Lagers auf die Ausländerproblematik und ihre Versuche, ausländerfeindliche Stimmungen etwa durch Bürgerinitiativen für sich zu nutzen, markieren ein Bedrohungspotential, das heute prognostisch gar nicht abzuschätzen ist. Umgekehrt sind jedoch auch Entwicklungen absehbar, das Extremismusproblem zu überschätzen und zu dramatisieren. Die emotionsgeladenen Auseinandersetzungen um den Extremistenbeschluß der Ministerpräsidenten von 1972 sind hierfür ebenso ein Beispiel wie die Überreaktionen und sensationsjournalistischen Darstellungen der Tagespresse bei spektakulären Vorfällen mit terroristischen Hintergründen. Angemessene Strategien gegenüber dem Extremismus werden noch dadurch erschwert, daß gerade dieses Thema parteipolitisch bestens geeignet ist, in Wahlkampfmunition umfunktioniert und verwertet zu werden. Nur allzu bekannt sind die Versuche, die demokratische Linke insgesamt in die Nähe der Sympathisanten des Terrorismus zu rücken, wie auf der anderen Seite etwa die politischen Informationsreisen des CSU-Vorsitzenden Strauß in rechte Diktaturen dafür herhalten müssen, eine generelle Nähe des rechten Unionsflügels zum offenen Rechtsextremismus zu konstruieren.
Die terroristischen Erscheinungen in den westeuropäischen Kernländern in diesem Jahrhundert können auf ihre gemeinsamen Wurzeln hin befragt werden: Aus welchen Gründen gab und gibt es in hochentwickelten westlichen Ländern immer wieder Versuche, politische Vorstellungen im Rahmen von Netzwerken zumeist kleiner Gruppen mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen? Versuche zur Beantwortung dieser Frage gehen zumeist davon aus, daß krisenhafte politisch-gesellschaftliche Entwicklungen dazu führen können, daß Individuen und Gruppen, gekennzeichnet von hohem moralischem Rigorismus, darauf mit extremen, und dies heißt auch: gewalttätigen Mitteln reagieren. Es gehört mittlerweile zum common sense der Extremismus-forschung, daß terroristische und extreme politische Bewegungen eine Reaktionsform auf krisenhafte Entwicklungen darstellen. Offen bei diesem Reiz-Reaktionsschema ist jedoch, welcher Typus von Krise terroristische Erscheinungen nach sich ziehen kann. Eine Ebene des politischen Extremismus als Strukturproblem westlicher Demokratien ist durch diesen Mechanismus periodisch wiederkehrender politischer und ökonomischer Krisen und entsprechender extremer und gewalttätiB ger Lösungsversuche in deren Gefolge gekennzeichnet. Diesem Zusammenhang soll hier nicht weiter nachgegangen und statt dessen ein anderer, zumeist unterbelichteter Aspekt etwas näher erläutert werden.
Friedhelm Neidhardt resümiert in einer empirischen Untersuchung über linke und rechte terroristische Gruppierungen: „Der Erfolg des Terrorismus hängt ab von den politischen Wirkungen, die er veranlaßt, und diese Wirkungen werden primär bestimmt durch die gesellschaftlichen Institutionen, gegen die er sich wendet. Dabei kann es sehr wohl sein, daß die Schwäche des Rechtsterrorismus über-kompensiert wird durch Ausmaß und Art der Reaktionen, die ihn beantworten." Neidhardt verweist dabei auf die Funktion und Verantwortung der Massenmedien: „Indem Massenmedien diese Publizität hergestellt und die Sensationspresse Militanz und Terrorismus systematisch überdramatisiert haben, leisteten sie auch in der Bundesrepublik einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung und Stabilisierung von Terrorismus."
Davon ausgehend wäre auf einen sehr wesentlichen Gesichtspunkt hinzuweisen: Terroristische politische Aktionen stehen in einem objektiven gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang, der durch mehrere aufeinander einwirkende Variablen gekennzeichnet ist. Man könnte von einem Interaktionssystem des Terrorismus sprechen, dessen Struktur sich in vereinfachter Darstellungsform etwa so skizzieren läßt:
Unabhängig davon, ob die Aktionen einer terroristischen Gruppe aktuell als Bedrohung wahrgenommen werden, besteht ein dauerhaftes und solche Aktivitäten überdauerndes Strukturproblem von demokratisch verfaßten Gesellschaften darin, daß das Interaktionssystem des Terrorismus, nämlich das Wechselspiel von terroristischer Gruppe, Bevölkerung, kulturellem und politischem System, die Aktionen der Gruppe selbst prägt und zeitlich überdauert. Dann wird zum Beispiel deutlich, daß es durchaus einen „Terrorismus ohne Terroristen" geben kann, womit übrigens die immer wieder gern zitierte Anzahl von Gewalttätern und -taten zu relativieren ist: Die Aktionen von Terroristen führen, wie z. B. die Gesetzgebung in der Bundesrepublik in den letzten Jahren zeigt, zu Veränderungen in den Kontrollund Sicherheitsapparaturen des politischen Systems, die trotz des möglichen Abnehmens der faktischen Bedrohung durch eine terroristische Gruppe in der Regel bestehen bleiben oder nur sehr langsam abzubauen sind, überspitzt formuliert wird so aus dem Kampf gegen den Terrorismus der Kampf um seine Bekämpfung Die Auseinandersetzungen um das Kontaktsperregesetz und den „Gewaltparagraph" 88 a sind hierfür beispielhaft. Für das politische Handlungssystem stellt sich folglich nicht nur — oberflächlich gesehen — die Aufgabe möglichst effizienter Gefahrenabwehr, sondern darüber hinaus auch das Problem des Umgangs mit bürokratisch eingerichteten Kontroll-und Abwehrapparaten, die sich bis zu einem gewissen Grad verselbständigen können, wenn es das gerade aktuelle Problem terroristischer Bedrohungen empirisch gar nicht mehr oder in nur verringertem Ausmaß gibt, wenn also dem Abwehrsystem der eigentliche Gegenstand entzogen ist. Terrorismus ist dann nicht mehr eine „natürliche", sondern nur noch eine institutioneile Tatsache. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts — komplementär zu terroristischen Erscheinungen — Wellenbewegungen von Anti-Terrorgesetzen nachgezeichnet werden können, die jedesmal nach dem Verschwinden der aktuellen Bedrohung Spuren hinterließen in Form „gegenstandsloser" Kontrollbürokratien,die dann selber zu einem Systemproblem geworden sind
Das politische Handlungssystem (Regierung, Polizei, Justiz, Bildungsbereich) steht bei der Behandlung der Gewalt von rechts vor einer doppelten Aufgabe: zunächst vor dem Problem der Abwehr tatsächlicher Gefahren für die Demokratie. Diese erstrecken sich von den politischen Aktivitäten rechtsextremer Gruppen besonders im schulischen und außerschulischen Jugendbereich bis hin zu politisch-kriminellen und terroristischen Aktionen. Die Verbote der Wehrsportgruppe Hoffmann, der Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands (VSBD) und die rechtskräftige Verurteilung von Rechtsterroristen der Hamburger Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) leisten ebenso einen Beitrag dazu wie etwa Bemühungen der politischen Bildung und Aufklärung. Das eigentlich Problematische ist jedoch die vom politischen Handlungssystem kaum geleistete und auch schwierige Unter-scheidungvon Aktionen, die eine tatsächliche Bedrohung darstellen einerseits und solchen Handlungen, die praktisch keine Bedrohung darstellen, aber als solche wahrgenommen, interpretiert und behandelt werden. Es gibt aus dem Bereich politischer Bildung an Schulen unzählige Beispiele von neonazistischen Vorfällen (z. B. Hakenkreuzschmierereien), die erst durch die Überdramatisierung ihre eigentliche Wirkung entfalten konnten Diese „Möglichkeit einer Paradoxie der Wirkungen des linken und rechten Terrorismus" (Neidhardt) muß davon ausgehen, daß die Gewalt von rechts auch ein Stück weit von denen unbeabsichtigt befördert wird, die ihn eigentlich bekämpfen wollen, indem nämlich der objektive Wirkungszusammenhang des Terrorismus übersehen wird. Dies gilt in noch stärkerem Ausmaß für das kulturelle System und dort vor allem für die Deutungsangebote der Massenmedien.
Die zu fordernde Unterscheidungsleistung zwischen realer und nur vermeintlicher Bedrohung wird von einem Teil der audiovisuellen und gedruckten Medien vor allem deshalb nicht erbracht, weil der Terrorismus einen hohen „Unterhaltungswert" besitzt. Dieser Sachverhalt ist insbesondere von der RAF und ihren Nachfolgeorganisationen systematisch ausgenutzt worden, denn im Gegensatz etwa zu Guerilla-Bewegungen in Ländern der Dritten Welt sind Terroristen in hochentwickelten Ländern geradezu angewiesen auf die medial vermittelte Publizität: „Allen Guerillastrategien ist gemeinsam, daß sie ihre politisch-militärischen Ziele durch die Anwendung von Gewalt unmittelbar zu erreichen suchen und es ihnen primär um die physischen Folgen der Gewaltanwendung geht. Dagegen orientiert sich die Strategie des Terrorismus ... an den durch die Gewaltanwendung provozierten Reaktionen bei Freund, Feind und zunächst Gleichgültigen und sucht so primär die psychischen Folgen der Gewaltanwendung." Rechte Terrorgruppen haben diesen Zusammenhang sehr wohl erkannt und für sich zu nutzen verstanden, wie etwa die Äußerungen des inhaftierten ehemaligen ANS-Vorsitzen-den Kühnen in einer Wochenzeitung deutlich belegen -Es kommt noch hinzu, daß in der politischen Kultur der Bundesrepublik das Problem der Gewalt von rechts überlagert ist von der Hypothek des Dritten Reiches, so daß Provokationen mit neonazistischen Hintergründen sensibler wahrgenommen werden als andere. Dadurch wird einerseits der mediale „Unterhaltungswert" der Gewalt von rechts noch gefördert, gleichzeitig aber entsteht für das politische System ein zunehmender Handlungsdruck. Zusammenfassend: Gewalt von rechts ist in westlichen Demokratien mit hochentwickelten elektronischen Medien auch deshalb zu einem Strukturproblem geworden, weil die objektive Verflechtung von terroristischen Aktionen, Reaktionen der Medien und der Bevölkerung und daraus folgenden Erwartungen an das politische System sich zu einem Kreislauf verdichtet hat, zu einer Interaktionsstruktur, die hinter dem Rücken der Beteiligten der Gewalt von rechts ihr Gepräge gibt. Während etwa die Anschläge der Brigade Ehrhardt und Organisation Consul nach 1918 einen Selbstzweck darstellten im Kampf gegen die „Verräter" von links, und während der nationalsozialistische „Kampf um die Straße" durchaus wörtlich verstanden werden mußte, sind die Aktionen der letzten Jahre nur noch Mittel zum Zweck: Der Oktoberfest-Anschlag war nicht eigentlich ein Angriff auf „Münchner Brauchtum“, bestimmte Wiesn-Wirte oder Besucher des Festes, sondern er sollte ein „Fanal“ setzen und die Reaktionen des beschriebenen Interaktionssystems bewußt provozieren. Die militanten Anschläge der „Deutschen Aktions-gruppen“ gegen Asylantenwohnheime sind vor dem gleichen Hintergrund zu sehen: Es geht hier nicht um gezielte Attentate auf bestimmte Personen oder das Zerstören konkreter Gebäude als solche, sondern den Attentätern geht es darum, das skizzierte Interaktionssystem des Terrorismus in Gang zu setzen, Überreaktionen hervorzurufen und Mobilisierungseffekte in der Bevölkerung freizusetzen. Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: — Die sozial-und medienwissenschaftliche empirische Erforschung der Wirkungszusammenhänge der Gewalt von rechts steht noch aus. Die für den Linksterrorismus vorgenommenen Untersuchungen (vgl. Anm. 41) ersetzen diese nicht, müssen aber auf ihre Brauchbarkeit für eine umfassende Analyse der Gewalt von rechts hin überprüft werden. — Die in der politischen Bildung über Nationalsozialismus und Neonazismus insbesondere von Seminarteilnehmern häufig zu Recht gestellte Frage nach Einwirkungsmöglichkeiten und Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus ist nicht mir ein Beleg für das Bedürfnis aktiver Verteidigung der Demokratie, sondern auch ein Beleg für den Handlungsdruck, den das Interaktionssystem der Gewalt von rechts für die Institutionen nach sich zieht. Für die politische Bildung ergibt sich die Aufgabe, stärker als bisher den eigentlichen Gegenstand, historische und aktuelle Gewalt von rechts, zu hinterfragen, indem seine objektiven Wirkungszusammenhänge in didaktische Überlegungen einbezogen werden: Reaktionen der politisch Verantwortlichen, der Justiz, der Massenmedien und der Bevölkerung ist künftig stärker Beachtung zu schenken als bisher. Erst eine solche Betrachtungsweise, die die Wirkungszusammenhänge der Gewalt von rechts nicht aus den Augen verliert, vermag das Gewaltproblem als ein gesellschaftliches zu erfassen, Unterscheidungen zwischen faktischer und nur wahrgenommener Bedrohung zu leisten und zu begründen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Hans-Gerd Jaschke, Dr. phil., geb. 1952; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J. W. Goethe-Universität, Frank-furt/Main. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Revolte von rechts. Anatomie einer neuen Jugendpresse (zus. mit P. Dudek), Frankfurt 1981; Die „Deutsche National-Zeitung". Inhalte, Geschichte, Aktionen (zus. mit P. Dudek), München 1981; Die „neue" rechtsextreme Jugendpresse. Politische Hintergründe und gesellschaftliche Fol-gen (zus. mit P. Dudek), in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/1981; Jugend rechtsaußen. Analysen, Essays, Kritik (zus. mit P. Dudek), Bensheim 1982; Soziale Basis und soziale Funktionen des Nationalsozialismus. Studien zur Bonapartis-mustheorie, Opladen 1982.
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