Dramaturgie politischer Reformen Reformkonjunkturen, neue soziale Bewegungen und politisches Krisenmanagement
Stephan Ruß-Mohl
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Zusammenfassung
Reformkonjunkturen — das sind jene Fieberkurven der Politik, die sich aus umfassenden Reformversuchen und deren anschließender (partieller) Zurücknahme ergeben. Die vorliegende Arbeit untersucht dieses Muster politischer Problemverarbeitung, das in den letzten beiden Jahrzehnten die Innen-und Sozialpolitik in der Bundesrepublik und den USA stark geprägt hat. Ausgelotet werden die Entstehungsbedingungen und Verlaufsmuster solcher Reformkonjunkturen sowie deren Rückwirkungen auf Politik und Verwaltung, insbesondere auf den „Lebenszyklus“ derjenigen Organisationseinheit, die vorwiegend das jeweilige Reformproblem verarbeitet. Die Mechanismen politischen Krisenmanagements und die Dynamik der Politikentwicklung in hochentwickelten Industriegesellschaften werden auf diese Weise durchschaubarer.
Einleitung
Die Politik in der Bundesrepublik ist derzeit von Immobilismus und Lähmungserscheinungen geprägt. Nichts geht mehr; die Verwaltung des Mangels ist zum zentralen Problem geworden. Kühne Reformentwürfe, wie sie noch vor einem Jahrzehnt gang und gäbe waren, haben im Kalkül der Politiker keinen Platz mehr. Und trotzdem gibt es untrügliche Kennzeichen eines neuerlich steigenden Reformbedarfs in unserer Gesellschaft, der bereits zu ersten Akzentverschiebungen in der innenpolitischen Diskussion geführt hat. Indizien sind — das Aufkeimen neuer sozialer Bewegungen (Jugendprotest, Friedens-, Ökologie-und Frauenbewegung);
— damit einhergehende, sich anbahnende Veränderungen in der Parteienlandschaft;
— das Tempo, mit dem sich derzeit technologische Neuerungen (Mikroprozessoren, neue Medien etc.) ausbreiten. Wobei sich die Lawine sozialer Folgeprobleme, die mit diesen Innovationsprozessen auf uns zurollt, in ihrem Ausmaß allenfalls erahnen läßt, hingegen schon jetzt feststehen dürfte, daß die „Lawi-
nenopfer" dem Staat die Hauptlast der Problembewältigung zuweisen werden.
So stellt sich sehr konkret die Frage, ob denn die Erfahrungen mit der Reformpolitik der sechziger und siebziger Jahre hinreichend aufgearbeitet wurden, um daraus für die Zukunft zu lernen. Gewiß, Sozialwissenschaftler haben sich des Themas bemächtigt. Vor allem rückte die Frage nach den Grenzen der Reformpolitik und politischen Planung in hoch-entwickelten Industriegesellschaften in den Mittelpunkt politik-und verwaltungswissenschaftlicher Forschung Diese Untersuchungen waren jedoch überwiegend statisch angelegt — d. h. die (Eigen-) Dynamik von Reformpolitiken blieb eher unterbelichtet. Gerade die Vernachlässigung der Zeitdimension, der Ver-zieht auf Längsschnittuntersuchungen führte zu Unschärfen bei der politischen Analyse. Sie mündete zumeist in „zeitlose" Verallgemeinerungen über zunehmende Komplexität und wachsenden Problemdruck einerseits sowie begrenzte Problemverarbeitungskapazität von Politik und Verwaltung und damit drohende Unregierbarkeit andererseits.
Inzwischen ist dieses Analysedefizit erkannt, und es finden sich erste Arbeiten, die sich für die Verlaufsmuster jener Prozesse interessieren, in denen Reformen durchgesetzt oder — in der Regel wahrscheinlicher — erfolgreich blockiert werden Daran soll hier angeknüpft werden.
I. Reformkonjunkturen — Begriffsdefinitioh und Untersuchungsansatz
Unsere erste Hypothese ist, daß die staatliche Reformkapazität sich nicht nur langfristig an den durch die Wirtschaftsordnung und die technologische Entwicklung bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten bemißt, sondern auch kurzfristigen „konjunkturellen“ Schwankungen unterliegt. Sozialpolitisch motivierte Reformpolitiken, wie sie exemplarisch während der Kanzlerschaft Willy Brandts in der Bundesrepublik und — zeitlich vorverschoben — unter den Präsidenten Kennedy und Johnson zu Beginn der sechziger Jahre in den USA eingeleitet wurden, tendieren — so unsere Vermutung — zu zyklischen Verlaufsmustern. Solche zyklischen Politikverläufe wollen wir Reformkonjunkturen oder Reformzyklen nennen.
Für Sozialwissenschaftler ist zwar die Beobachtung keineswegs neu, daß bestimmte Probleme zu vorrangigen politischen Themen („Issues“) avancieren (z. B. „Bildungskatastrophe", Krise der Stadt, Umweltzerstörung, neue Wohnungsnot), sie dann aber — gewöhnlich sehr viel schneller, als eine „befriedigende“ Problemlösung erfolgen kann — für die öffentliche Diskussion wieder ihre Bedeutung verlieren. In der Literatur ist hierzu etwa von politischen „Problemkonjunkturen", von „Zyklenbewegungen ökonomischer und legitimatori-scher Anforderungen" oder von „Lebenszyklen politischer Themen" die Rede Ein Bezug zwischen der „Problem-Karriere" und deren Rückwirkungen auf den Strukturwandel politischadministrativer Institutionen wurde bislang jedoch kaum hergestellt. Um diese Forschungslücke zu füllen, werden die Ergebnisse zahlreicher Fallstudien sowie theoretisch vermittelte Einsichten zusammengeführt. Präsentiert wird im folgenden eine idealtypische Reformkonjunktur Die „Karriere" eines sozialen Reformproblems, das wir der Einfachheit halber mit x bezeichnen, wird über sechs typische Entwicklungsstadien hinweg verfolgt.
Die Dynamik der Politikentwicklung soll näherungsweise vergegenwärtigt werden, indem wir für jede dieser Phasen typische Machtkonstellationen bzw. -Verschiebungen herausarbeiten. Insbesondere werden wir danach fragen, welches Einflußpotential in den jeweiligen Stadien den hauptbeteiligten Kontrahenten zuwächst. Das sind einerseits die Interessen, die problemverursachend wirken, sei es durch produktive Aktivitäten (z. B. Autound Straßenbauindustrie bei verkehrsbedingten Umweltproblemen) oder auch durch reproduktiv-konsumtive Tätigkeiten (z. B. Autofahrer durch Lärm-und Abgasemissionen). Ihnen gegenüber stehen jene Interessen, die an einer Beseitigung des Problems, also an einer Reform, interessiert sind, sei es als Hauptleidtragende (z. B. betroffene Anlieger) oder als professionelle Problemloser, die kommerzielle Interessen verfolgen (z. B. Umweltschutzindustrie). Wir werden ferner Hypothesen formulieren, wie die Medien sich in den einzelnen Phasen verhalten, und auf welcher Seite Teile der Öffentlichkeit („Mitläufer") typischerweise im Verlauf der Reformkonjunktur Partei ergreifen.
Sodann wenden wir uns dem staatlichen Institutionensystem zu und fragen, wie es auf die skizzierte Machtkonstellation jeweils reagiert: Welche Aktivitäten werden Politiker entfal-ten? Welche Möglichkeiten stehen ihnen in den einzelnen Phasen zur Verfügung, um die Problemlösung anzupacken? Wie verschieben sich die Machtverhältnisse in der Arena der Politik bzw. zwischen den verschiedenen beteiligten Bürokratien? Wie verändert sich jene Organisationseinheit, die für die Problemverarbeitung primär zuständig ist?
II. Verlaufsmuster einer Reformkonjunktur
1. Latenzphase: Ein soziales Problem entwickelt sich „unter der Decke"
In der Latenzphase entwickelt sich Problem x, ohne bereits von relevanten Entscheidungsträgern als kritisch oder bedrohlich wahrgenommen zu werden. Es wird zwar oft relativ frühzeitig erkannt — fast jede Krise hat bekanntlich ihre Propheten. Ihnen gelingt es jedoch zunächst nicht, das Problem in die Arenen politischer Entscheidungsfindung oder auch nur öffentlicher Auseinandersetzung zu bugsieren. X gilt damit allenthalben als unproblematisch; es wird verdrängt, vielleicht auch bewußt von interessierter Seite aus der entscheidungsrelevanten Arena herausgehalten.
Kontrahenten, Medien und Mitläufer in der Latenzphase
Weder die Problemverursacher noch die Reforminteressen sind zunächst, was Problem x anlangt, in nennenswertem Umfang politisch aktiviert. Die ersteren sind in der Latenzphase die dominanten Interessen — auch wenn sich der unerwünschten Nebeneffekte, die deren Interessenverfolgung zeitigt, kaum jemand bewußt ist. Auf der Gegenseite stehen mannigfaltige Faktoren einer politischen Organisation entgegen Die reformorientierten Kräfte können daher in der Latenzphase als verdrängte Interessen klassifiziert werden.
Für die Medien, die ja im Regelfall bei der Nachrichtenvermittlung aus „zweiter Hand" leben und zumindest ohne aktuellen Anlaß kaum eigene Rechercheleistungen erbringen, bleibt x jenseits des Aufmerksamkeitshorizontes — und damit auch für das Publikum, das seinerseits auf die Angebote der Medien angewiesen ist. Allenfalls in Fachpublikationen und in Leserbriefspalten, die Solesbury trefflich als „Geburtsstätten und zugleich Friedhöfe neuer politischer Themen" apostrophiert fristet x ein kümmerliches Dasein.
Politik und Verwaltung in der Latenzphase Weder die Schaltstellen der Exekutive noch die parlamentarischen Gremien befassen sich mit x; Politik und Verwaltung widmen sich anderen, dringlicheren Aufgaben. Die Situation im staatlichen Institutionensystem läßt sich wie folgt umreißen:
a) Die Interessen der Verursacher sind zumeist (und insbesondere dann, wenn es sich um Produzenteninteressen handelt) über Klientelbeziehungen repräsentiert; dieser Umstand kann (auch ohne explizit auf das Problem bezogene Lobbyanstrengungen) bereits hinreichend Anlaß für Problemverleugnung oder -Vernachlässigung und Nichtentscheidung seitens der Politik sein
b) Problemerzeugende bzw. -verstärkende staatliche Stellen nehmen, ähnlich den privaten Problemverursachern, die Nebeneffekte ihres Tuns kaum als „problematisch" wahr und verdrängen x.
c) Reforminteressierte Gruppen sind für den politischen Prozeß — noch — irrelevant.
d) All dies schließt nicht aus, daß es politischadministrative Instanzen gibt, die mit der Beobachtung und Bearbeitung von x — zumindest ansatzweise — betraut sind. Derartige Einheiten fristen jedoch ein Schattendasein; sie sind in Randbereichen bestehender Bürokratien angesiedelt, erfreuen sich kaum der Aufmerksamkeit der Spitze der Organisationspyramide und teilen sich womöglich die Kompetenzen mit ähnlichen Unterabteilungen anderer Behörden. Die Vermutung liegt nahe, daß solche Einheiten kaum effektiv zur Problemlösung beitragen können. Meist sind sie unterfinanziert, in verkrustete Strukturen eingebunden und mit zu Routineverhalten neigendem Personal besetzt.
Sollten derartige Basiseinheiten dennoch Reformversuche unternehmen, so scheitern sie mit hoher Wahrscheinlichkeit. Leistungen, die von ihnen erbracht werden, zeichnen sich meist durch zweierlei aus: Sie überschneiden sich mit anderen Leistungen oder werden von anderen Maßnahmen der öffentlichen Hand konterkariert; und sie zielen nur unzureichend auf die Betroffenen.
2. Initialstadium: Das Problem wird . politisch entscheidungsbedürftig"
Probleme und reformbedürftige Mißstände in der Latenzphase gibt es viele. Die allerwenigsten überwinden die Schwelle der Problem-verdrängung und des Nichtentscheidens und avancieren damit zum politischen Thema. Weshalb und unter welchen Umständen gelingt es, diese Hürde zu nehmen? Auch wenn sich unser primäres Interesse weniger auf die Entstehung „neuer" Themen als auf deren politisch-administrative Verarbeitung richtet, seien hier einige, teils spekulative Antworten genannt:
Um Zugang zur politisch-administrativen Arena zu finden, bedarf ein Problem öffentlicher Aufmerksamkeit und Legitimität. Dies mag trivial erscheinen, indes wird damit dreierlei deutlich:
Erstens genügt öffentliche Aufmerksamkeit allein nicht, um in einem Politikbereich Reforminitiativen in Gang zu bringen. So haben etwa Jungsozialisten und Gewerkschaften mit ihren Forderungen nach Investitionslenkung oder die CDU mit der „Neuen sozialen Frage“ nachhaltige öffentliche Diskussionen ausgelöst. Auf die Ebene politisch-administrativer Problemumsetzung sind sie mit ihren Konzepten jedoch nicht vorgestoßen.
Vielmehr müssen — zweitens — Themen mit dem Wertsystem einer Gesellschaft, das freilich sehr komplex, facettenreich und selbst in stetem Wandel begriffen ist, kompatibel sein. Je mehr ein Problem mit Grundwerten der Gesellschaft verknüpft werden kann, je eindeutiger das Wertsystem die Problemlösung der öffentlichen Hand zuweist und je überzeugender das Problem als lösbar definiert werden kann, desto wahrscheinlicher wird das Thema Legitimität gewinnen und damit Zugang zur Arena der Politik finden
Drittens sind nicht alle Methoden, die sich eignen, das Interesse der Medien und damit der Öffentlichkeit auf ein Problem zu lenken, gleichermaßen hilfreich, um einem Anliegen Legitimität zu verschaffen. Die Mittel, deren sich etwa Terroristen bedienen, garantieren hohe Medienresonanz; sie diskreditieren jedoch zugleich deren politische Forderung nach einer humaneren, herrschaftsfreien Gesellschaft. Um ein Thema in der politischen Arena zu plazieren, bedarf es also oftmals einer Gratwanderung am Rande der Legalität. Die Aufmerksamkeit der Medien ist vielfach nur durch Regelverstoß zu erzielen; ihn gilt es jedoch so zu dosieren, daß er nicht die Legitimität des Anliegens gefährdet.
Häufig wird der Prozeß, in dem ein Problem politisch entscheidungsbedürftig wird, durch ein unvorhergesehenes, dramatisch zugespitztes Ereignis beschleunigt. Derart spektakuläre Begebenheiten mit katalytischer Wirkung sind zumeist Krisensituationen, wobei sich nach deren Entstehungszusammenhang folgende Grundtypen differenzieren lassen:
— Problemverschärfung: Die problemverursachende Interessenverfolgung führt sukzessive zu Kumulativeffekten, durch die eine qualitativ neue Problemlage entsteht (z. B. droht ein See biologisch umzukippen), oder läßt sprunghaft eine neue Problemdimension entstehen (z. B. durch „Betriebspannen" wie in Se-veso, Harrisburg etc.);
— Protest: Infolge überstrapazierter Hinnahmebereitschaft der Problembetroffenen kommt es zur Loyalitätsaufkündigung und Regelverletzung (ziviler Ungehorsam, Streiks, Gewaltausbrüche etc.);
— Drittwirkung: Ein „externes" Ereignis, das weder unmittelbar Folge der Problemverursachung ist noch als Reaktion der Problembetroffenen gewertet werden kann, löst Krisen-stimmung aus und wird interpretativ mit der Problemlage verknüpft (z. B. „Sputnik-Schock" und „Bildungskatastrophe").
Diese grobe Klassifizierung macht bereits deutlich, daß Krisensituationen nicht immer „zufällig" wie Naturkatastrophen über eine Gesellschaft hereinbrechen, vielmehr mindestens ebenso oft bestimmter Inszenierungsleistungen bedürfen. Ohne engagierte und befä-higte Akteure, die das Auslöserereignis zu nutzen (gelegentlich eben auch: zu arrangieren) verstehen, können Krisensituationen in bezug auf Reforminitiativen folgenlos „leerlau-fen" Die Funktion solcher . Agenten des Wandels" besteht also darin, unter Nutzung ihrer politischen Ressourcen eine objektiv not -handene, aber bislang latente Problemlage in eine von der Öffentlichkeit und (vor allem) von relevanten politischen Entscheidungsträgern subjektiv erkannte und als untragbar empfundene Problemsituation zu verwandeln
Kontrahenten, Medien und Mitläufer im Initialstadium Wenn Problem x das „Inkubationsstadium" hinter sich läßt, also — bedingt durch das eben umschriebene Zusammenwirken von Auslöserereignis und Reformagenten — erste Ansteckungseffekte virulent werden, ist die Sternstunde der „neuen“, auf schnelle und nachhaltige Problemlösung zielenden Interessen gekommen. In ihrem Lager herrscht Aufbruchstimmung: Es gelingt ihnen, die Handicaps zu überwinden, die bislang einer Interessenformulierung entgegenstanden, und eine lose Reformallianz beginnt zu entstehen, die — obschon unstrukturiert — erstmals politisch Gewicht erlangt. Damit erreichen die auf Problemlösung zielenden Kräfte den Status des Herausforderers. All diese diskutierten Veränderungen lenken jetzt Aufmerksamkeit auf sich: „Das Neue hat eine Vermutung der Wichtigkeit für sich.“ Der Sensationswert des (Krisen-) Ereignisses und/oder das spektakuläre Auftreten der Reformagenten verändern auch das Nutzenkalkül journalistischer Recherche: Plötzlich lohnt es sich, x als Thema aufzugreifen. Eine breitere Öffentlichkeit „entdeckt" jetzt das Problem.
Die Problemverursacher sind in dieser Phase eher Gefangene des Überraschungseffektes: Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie auf die neuentstandene Lage zunächst konzeptionslos und widersprüchlich reagieren — mit dem Ergebnis, daß die Wirkung solcher Reaktionen verpufft oder sogar die öffentliche Auseinandersetzung weiter angeheizt wird.
Politik und Verwaltung im Initialstadium a) Die politisch-administrative Arena Jeder Staat verfügt über Indikatoren, die bedrohliche Entwicklungen anzeigen. Solche . Alarmanlagen“ variieren allerdings hinsichtlich ihrer Sensibilität und Reichweite beträchtlich. Zunächst werden deren Warnsignale ohnehin eher unterschätzt werden. Nicht jede Abweichung von Soll-und Ist-Werten in der Problementwicklung, die das Instrumentarium zu registrieren vermag, löst Reaktionen aus und setzt die politisch-administrative Reformmaschinerie in Gang. Vielmehr erbringen Politik und Verwaltung ihrerseits bei der Thematisierung politischer Probleme Selektionsleistungen: Institutionelle Verkrustungen, Kontrolle über die „Spielregeln" der Konfliktaustragung und der Einfluß politisch-administrativer Meinungsführer auf die Problemdefinition können etwa als Filter wirksam werden
Oft wird man zunächst versuchen, neuen Anforderungen mit punktuellen Anpassungen vorhandener Routinepfogramme zu begegnen — zumal sich in diesen ja auch eine beachtliche Investition an Zeit, Geld und Anstrengung manifestiert, und an sie auf vielfache Weise Eigeninteressen von Politikern und Bürokraten gebunden sind Solches Verhalten hat dann allerdings leicht ein wachsendes Steuerungsdefizit zur Folge und verstärkt womöglich die krisenhaften Turbulenzen.
Konstitutiv für einen Reformzyklus ist jedenfalls, daß die Impulse aus der Umwelt schließlich von der Politik aufgenommen werden: Mit dem überschreiten bestimmter variabler Schwellenwerte der Krisengefahr werden die Risiken eines Festhaltens am Status quo als so hoch bewertet, daß die mit Reforminitiativen verbundenen Kosten als das kleinere Übel erscheinen Problem x geht damit in die Hände derer über, die mit wechselnden Themen Politik betreiben
Politiker in parlamentarischen Gremien und in den Schaltstellen der Exekutive werden alsbald die Lage zu entschärfen suchen, indem sie zu erkennen geben, daß sie das Problem ernst nehmen und bereit sind, Forderungen zu beantworten (wenn auch nicht unbedingt zu erfüllen). Dies kann auf vielfältige Weise gesche-hen; zumeist wird es sich um symbolische Gesten, um „problemversüßendes Zuckerbrot" (Narr) handeln. Folgende drei Reaktionsweisen gehören dabei so sehr zum Standardrepertoire, daß Zuccotti — als Deputy Mayor von New York selbst erfahrener Verwaltungspraktiker — sie als „Imperative" bezeichnet hat:
1. Die — mehr oder weniger visionäre — Ankündigung von Gesetzesinitiativen (bzw. von Planungen und Programmen): Damit versichern Entscheidungträger ihrem Publikum, daß das Problem auf der Tagesordnung bleibt und „angepackt" wird.
2. Die Einschaltung von Experten und Betroffenen in Anhörungs-und Partizipationsverfahren: Damit wird dem Demokratisierungspostulat Rechnung getragen, mit dem Reformer meist ihre inhaltlichen Forderungen verknüpfen.
3. Die Einleitung administrativer Reorganisation: Damit wird die Problemverarbeitung sichtbar in der Exekutive verankert Immerhin ermöglicht die Krisenerfahrung somit eine Flurbereinigung in der Verwaltung, wie sie sonst kaum denkbar wäre; denn mag Problemfeld x bisher auch „Niemandsland" am Rande des Aufmerksamkeits-und Interessenhorizontes mehrerer Bürokratien gewesen sein — gegen Kompetenzentzug würden sich die betroffenen Behörden zu „Normalzeiten" allemal zur Wehr setzen. b) Die problemverarbeitende Organisationseinheit Mit zwei — scheinbar widersprüchlichen — Strategien passen sich Politik und Verwaltung der neuen Problemlage an: mit Strukturdifferenzierung und Kompetenzzentralisierung. 1. Strukturdifferenzierung: Aus dem bestehenden Institutionensystem wird eine Organisationseinheit ausgegliedert, die sich auf die Problemverarbeitung x spezialisiert
2. Kompetenzzentralisierung: Wesentliche Koordinations-und Entscheidungsbefugnisse werden dieser neuen Einheit übertragen. Gedacht als Ansprechpartner insbesondere für die reformorientierten „neuen" Interessen, wird sich Sx zunächst als außerordentlich offen präsentieren. Bereits in ihrem „Geburtsstadium" unterscheidet sich die neue Organisationseinheit auch in ihren Programm-, Organi-sationsund Personalstrukturen deutlich von den mit x befaßten Dienststellen aus der Latenzphase.
. Zur Programmatik von Sx Die veränderten Rahmenbedingungen lassen einen Freiraum für aktive Politikgestaltung entstehen. Die Programmatik steht sachlich-inhaltlich noch zur Disposition. In der Zeitdimension muß sie sich an widersprüchlichen Anforderungen ausrichten: Einerseits steht die neue Organisationseinheit kurzfristig unter Erfolgszwang, andererseits wird von ihr eine mittel-bis langfristige Strategie der Problemlösung erwartet. In sozialer Hinsicht wird die Programmatik verstärkt Reforminteressen zu berücksichtigen haben; sie wird jedoch damit kaum Konflikte provozieren.
Zur Organisationsstruktur von Sx In der Initialphase wird man sich Sx typischerweise als Stabsstelle in einem der bestehenden Ressorts oder im Entscheidungszentrum der Exekutive, gelegentlich auch als ressort-übergreifende Projektgruppe, vorzustellen haben — hierarchisch relativ hoch angesiedelt, jedoch noch kaum als eigenständige Linien-einheit mit entsprechendem Verwaltungsunterbau. Die Organisationsstruktur wird sich durch einen hohen Grad an Informalität auszeichnen. Noch ist Sx überschaubar. Intern lassen sich Reibungsverluste auch ohne das Korsett ausgeklügelter Hierarchien, Statusabstufungen und Dienstwege minimieren.
Zur Personalstruktur von Sx Als Personal lockt eine solche Organisationseinheit, die eine interessante, wachstums-trächtige Aufgabenstellung sowie relativ privilegierte Arbeitsbedingungen zu bieten hat, hochqualifizierte Karrieristen an, vor allem aber auch Leute, die sich der Sache, um die es geht, verschrieben haben. An die Spitze von Sx wird möglichst eine Persönlichkeit berufen, die das Vertrauen sowohl der Exekutivspitze als auch Ansehen bei den auf Problemlösung drängenden Reforminteressen besitzt; oftmals wird diese Persönlichkeit sogar aus der Garde der Reformagenten kooptiert. 3. Aufschwung: Die Problemverarbeitung wird zum „Selbstläufer"
In der Aufschwungphase werden eine Reihe von Verstärkermechanismen wirksam, durch die sich die Machtbasis der Reformer und der problemverarbeitenden Organisationseinheit weiter verbreitert. Problem x gelangt sozusagen ins Stadium selbsttragenden Wachstums — häufig unter Begleitumständen, die als politische Hausse-Spekulation umschrieben werden können.
Mit der Aktivierung weiterer Teilnehmer, die sich in die Problemverarbeitung einschalten, gehen Prozesse der Problem-Redefinition und der Problem-Dramatisierung einher — auch wenn der erste „Krisenschock" bereits verwunden sein mag. Häufig entsteht zugleich ein Klima aufklärerischer Problemlösungseuphorie: Mobilisierungserfolg und politische Resonanz verleiten zu der Einschätzung, daß erkannte Probleme auch lösbare Probleme sind — vorausgesetzt, es wird genügend Druck auf die zuständigen Instanzen ausgeübt.
Medien, Kontrahenten und Mitläufer in der Aufschwungphase „Schneeballeffekte" eines Mediensystems, das Wettbewerbsmechanismen unterworfen ist, werden jetzt voll wirksam: Was im „Spiegel" die Titelseite macht, können auch die „Welt" und die „Zeit“ nicht übergehen. Mit fortschreitender Popularisierung des Themas sinken zudem die Kosten der Recherche wie der Vermarktung weiter. Informationen, die x betreffen, sind jetzt auf dem Markt leichter erhältlich; Journalisten schreiben voneinander ab; das Risiko, mit Thema x bei der . Abstimmung am Kiosk“ gegenüber der Konkurrenz zu unterliegen, nimmt ab. Journalisten, die die Nase vorn haben, eröffnet das Thema Spezialisie-rungsoder gar Karrierechancen.
Hohe Medienaufmerksamkeit bewirkt dabei — so ist zu vermuten — zumindest viererlei: — Medien wirken als Multiplikatoren von Lernprozessen und lösen so Widerstände auf, die sich bisher aus Nicht-Wissen oder aus unzutreffender Problemwahrnehmung ergeben haben mögen (Aufklärungsfunktion).
— In der Berichterstattung wird die Lösungsbedürftigkeit von x einseitig unterstrichen; es dominieren Schwarz-Weiß-Töne, die aber — insoweit wirkt das krisenhafte Auslöserereignis nach — kaum polarisieren, vielmehr eher zur Überwindung von Dissens auf dem Wege der Ideologiebildung beitragen (Harmonisierungsfunktion). — Der auf Politik und Verwaltung lastende Druck, eine Problemlösung herbeizuführen, verschärft sich: Die Hervorhebung eines bestimmten Problems durch die Medien korreliert stark mit der Problemwahrnehmung in der Wählerschaft; Politiker und Bürokraten tendieren dazu, die veröffentlichte Meinung als gewichtigen handlungsleitenden Faktor zu werten („Durchlauferhitzer'-Funktion).
— Problem x wird für den kurzfristigen Nachrichtenkonsum „zurechtgestutzt“: Spektakuläre Nebensächlichkeiten werden aufgebauscht, Vorgänge zu aktuellen Ereignissen umgemünzt, Strukturfragen personalisiert und komplexe Probleme zerstückelt und zu wenigen, symbolhaft wichtigen Entscheidungen verdichtet (Verzerrungsfunktion).
Mit der gesteigerten Publizität verstärkt sich der Mobilisierungsprozeß in der Bevölkerung weiter (und liefert damit den Medien neuen Stoff für die Berichterstattung). Charakteristisch für die Aufschwungphase ist, daß die Reformer zur dominanten Interessengruppe avancieren. Bislang unpolitische Organisationen werden politisiert. Mitläufer schließen sich scharenweise der Reformbewegung an — aus recht unterschiedlichen Motiven, wie etwa allgemeiner Unzufriedenheit, unterentwickeltem Bewußtsein für die Reformkosten aus zum Selbstzweck geronnener Lust an Protestaktionen, aber auch aus altruistischen Impulsen.
Auch Interessen, die lediglich sekundär motiviert sind, also von der Aufmerksamkeit, die x zuteil wird, mitprofitieren wollen, „hängen sich an" und stützen damit zunächst die Reformer. Mitunter sind es recht „befremdliche Allianzen ..., welche sich einer Krisis ... an den Hals werfen“ Wo Reformpolitik wirklich zum Zug kommen soll, wird indes die Basis der Reformallianz auch meist erheblich breiter sein müssen als die Gruppe der unmittelbar Problembetroffenen. Wie bereits angedeutet, können unbedachte erste Reaktionen der Problemverursacher (Gegenangriffe) sowie von Politik und Verwaltung (Repressionen) den Mobilisierungseffekt zugunsten der Reformer steigern. Aber auch wohlkalkulierte Strategien zum Abbau des Problemdrucks (Umarmung, Kooperationsund Partizipationsangebote) stärken ihnen zumindest temporär den Rücken:
— Sie vermitteln Erfolgserlebnisse, und Erfolgserlebnisse locken nicht nur neue, sondern verstärken auch das Engagement der bereits mobilisierten Teilnehmer. — Sie animieren zur Organisationsbildung, wodurch sich zumindest kurzfristig die Schlagkraft der Reformer weiter erhöht.
Zusammen mit dem Einflußpotential wächst das Selbstvertrauen, es eskalieren aber auch — was sich später als besonders problematisch erweisen wird — die Erwartungen und Ansprüche der reformorientierten Kräfte.
Von der erstarkenden Reformallianz in die Sündenbockrolle gedrängt, vermögen die Problemverursacher während der Aufschwungphase wenig auszurichten. Unter dem Eindruck der Machtverschiebungen wird es allen-falls gelingen, ihre „Schlachtreihen" neu zu ordnen und die — oftmals schwierige — Definition der eigenen Interessenlage in bezug auf x voranzutreiben. Damit wird nach der ersten Krisenverwirrung immerhin strategisches Handeln möglich, das sich allerdings zunächst auf Abwarteoder Umarmungsmanöver beschränken dürfte:
— Mit Abwarten wird jener Solidarisierungseffekt zugunsten der Reformer vermieden, den unkoordinierte Gegenangriffe in der Initial-phase gezeitigt haben mögen. Dem Gegner wird gleichsam das Feindbild entzogen. Abwarten ist auch nicht so zu verstehen, daß es gezieltes Wirken hinter den Kulissen ausschlösse: sich zu rüsten für den Zeitpunkt, da politisch Weichen gestellt werden, und diesen Zeitpunkt hinauszuzögern, um wirksamere Veto-Positionen aufbauen zu können — das alles mag Teil einer Abwartestrategie sein.
— Umarmungsstrategien gehen noch weiter und anerkennen grundsätzlich die Lösungsbedürftigkeit von x. Sie sind von Vorteil, weil sie eine „Versachlichung" der Diskussion im wohlverstandenen Interesse der Problemerzeuger einleiten können.
Die Bekundung von Kooperationsbereitschaft bei der Problemlösung mag ein taktischer Schachzug sein; nicht selten erfolgt sie in dem Bewußtsein, strategisch wichtige Optionen (Abwanderung, Ausweichoperationen, Annahmeverweigerung von Reformen) gleichsam in der Hinterhand zu behalten und so bei der Verteilung der Reformkosten noch rechtzeitig Einfluß ausüben zu können. Oft genug ist sie freilich auch Ausdruck eines kriseninduzierten Lernprozesses: Hoher Problemdruck steigert bekanntlich die Lern-, Reformund Konsensbereitschaft. Es scheint fast ein ungeschriebenes Gesetz der Politik in Demokratien: „Welche Seite auch immer es schafft, ihre Opponenten zurückzudrängen — sie gewinnt nicht nur einen Platzvorteil im sich verschiebenden gesellschaftlichen Machtgefüge; ihr gelingt es vielmehr auch, auf signifikante Weise Denkart, Stil und Sprache ihrer Opponenten zu verändern. Sie schleicht sich sozusagen in die Gehirne der anderen Seite ein.“
Der Mangel an spürbarem Widerstand gegen eine umfassende Problemlösung trägt dann natürlich seinerseits dazu bei, daß unter Bedingungen der „Krisensolidarität“ Erwartungen eskalieren und eskalierte Erwartungen „realistisch“ erscheinen, daß aber Verteilungsprobleme sowie das latente Widerstandspotential gegen staatliche Eingriffe unterschätzt werden
Der Stimmungsumschwung scheint perfekt; der Mechanismus der „Schweigespirale" bewirkt, daß die Öffentlichkeit weithin hinter der Reformallianz zu stehen scheint. Momentan sieht es so aus, als habe sich im Politikbereich x durch den Aktivierungsprozeß eine „endgültige" Umkehr etablierter Machtverhältnisse angebahnt, als repräsentierten jetzt die Problemverursacher nur noch verdrängte Interessen.
Politik und Verwaltung in der Aufschwungphase a) Die politisch-administrative Arena Im staatlichen Institutionensystem löst die nachhaltige Machtverschiebung zugunsten der Reforminteressen anhaltenden „Streß" aus. Problem x ist als Thema so selbstverständlich und prominent geworden, daß es sich inzwischen der Disposition der politisch Verantwortlichen entzieht Es ist aus der Agenda nicht mehr wegzudenken, die „Problemver-staatlichung" ist fürs erste unwiderruflich ge-worden. Den veränderten Bedingungen ist Rechnung zu tragen.
In Demokratien verfügen Politik und Verwaltung über Mechanismen mit der merkwürdigambivalenten Eigenschaft, einerseits wirkungsvoll das „weiche" Auffangen von Problemdruck zu besorgen und andererseits zugleich die Problemkonjunktur weiter anzuheizen. Wenn x erst einmal als vordringlich lösungsbedürftig akzeptiert ist, gibt es eine Fülle von Anreizen, die es für Politiker auf der Jagd nach Profilierungschancen, für Parteien auf der Suche nach Wahlkampfschlagern und für Bürokraten in dem Bestreben, ihr Terrain zu erweitern, lukrativ erscheinen lassen, in das Problemfeld x „einzusteigen' Beim Bekanntwerden eines gesellschaftlich relevanten Unfallortes lauern in der Nähe immer auch schon politisch-administrative Abschlepphaie, die sich der Unfallopfer bemächtigen. So kommt es schließlich zur Überproblematisierung von x: Immer mehr Politiker bringen ihre eigenen Ziele (Karriere, Stimmenund Machtgewinn, aber auch von Grundwerten/Ideologien bestimmte politische Vorstellungen) mit x in Verbindung. Mit diesem Prozeß rücken sie nicht nur sich selbst ins Rampenlicht, sie werten vielmehr auch x weiter auf und leisten ihrerseits einen Beitrag zur Interessenharmonisierung. Die Möglichkeit wirksamer Problemlösung scheint jetzt in immer greifbarere Nähe zu rücken; gleichwohl ist in keiner Phase des Reformzyklus die Kluft zwischen verheißungsvoller Rhetorik und tatsächlich durchgesetzten Reformschritten größer als im jetzigen „Boom". b) Die problemverarbeitende Organisationseinheit Immerhin wirkt das Engagement der Politiker protektionistisch:
— Es verschafft der problemverarbeitenden Organisationseinheit Sx jenen Spielraum, den sie zur Politikformulierung gegenüber rivalisierenden Bürokratien braucht.
— Sx kann mit großzügiger Bewilligung von Haushaltsmitteln rechnen — zwar allemal nur ein Bruchteil dessen, was für die Problemlösung nötig wäre, aber doch genug, um Anfangserfolge in der Problemverarbeitung zu finanzieren, und meist mehr, als die junge Organisationseinheit im Rahmen ihrer noch begrenzten Kapazität sinnvoll ausgeben kann. In jedem Fall markiert die Aufschwungphase den Zeitraum, in dem sich am ehesten größere Budgetumschichtungen zugunsten einer Problemlösung erzielen lassen.
Obschon im Zentrum der Turbulenzen, erfährt Sx die Situation somit kaum in dem Maße als bedrohlich wie andere staatliche Instanzen. Im Gegenteil: Die auf eine Problemlösung dringenden, erstarkenden Kräfte mögen zwar Sx zunächst reserviert und mit einer Mischung aus Mißtrauen und Unglauben begegnen. Sie werden andererseits die Gründung oder Aufwertung von Sx als Anfangserfolg begreifen und in dem Maße, in dem ihre eigene Institutionalisierung fortschreitet, in der Behörde einen Ansprechund Bündnispartner sehen. Sx kann also mit breitgestreuter Unterstützung rechnen — ebenso wie sie innerhalb der Exekutive, entsprechend der gegenwärtigen Bedeutung ihrer Mission, direkten Zugang zu den entscheidungsrelevanten Schaltstellen hat.
Solch günstiges Klima beschleunigt das Wachstum der Organisationseinheit. Damit wird allerdings bereits das Verhältnis von Sx zur etablierten Bürokratie problematisch. Die neue Organisationseinheit gefährdet durch ihre Expansion die bestehende Machtverteilung: Direkt, weil Terrainverluste an Sx kaum zu vermeiden sind und weil Sx dazu neigen wird, bei Bedarf in die Zuständigkeitsbereiche anderer hineinzuregieren. Indirekt, weil „Extravaganzen", die sich Sx leisten kann, das austarierte, aber stets labile System der Privile-gienverteilung in den übrigen Ressorts gefährdet: Sehr genau und nicht ohne Neid wird dort registriert werden, welch vielfältige Möglichkeiten zu kreativer Betätigung, welch lockere Arbeitsbedingungen und welch günstige Karrierechancen Sx zu bieten hat.
Sx gerät so fast zwangsläufig in eine merkwürdige Zwitterstellung: Zwar ist sie Teil der Bürokratie, doch kann sie ihre Funktionen nur erfüllen, wenn sie außerhalb des üblichen Verwaltungsbetriebs agiert; nur dann kann ihr gelingen, die Reformbewegung ans bestehende politische System anzubinden; nur dann ist aber auch zu verhindern, daß das Beispiel der neuen Organisationseinheit Schule macht, und deren notgedrungen unkonventionelle Verhaltensweisen auf andere Verwaltungszweige übergreifen.
Andererseits sind Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Ressorts zunächst relativ mühelos zu überstehen. Es mag sogar gelingen, Ansätze intensiver Koordination zu entwik-keln; die dafür geschaffenen Gremien werden jedoch oft von Sx dominiert, die ihre Schlüsselstellung im Konfliktfall ausnützt, um ihre Vor- Stellungen durchzusetzen Solches Gebaren festigt sogar momentan die Position von Sx, signalisiert es doch der eigenen Klientel wirksame Interessenvertretung und sichert somit den Rückhalt.
Zur Programmatik von Sx In der Tagespolitik wird sich Sx weiter bemühen, Einzelfragen aufzuspüren, die isoliert angegangen sowie auf möglichst sichtbare und zurechenbare Weise gelöst werden können. Gerade um später die schwierigeren Probleme bewältigen zu können, bedarf es einer positiven Eröffnungsbilanz, die Vertrauen begründet. Erfolg nährt bekanntlich den Erfolg. Obschon Zeitdruck und Erfolgszwang noch durch die üblicherweise gewährte „Schonfrist" für die neue Organisationseinheit relativiert werden, ist deshalb die Versuchung groß, Finanzmittel eher nach taktischen als nach strategischen Gesichtspunkten einzusetzen. Die reichlich fließenden Gelder müssen ja bekanntlich im laufenden Rechnungsjahr verausgabt werden. Dies verleitet zum „throwing money at Problems“ (R. Nixon), zur effektvollen Feuer-werks-inszenierung, deren eher fatale Folgewirkungen sich erst später zeigen.
Von der Tagespolitik zumeist abgekoppelt, aber nicht unbeeinflußt von dort erzielten (vermeintlichen oder tatsächlichen) Siegen, wird die längerfristige Strategie zur Problemlösung fortentwickelt. Dabei steht zwangsläufig die Formulierung von Zielvorstellungen im Vordergrund; es kristallisieren sich Grundsätze künftiger x-Politik heraus, die zwar formal verbindlich werden können, de facto aber Optionen offenhalten und noch nicht über die Reformkostenverteilung entscheiden.
Zwei Informationsquellen werden angezapft: — Die „Produktivkraft" Wissenschaft wird erschlossen, d. h. es werden externe Berater herangezogen, Fachkonferenzen abgehalten und -journale ausgewertet sowie Forschungsprogramme auf den Weg gebracht —, wobei Sx natürlich auch auf den legitimatorischen Effekt wissenschaftlicher Untersuchungen und auf Zeitgewinn setzt, zugleich aber wichtige Innovationsanregungen aufnimmt.
— Die Betroffenen werden noch stärker eingeschaltet. Die ausgegebene Losung einer . weitreichenden Beteiligung dient indes nicht allein der Informationserschließung und ist auch nicht mehr nur als Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der erstarkten Reformallianz zu deuten. Vielmehr stärken auch
Beteiligungsverfahren den Rückhalt von Sx, sie kanalisieren unkontrollierte Eigeninitiativen, helfen, systemkritische Gruppen ins Gemeinwesen zu integrieren, und ermöglichen die Kooptation weiterer Führungspersönlichkeiten aus der Reformbewegung.
Dabei verleiten Anfangserfolge, budgetärer Spielraum sowie die krisenbedingt hohe Konsensbereitschaft die Mitarbeiter in Sx ebenfalls dazu, die Restriktionen für Programme größerer Reichweite zu unterschätzen. Handlungsspielräume werden nicht als gegeben, sondern — entsprechend den Erfahrungen seit Beginn der Problemthematisierung — als erweiterbar eingeschätzt. All dies bildet den idealen Nährboden für „Superman" -Planungen (Downs), also für allzu großspurige Konzepte.
Zur Organisationsstruktur von Sx
Das rasche Wachstum der problemverarbeitenden Organisationseinheit führt intern zu stärkerer Arbeitsteilung. Aktive Suche nach Innovationsmöglichkeiten und hoher Koordinationsbedarf als Kernmerkmale der Aufgabenstruktur, die sich rapide verändernde „unsichere" Umwelt der Organisationseinheit sowie der Bedarf an hochqualifiziertem Personal lassen erwarten, daß sich Sx jedoch weiterhin flexibler, „entbürokratisierter" Organisationsmuster bedient
Deren Merkmale sind: — eine „lose" Abteilungsstruktur, die die Starrheit allzu strikter Kompetenzabgrenzung und Aufgabenzerstückelung vermeidet;
— eine flache Hierarchiepyramide mit relativ geringen Statusdifferenzen, eher dezentralen Entscheidungsbefugnissen und wenig Kontrolle von oben;
— ein netzartiges Koordinations-und Kommunikationsmuster, das zwar hohen Kommunikationsaufwand verursacht, aber auch kurze Kommunikationswege und hohe Kommunikationsdichte gewährleistet; — ein Motivationssystem, das auf intrinsischen Anreizen beruht; d. h. die Mitarbeiter identifizieren sich mit den Zielen der Organisation.
Zur Personalstruktur von Sx
Allzu rapides Organisationswachstum kann bei der Deckung des Personalbedarfs zu Engpässen führen. Wegen der ungewöhnlichen Entfaltungschancen wird die problemverarbeitende Dienststelle zwar weiterhin kreative und hochqualifizierte Mitarbeiter gewinnen können. Nicht unbedingt zu erwarten sind dagegen umfassende problembezogene Fachkompetenz sowie Verwaltungserfahrung. „Learning by doing" ist sozusagen Trumpf. Damit entsteht eine gewisse Fehlleistungsanfälligkeit; vor allem wird die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten vor diesem Hintergrund noch wahrscheinlicher: Solche Mitarbeiter sind noch nicht von Tradition, Routine oder Furcht vor Niederlagen geprägt — also von Erfahrungen, die den Reformwillen lähmen. Unter den gegebenen Bedingungen hält während der Aufschwungphase typischerweise ein beflügelnder „Korpsgeist“ in Sx an, ohne den die skizzierte Organisationsstruktur ja auch gar nicht funktionstüchtig wäre. Aber nicht nur die Binnenstrukturen begünstigen eine hohe Kreativität und Produktivität; auch die Tatsache, daß die Organisation im Rampenlicht steht und sich wohlgesonnenen öffentlichen Interesses erfreut, wirkt als zusätzlicher Ansporn für die Mitarbeiter. 4. Umschwung: Die Problemkarriere überschreitet ihren Gipfelpunkt In der Umschwungphase erreicht der Reform-zyklus seinen Gipfel. Ähnlich wie in Wirtschaftskonjunkturen kommt es zunächst zu „Überhitzungsphänomenen": Noch beherrschen die Kräfte, die den Aufschwung möglich gemacht haben, das Geschehen. Gerade ihr übermäßiger Erfolg läßt jedoch nunmehr Gegenkräfte erstarken, andererseits aber noch nicht voll „durchschlagen". Problem x behält zwar einen prioritären Rang auf der Tagesordnung der Politik, verliert aber seinen sensationellen Charakter und wird mehr und mehr zur Domäne von Spezialisten. Der Problemlösungsprozeß gerät womöglich ins Stocken; bislang nicht bemerkte Schwierigkeiten werden erstmals bewußt. Zeitweise heben sich die gegenläufigen Strömungen im Politikfeld x wechselseitig auf; es entsteht eine Situation der Orientierungslosigkeit, in der künftige Entwicklungstrends von den Handelnden meist nicht mehr eindeutig abzuschätzen sind.
Medien, Kontrahenten und Mitläufer in der Umschwungphase
Je umfassender die Mobilisierung reformerischer Kräfte in der Aufschwungphase gelungen ist und je mehr diese Kräfte die politische Szene dominiert haben, desto wahrscheinlicher erweist sich die Konsensbasis und Bereitschaft zur Problemlösung, die allseits bekundet wurde, als instabil und brüchig.
Die Massenmedien widmen x zwar weiter Aufmerksamkeit. Andererseits ist bei einem Mediensystem, dessen Gewinnerwartungen auch von einer hohen Umschlagsrate der Ware „Nachricht" bestimmt werden, der Themenverschleiß groß. Die komplizierteren Fragen, die jetzt im Zusammenhang mit Problem x zur Entscheidung anstehen, lassen sich besser auf den hinteren Seiten eines Blattes oder in spätabendlichen Fernsehmagazinen abhandeln. Das Thema wird nicht mehr aufge-bauscht. Aus den Leitartikeln weichen die schrillen Töne: Dem imperativen „Es muß endlich etwas geschehen" folgt die differenziertere, eher moderate Betrachtungsweise des „Sowohl als auch“. Solch gesteigertes Bemühen um journalistische Ausgewogenheit mag dem Harmoniebedürfnis des zunächst aufgeschreckten Medienkonsumenten entgegenkommen. Indes ist es eher ein Indiz zunehmender Konfliktträchtigkeit im Politikfeld x: Zumindest Publizisten, die sich den Schein der Unabhängigkeit bewahren wollen, können jetzt nicht mehr vorbehaltlos für die Reformer votieren.
Das Mobilisierungspotential auf Seiten der Reforminteressen ist derweil nahezu ausgeschöpft. Das rapide Anwachsen der Reformbewegung während der Aufschwungphase zeitigt seinerseits Folgen. Der Prozeß der Institutionalisierung schreitet fort, es ergeben sich aber auch erste Probleme der Organisierbarkeit: Es wird zunehmend schwieriger, die auf Veränderung zielenden Kräfte unter einen Hut zu bringen.
Die Initiativen und Signale aus Politik und Verwaltung stärken jetzt nicht mehr unbedingt den Mobilisierungsprozeß, sondern zeitigen eher ambivalente Effekte: Einerseits schraubt ein Teil der kritischen Öffentlichkeit — ermutigt durch die bisherige Entwicklung — seine Forderungen weiter nach oben. Es kommt zu ersten Abspaltungen vom Kern der Reformbewegung. Radikalisierung, Maßlo sigkeit und/oder Verweigerung als Antworten auf die Integrations-und Partizipationsofferten von Politik und Verwaltung manövrieren Splittergruppen nicht nur ins politische Abseits, sondern strahlen auch negativ auf die übrige Bewegung aus: Verbale Kraftmeierei, sich häufende Regelverletzung, gewaltsame Ausschreitungen zeitigen jetzt andere Folgen als vordem. Statt „bewußtseinsbildend" zu wirken, beeinträchtigen sie nunmehr die Position der Reformer als Verhandlungspartner. Das Erfordernis, sich von radikalen Kräften abzugrenzen, beginnt an der Stoßkraft und an der Glaubwürdigkeit der Bewegung zu zehren.
Der Prozeß der Problemverarbeitung erreicht ein Stadium, in dem sich niemand mehr mit bloßem Dagegensein zu legitimieren vermag. Konkrete und konfliktträchtige Entscheidungen, die jetzt anstehen, führen ebenfalls zu Zerwürfnissen innerhalb der Reformbewegung. Weil die Vorgeschichte von x immer länger und die Entscheidungslage immer undurchsichtiger wird, ergibt sich eine natürliche, prozessual bedingte Barriere für die weitere Mobilisierung Betroffener: Wer jetzt nicht professionell mit x befaßt ist, tut sich beim Mitreden zusehends schwerer und verliert leicht den Überblick
Auch der Zwang zur Institutionalisierung, der für die Reformallianz mit der Verbreiterung der eigenen Basis und den Integrationsofferten von Politik und Verwaltung einhergeht, dämpft jetzt eher die Reformdynamik: Soziale Bewegungen haben oftmals erhebliche Probleme bei der Selbststabilisierung — gerade dann, wenn sie überwiegend von unterprivilegierten Schichten getragen sind Gelingt die dauerhafte Verankerung als Organisation dennoch, so hat sie — meist um den Preis neuer Abspaltungen — vielfältige Implikationen für die interne Struktur der Reformbewegung: Macht wird neu verteilt; Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie'1 greift Platz, neue Eliten bilden sich, die nicht mehr nur für die, sondern auch von der Bewegung leben. Mit dem Status-und Prestigegewinn für die Spit-zen der Reformorganisation geht ein „Nobles-se-oblige" -Effekt (Offe) einher: Aufsteiger lassen sich leicht von etablierten Interessen „kolonisieren“ Einmal auf die Sonnenseite des Gesellschaftssystems gespült, werden gerade sie vorsichtig bei der Artikulation von Forderungen und verzichten im Extremfall auf die Ausschöpfung des noch vorhandenen Spielraums für Reformen. Jede Organisation verfälscht die Absichten ihrer Schöpfer. Zunächst kaum merklich, dann zusehends spürbarer, werden die Problemerzeuger angesichts dieser Entwicklung zur Gegenmobilisierung ausholen, wobei ihnen im Regelfall zustatten kommt, daß ihre Ressourcenbasis ganz anders strukturiert ist als die der Reformer. Insbesondere wenn der politische Entscheidungsprozeß inzwischen ein Stadium erreicht hat, in dem handfestere Interessen berührt sind, verschafft dies der Gegenreform Zulauf. Wo Besitzstände zu verteidigen sind, erreichen altruistische Orientierungen schnell ihre „kritische Grenze"; eine harte Widerstandslinie beginnt sich zu formieren.
Zum Potential der Gegenmobilisierung gehören auch all jene Gruppen, deren Probleme allzu nachhaltig von Problem x aus der politischen Arena verdrängt wurden. Oft werden sich unter den nachdrängenden Problemen solche finden, die nicht nur mit x um Aufmerksamkeit konkurrieren, sondern deren Lösung der Sache nach mit der von x unvereinbar ist (oder die sich zumindest dazu eignen, ihre Lösung als derart inkompatibel darzustellen). So hat etwa das Thema der Arbeitsplatzsicherung die Umweltschutzgesetzgebung — gemessen an ursprünglichen Absichten der sozialliberalen Koalition — spürbar verwässert; erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung 1978/79 und dem Zulauf für grüne Parteien begannen sich die Prioritäten zeitweise erneut zu verschieben. Dabei werden die Verursacher von x oftmals aktiv dazu beitragen, daß andere Probleme in die politisch-administrative Agenda befördert werden: „Die Inszenierung einer neuen Krise rettet manche Gruppen vor den Effekten der vorangegangenen."
Unter diesen Bedingungen ebbt auch die Mobilisierung von Mitläufern zugunsten der Reformbewegung ab. Einmal sind deren Engagement und Begeisterung ohnehin weniger beständig als bei den problembetroffenen Primärgruppen. Zum anderen gibt es inzwischen erste, zum Teil widersprüchliche Motive, sich von Reformforderungen abzusetzen oder so-gar ins gegnerische Lager überzuwechseln: — Mit der Realisierung von Teilreformen verändern sich Kosten-Nutzen-Kalküle: Standen der Reformverheißung in der Aufschwungphase nur sehr vage Kostenvorstellungen gegenüber, so fallen jetzt erste Reformkosten an, noch bevor der Reformnutzen spürbar wird
— überspannte Erwartungen verleiten zur Resignation, „weil ja doch nichts vorwärts-geht''; andererseits entspannen aber auch symbolische Gesten von Politik und Verwaltung die Lage. Weiteres Eigenengagement erscheint überflüssig, wo doch jetzt „etwas geschieht" und sich Experten um die Problemlösung kümmern.
— Umarmungsstrategien der Problemerzeuger entfalten ihre Wirkung. Wo das Feindbild nicht mehr stimmt, ist es auch um die Truppenmoral zusehends schlechter bestellt.
— Der Themenverschleiß wirkt auf den Mobilisierungsprozeß zurück: Langeweile und Gewöhnungbreiten sich in bezug auf X aus.
— Die Ausschreitungen, mit denen radikale Kräfte ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen suchen, zeitigen Abschreckungseffekte. .
— Die einsetzende Tendenzwende reißt all diejenigen mit sich, die, der jeweiligen intellektuellen Mode folgend, „en vogue" sein oder sich stets opportunistisch auf der Gewinner-seite wiederfinden wollen.
Oft kommt hinzu, daß auch der objektive Problemdruck nachläßt — möglicherweise, weil erste Abhilfemaßnahmen, die Sx durchzusetzen vermochte, greifen. Vielleicht aber auch nur, weil sich sozusagen „von selbst" das Problem verlagert: So dürfte etwa der Mangel an Kindergartenplätzen, der uns vor zwei Jahrzehnten beschäftigt hat, weniger durch staatliche Abhilfe als durch den Geburtenrückgang reduziert worden sein. Und den Bodenrechtsreformern Wurde Mitte der siebziger Jahre durch die Wirtschaftsflaute der Wind aus den Segeln genommen, weil mit dem Zusammenbrechen der Bodenspekulation das Reform-werk (freilich nur momentan) „überflüssig" geworden war.
Politik und Verwaltung in der Umschwungphase a) Die politisch-administrative Arena
Für Politik und Verwaltung steigert sich der Problemdruck in der Umschwungphase kaum noch, ja er verliert schließlich an bedrohlicher Dimension. Vermehrt sprechen Anzeichen dafür, daß der Druck der Reformallianz aufgefangen werden kann: Den radikalen Gruppen kann der Staat jetzt bei Aktionen, die den Rahmen des gesetzlich Erlaubten sprengen, wieder die Zähne zeigen, ohne eine breite Solidarisierungswelle und damit Legitimationsverluste befürchten zu müssen. Die reformerischen Kräfte drängen in ihrer Mehrheit nicht mehr auf die Straße, wo sie ein unkontrollierbarer Risikofaktor wären, sondern formieren sich zum „Marsch durch die Institutionen".
Das bedeutet gleichwohl anhaltende Anspannung für das staatliche Institutionensystem. Sobald seine Partizipationsangebote ernst genommen werden, muß dies Politik und Verwaltung hoffnungslos überlasten. Unmöglich können all die Initiativen und Anträge, die jetzt im Rahmen von Anhörungs-und Beteiligungsverfahren denkbar sind, in angemessenem Zeitraum verarbeitet werden. Noch ist jedoch die Verhandlungsmacht der Reformer zu groß und ihr Anpassungsprozeß nicht fortgeschritten genug, als daß der Staat die Betroffenenbeteiligung leerlaufen lassen könnte.
Als vorrangig stellt sich damit die Aufgabe, die Überlastungserscheinungen vorsichtig abzubauen und den nunmehr kanalisierten Druck der Reformbewegung sukzessive zu reduzieren. Dafür bieten sich Verhandlungssysteme an, die jetzt installiert werden. Sie beziehen Repräsentanten der Problemverursacher ebenso wie der Reformer in den Entscheidungsprozeß ein und stellen die beteiligten Interessen unter „Einigungszwang“ Tendenziell beginnt sich damit die Entscheidungsfindung von „offenen" auf „geschlossene" Beteili-gungssysteme zu verlagern — eine Vorgehensweise, die inzwischen möglich wird, obschon sie noch in der Aufschwungphase riskant gewesen wäre.
Solche Drosselungsaktivitäten betrachten indes Politiker nicht unbedingt als ihr Metier. Noch ist Problem x zu prominent, als daß ihm von Seiten der politischen Spitzen keine Aufmerksamkeit mehr gebührte. Noch bieten weiterlaufende offene Partizipationsverfahren mannigfaltige Darstellungsmöglichkeiten, die es auszuschöpfen gilt. Andererseits spüren Politiker schnell, wenn ein Thema an Zugkraft verliert. Diejenigen, die sich um der Sache willen für x engagieren, werden deshalb mit wachsender Ungeduld zu neuen Initiativen drängen. Das Interesse aller anderen beginnt abzukühlen; sie fangen an, nach neuen Themen Ausschau zu halten, und jene, die sich in der Aufschwungphase nur zögernd und widerwillig x als Thema zu eigen machten, können jetzt gefahrlos erste Maßhalteappelle ausgeben. b) Die problemverarbeitende Organisationseinheit Sx Die nachlassende Protektion seitens der politischen Spitzen zeitigt Auswirkungen bei der Verteilung des Haushaltskuchens. Gerade jetzt, wo mit fortschreitender Problemverarbeitung der Finanzbedarf von Sx noch einmal drastisch zunimmt, werden für die weitere Mittelbewilligung erste Widerstände spürbar. Für die problemverarbeitende Organisationseinheit geht damit der Honigmond zu Ende. In dem Maße, in dem radikalisierte Gruppen von der Reformallianz absplittern und sich als Verhandlungspartner disqualifizieren, wie die Reformbewegung sich in interne Querelen verstrickt und Institutionalisierungspatina ansetzt, wird die bisherige Rückhaltbasis brüchig, von der Sx ihre starke Position ableiten konnte. Die (Rest-) Reformallianz wird zwar vorerst die wichtigste Klientelbasis von Sx bleiben. Da sie jedoch — im Vergleich zur sturmhaften, unkalkulierbaren Anfangsentwicklung — als alleinige Unterstützung kaum ausreicht, um den Bestand von Sx zu gewährleisten, wird die Organisationseinheit bald neue Strategien der Rückhaltsicherung benötigen. In Betracht kommt die Gewinnung neuer „Partner" durch Auffächern des Leistungsangebotes und/oder durch Fühlungnahme mit der erstarkenden Gegenreformbewegung. Läßt sich Sx darauf ein, so setzt dies über kurz oder lang Abstriche an weiterreichenden Reformkonzeptionen voraus.
Andere Faktoren treten hinzu, die den Spielraum von Sx in der Politikgestaltung beeinträchtigen: — Erste Budgetrestriktionen werden oft verschärft durch eine Kostenexplosion für problemreduzierende Güter und Dienstleistungen die durch Übernachfrage in der vorausgegangenen Phase ausgelöst wurde.
— Zu einem Zeitpunkt, zu dem Sx vermehrt auf die Zusammenarbeit mit etablierten Ressorts angewiesen wäre, verschärfen sich die Kooperationsschwierigkeiten. Die Alt-Res-sorts nutzen jetzt die Klimaveränderungen, um mit neuem Selbstbewußtsein ihr Terrain zu verteidigen.
Sx findet sich damit in der schwierigen Situation, daß die Ansprüche hinsichtlich der Solidität ihrer Arbeitsergebnisse steigen (Ende der „Schonzeit"; verpufftes „Feuerwerk" kurzfristiger Maßnahmen; nachlassendes Vertrauen in „Superman'-Planung) und sich zugleich die Bedingungen für die Erzielung beeindruckender Ergebnisse verschlechtern.
Zur Programmatik von Sx In dieser Lage beginnen unmittelbar anstehende Einzelfragen, die längerfristige Pro-grammatikzu verdrängen — zumal es ja auch einer gewissen Logik entspricht, Ressourcen im Kurzfristbereich zu konzentrieren, wenn dem zunehmenden Erfolgszwang bei gleichzeitig schwindenden Erfolgschancen Rechnung getragen werden soll. Die mittel-und längerfristigen Planungen werden zwar noch nicht angetastet, aber eben oft nur noch mit halber Kraft weitergetrieben. Immanente Schwierigkeiten verstärken möglicherweise den Trend:
— Oftmals führt wissenschaftliche Forschung nicht einer Problemlösung näher, sondern deckt neue Probleme auf. Der Planungsbedarf steigt exponentiell; zugleich wird offenbar, wie vielfältig das Problem mit dem bestehenden Struktur-und Funktionsgefüge unserer Gesellschaft verwoben ist.
— Insbesondere wenn externe Wissenschaftler — etwa über mit leichter Hand vergebene Auftragsarbeiten — für die Erweiterung der Informationsbasis sorgen sollten, gelingt es meist nur noch schwer, die zusammengetragenen Informationen adäquat weiterzuverarbeiten.
— Erste Zweifel, ob eine solche Weiterverarbeitung unter den sich verändernden Rahmenbedingungen noch sinnvoll und möglich ist, kommen hinzu. Ihre legitimatorische Mission haben Forschungsprogramme und Planungsansätze inzwischen ja nahezu erfüllt; und die sich verstärkende Rivalität der Ressorts läßt deutlich werden, daß „Konzeptionen aus einem Guß" ohnehin nicht realisierbar sind.
— Dies wiederum erklärt sich nicht allein aus der Borniertheit bürokratischer Apparate, sondern aus der Konfliktträchtigkeit des Prozesses der Politikumsetzung selbst: Bekanntlich steckt der Teufel im Detail; Konflikte brechen auf, wenn aus abstrakten Oberzielen konkrete Maßnahmekataloge, aus vagen gesetzlichen Festlegungen präzisere Ausführungsbestimmungen abzuleiten sind und die legislativen Absichten damit eine neuerliche Ausdeutung erfahren.
Insgesamt ist die Programmatik in der Umschwungphase von einer merkwürdigen Zwiespältigkeit gekennzeichnet, die an die Stelle der bisherigen Zweigleisigkeit tritt: Es setzt eine Reorientierung auf das Kurzfristige und „Machbare" ein, jedoch ohne gleichzeitige Preisgabe früherer umfassenderer Konzeptionen.
Zur Organisationsstruktur von Sx Typischerweise ergeben sich jetzt auch organisatorische Schwierigkeiten für die problem-verarbeitende Einheit: — Infolge ihres rapiden Wachstums hat Sx eine Größenordnung erreicht, die sie schwerfälliger und unüberschaubarer werden läßt. Bei Aufrechterhaltung der bisherigen entbürokratisierten Binnenstruktur wird es zusehends schwieriger, Sx von der Spitze her zu steuern. — Die veränderte programmatische Orientierungauf Umsetzungsfragen hin läßt ebenfalls einen Bedarf an Neuordnung entstehen.
— Die Privilegierung von Sx erweist sich unter den jetzigen verstärkten Zwängen zur Zusammenarbeit mit anderen Ressorts als eher hinderlich. -
— Das Problem der Überlastung infolge Partizipation läßt eine Einschränkung der Offenheit nach „draußen", mithin die Begrenzung von Außenkontakten, als dringlich erscheinen.
Alle diese Faktoren deuten auf Straffung und letztlich — ähnlich übrigens wie bei der Reformbewegung selbst — auf Bürokratisierung. Zu einer Reorganisation kommt es jedoch noch nicht. Zunächst wächst nur das Spannungsverhältnis zwischen Struktur und Funktion der Organisationseinheit; es entstehen Reibungsverluste, die ihrerseits den Arbeitserfolg von Sx beeinträchtigen.
Zur Personalstruktur von Sx Sind es bei der Organisationsstruktur eher die nicht bewältigten Folgen vorangegangener Expansion, die Probleme aufwerfen, so wirkt sich beim Personal insbesondere der jetzige Wachstumsstopp strukturverändernd aus. Daß die Dynamik der Aufschwungphase dahin ist, wird natürlich nirgendwo schneller und sensibler registriert als in Sx selbst — mit allen Implikationen für Rang und Renommee von Sx wie für die Karrierechancen der Mitarbeiter. Noch ist für viele von ihnen die Trendentwicklung nicht eindeutig zu interpretieren. Immerhin kommt es zu Kündigungen, die über das Maß des bisher Üblichen hinausgehen: Gute Absprungmöglichkeiten, die sich noch als Folge des steilen Aufstiegs von Sx ergeben, sowie knapper werdende Handlungsspielräume und Beförderungschancen in der Organisationseinheit selbst geben Anlaß für einen Stellenwechsel. Gerade „antibürokratisch" eingestellten Mitarbeitern, wie sie Sx bisher angelockt hat, wird ja nachgesagt, daß sie selten genug Ausdauer aufbringen, um nach erfolgreichem Programmstart auch den Umsetzungsprozeß mitzusteuern
Die zunehmende Personalfluktuation wird von einem zweiten bedeutsamen Prozeß überlagert: dem der „Professionalisierung der Reform" sowie der „Verbeamtung von Sachverstand" Mit ihr reduziert sich zwar einerseits die Fehlerhäufigkeit der Aufschwungphase; andererseits beginnt aber auch der Blickwinkel, unter dem Problem x weiterverarbeitet wird, sich zu verengen („Betriebsblindheit"), die Risikobereitschaft der Mitarbeiter läßt nach, und auch Kreativität und Originalität werden durch die sich herauskristallisierenden professionellen Standards graduell beeinträchtigt.
5. Abschwung: Die Problemverarbeitung in der „Niedergangsspirale“
Die Abschwungphase wird zur eigentlichen Bewährungsprobe jedweder Reformpolitik, in der sich entscheidet, auf welchem Niveau die eingeleiteten Reformen stabilisiert werden können. Die Zustände im Problemfeld x bleiben zwar problematisch, aber sie schlagen nur noch bedingt auf die politisch-administrative Ebene durch.
Für eine Entlastung von Politik und Verwaltung ist insbesondere gesorgt, wenn sich Problemdefinitionen durchsetzen, die x weniger als gesellschaftliches denn als privates Problem begreifen und die Krise nicht mehr als Anlaß für, sondern als Folge von Reformpolitik sehen. „Bedrohlich" erscheint dann die Problemlösung selbst (und nicht mehr das jetzt schon weit zurückliegende krisenhafte Auslöserereignis), weil die Problemlösung ja neue Probleme mit sich bringen und bewährte gesellschaftliche Ordnungsprinzipien in Frage stellen würde.
Die Gegenentwicklung entfaltet also ihrerseits Eigendynamik; unter umgekehrtem Vorzeichen wirken jetzt dieselben Mechanismen wie in der Aufschwungphase — allerdings als „Bremshebel" für weitere Reformen, die eine politische Baisse-Spekulation auslösen.
Die Ernüchterung, die sich unter Eingeweihten schon in der Umschwungphase auszubreiten begann, wird jetzt öffentlich und allgemein. Reformimmanente Schwierigkeiten treten immer klarer zu Tage. Den Problemerzeugern gelingt es, ihr blockierendes Einflußpotential politisch umzusetzen. Auch dies ist ein wechselseitiger Prozeß: Reformverdruß stärkt die Gegenreform, und die Gegenreformer vermehren die Probleme der Reformverwirklichung.
Medien, Kontrahenten und Mitläufer in der Abschwungphase Schon während der Umschwungphase hatten wir ein Abdriften von Problem x aus den Schlagzeilen beobachtet. Das Thema in den Medien am Leben zu erhalten, wird jetzt immer schwieriger. Womöglich verschwindet es ganz aus der aktuellen Berichterstattung.
Für wahrscheinlicher halten wir indes, daB sich nur die Akzente journalistischer Neugier verschieben: Nicht mehr die Lösungsbedürftigkeit von x steht jetzt im Mittelpunkt, vielmehr gilt das publizistische Interesse „neuen“ Aspekten des alten Themas — den davongaloppierenden Reformkosten, den „skandalösen" Aktivitäten radikalisierter Gruppen, den reformbedingten Verteilungseffekten und -Ungerechtigkeiten sowie Dilettantismus, Fehlern und Halbherzigkeiten der bisherigen Problemverarbeitung. Entsprechend sieht jetzt auch die Parteinahme in den Leitartikelspalten aus: Der Medienkonsument wird auf „Mehr Mut zur Ungleichheit" eingestimmt. Wo etwa zunächst zum Krieg gegen die Armut aufgerufen war, darf jetzt wieder unverblümter der „Krieg gegen die Armen" weitergeführt werden.
Ein solches Klima läßt (im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, auf die noch hinzuweisen sein wird) die Reformallianz verkümmern: Sie muß jetzt entweder immer stärkere Zerfallserscheinungen hinnehmen oder — wahrscheinlicher — sie wird im Rahmen fortschreitender Institutionalisierung und Integration weiter ihrer ursprünglichen Zielsetzung beraubt.
Die Konfliktfronten verschieben sich; sie verlaufen jetzt weniger zwischen Problemverursachern und Reformern, als vielmehr mitten durch die einstige Reformallianz selbst: Hie versprengte, unter Realitätsverlust leidende Minderheiten, denen es kaum noch um die Problemlösung von x geht; dort die mehr und mehr Anpassungszwängen ausgesetzten gemäßigten Kräfte, deren Gegenmacht sich infolge der beschriebenen kräfteverzehrenden Abgrenzungsprobleme und der organisationsinternen Zielverschiebungen reduziert. Dabei stützen sich oftmals Radikalisierungsund Bürokratisierungsprozesse wechselseitig: Unter dem Druck, sich gegen Radikale absetzen zu müssen, wird die Reformorganisation im jetzigen Meinungsklima notfalls auch nicht-radikale Forderungen preisgeben, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen und sich vom Geruch des „Sympathisantentums" zu befreien. Solcher Forderungsverzicht der Reformorganisation sowie deren Befall von „bürokratischer Arteriosklerose" treiben weitere Reformer in die Radikalisierung oder in die Resignation. Solidaritätsgefühle und Identifikationsbereitschaft, wie sie die Reformallianz in der Aufschwungphase bestimmt haben, lösen sich auf. Enttäuschungen — wie sie Luhmann überzeugend auch bei „ehrlichen", nicht von vornherein als bloße Beschäftigungstherapie angelegten Partizipationsangeboten prophezeit — schlagen nicht mehr in aggressive, legitimationsgefährdende Systemkritik um, sondern führen verstärkt zu Resignation und zur loyalitätssichernden Korrektur des Anspruchsniveaus nach unten
Den Problemverursachern gelingt es in der Abschwungphase zusehends, ihre einst dominante Stellung zurückzugewinnen. Von einer Woge allgemeiner Sympathie getragen, können sie ihre bisherigen Abwarte-und Hinhaltestrategien aufgeben und die angeschlagene Reformallianz erstmals offensiv angehen. Oft gelingt es ihnen jetzt ohne Umschweife, Politikfeld x zu „besetzen“ und so die Grenzen der Reformpolitik abzustecken — noch nicht verabschiedete Gesetze werden entsprechend verwässert, bereits in Kraft getretene Rechts-vorschriften novelliert oder unterlaufen.
Auch der Trend, daß Mitläufer der Reformbewegung davonlaufen, verstärkt sich spürbar, während umgekehrt die Gegenreform jetzt ihr Mitläuferpotential auf die Beine bringt. Die Motive, die diesem Stimmungsumschwung zugrunde liegen, bleiben im wesentlichen die gleichen wie schon in der Umschwungphase. Ein massiver Erfolg der Gegenreform dürfte darüber hinaus freilich auch auf eine gegen staatlich gesteuerte Veränderungen gerichtete, tieferliegende konservative „Humanbarriere", vielleicht auch auf „Mündigkeitsangst" zurückführbar sein, die sich nicht mehr aus rationalen oder opportunistischen Erwägungen ableiten lassen.
Politik und Verwaltung in der Abschwungphase a) Die politisch-administrative Arena In der Abschwungphase verkehrt sich die Legitimationsproblematik im Politikfeld x: In dem Maße, wie die Problemverursacher wieder „tonangebend" werden, wird sich die Politik an deren Prioritäten auszurichten oder zumindest diese vermehrt zu berücksichtigen haben. Das bedeutet nicht unbedingt, daß Problem x wie eine heiße Kartoffel fallengelassen wird. Der Überlastungsdruck, den Partizipationsangebote in der Umschwungphase für Politik und Verwaltung erzeugten, wird jedoch weiter abgebaut: Jetzt kann der Staat auch den gemäßigten Reformern mit „bürokratisch gezielter Demoralisierung" (Habermas) begegnen; Basis-Partizipation verkommt zum Ritual; ihre ursprünglich politikbeeinflussenden Funktionen gehen endgültig an die inzwischen etablierten Verhandlungssysteme über, die sich zu „politischen Regulierungskartellen" auswachsen.
Im Verbund mit den Problemverursachern und unter Einbezug der angepaßten Reformeliten wird auch von den Schaltstellen der Politik und Verwaltung her Problem x „neu" definiert und mehr und mehr in den normalen „Problemhaushalt" des Staates eingereiht. Das heißt aber auch: Um es beiden Seiten recht zu machen, werden zunehmend Programme angeboten, die in sich widersprüchlich sind. Darüber hinaus gelingt es nunmehr, die Nichteinlösung von Reformversprechen mit Appellen an die Einsicht in die „Grenzen des Machbaren" und — soweit erforderlich — mit Repression zu bewältigen.
Von „Extremisten" eingeklagte Forderungen können jetzt leicht als übertrieben zurückgewiesen werden, obschon sie womöglich noch in der Aufschwungphase selbst im konservativen Lager als berechtigt galten. Im Effekt führt dies immerhin zu größerer Deckungsgleichheit von politischer Rhetorik und praktischer Politik. Bildlich gesprochen: Es offenbart sich immer deutlicher, daß die Mehrzahl der „rettenden Engel", die sich in der Aufschwungphase scharenweise am gesellschaftspolitischen Unfallort zu schaffen machten, letztlich doch auf eigene Rechnung und nicht primär zugunsten der „Unfallopfer" wirtschafteten. Das bestehende Anreizsystem in Demokratien legt jedenfalls solches Verhalten nahe; es begrenzt damit schon strukturell den Einfluß von Spitzenpolitikern auf den reformstrategisch so außerordentlich wichtigen Prozeß der Politikumsetzung
b) Die problemverarbeitende Organisationseinheit Sx
Die Abschwungphase der Reformkonjunktur wird somit für Sx in hohem Maße kritisch. Die sich verändernden Rahmenbedingungen, die im Problemfeld x den Staat immer mehr vom Krisenmanagement entlasten, werden aus der Perspektive von Sx unfreundlicher und bedrohlicher. Die Krise verlagert sich sozusagen von der „hohen Politik", wo sie mit Hilfe von Sx erfolgreich „abgearbeitet" wurde, in die problemverarbeitende Organisationseinheit selbst, der ihr eigener Erfolg bei der Kriseneindämmung (nicht: bei der Problemlösung) nunmehr im Weg steht. Sx wird jedenfalls zusehends überflüssig; ihr „progressiver" Anspruch ist — soweit er sich über die Umschwungphase hinüberretten ließ — nunmehr Politik und Verwaltung eher lästig als legitimationsstiftend. Kam die Reformdynamik in der Umschwungphase bereits ins Stocken, so ergeben sich jetzt eine Reihe zusätzlicher Schwierigkeiten; zu erwarten sind insbesondere: — Bumerang-Effekte und ungeplante Reformfolgeprobleme, die sich aus den unkonventionellen Strategien der Krisenbewältigung von Sx in den vorangegangenen Phasen ergeben (Mittelverschwendung im Gießkannenverfahren; Sorgfaltsmangel bei der Planung; Nichtberücksichtigung von Variablen, die „mitplanbar" gewesen wären) oder auch aus der begrenzten Planbarkeit von Kettenreaktionen zweiter oder dritter Ordnung resultieren (Engpässe, die durch Privilegienabbau entstehen — Beispiel: Numerus clausus; Gegenund Ausweichstrategien, die nicht oder nur bedingt vorhersehbar waren — Beispiel: „Annahmeverweigerung“ der Berufsbildungsreform seitens der privaten Wirtschaft);
— „gewöhnliche“ Vollzugsprobleme, die überall dort auftreten, wo abweichend von einge-fahrenen Routinen entschieden wird; zu nennen sind etwa Verzögerungen, die sich aus Lieferschwierigkeiten, Kompetenzrangeleien, Partizipationsprozessen etc. ergeben sowie Verzerrungen der ursprünglichen Reformabsichten infolge von Mißverständnissen, Qualifikationsdefiziten und Eigeninteressen auf Seiten der Vollzugsverwaltung.
Zu Konzessionen an die Problemverursacher gedrängt, verstrickt sich zudem Sx leicht in einen Zweifrontenkrieg, der sich ausweitet: Die Organisationseinheit wird zum einen von unzufriedenen Fraktionen der Reformbewegung torpediert; andererseits verstehen es Reform-gegner, gerade Sx — deren bislang „fortschrittliches Image" dazu ja immerhin einlädt — unter Radikalismusverdacht zu stellen. So gerät Sx, ähnlich den gemäßigten Kräften der Reformbewegung selbst, unter Abgrenzungsdruck. Da sich immer deutlicher herausschält, daß die Problemverursacher über strategisch wichtige Handlungsoptionen verfügen, wächst auch unter diesem Gesichtspunkt der Kooperationszwang. Eiertänze der Diplomatie und des Taktierens werden erforderlich, bis Sx zu einer neuen Rolle im Problemverarbeitungsprozeß findet.
Die aus dieser Konstellation herrührende Schwächung von Sx machen sich oft genug die etablierten Alt-Ressorts zunutze. Wo immer Sx auf dem Höhepunkt ihrer Macht Konflikte für sich entschieden, rivalisierende Bürokratien mit einem Quäntchen Hochmut abgekanzelt oder schlicht übergangen haben mag — jetzt ist die Gelegenheit gekommen, sich Genugtuung zu verschaffen. Aber selbst wo solch kleinkariertes Begleichen alter Rechnungen ausbleibt, ergeben sich Probleme im Verhältnis der Behörden: Der Programmvollzug läuft allemal über den vorhandenen Verwaltungsapparat, fällt also in die Zuständigkeit verschiedener Bürokratien und entgleitet damit Sx-Jetzt, da dem Problem x kein zentraler Rang mehr zukommt, wird umfassende Abstimmung als zu kostspielig empfunden.
Oft wird in dieser Katerstimmung der Ruf nach Evaluierung laut — eine Forderung, die geeignet ist, Sx vollends das Rückgrat zu brechen, wenn es nicht gelingt, sie hinauszuschieben. So schwindet der Nimbus von Sx. Mißerfolg nährt jetzt den Mißerfolg. Der latenten Funktion beraubt, das Protestpotential zu integrieren, muß sich die Organisationseinheit selbst anpassen und in den bürokratischen Normalbetrieb einfügen. Ihre Aufgabenstellung ändert sich: hin zur routinierten, auf Dauer angelegten Verwaltung chronischer sozialer Probleme. Für das Ausmaß, in dem Sx auf den Anpassungsdruck reagiert, ist allerdings auch eine „subjektive Komponente" entscheidend: Je mehr sich die Organisationseinheit unter Streß fühlt, um so mehr neigt sie zu rigidem Verhalten
Zur Programmatik von Sx
Die Programmplanung der Aufschwungphase erweist sich aus jetziger Perspektive endgültig als „überzogen". Sx wird sich von den damaligen Absichten distanzieren und der Öffentlichkeit sowie den rivalisierenden Ressorts bedeuten, daß nunmehr mit „kleinen Schritten" ausschließlich pragmatisch Tagespolitik betrieben wird. Aus einer breit angelegten, umfassenden Strategie werden dann eng umrissene Einzelprogramme, die einem kleinen Adressatenkreis nützen mögen, aber das Problem selbst kaum verkleinern. Eine integrierte Stadtentwicklungsplanung wird etwa ersetzt durch schlichte, kaum aufeinander abgestimmte Blocksanierungs-, Verkehrsberuhi-gungs-oder Eigenheimförderungskonzepte.
Informationsansprüche und Forschung werden reduziert. Dies ist insoweit immerhin sinnvoll, als die gesammelten Erfahrungen jetzt durchaus „sparsame Informationsbeschaffung" ermöglichen und zugleich „ein Gefühl für Grenzen sinnvoller Informationssuche“ begründen
Die in der Umschwungphase gebildeten Verhandlungssysteme übernehmen jetzt routinemäßig die Funktion, den Rahmen des reform-politisch Möglichen abzustecken. Die übliche politisch-taktische Filterung von Informationen, die allein die gutorganisierten Gruppen zum Zuge kommen läßt, greift weiter Platz solche Abschottung bedeutet dann auch, daß die Präferenzen Problembetroffener allmählich durch verwaltungseigene Wertvorstellungen oder durch für das Regulierungskartell akzeptable Verhandlungskompromisse ersetzt werden. Erfahrungen, wie sie im Bereich des Umweltschutzes, der Bildungspolitik und der Sozialpolitik zur Genüge vorliegen, lassen erwarten, daß sich dabei vor allem industrialisierte Formen der Problemverarbeitung durchsetzen Zur Organisationsstruktur von Sx Die Friktionen zwischen alter Organisationsstruktur und neuen Funktionen von Sx neh-men weiter zu und treiben dem Punkt entgegen, an dem die bisherigen Organisationsmuster endgültig unhaltbar werden. Mit der anstehenden Reorganisation, die zugleich meist personalpolitisch motiviert sein dürfte, geht Sx nunmehr auch binnenstrukturell ihrer Besonderheiten verlustig und wird zu einer „normalen" Behörde. Der Bürokratisierungsprozeß erhält jetzt die Weihen des „Offiziellen" und wird nach außen als „organisatorische Straffung" mit dem Ziel der „Effizienzsteigerung", der „Schaffung klarer Verantwortlichkeiten" und der „Vermeidung von Doppelarbeit" begründet.
Bereinigt werden damit in der Tat entscheidende Mängel der bisherigen Organisationsstruktur:
— Mit der Entscheidungszentralisierung schafft die Spitze die Voraussetzungen, um intern die neue Programmpolitik gegen noch vorhandene Widerstände durchzusetzen.
— Durch eine stringente Abteilungsgliederung und Kompetenzabgrenzung wird die Organisationsstruktur der zersplitterten neuen Programmstruktur angepaßt.
— Durch Eingrenzung der Außenkontakte wird die Organisation nach außen hin abgeschottet und damit ihre „Verwundbarkeit“ reduziert
— Mit dem Abbau der Querverbindungen zwischen den Abteilungen wird der Kommunikationsaufwand reduziert.
'— Mit der Neuordnung des Anreizsystems werden Motivationen der Mitglieder und Organisationsziele „entkoppelt”: Indem die Mitgliedermotivation nicht mehr an reformistische Zielvorstellungen anknüpft, sonderen allein durch Belohnungen wie sozialen Status, Besoldung, etc. gesichert wird, verschafft sich die Organisationseinheit mehr Flexiblität, um das Hin und Her der Politik künftig zügiger mitvollziehen zu können.
Indes macht die Neuorganisation trotz der Beseitigung sichtbarer Schwächen eher Grenzen der Organisierbarkeit deutlich. Die „versteckten Kosten“ solchen Verwaltungsumbaus sind hoch und werden leicht unterschätzt. Keines der Organisationsdilemmata läßt sich wirklich lösen; es stellen sich vielmehr sukzessive all die Probleme wieder ein, die mit der ursprünglichen Konzeption von Sx gerade ver-mieden werden sollten. Um nur die wichtigsten zu nennen:
— Die Entscheidungszentralisierung ermöglicht nicht nur Kontrolle, sie führt auch zur Überlastung der Organisationsspitze und reduziert Kreativität sowie die Bereitschaft zu eigenverantwortlichem Handeln bei den Mitarbeitern. — Der Rationalisierungsgewinn, den die neue Hierarchie-und Kompetenzstruktur verspricht, geht zumindest überall dort zu Lasten der Effektivität, wo Problemstrukturen und Zuständigkeitsgrenzen nicht deckungsgleich sind.
— Die Abschottung nach außen reduziert nicht nur die Verwundbarkeit, sondern auch die Lernfähigkeit der Organisationseinheit.
— Die neuen Techniken der Mitarbeitermotivierung erleichtern zwar die Ausrichtung an den wechselnden Erfordernissen der Tagespolitik, wirken zugleich aber auch motivationsmindernd. Wer nur noch Karriereziele verfolgen kann, dessen Leistungsund Einsatzbereitschaft wird anders aussehen als die seines Kollegen, dem Problemlösungen von x ureigenes Anliegen sind.
Die Lernleistung von Sx in der Abschwungphase trägt folglich paradoxe Züge: Die Organisation hat etwas gelernt, was ihre eigene Fähigkeit, weiterhin zu lernen, vermindert
Zur Personalstruktur von Sx An die Spitze von Sx wird meist ein Nachfolger berufen, der (nicht ganz zufällig) farbloser und durchsetzungsschwächer ist als der oft „charismatische Führer" der ersten Tage. Hinzu kommt, daß nicht nur die objektiven Umstände es dem Nachfolger schwer machen, aus dem Schatten des Vorgängers herauszutreten, sondern daß der Wechsel an der Spitze auch Anlaß zur Mythenbildung und Heroisierung des Vorgängers bietet -Bleibt dagegen die personelle Kontinuität an der Führungsspitze gewahrt, so verblaßt der Ruf des erfolgsgewohnten Organisationsgründers, er wird leicht zum „Mann ohne Fortune".
Allemal erzeugt der auf Sx lastende Anpassungsdruck eine hohe Disposition für interne Konflikte; es liegt nahe, von einer organisationsinternen Abbildung externer Konfliktlagen zu sprechen. In Sx stehen sich jetzt — bedingt durch unterschiedliche Interessen-und Lageeinschätzungen — meist zwei Blöcke gegenüber: — zum einen Kräfte, die den sich vollziehenden Anpassungsprozeß als notwendig oder doch unvermeidbar empfinden und deshalb mittragen;
— andererseits Mitarbeiter, die den ursprünglichen Organisationszweck nicht „kampflos" preisgeben oder doch zumindest die Veränderung der Arbeitsbedingungen nicht hinnehmen wollen.
Der einstige „Korpsgeist" weicht Mißtrauen; das verschlechterte Klima gibt der Organisationsspitze zusätzlich Anlaß, die Zügel straffer zu ziehen, um sich so durch verschärfte Kontrollen gegen Kooperationsverweigerung, Indiskretionen und „Unterwachung" (Luhmann) zu immunisieren — ein Prozeß, der seinerseits Unzufriedenheit und Mißstimmung unter den Mitarbeitern weiter anwachsen läßt. Konflikteskalation bis hin zur „Palastrevolution" ist so-mit möglich, ein Abdriften in den Teufelskreis einer sich selbst verstärkenden Bürokratisierung immerhin wahrscheinlich.
Mit solchen Konflikten geht oft ein rapider Wandel des Personalstammes einher: Zum einen verstärkt sich der Abwanderungsprozeß qualifizierter Kräfte, der bereits in der Umschwungphase eingesetzt hat. In der Organisationseinheit reüssiert jetzt der Typ des eher konservativen, übervorsichtigen Verwaltungsmannes. Zum anderen ergeben sich aber auch für Karrieristen, bedingt durch die hohe Fluktuation, noch einmal Verbesserungschancen — zumal sich eine neue Führung veranlaßt se-hen mag, per Beförderung die Zustimmung erfahrener Mitarbeiter zum neuen Kurs zu erkaufen. Dies mag ein Anreiz zum Verbleib in der Organisation sein — freilich nur für „Leute, die sich anpassen können, so daß die vorherrschenden Situationsdefinitionen, Ideologien und politischen Strategien permanent bestätigt, aber kaum noch in Frage gestellt werden" All dies vollzieht sich vor dem Hintergrund anhaltender, ungebrochener Professionalisierungstendenzen — was die Frage aufwirft, wer eigentlich die Nutznießer von Reformkonjunkturen sind. In bezug auf den amerikanischen „Krieg gegen die Armut" gibt Moynihan eine prononcierte Antwort. Nach seiner Ansicht haben sich Bürokraten und Sozialarbeiter daran mehr bereichert als die eigentlichen Adressaten der Programme
6. Terminalstadium: statt Problemlösung
Problemverwaltung Im Terminalstadium stabilisieren sich schließlich die Verhältnisse; gemessen am Vorstadium bleibt eine erhöhte Problemsensibilität, die allerdings inzwischen balanciert wird durch ein Gespür für die begrenzten Möglichkeiten der Politik, unter den Bedingungen hochdifferenzierter (nicht nur: kapitalistischer) Industriegesellschaften Probleme, insbesondere soziale Probleme, wirksam und dauerhaft zu „lösen".
Überschaubar werden jetzt auch die tatsächlichen Ergebnisse des Zyklus: Meist wird das Terminalstadium gegenüber dem Vorstadium geringfügige Veränderungen vorweisen — ungefähr jene „ 5 Prozent Kurskorrektur", die einmal der seinerzeitige Finanzminister Apel als Marge denkbarer Veränderungen nannte. Möglicherweise wurden Voraussetzungen für eine künftige kontinuierliche Politik kleiner Schritte zur Problemmilderung geschaffen. Als Impuls für weiterreichende Reformen ist Problem x jedoch vorerst „tot, jedenfalls schwieriger zu beleben als ungeborene The-men, weil seine Geschichte eine Erneuerung blockiert”
Medien, Kontrahenten und Mitläufer im
Terminalstadium
Nach dem Erlahmen der Reformbewegung stellen sich jetzt auch beim Prozeß der Gegenmobilisierung Ermüdungserscheinungen ein. Im Verlauf des Reformzyklus haben sich die Kontrahenten wechselseitig in die Schranken verwiesen; jetzt pendeln sich die Kräfteverhältnisse zwischen Problemverursachern und Reformallianz wieder auf ein asymmetrisches „Normalmaß" ein, wobei die Problemverursacher strukturell dominant bleiben. Medien und Mitläufer haben sich anderen Themen zugewandt und sind jetzt kaum mehr in nennenswertem Umfang mobilisierbar.
Politik und Verwaltung im Terminalstadium a) Die politisch-administrative Arena Die in der Abschwungphase entwickelten Mechanismen konzertierter Steuerung, welche die organisierten Interessen im Politikfeld x zu einem Minimum an „Gemeinwohlorientierung" bzw. an Rücksichtnahme auf die Interessen des jeweils anderen verpflichten, bleiben intakt. Problemfeld x verbleibt innerhalb des Aufmerksamkeitshorizontes spezialisierter Behörden und fällt nicht mehr auf die Stufe des „Nichtentscheidens" zurück-b)Die problemverarbeitende Organisationseinheit Sx Diese Stabilisierung spiegelt sich in der Finanzausstattung von Sx wider. Wie die anderen Ressorts kann Sx jetzt von einem festgeschriebenen Budgetsockel aus operieren, andererseits aber kaum noch mit überproportionaler Berücksichtigung bei der Verteilung von Zuwächsen rechnen.
Sx ist nun alt genug, um mit ihrer Klientel stabile Beziehungen einzugehen, und groß genug, um im Rahmen ihres aufgefächterten Programms „nützliche" Dienste anzubieten; sie hat damit die Klippe akuter Bestandsgefährdung erfolgreich passiert. Der Anpassungsprozeß der Abschwungphase wird jedenfalls zur Episode im Lebenszyklus der Organisation. Im besten Fall mag die Organisationseinheit von nun an dauerhaft die Rolle eines ehrlichen Maklers übernehmen, der im Rahmen des Verhandlungssystems zwischen divergierenden Interessen im Politikfeld x vermittelt. Unter ungünstigeren Bedingungen bleibt sie fast vollständig von den Interessengruppen kolonisiert, die sie eigentlich regulieren sollte.
Zur Programmatik von Sx Die auf bruchstückhafte Verbesserungen zielende Programmstruktur der Abschwungphase zeichnet die weiteren Aktivitäten vor. Die einmal auf den Weg gebrachten Einzelprojekte absorbieren jetzt den Löwenanteil der von Jahr zu Jahr verfügbaren Finanzmasse. Sx orientiert sich weiterhin an den tagespolitischen Erfordernissen und berücksichtigt die Interessen der Problembetroffenen, der Problemverursacher und auch der privatwirtschaftlichen Problemloser mit — entsprechend deren Sanktionsmacht.
Zur Organisationsstruktur von Sx Auch wenn sich nach der selbstreinigenden Krise, in der sich Sx von nicht anpassungsfähigen Strukturen und Personen trennt, die Zügel wieder etwas lockern mögen, bleiben dabei die bürokratischen Organisationsmuster, zu denen Sx inzwischen gefunden hat, im Kern erhalten.
Zur Personalstruktur von Sx Als Folge der personellen Auszehrung in der Abschwungphase verfügt Sx jetzt nur noch über durchschnittlich qualifizierte Mitarbeiter, die jedoch infolge der fortgeschrittenen Professionalisierung auf die Problemverarbeitung spezialisiert sind. Die Personalfluktuation geht stark zurück und pendelt sich auf ein Normalmaß ein. Da für Nachwuchskräfte wenig Stellen zur Verfügung stehen (Sx wächst kaum mehr), ist auch nicht mit einem nennenswerten Zustrom neuer Ideen zu rechnen.
III. Reformkonjunkturen — Bilanz und Perspektiven
Um es noch einmal zu unterstreichen: Die hier vorgestellte Reformkonjunktur ist ein Ideal-typ; sie sollte dazu dienen, wesentliche Stadien einer „Problemkarriere" und die entsprechenden Mechanismen politisch-administrativer Problemverarbeitung herauszukristallisieren. Natürlich ist die Realität komplizierter, und im politischen Alltag sind unzählige Varianten solcher Reformkonjunkturen denkbar.
Angesichts der komplexen Vielfalt politischer Prozesse mag manchem der Versuch, Verlaufsmuster eines Reformzyklus zu skizzieren, anmaßend oder gar sinnlos erscheinen: nicht mehr als ein Mixtum aus Spekulation und Willkür. Dagegenzuhalten wäre die Binsenweisheit, daß jedwede Wissenschaft von Abstraktionen und Verallgemeinerungen lebt, und daß es ein berechtigtes Interesse bleiben muß, Strukturen und Funktionszusammenhänge relativ unabhängig von konkret handelnden Personen und von spezifischen zeitlichen und örtlichen Rahmenbedingungen zu erkennen.
Auch die Modelle, mit denen Ökonomen Schwankungen im Wirtschaftsablauf zu erfassen suchen, bilden ja die Wirklichkeit nicht unmittelbar ab: Jeder Konjunkturzyklus ist einzigartig, unterscheidet sich auf vielfältige Weise von allen anderen Konjunkturzyklen. Niemand kommt deshalb auf die Idee, den Sinn und die Nützlichkeit ökonomischer Konjunkturtheorien in Frage zu stellen.
Nicht viel anders verhält es sich mit Reformkonjunkturen — wobei der hier entwickelte Theorieansatz freilich noch viele Fragen offen läßt: In welchen Varianten etwa Reformkonjunkturen auftreten, wie sie gegenüber anderen Mustern politisch-administrativer Problemverarbeitung abzugrenzen sind, welche sozialen Probleme typischerweise per Reform-zyklus angegangen werden und welche nicht, welche Folgeprobleme Reformkonjunkturen hervorrufen, ob und inwieweit sie sich strategisch nutzen lassen — all dies bedarf noch genauerer Klärung
Um es jedoch nicht mit dem Verweis auf ein stattliches Forschungsprogramm bewenden zu lassen, seien hier einige ergänzende und zusammenfassende Schlußfolgerungen genannt: 1. Die Konkurrenzmechanismen in Demokratien wirken sowohl als Motoren wie auch als Bremsklötze für Reformpolitiken. Zyklische Verlaufsmuster von Reformpolitiken lassen sich mithin auch dadurch erklären, daß — in der Formulierung Manfred G. Schmidts — w.. liberaldemokratischverfaßte politische Systeme eine hochentwickelte Fähigkeit zur Thematisierung gesellschaftlicher Probleme haben. Andererseits bewirken aber dieselben Mechanismen, die dieser Fähigkeit förderlich sind, ... eine stark eingeschränkte Fähigkeit zur Durchsetzung entsprechender problemlösender Politiken.“ Eine solche Diskrepanz stellt die Politik dann vor die Aufgabe, Erwartungen, die sie selbst laufend erzeugt, nach unten zu korrigieren: „Sie muß mit dem, was sie für relevant hält, nochmals selektiv verfahren; Aussichten, die sie eröffnet, wieder zunichte machen; Berechtigungen, die sie anerkennt, zurückweisen." 2. Weil politisch-administrative Systeme „reaktiv auf die gegebene Machtverteilung" steuern, vermögen sie kaum bestehende soziale Ungleichheiten aufzulösen 3. Die Legitimationsproblematik für Politik und Verwaltung ist bei weitem nicht so prekär; wie dies von Vertretern politischer Krisen-theorien, aber auch von Aktivisten „neuer sozialer Bewegungen" immer wieder angenommen wird. Wenn Reformkonjunkturen möglich sind, so bedeutet das auch, daß der Staat Legitimation „schon auf der Ebene von Problemlösungsversuchen" herstellen kann; „Legitimation wird nicht dadurch erzeugt, daß das Problem inhaltlich gelöst wird", allein „der , good will'(wirkt) schon legitimationsstiftend"
4. In der sektoralen Begrenztheit von Krisen, die sich aus dem Grad der Ausdifferenzierung fortgeschrittener Industriegesellschaften ergibt, liegt der entscheidende Unterschied zwischen den Verläufen moderater Reformzyklen und unkontrollierbarer Revolutionen — trotz aller formalen Ähnlichkeiten, die sich gerade in der Entwicklungsdynamik ergeben mögen. Beim Reformzyklus greift das staatliche Krisenmanagement, bei der Revolution nicht. Schon Burckhardt unterschied deshalb „echte Krisen" von „Händeln", die „in verschiedenen Zeiten ... die Luft mit sehr langem und intensivem Lärm erfüllt (haben), ohne doch vitale Umgestaltungen mit sich zu führen“
5. Reformmöglichkeiten und -grenzen in hochentwickelten Industriegesellschaften sind durch Imperative des Wirtschaftssystems nur vermittelt bestimmt; unmittelbar korrespondieren sie mit dem Erfordernis des Staates, seinen Eigenbestand zu sichern. Reform-initiativen und Selbsterhaltungsinteressen des Staates aber können sich — je nach den momentanen Machtverhältnissen — wechselseitig stützen oder aufheben. Reforminitiativen werden nur dann auf den Weg kommen, wenn sie mit den Selbsterhaltungserfordernissen des politisch-administrativen Systems vereinbar sind oder diesen aktiv Rechnung tragen, also akute Legitimationsprobleme abbauen oder drohenden Legitimationskrisen vorbeugen. Reforminitiativen werden dagegen abgeblockt oder rückgängig gemacht werden, wenn sie — unter inzwischen veränderten Bedingungen — Bestandsprobleme für Politik und Verwaltung hervorrufen oder verschärfen. Während das Selbsterhaltungsinteresse ein konstitutives, unveränderliches Merkmal eines jeden Staatswesens ist, variieren die jeweilig konkreten Bestandsprobleme und Bestandserfordernisse. 6. Reformkonjunkturen bedeuten auch: Ambivalenzen. Reformpolitik erweist sich als möglich und dennoch unrealisierbar; staatliche Instanzen sind entgegenkommend und repressiv; Reformprogramme werden in Geld ertränkt und bleiben dennoch unterfinanziert; es gibt manifeste Legitimationsprobleme und dennoch keine Legitimationskrise; die Bevölkerung erweist sich als mobilisierbar und als apathisch — allesamt Schattierungen, die eine statisch angelegte Untersuchung kaum zu begreifen vermag. So manche politikwissenschaftliche Kontroverse dürfte sich im nach-hinein als überflüssig erweisen, weil beide Seiten recht haben — vorausgesetzt, man nähert sich dem Untersuchungsgegenstand aus einer dynamischen Perspektive.
7. Reformzyklen sind ein Bürokratieerzeugungsmechanismus. Unter den turbulenten Bedingungen der Aufschwungphase, wenn akuter Druck dazu zwingt, sichtbare Zeichen zu setzen und beeindruckende Programme auf den Weg zu bringen, läßt sich nicht zugleich mit organisatorischen Mitteln haushalten und die Vollzugsproblematik in all ihren Facetten mitbedenken. Es entstehen neue Verwaltungsapparate, deren Verselbständigung nur eine Frage der Zeit ist.
8. Die Pendelausschläge der Politik während eines Reformzyklus steigern noch das ohnehin frappante Ausmaß sozialen Wandels in hoch-entwickelten Industriegesellschaften. Das Rationalitätsdefizit unseres politisch-administrativen Handelns infolge „änderungstempobedingten Vertrautheitsschwundes" (Lübbe) potenziert sich damit ebenfalls. In der Aufschwungphase, wo „Klotzen statt Kleckern" handlungsleitende Devise sein muß, wird eine massive Fehlallokation von Ressourcen geradezu vorprogrammiert.
Das Argument läßt sich weiterspinnen: Wenn es stimmt, daß insbesondere Politiken zugunsten unterprivilegierter Gruppen zyklusanfällig sind, dann bedeutet das auch, daß gerade jene Budgetanteile, die zur Linderung sozialer Probleme zur Verfügung stehen, der Gefährdung ausgesetzt sind, für symbolische Zwecke und Aktionen „verschleudert" zu werden. So besehen, gewinnt der eher pauschale Vorwurf Edelmans an Gehalt, wonach „die Bürden nahezu jedweder Krise überproportional auf die Armen zurückfallen, während die Einflußreichen und Wohlhabenden oft aus ihr Nutzen ziehen"
9. Es ist mithin kaum verwunderlich, wenn die häufige Abfolge von Krisen-und Entspannungszuständen bei einem Teil der jeweils Problembetroffenen Verärgerung, Frustration, Verdrossenheit, Apathie entstehen läßt — allesamt Symptome, die auf eine entpolitisierende Wirkung von Krisenzyklen schließen lassen
Nun mag es ja durchaus sein, daß die Gleichgültigk'eit des Bürgers „in politischen Sonntagsreden beklagt, im Alltag aber dankbar registriert" wird Die kumulative Folgewirkung wiederholter Reformkonjunkturen könnte indes durchaus zur Strangulierung demokratischen Lebens. führen: Anomie und Apathie statt politischer Interessenartikulation wären dann das Endergebnis.
10. Es ist davon auszugehen, daß es weder innerhalb noch außerhalb des staatlichen Institutionensystems Entscheidungsträger gibt, die einen Reformzyklus sozusagen „bewußt“ planen; der Reformzyklus ist eine Entwicklung, die als Ganzes niemand will, obschon sie sich, bedingt durch Machtverschiebungen, relativ häufig ergibt. Auch für Reformkonjunkturen gilt, was Rich — verallgemeinert auf jedwede Politikentwicklung — ebenso knapp wie zutreffend formuliert hat: „Policy is not made, it accumulates." Die Dramaturgie der Reform-politik entfaltet sich also ohne identifizierbare Dramaturgen.
Vielleicht können die hier vorgestellten Überlegungen dennoch Politikern und Verwaltungsleuten, aber auch den Aktiven in sozialen Bewegungen helfen, die Konsequenzen ihres Handelns besser abzuwägen — wenn sie die hier entwickelten Hypothesen auf ihre konkreten Reformprobleme beziehen, ohne dabei die je besonderen zeitlichen, sachlichen und sozialen Konstellationen außer acht zu lassen, die hier zwangsläufig unberücksichtigt bleiben mußten.
Stephan Ruß-Mohl, Dr. rer. soc., geb. 1950; Dipl. Verwaltungswissenschaftler; Studium der Sozial-und Verwaltungswissenschaften in München, Konstanz und Princeton/USA; 1979— 1981 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund; seit 1981 wissenschaftlicher Referent bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Veröffentlichungen: Reformkonjunkturen und politisches Krisenmanagement, Opladen 1981; diverse Fachzeitschriften-Beiträge.
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