Nach zwei Jahrzehnten politisch-ideologischer „Modellansprüche" scheint sich die seit 1978/1979 herrschende Führungskoalition der VR China mit den Realitäten des Landes abgefunden zu haben. China ist ein Entwicklungsland mit grundlegenden Problemen, die nur langfristig gelöst werden können. Trotzdem läßt sich auch gegenwärtig nicht von einem dauerhaften nationalen Konsens, einem gemeinsamen Entwicklungsausblick der gesamten Partei-und Staatsführung sprechen. Die begrenzten Erfolge der neuen „reformpolitischen Linie" sind weniger der allgemeinen inhaltlichen Zustimmung zu den wirtschaftlichen Wandlungen als vielmehr der Schwäche der verschiedenen Oppositionsströmungen und ihrer bloßen Obstruktionspolitik zuzuschreiben. Ein echter, langfristig anerkannter Konsens wäre um so dringlicher, als der chinesische Subkontinent vor existentiellen Herausforderungen steht, die durch eine Fortsetzung der „Politik des extremen Pendelschlages" nur verschärft werden können. Verkürzt gesagt liegen diese Herausforderungen vor allem in einem fundamentalen Ungleichgewicht zwischen einer ständig wachsenden Bevölkerung und einer schrumpfenden bzw. nur bedingt erweiterbaren nationalen Ressourcenbasis. Trotz bemerkenswerter absoluter Leistungsteigerungen der chinesischen Volkswirtschaft in den letzten 25 Jahren ist das Bild der wichtigen wirtschaftlichen Pro-Kopf-Daten eher von Stagnation als von einem echten „Take-off" bestimmt. Der bisheriger Erfolg der neuen Reformlinie, insbesondere die Finanzierung der konsum-orientierten Politik, ist zu einem wesentlichen Teil durch eine überhöhte staatliche Ausgaben- und Subventionspolitik, d. h. durch Staatsverschuldung realisiert worden. Die notwendige Reduzierung der Investitionstätigkeit entlang der alten „schwerindustriellen Linie" konnte nur unvollkommen verwirklicht werden. Es ist der Reformführung bisher nicht gelungen, die alten schwerindustriellen Interessen wirkungsvoll einzugrenzen. Ein langfristiges Nebeneinander beider Linien ist sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus politisch-ideologischen Gründen nicht möglich. Welche Kräfte sich letztlich durchsetzen werden, ist nach wie vor ungewiß, was sich auch am zögernden Verlauf der Reformen auf allen Sektoren ablesen läßt. Nach einer kurzfristigen Euphoriewelle ist weitgehende Ernüchterung eingetreten.
1972 erkannte die Volksrepublik China erstmals die Existenz einer „Dritten Welt". Seither versteht sie sich als Entwicklungsland, in optimistischer Selbstbeschreibung als „armes Land mit beginnendem Wohlstand". Die chinesische Wirtschaftsgesellschaft ist mit ähnlich grundlegenden Problemen des Mangels und der Aufbauschwäche belastet wie andere große Entwicklungsländer. China stellt den Anspruch, ein sozialistisches Land zu sein. Das heißt, seine Lösungsversuche sind anders als die nichtsozialistischer Länder. Welcher Art sie sind, ist auch 1982 politisch ungeklärt. Zu keiner Zeit hat ein dauerhafter nationaler Konsens, ein gemeinsamer Entwicklungsausblick existiert, der der Problemvielfalt des Landes Rechnung trug und sie als nur langfristig lösbares Faktum akzeptierte. Die Wirklichkeit setzte Grenzen, die nach dem Willen der gegenwärtig vorherrschenden Führungsrichtung mit dem Schlagwort „objektive ökonomische Gesetzmäßigkeiten" nachhaltig verdeutlicht werden sollen. Auch die Sprachformel „Praxis als einziger Maßstab der Wahrheit“ gilt als Ausdruck mühsamer Bestrebungen, in der chinesischen Partei-und Staats-elite ein angemessenes Bewußtsein für Chinas Realität zu wecken. Dennoch scheint der alte Losungs-und Kampagnenstil nur schwer zu sterben.
Am 7. Juli 1982 teilte das Statistische Zentralamt der Öffentlichkeit mit, daß der „Produktionswert der Gesamtindustrie in der ersten Hälfte dieses Jahres gegenüber dem Vergleichszeitraum 981 um 10, 1 % gestiegen sei und daß die Ergebnisse besser als erwartet gewesen seien" 1). Die Schwerindustrie (Produktions-und Investitionsgüter) wuchs um 9, 5% und die Leichtindustrie (Konsumgüter) um 10, 7 %. Die Ergebnisse wurden entsprechend gepriesen: „Chinas Volkswirtschaft hat sich auf den Weg des steten und gesunden Wachstums gemacht."
Laut Artikel 11 der Verfassung der Volksrepublik China ist der Staat verpflichtet, die Volkswirtschaft „planmäßig und proportional"
zu entwickeln. Das Hauptinstrument der geplanten gleichgewichtigen Entwicklung ist der nationale Volkswirtschaftsplan. Die Kenn
Ziffern dieses Plans sehen für 1982 ein Wachstum der Leichtindustrie von 7 % und der Schwerindustrie von 1 % vor Die Abweichung des tatsächlichen Wachstums im ersten Halbjahr 1982 ist frappant. Ähnliche Abweichungen zwischen geplantem und tatsächlichem Wachstum lassen sich auch für die Jahre 1980 und 1981 registrieren. Jedermann ist ersichtlich, daß die Untererfüllung von Plänen eine Minderleistung darstellt. Weniger offensichtlich ist, daß auch die Übererfüllung der Pläne eine negative Entwicklung, nämlich eine Nichterfüllung, anzeigen kann. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts mag das alte Beispiel über die Bekanntgabe der enormen Übererfüllung der Handtaschenproduktion dienen. Die Schuhproduktion, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr Ziel nicht erreichte, wird hingegen nicht erwähnt. Der Zusammenhang ist klar; die Planung ging von einer für beide Produkte insgesamt fixierten Menge an Rohmaterial (z. B. Leder) aus, die nicht ohne weiteres vermehrbar ist. Um es allgemein auszudrücken: die Sicherung des „beweglichen ökonomischen Gleichgewichts", also die Verhinderung von Disproportionen zwischen allen Bereichen der Volkswirtschaft (Akkumulation — Konsumtion, Produktion — Konsum, Industrie — Landwirtschaft, Grundstoffindustrie — Investitionsgüterindustrie — Konsumgüterindustrie usw.), ist die Hauptaufgabe der staatlichen Plantätigkeit.
Um den „Verlust des Gleichgewichtes (bili shitiao)" dreht sich die gesamte wirtschaftliche Diskussion im heutigen China. Die (Material-) Bilanzrechnung — ob in ihrer einfachen Form oder auf der Grundlage von sogenannten In-put-Output-Analysen — zielt ihrer Definition nach in erster Linie auf die innere Konsistenz des Planes ab und legt im Rahmen politisch vorherbestimmter Präferenzen die mögliche Optimalabstimmung fest. Es erscheint wenig sinnvoll, die theoretische Diskussion nachzuvollziehen, ob der Optimierungsanspruch des auf der Bilanzrechnung beruhenden Systems tatsächlich erfüllt werden kann oder angesichts seiner innewohnenden „Funktionsprobleme" zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Der gesamte Problemverhalt wird zur Zeit von chinesischen Wirtschaftswissenschaftlern neu belebt. Nach den Erfahrungen ihrer osteuropäischen Kollegen wird man zu keinem endgültigen Ergebnis kommen. Tatsache ist jedoch, daß das Verfahren in der Praxis des Volkswirtschaftsprozesses nur bedingt funktioniert. Permanent treten Tendenzen zur Maximierung, d. h. zum Höchstwachstum weniger Präferenzbereiche auf. Die Stärkung dieser sogenannten Kettenglieder geht zwangsläufig zu Lasten der restlichen Bereiche. Die Gründe dafür, daß das System, das mit dem Anspruch angetreten ist, eine proportionale Entwicklung zu garantieren, mehr als jedes andere System fortlaufende Disproportionen erzeugt, liegen nicht so sehr — wie häufig in westlichen Medien bespöttelt — in der Inkompetenz der Wirtschaftsadministration, sondern sind in erster Linie durch macht-und interessenpolitische Konstellationen der Partei und Staats-führung bedingt.
Wenn also das Wachstum der chinesischen Schwerindustrie trotz jahrelanger Bemühungen, Direktiven und Plananweisungen weiterhin deutlich über der Plangröße liegt, dann handelt es sich nicht um ein mehr oder weniger technisches Problem der wirtschaftsstrukturellen Abstimmung, sondern es spiegelt sich darin indirekt die Existenz einer „schwerindustriell orientierten" Führungsschicht wider, die bewußt planwidrig agiert. Ihr geht es in erster Linie um das Wachstum „ihrer Kettenglieder". Im Falle Chinas konzentrierten sich die Vertreter dieser Führungsgruppe eine Zeit-lang auf den Petrosektor, daher die Bezeichnung „Erdölfraktion". Bisher hat die „Erdölfraktion" es verstanden, die Durchsetzung des 1979 verkündeten Reformkurses hinhaltend zu blockieren, wie an späterer Stelle noch ausgeführt wird.
Die Zukunftsrichtung der chinesischen Entwicklung ist weiterhin offen. Mit Sicherheit läßt sich jedoch jetzt schon sagen, daß sie nicht, wie bisweilen selbst von China-Fachleuten behauptet, zu einer Marktwirtschaft führen wird. Schon eine oberflächliche Analyse der chinesischen Führungsgesellschaft beweist, daß der „Marktmechanismus" mit Ausnahme einiger weniger Spitzenführer und Wirtschaftswissenschaftler in der Volksrepublik China keine „Lobby" hat. Langfristig wird er „unter dem absoluten Leitungsvorrang der Planung" allenfalls eine bescheidene „Zusatzfunktion" einnehmen. Gegenwärtig findet der Markt vorzugsweise in der wachsenden „Schattenwirtschaft" tatt. Liberale Wirtschaftswissenschaftler bezeichnen einen solchen Vorgang gern als „Notwehrreflex" gegenüber gravierenden Funktionsmängeln der offiziellen Wirtschaft, und auch in China deutet die häufig geübte Aussage „Wenn man kein öl eintropft, dann gleitet es auch nicht (bu dian you, bu hualiu)" auf ein ähnliches Verständnis hin. Dem steht die offizielle Politik entgegen, die seit 1981 verstärkt um die . Auslöschung des irregulären Arbeitsstils (bu zheng zhi feng)" bemüht ist. Sie negiert, daß die Stimulierung informellen Managements die Schwächen der Wirtschaftsverwaltung und der Konsumgüterversorgung zu mildern vermag. Statt dessen spricht sie von „Bestechungsstil", „Beziehungsanknüpfern" und „Schmuggel". Laut Regierungsbericht des chinesischen Ministerpräsidenten Zhao Ziyang vom Dezember 1981 ist die Kontrolle solcher Phänomene bisher gering gewesen. Danach breitet sich der „irreguläre Stil" im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben des Landes weiter aus. „Die Wirtschaftsorgane und ihre verantwortlichen Kader kümmern sich nicht nur nicht darum, sie machen sogar mit."
I. Hypotheken der Entwicklung
„Die Wahrheit in den Tatsachen suchen" ist eine der plakativen Formeln der „neuen historischen Etappe" der Volksrepublik China. Die Tatsachen des heutigen China beinhalten ein Geflecht von Grunddaten und Ausgangsbedingungen, das jeder chinesischen Entwicklungspolitik, gleich wer sie betreibt und wie sie betrieben wird, harte, nur langfristig erweiterbare Grenzen setzt. Angesichts der Größe des chinesischen Wirtschaftsraums, der gewaltigen regionalwirtschaftlichen Gefälle und der Notwendigkeit unterschiedlicher Lösungsansätze gibt es keine ideale Entwicklungsstrategie für das ganze China. Die vorrangige Lösung eines Teils der Probleme, die Aufhebung eines Teils der Ungleichgewichte muß vorübergehend andere Probleme verschärfen und andere Ungleichgewichte vertiefen. Wo jedoch ein vorsichtiger Versuchs-und Irrtumsprozeß, eine allmähliche Annäherung an die geschichtlich gewachsenen Herausforderungen notwendig und sinnvoll gewesen wäre, dort stand in der 30jährigen Geschichte der Volksrepublik China der ideologisch bedingte Zwang zum „Modellhaften". Keine Entwicklungslinie der Volksrepublik China verschaffte sich länger als drei Jahre Gültigkeit, und auch die gegenwärtige Linie verdankt, wie bereits angedeutet, ihre formale Anerkennung weniger der allgemeinen inhaltlichen Zustimmung als der Schwäche der verschiedenen Oppositionsströmungen, die — auf die Wahrung ihrer Machtpositionen bedacht — bisher über eine bloße Obstruktionspolitik nicht hinausgekommen sind. Auf die alten Fragen haben sie nur die alten Antworten. Von ihnen heißt es heute, sie haben in der Vergangenheit „auf kleine Füße zu große Schuhe gezogen". Die Grundprobleme der chinesischen Entwicklung sind in der Zwischenzeit auf eine nahezu kritische Größe angewachsen.
Die größte Zukunftsherausforderung liegt, vereinfacht gesagt, im fundamentalen Un-gleichgewicht zwischen einer ständig wachsenden Bevölkerung und den nur bedingt erweiterbaren Lebensgrundlagen. Es hatte 180 Jahre gedauert, ehe sich die chinesische Bevölkerung von ca. 270 Millionen (1770) auf ca. 540 Millionen (1950) verdoppelt hatte. Die jüngste Verdoppelung auf rund eine Milliarde (1982) vollzog sich in drei Jahrzehnten. Selbst bei verschärfter Geburtenkontrollpolitik dürfte sich die „Endbevölkerung" nicht unter 1, 5 Milliarden einpendeln.
Das heißt, China muß zur Zeit ein Viertel der Menschheit auf nur 7 % der Weltanbaufläche versorgen. Die Verschlechterung dieser Relation während der letz Milliarden einpendeln.
Das heißt, China muß zur Zeit ein Viertel der Menschheit auf nur 7 % der Weltanbaufläche versorgen. Die Verschlech % der Weltanbaufläche versorgen. Die Verschlechterung dieser Relation während der letzten 25 Jahre scheint besorgniserregend. Von 1957 bis 1981 sank die Anbaufläche pro Kopf der Bevölkerung von 0, 17 Hektar (ha) auf 0, 1 ha, d. h. um 40%. Sie wird weiter sinken, da die Gesamtanbaufläche Chinas im Gegensatz zur Bevölkerung stagnierend bis rückläufig ist. Während der letzten 25 Jahre ist aufgrund von Industrie-und Stadtbau sowie von Erosions-und Erschöpfungserscheinungen des Bodens ein Nettoverlust von mehr als 12 Mio. ha (17 Mio. ha Neulandgewinnung, knapp 30 Mio. ha Altlandverlust) eingetreten 3), eine Größenordnung, die der gesamten Anbaufläche der Bundesrepublik Deutschland entspricht.
Ähnliches gilt für die nationale Wald-und Forstwirtschaft. Wegen permanenter Waldrodung zur Ackerlanderschließung und Abforstung für Brenn-und Bauholzzwecke ist die
Waldfläche stark rückläufig. Besonders hart betroffen ist das große Waldgebiet des Südwestens, in dem „die Ressourcen der Erschöpfung nahe sind ... Sichuan und die Reis-und Fisch-Orte entlang des Changjiang sind gegenwärtig dabei, ihre natürliche grüne Schutz-wand zu verlieren. Wenn nicht schleunigst entscheidende Maßnahmen eingeleitet werden, wird sich der Changjiang in einen zweiten Huanghe verwandeln." 4) Auch die scheinbar endlosen Graslandflächen Westchinas sind durch „Urbarmachung unter Mißachtung der Naturregeln, durch gewaltsame Umwandlung in Felder und durch Überweidung" während der letzten 25 Jahre sichtlich geschrumpft.
Rund 20 Mio. ha sind der Wüstenbildung verfallen, und weitere 8 Mio. ha „stehen vor der unmittelbaren Gefahr der Wüstenbildung" 5).
Die Fischwirtschaft zeigt . ähnlich kritische Symptome. Es heißt, aufgrund rücksichtsloser Ausfischung seien die Wirtschaftsfischarten im Bohai-Meer weitgehend verschwunden. Im Ostchinesischen Meer sei die Fangmenge ebenfalls stark rückläufig, und die Fänge im Südchinesischen Meer bestehen zum großen Teil aus Jungfischen. In der Binnenfischerei seien die Schäden wegen der Politik des „Seen einengen, Felder schaffen" und „Teiche austrocknen, Getreide pflanzen" ebenfalls schwerwiegend 6).
Eine im März 1981 eingesetzte „Untersuchungskommission zur landwirtschaftlichen Modernisierung" der chinesischen Akademie der Wissenschaften kam zu dem Ergebnis: „Was in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei in den meisten Gebieten seit über 30 Jahren gemacht worden ist, ist Raubbau. Es wurde viel herausgeholt und wenig hineingesteckt... Diese rückständige Betriebsweise hat das atürliche Lebensgleichgewicht geschädigt und läßt die landwirtschaftliche Erzeugung in einen nachteiligen Kreislauf geraten." 7)
Das Bild ist weitaus nüchterner, als es noch vor wenigen Jahren gezeichnet wurde. Damals hatte selbst die FAO (Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation der UNO) eine Studienreihe unter dem Titel „Von China lernen" veröffentlicht und das hohe Lied einer vollendeten „integrierten ländlichen Entwicklung" in China gesungen. 1978 zweifelte die chinesische Führung erstmals an dem von ihr selbst entworfenen Bild: „All dies verhinderte eine rasche Entwicklung der Landwirtschaft. Zwischen der gegenwärtigen Lage der chinesischen Landwirtschaft einerseits und den 'Bedürfnissen der Massen sowie den Erfordernissen der Vier Modernisierungen andererseits besteht ein scharfer Widerspruch." Ferner • hieß es: „Außerdem ist die Produktion nicht stabil, d. h., es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Jahreserträgen. In Jahren reicher Ernte gibt es etwas Überschuß, in durchschnittlichen Erntejahren kann der Bedarf nur annähernd gedeckt werden. Die Erzeugung von Industriepflanzen ist noch hinter den wachsenden Erfordernissen des Wirtschaftsaufbaus und des Lebens der Massen zurück. Wird dieser rückständige Zustand nicht rasch geändert, kommt die Volkswirtschaft ins Stocken."
Es wäre unsachgemäß, für die bisherige Entwicklung ausschließlich eine verfehlte Wirtschaftspolitik verantwortlich zu machen. Die Fehlleistung der Politik liegt vor allem darin, daß sie in der Vergangenheit die Probleme schlichtweg leugnete oder komplexe Tatbestände auf einfache ideologische Formeln reduzierte. Diese Neigung herrscht in einigen Teilen der Partei-und Staatsbürokratie sowie der Armee auch gegenwärtig noch vor. Andererseits müssen in jeder Volkswirtschaft, die innerhalb von 30 Jahren eine Milliarde Menschen statt 500 Millionen zu versorgen hat, zwangsläufig gravierende Probleme auftreten. Dem „Entwicklungsland" China fehlten ausreichende Mittel, um ebensoviel „hineinzustekken" wie „herauszuholen". Vor allem in den agrarischen Spitzengebieten des Landes ist seit mehr als einem Jahrzehnt das Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses sichtbar geworden, d. h. Aufwand und Ertrag zeigen ein zunehmend ungleiches Wachstum (1970/79 2, 5 : 1). Dort hat sich der Verbrauch an Elektrizität und Fabrikdünger je Hektar während def letzten 20 Jahre verfünfzehnfacht. Die Produktionskosten je Hektar stiegen um 165 %, die Flächenerträge jedoch nur um 55 %. Dennoch ist die Führung gezwungen, weiterhin auf diese Gebiete zu setzen. Die Kosten für eine großräumige Modernisierung anderer Anbaugebiete übersteigen das Investitionsvermögen der Volksrepublik China auf absehbare Zeit. Einigkeit, wie und unter welchen politisch-organisatorischen Bedingungen diese Mittel erwirtschaftet werden können, hat es in China zu keiner Zeit gegeben. Sie existiert auch heute nicht.
Dennoch sind die absoluten Leistungssteigerungen der chinesischen Landwirtschaft beachtenswert. Die Erzeugung der wichtigsten Massenprodukte wurde während der letzten drei Jahrzehnte verdoppelt oder verdreifacht. Die kritische Natur der gegenwärtigen Situation wird erst in den existenzentscheidenden Pro-Kopf-Angaben und der schleichenden Grundlagenschädigung sichtbar.
Die chinesische Diät beruht zu rund vier Fünf-
1 Cet-id-L-e Dei. ctotietisch teln auf Getreidenahrung. Rem statistisch mußte sich die Versorgungssituation aufgrund der Steigerung der Getreideerzeugung von 285 kg pro Kopf (1952) auf 323 kg (1980) leicht entspannt haben. Tatsächlich ist das jedoch nicht der Fall. Zum einen setzt die chinesische Wirtschaftsführung 400 kg als untere Grenze einer entspannten Versorgungssituation an. Zum anderen hat sich der Anteil des reinen Nahrungsmittelgetreides verringert, da ein größeres Mengenvolumen für Saatgetreide und nicht ernährungsorientierte Industriezwecke benötigt wird. Drittens spiegelt sich in den statistischen Durchschnittswerten nicht die ungleichmäßige regionale Verteilung wieder. Die für Industrieländer nicht (mehr) vorstellbaren regionalen Einkommens-und Versorgungsgefälle machen sich jedoch als eines der schwerwiegendsten Ungleichgewichte auf dem chinesischen Subkontinent drückend bemerkbar. Seit einigen Jahren berichten die Medien der Volksrepublik China über die Verarmung einzelner Großgebiete, z. B.des Nordwestens, in dem weite Teile hinter den Versorgungsstand von 1949 zurückgefallen sind.
Unter dem Titel „Lage der armen Kreise des Landes 1977/1979" veröffentlichte das Land-wirtschaftsministerium Anfang 1981 einen umfassenden Bericht zur ländlichen Einkommensverteilung Danach waren Ende 1979 (Rekordernte) 12, 4 % aller Kreise Chinas mit einer Gesamtbevölkerung von 99, 2 Mio. soge-nannte „arme Kreise“, mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Jahreseinkommen unter 50 Yuan (ca. 65 DM). In ihnen konnte die offizielle Mindestversorgung seit Jahren nicht erwirtschaftet werden. Unter Ausklammerung der Kreisstädte (deutlich höheres Durchschnittseinkommen) beläuft sich die Gesamtbevölkerung in Gebieten mit einem Produktionsstand unterhalb der Mindestversorgung auf mindestens 130 bis 150 Mio. Der Bericht erwähnt ferner, daß 27% (1, 37 Mio.) aller ländlichen Grundeinheiten 1979 „arme Produktionsgruppen“ waren. Rund die Hälfte aller Produktionsgruppen verfügte im gleichen Jahr über ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen zwischen 50 und 100 Yuan. In ungünstigen Erntejahren sinkt ein beachtlicher Teil dieser Gruppen ebenfalls unter die „Armutslinie 1'. Ein Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 100 Yuan ist in etwa die Grenze, die zu dem Etikett „arm mit beginnendem Wohlstand“ berechtigt, über dieser Grenze liegt weniger als ein Viertel aller chinesischen Produktionsgruppen. Ein Pro-Kopf-Jahreseinkommen von mehr als 300
Yuan, d. h. das durchschnittliche städtische Einkommen, erreichen nur 8 % aller Produktionsgruppen. Zusammen mit der städtischen Bevölkerung stellen sie rund ein Viertel der chinesischen Gesamtbevölkerung. Dieses Viertel genießt eine Einkommens-und Versorgungssicherheit, die deutlich über dem Rest des Landes liegt.
Das hohe Versorgungs-und Einkommensgefälle entspricht der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungskraft der einzelnen Regionen Chinas. Den drei großen Einwohner„Schlüsselgebieten“ Shanghai-Jiangsu-Zhejiang (108 Mio. Einwohner), Liaoning-Jilin-Heilongjiang (88 Mio. Einwohner) und Beijing-Tianjin-Hebei (67 Mio. Einwohner) stehen die drei großen Rückstandsgebiete Shanxi-Shaanxi-Gansu (71, 4 Mio. Einwohner), Sichuan (97, 7 Mio. Einwohner) und Guizhou-Yunnan-Guangxi (95, 4 Mio. Einwohner) gegenüber. Die drei Schlüsselgebiete erwirtschaften zusammen rund 40 % des gesamten chinesischen Volkseinkommens, während die drei Rückstandsgebiete bei ähnlich großem Bevölkerungsanteil nicht einmal 15 % erreichen. Zwischen beiden Gebietskategorien ergibt sich ein volkswirtschaftliches Pro-Kopf-Leistungsgefälle von annähernd 1: 3. Zwischen Chinas wirtschaftlicher Spitzenregion Shanghai und der leistungsschwächsten Provinz Guangxi dehnt sich das Gefälle auf knapp 1: 18
Ein solches Bild widerspricht vom Ergebnis her allem, was in der Vergangenheit über die regionale . Ausgleichsorientierung" der chinesischen Wirtschaftsplanung und Entwicklungsstrategie gesagt und geschrieben worden ist. Das heißt nicht, daß es eine solche Strategie nicht gegeben hätte. In der Tat stieg der Anteil der Investitionen der rückständigen Binnenlandprovinzen an den Gesamtindustrieinvestitionen des Landes von 1952 39 % bis zum Ende der siebziger Jahre auf knapp 50 % an. Nur war das Ergebnis dieser Investitionstätigkeit nicht beeindruckend. Der Anteil der Binnenlandprovinzen am gesamten Produktionswert der Industrie erhöhte sich nur unwesentlich. In China passierte das gleiche, was auch in anderen Entwicklungsländern ge-schiebt. Die zentralstaatlichen Investitionen überstiegen bei weitem die Absorptionsfähigkeit der Inlandprovinzen. Die Projekte konnten nur begrenzt integriert werden. Diese Tatsache läßt sich unter anderem aus dem „Nutzeffekt der Investition", der sich in China aus dem Verhältnis zwischen tatsächlich „neu hin-zugekommener Kapazität" und zuvor „geplanter Kapazitätserweiterung" ergibt, ablesen. Dieser Nutzeffekt sank für den Zeitraum 1967— 1976 auf 59 %, nachdem er zuvor noch bei mehr als 80% gelegen hatte Der alte Prozentsatz ist auch 1981 noch nicht wieder erreicht worden.
II. Bilanz der wirtschaftlichen Leistungen und Grenzen des wirtschaftlichen Handlungsspielraums
Laut Kommunique des Statistischen Zentral-amtes „über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1981" belief sich das Wachstum des Nationaleinkommens, des umfassendsten offiziellen Indikators der chinesischen Wirtschaftsstatistik, 1981 auf 3% und erreichte eine absolute Höhe von 388 Mrd. Yuan, das heißt ca. 505 Mrd. DM. Das entspricht einem Bruttosozialprodukt (BSP) — in westlichen Gesamtrechnungen verwandte Kennziffer — von geschätzten 440 Mrd. Yuan (ca. 570 Mrd. DM). Auf der staatlich fixierten Wechselkursbasis entspricht diese Größenordnung knapp der Hälfte des bundesdeutschen BSP. Auf der Grundlage eines globalen Kaufkraftparitätenvergleiches läge das chinesische BSP jedoch mit Sicherheit um einiges höher.
Ein wesentliches Merkmal der volkswirtschaftlichen Entwicklung der VR China während des letzten Jahrfünfts ist die deutliche Abflachung des realen BSP-Wachstums von mehr als 12% 1977/78 auf jeweils rund 7% 1979/80 und 3% 1981. Diese Tatsache ist vor allem auf das deutlich verringerte Wachstum der Industrie zurückzuführen, das von einer zweistelligen Zahlenbasis 1979/80 auf jeweils gut 8 % und 1981 auf 4, 1 % sank. Im Gegensatz dazu zeigte das Wachstum des landwirtschaftlichen (Brutto-wie Netto-) Produktionswertes einen deutlichen Anstieg gegenüber den letzten zwei Jahrzehnten. 1979 und 1981 (+ 5, 7 %) lag es sogar über dem der Industrie. Für den Tertiärsektor läßt sich ein Wachstumstempo unterhalb des arithmetischen Mittels aus Landwirtschaft und Industrie vermuten. Das verminderte volkswirtschaftliche und industrielle Wachstum ist in erster Linie als Ausdruck einer seit 1979 eingeleiteten strukturellen „Sanierungspolitik" zu werten. Im Rahmen dieser Politik hat sich auch das alte Wachstumsverhältnis zwischen Schwer-und Leichtindustrie grundlegend verändert. Seit 1979 sind die Steigerungen der leichtindustriellen Produktionswerte deutlich höher als die der Schwerindustrie (1980: 18, 4% : 1, 4%; 1981:
1 % : — 4, 7 %). Aufgrund dieser Entwicklung war der Anteil der Leichtindustrie am Bruttoproduktionswert der Gesamtindustrie 1981 mit 51, 4% erstmals seit der Frühzeit der Volksrepublik China höher als der der Schwerindustrie. Die Nettoproduktionswerte (Wertschöpfung) sind offiziell nicht bekannt. Aufgrund der mit Sicherheit deutlich geringeren Nettoquote der Leichtindustrie dürfte die Schwerindustrie jedoch nach wie vor den größeren Anteil innehaben. Die unterschiedlichen Leistungssteigerungen der Schwer-und Leichtindustrie drücken sich auch in den folgenden offiziellen Daten wichtiger Industrie-erzeugnisse aus.
Sowohl die absoluten als auch die prozentualen Wachstumsverschiebungen unter den als wichtig bezeichneten schwer-und leichtindustriellen Erzeugnissen deuten an, daß die strukturelle Sanierungspolitik seit 1979 gewisse Erfolge aufzuweisen hat. Dennoch kann von einem endgültigen Wandel keine Rede sein. Zum einen beschleunigte sich das Wachstum der Schwerindustrie seit Herbst 1981 in planwidriger Weise. Ein solches Wachstum wäre jedoch nur dann sinnvoll, wenn zuvor die Produktionsstruktur der schwerindustriellen „Kettenglieder" an die Bedarfsstruktur der Wirtschaft angepaßt worden wäre. Eine solche Anpassung hat jedoch während der letzten drei Jahre nur sehr bedingt stattgefunden. Laut Rechenschaftsbericht des Vorsitzenden der Staatlichen Planungskommission Yao Yilin 14) beinhaltet die wieder erhöhte Wachstumsrate deshalb auch einen ver-hältnismäßig großen „Wassergehalt (Shuifen)", d. h. einen Wiederaufbau nicht absorbierbarer und nicht absetzbarer Lagerbestände. Konkrete Maßnahmen, wie man dem Problem in Zukunft begegnen soll, werden jedoch nicht genannt. Statt dessen wird nur vage von „Schritte unternehmen" und „besondere Aufmerksamkeit richten“ gesprochen. Die Zahlen für das erste Halbjahr 1982 sprechen gegen die Wirksamkeit solcher „Schritte"
Zum anderen sind während der letzten drei Jahre einige besorgniserregende Tendenzen im finanzwirtschaftlichen Bereich sichtbar geworden. Die Volksrepublik China kann sich das gegenwärtige Nebeneinander einer alten schwerindustriellen Linie und der neuen Reformlinie nicht leisten. Zwar sind die ehrgeizigen Ziele des „großen Plans" 1978— 1985 und 1985— 2000, in dessen Verlauf die Volksrepublik China „wirtschaftlich in die Weltspitze aufrücken" wollte, auf das bescheidene Ziel eines Pro-Kopf-BSP von 800 US-Dollar im Jahre 2000 zurückgeschraubt worden, aber es ist der Wirtschaftsführung des Landes bisher nicht gelungen, die Investitionspolitik auf das Maß der neuen Zielsetzung zu reduzieren. Seit 1979 wird die „Überdehnung der Investbaufront" offen beklagt und in den jährlichen Investbauplänen (Bruttoanlageinvestitionen) eine deutliche Verringerung angestrebt Dennoch heißt es im „Kommuniqu über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1981" wiederum: „Der im staatlichen Budget vorgesehene Investitionsanteil am Investbau von 1981 wurde im wesentlichen unter Kontrolle gebracht, wohingegen der Plan für die Ausgaben des nicht im staatlichen Budget vorgesehenen Investitionsanteils bei weitem übererfüllt wurde. Die Erscheinungen, blindlings oder unnötig Bau-projekte zu bauen, wurden bisher noch nicht beseitigt.“
Die Reduzierung der Investitionstätigkeit sollte nur der erste Schritt der Sanierungspolitik sein. Darüber hinaus sollte eine „Verbesserung der Investitionsorientierung" erfolgen, das heißt, das Verhältnis zwischen sogenannten „produktiven Investitionen" und „nichtproduktiven Investitionen" (insbesondere Wohnungsbau, Erziehungswesen, Wissenschaft und Technik, Handel, kulturelle Einrichtungen) sollte radikal zugunsten der letzteren geändert werden. Das ist auch geschehen. Betrug der Anteil der Investitionen in die sogenannten nichtproduktiven Bereiche 1977 nur 13 %, so ist er bis 1981 auf 41, 1 % angestiegen. Diese Tatsache wird als Erfolg der Sanierungspolitik ausgegeben. Zum dritten sollte innerhalb des Bereichs der sogenannten produktiven Investitionen eine Verlagerung der Anteile zugunsten der Landwirtschaft und Leichtindustrie stattfinden. Auch hier sind Erfolge erzielt worden. Diese Erfolge wurden jedoch nur begrenzt durch die planmäßig vorgesehene Verringerung der schwerindustriellen Investitionen erreicht. Dort wird nach wie vor weiterinvestiert, und in dieser Tatsache liegt der Hauptgrund für die „Überdehnung der Investbaufront". Die „Übererfüllung" des Investbauplans beruht also nicht in erster Linie darauf, daß „blindlings" Projekte in Angriff genommen werden, sondern weil aus interessenpolitischen Konstellationen heraus bewußt planwidrig gehandelt wird. Den Vertretern der alten Linie ist es nicht gelungen, die „Konsumorientierung" der neuen Linie zu verhindern. Den Vertretern der neuen Linie ist es nicht gelungen, die schwerindustriellen Interessen wirkungsvoll einzugrenzen.
Die Folge ist, daß die Volksrepublik China eine schleichende Krise der Staatsfinanzen erlebt. Kritische Stimmen in der chinesischen Führung sprechen davon, daß „der Reis von morgen bereits heute gegessen" werde. Zum einen erlebt China seit 1979 eine Phase einer relativ hohen Verbraucherpreisinflation. Entgegen den offiziellen Beteuerungen läßt sich aus indirekten Angaben entnehmen, daß im Dreijahreszeitraum 1979—-1981 der Gesamtanstieg der Verbraucherpreise nahe der 50 %-Marke lag. Zum anderen scheint bei einem geschätzten mittelfristigen Kaufkraftüberhang von rund 10 Mrd. Yuan jährlich das Inflationsproblem in kurzer Zeit auch nicht lösbar. In Yao Yilins Rechenschaftsbericht heißt es dazu, solange das Wachstum bei bestimmten Konsumgütern hinter dem Bedarf der Menschen zurückbleibe, sei es eine schwierige Aufgabe, die Warenpreise stabil zu halten.
Die Verbesserung der Einkommenslage der Bevölkerung ohne gleichzeitige Einschränkung der Ausgaben für den Wirtschaftsaufbau konnte nur durch ein verhältnismäßig hohes Maß an Staatsverschuldung finanziert werden. Offiziell belief sich das Haushaltsdefizit 1981 nur auf 2, 5 Mrd. Yuan und für 1982 sind rund 3 Mrd. Yuan vorgesehen. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Größenordnungen jedoch nur um ein Restdefizit, das trotz Staatsanleihen, Auslandskrediten und anderen verrechnungstechnischen Verfahren nicht gedeckt werden konnte. Die tatsächliche Staatsverschuldung 1981 lag eher in der Größenordnung von 15 Mrd. Yuan.
Die staatliche Verschuldungspolitik wird in verdeckter Form mit Sicherheit andauern, da ihre Hauptursache neben der übersteigerten Investitionstätigkeit in einem überdimensionalen Zuwachs der staatlichen Subventionslast liegt. Allein die Subventionssumme für den staatlichen Ankauf landwirtschaftlicher Produkte und die Preisstabilisierung der soge-nannten „ 28 wichtigen Nahrungsmittel und täglichen Gebrauchsgüter" wuchs von 1979 von 7, 8 Mrd. Yuan bis 1981 auf 32 Mrd. Yuan an Das Volumen der Auslandsinvestitionskredite stieg von 1980 von 4, 3 Mrd. Yuan bis 1981 auf 8 Mrd. Yuan. Für 1982 sind 5 Mrd. Yuan vorgesehen. Das heißt, 1981 betrug der Anteil der mit Auslandskrediten finanzierten Investitionen an den Gesamtinvestitionen (42, 8 Mrd. Yuan) bereits knapp 19%. Damit rückt die Volksrepublik China allmählich in die Nähe jenes Bereichs, in dem durch Auslandsverschuldung in indirekter Form ein Teil der Verbrauchersubventionen gedeckt wird. Diese Situation ist, es muß wiederholt werden, nicht das Ergebnis mangelnder wirtschaftspolitischer Weitsicht, sondern in erster Linie Ausdruck eines negativen Zwangskompromisses zwischen den unterschiedlichen Strömungen der chinesischen Staats-und Parteibürokratie. Ein langfristiges Nebeneinander dieser beiden Linien ist sowohl aus finanzwirtschaftlichen als auch aus ideologisch-politischen Gründen nicht möglich. Es bleibt die Unsicherheit, welche Kräfte sich letztlich durchsetzen werden und wer wem die politische Verantwortung für die Gesamtsituation aufzubürden vermag. Teile der Führung sind sich der kritischen Situation bewußt: „Worin besteht die Gefahr? Sie besteht in einer möglichen Wirtschaftskrise, die zu einer instabilen politischen Lage führen kann, wenn wir nicht erfolgreich arbeiten."
III. Das „magische Viereck'1 der Reformen
25 Jahre lang lautete die sogenannte Generallinie des sozialistischen Aufbaus in China „Mehr, Besser, Schneller, Wirtschaftlicher". In der wirtschaftlichen Praxis wurde zumeist das „Mehr" und „Schneller" mit ernsthaften Folgen für die Proportionalität, die Wirtschaftlichkeit und die Qualität der volkswirtschaftlichen Leistungen verwirklicht. Das sogenannte „Drei-Acht" -Verfahren der nationalen Investitionstätigkeit ist ein Musterbeispiel für den Geist, der hinter dieser Linie stand. Jahr für Jahr betrug das tatsächlich verteilbare Material-Güter-Leistungsvolumen nur 80 % der in die Planung eingebrachten Kennziffern (Erste Acht). Der im Rahmen der staatlichen Lieferplanung erfaßbare Anteil am verteilbaren Material-Güter-Leistungsvolumen machte seinerseits nur 80 % der Distributionskennziffern der Lieferplanung (Zweite Acht) aus, und das tatsächlich von den Betrieben erhaltene Material-Güter-Leistungsvolumen belief sich wiederum nur auf 80 % der von den Betrieben bestellten Menge (Dritte Acht).
Auf dieser Basis beruhte die gesamte Perspektivplanung der Volksrepublik China seit den späten fünfziger Jahren. Erst im Frühjahr 1979 setzte sich die Führung ernsthaft mit den Entwicklungsschäden auseinander, die sich aufgrund der einseitigen Praktizierung der Generallinie ergeben hatten. Das alte „magische Viereck" des wirtschaftlichen Ziel-und Handlungsbewußtseins wurde durch ein neues abgelöst. „Regulierung, Umgestaltung, Ausrichtung und Niveauanhebung (tiaozheng, gaige, zhengdun, tigao)" sind die vier Schlüsselbegriffe, die aus acht chinesischen Schriftzeichen bestehen und daher kurz als „Acht-ZeichenRichtlinie" popularisiert worden sind. Die praktische Sanierungspolitik, die sich seither auf der Grundlage der Acht-Zeichen-Richtlinie vollzogen hat, ist außerhalb Chinas gemeinhin als Reformpolitik beschrieben worden. Der Begriff ist irreführend, wenn er, wie häufig geschehen, im Sinne der Systemüberwindung verstanden wird. Er ist korrekt, wenn mit ihm eine grundsätzliche Untersuchung der volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen Chinas signalisiert werden soll.
Eine solche Untersuchung und Änderung der Politik forderten auch einzelne Wirtschaftsführer des Landes: „Ein sozialistischer Staat kann auch nicht garantieren, daß seine politische Macht für immer das Problem aus der Welt schafft, daß der wirtschaftlichen Entwicklung großer Schaden entsteht... Die sozialistische Gesellschaftsordnung kann nicht automatisch garantieren, daß wir entsprechend den objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten verfahren, und kann auch nicht automatisch garantieren, daß sich unsere Wirtschaft stets planmäßig und in hohem Tempo entwickelt... Wenn wir die objektiven Gesetze nicht studieren und sie nicht einhalten, sondern dem Willen der Obrigkeit vertrauend die Wirtschaft blindlings zu leiten versuchen, so werden wir Stillstand und Rückgang in manchen Bereichen, ja der gesamten Volkswirtschaft verursachen... Seit der Gründung der Volksrepublik China sind fast 30 Jahre vergangen. Wir können also unsere Fehler nicht mehr mit Mangel an Erfahrungen rechtfertigen." *Aufgrund der bisherigen Entwicklung spricht einiges dafür, daß sich große Teile der Partei und Staatsbürokratie einer solchen grundlegenden Reorientierung zu entziehen versuchen und sich statt dessen auf die altbewährte „Sündenbockpolitik" stützen: „Unsere Volkswirtschaft, die sich infolge der langjährigen Sabotage durch Lin Biao und die . Viererbande’ disproportional entwickelt hat, muß nun reguliert und zugleich weiter entwickelt werden“. Aus der Sicht dieser Kräfte sind die Verantwortlichen gefunden, und es besteht keine Notwendigkeit, die Wirtschaft nach einigen „Regulierungen" nicht wie gewohnt „weiterzuentwickeln".
Regulierung (tiaozheng):
Dieser Bereich der Sanierungspolitik, den man am ehesten als wirtschaftliche Strukturreformpolitik bezeichnen kann, sieht den intersektoralen Disproportionen der Volkswirtschaft entsprechend sowohl eine Politik der geplanten Wachstumsbeschleunigung als auch der Verlangsamung vor. Der beabsichtigten Wachstumsbeschleunigung der Landwirtschaft, Leichtindustrie und des Grundstoff-wie Energiebereiches stehen geplante Einschränkungen der staatlichen Investitionstätigkeit (Erhöhung der Konsumtion) und eine Anteilsverschiebung der sektoralen Investitionsanteile gegenüber. Ferner wird in der Produktions-und Investitionsgüterindustrie eine weitreichende Anpassung der Produktionsstruktur an den Bedarf der Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie angestrebt.
Während 1979/80 Fragen der Reorganisation der Wirtschaftsverwaltung im Mittelpunkt der theoretischen Diskussion und auch der praktischen Versuche standen, liegt seit 1981 der Schwerpunkt der Sanierungspolitik in den Fragen der Restrukturierung. Hier sind, wie die Führung betont und wie sich aus den Wirtschaftsstatistiken ablesen läßt, die größten Teilerfolge erzielt worden. Dennoch deuten die kritische finanzwirtschaftliche Situation, die planwidrig überhöhte Investitionstätigkeit und die erneute Wachstumsbeschleunigung der Schwerindustrie (bei nur geringfügiger „Änderung der Dienstleistungsorientierung") darauf hin, daß von einer grundlegenden Lösung (noch) nicht gesprochen werden kann. Die Entscheidung ist, wie oben ausgeführt, keine rein wirtschaftspolitische, sondern in erster Linie eine macht-und interessenpolitische.
Umgestaltung (gaige):
Die vorherrschende Übersetzung des chinesischen Wortes gaige in deutsch-chinesischen Wörterbüchern ist „Reform, reformieren". Daß die offiziellen deutschen Übersetzungen chinesischer Medien (z. B. Beijing-Rundschau) statt dessen das Wort „Umgestaltung" verwenden, scheint nicht zufällig. Der Begriff ist neutral. Er assoziiert keine Systemüberwindung. Diese Anmerkung scheint notwendig; denn auch in China gab es während einer kurzen Phase der Euphorie eine Reihe wirtschaftstheoretischer Stimmen, die eine systemüberwindende Richtung der Reform mehr als andeuteten. Diese Stimmen sind in der Zwischenzeit verstummt. Statt dessen gehört es zum Pflichtritual aller Wirtschaftswissenschaftler, den absoluten Vorrang der „einheitlichen Planung" zu betonen, ehe sie sich der Untersuchung von Einzelproblemen widmen.
Schematisch lassen sich fast alle Fragen der gaige-Diskussion auf die beiden Begriffspaare Zentralisierung — Dezentralisierung und Plan — Markt zurückführen. Zwar handelt es sich dabei um miteinander eng verbundene Komplexe, aber beide Bereiche sind keineswegs identisch — eine Tatsache, die auch die chinesischen Wirtschaftswissenschaftler in ihrer Diskussion nicht immer beachtet haben. In der ausländischen Berichterstattung fallen beide Aspekte zumeist völlig zusammen. Was das Verhältnis von einheitlicher Planung und Marktmechanismus angeht, so wird häufig übersehen, daß die innerchinesische Diskussion — mit Ausnahme der oben erwähnten Anfangseuphorie — nur auf bestimmte Kategorien ökonomischer Entscheidungen begrenzt ist. Ausgenommen ist die Kategorie grundlegender makroökonomischer Entscheidungen, d. h.der Entscheidungen über die grundlegenden wirtschaftlichen Proportionen (z. B. Akkumulationsrate, sektorale Investitionsstruktur, Relation öffentlicher und privater Konsum, grundlegende Richtung der laufenden Produktion usw.). Für diese Kategorie steht die „einheitliche Planung" nicht zur Diskussion. Diskutiert und experimentiert wird hingegen, bis zu welchem Maß sowohl die Struktur des individuellen Konsums als auch die Lösung beschäftigungspolitischer Fragen durch den Marktmechanismus (Konsum-und Arbeitsmarkt) gergelt werden kann. Die zweite Kategorie ökonomischer Entscheidung, auf die sich die Diskussion um den Marktmechanismus konzentriert, ist die der „laufenden Wirtschaftsentscheidungen". Hier geht es vor allem um das Produktionsvolumen und -Sortiment der Betriebe und um deren Rohstoffversorgung und Absatzstrategie sowie um Neu-und Reinvestitionen kleineren Ausmaßes.
Die Frage Zentralisierung — Dezentralisierung setzt hauptsächlich an dieser letzteren Kategorie an. Sie wird daher auch vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Autonomieprinzips der Betriebe diskutiert. Rund 6 600 staatliche Versuchsbetriebe (16%) sind in diese erste Phase der „Betriebsverselbständigung" einbezogen. Die Vielzahl der Einzelmaßnahmen kann hier nicht aufgezählt werden. Es sei nur gesagt, daß die Betriebe bisher durch zwei „Leinen" eng an die einheitliche Planung gelegt worden waren: durch die sogenannten „Fünf Punkte" (1. Bereich und Umfang der Produktion; 2. Beschäftigungszahl; 3. Verbrauchs-normen für Rohstoffe, Werkstoffe, Brennstoff, Energie und Werkzeuge; 4. Fix-und Zirkulationskapital; 5. Kooperationsbeziehungen mit ständigen Partnerbetrieben) und „Acht Indikatoren" (Produktionsvolumen, Produktionssortiment, Qualität, Material-und Energieverbrauch, Arbeitsproduktivität, Selbstkosten, Gewinn, Umlaufkapitalausnutzung)
Die diversen Versuchsmaßnahmen hinsichtlich der Autonomie der Betriebe beziehen sich alle darauf, inwieweit man durch Aufhebung, Lockerung oder Veränderung dieser beiden betrieblichen Indikatorengerüste das Eigeninteresse der Betriebe („Im allgemeinen kümmern sich die Betriebe nur selten darum, welches die wirtschaftlichen Ergebnisse ihrer Arbeit sind") steigern kann, ohne zugleich die Verwirklichung der grundlegenden, einheitlich geplanten makroökonomischen Entscheidungen zu gefährden. Die bisherigen Ergebnisse sind widersprüchlich, und zur Zeit scheint die Versuchspolitik zu stagnieren, wenn nicht gar rückläufig zu sein.
Erfolgreich hingegen verliefen solche innerbetrieblichen Veränderungen, die unter Stichworten wie „Prämiensystem", „Entlohnung nach persönlicher Leistung", „Gewinnbeteiligung", Ziehen klarer Grenzen der Verantwortlichkeit zwischen Partei-und Betriebsführung, zwischen einzelnen Abteilungen der Betriebe und für einzelne Arbeitskräfte stehen. Auf diesem Gebiet sind die größten Wandlungen festzustellen. Egalitäre Entlohnungsformen ohne Bezug zur Leistung, Auflösung der Verantwortlichkeitsbereiche, „politisches" statt fach-liches „Kommando", kurzum die Erscheinungen der „eisernen Reisschüssel“ und des „Essens aus dem großen Topf" dürfen als teilüberwunden gelten. Unklar erscheint, inwieweit Klagen gegen „Mißbräuche des Prämiensystems" und „Zweckentfremdung von betrieblichen Gewinnen“ tatsächlich auf bestimmungswidriges Verhalten abzielen oder inwieweit sie als Munition gegen das Prinzip der „materiellen Interessiertheit“ an sich gerichtet sind.
Neben anderen scheinen vor allem zwei Problembereiche hierfür ursächlich zu sein. Zum einen handelt es sich um die Frage, inwieweit die jetzigen chinesischen Betriebesleitungen überhaupt fähig und/oder gewillt sind, tatsächlich „unternehmerisch" tätig zu werden. Seit drei Jahrzehnten in die „Verwaltung von Kennziffern" eingebunden, fehlt es der großen Mehrheit an jener fachlichen Qualifikation und Mentalität, die zur Leitung wirklich autonomer Betriebe benötigt werden. Ferner stellt sich die Frage nach dem persönlichen Anreiz. Die meisten Betriebsleiter sind zu Fachleuten im bisherigen System der Kennziffern geworden. Der ungarische Wirtschaftswissenschaftler Kornai hat diese Fertigkeit einmal als Kunst der Spekulation in der Planwirtschaft bezeichnet. Er bezog sich damit auf die Kunst, „Nutzen aus den in den Plankennziffern verborgenen ökonomischen Widersprüchen und Vieldeutigkeiten" zu ziehen. Im Vergleich zu diesem komfortablen Zustand erhöht sich unter den zur Zeit gegebenen Bedingungen der Autonomie der Betriebe einseitig das Risiko, während der Anreiz wesentlich weniger gestiegen ist. Die Risikoerhöhung hängt mittelbar mit dem zweiten Grund für die relativ geringen Erfolge mit der Autonomisierung der Betriebe zusammen. Es geht dabei um die staatlich fixierte Preisstruktur, die in der Vergangenheit weder nach Knappheitskriterien noch nach dem „Wertgesetz" gestaltet wurde.
Die sogenannte Wertgesetzproblematik ist eine der am weitesten ausgeuferten Diskussionen in der geamten Geschichte der sozialistischen Wirtschaftswissenschaft. Alle Fragen und Antworten, die heute in China gegeben werden, sind bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert in der Sowjetunion gegeben worden, als es zu der grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Preobrashenski und Bucharin kam. Vereinfacht gesagt ging und geht es um die Frage, ob eine sozialistische Wirtschaft vom Wertgesetzprinzip, d. h. von Tauschrelationen auf der Grundlage des gesellschaftlichen Arbeitsaufwandes (Äquiva25 lenzprinzip) abweichen könne, ohne gravierenden Schaden zu nehmen. Diesem Äquivalenzprinzip wurde bewußt (Preobrashenski) das Gesetz der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation entgegengesetzt. Letzteres geht von der bewußten Nichtäquivalenz als Regulator der Wirtschaft aus, weil nur so eine abnorm hohe Akkumulation erzielt werden könne. In der Praxis der Sowjetunion und der Volksrepublik China setzte sich das Gesetz der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation durch. Hauptopfer des über die Nichtäquivalenz gesteuerten Abschöpfungsmechanismus war in beiden Ländern die Landwirtschaft. Unter dem Schlagwort „Preisschere" (zwischen industriellen und agrarischen Erzeugnisen) hält die Diskussion darüber auch heute noch an.
Theoretisch müßte der Inhalt des Wertgesetzes von seiner Verwirklichungsform unterschieden werden. Seine Realisierung ist keineswegs nur über den Marktmechanismus vorstellbar. In der Praxis jedoch hat sich in China ein enger Bewußtseinszusammenhang zwischen den Begriffen Wertgesetz, Markt, Preis und Konkurrenz ergeben. Es wird von der „Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit mittels des Preismechanismus" gesprochen, und erste Versuche haben bereits zu einer Differenzierung von Preiskategorien (staatliche Fixpreise, Verhandlungspreise mit fixierter Ober-und Untergrenze, freie Preise) geführt. In den volkswirtschaftlichen Schlüsselbereichen jedoch herrscht nach wie vor die staatliche Preisfixierung nach „politisch" bedingten, wirtschaftlich „irrationalen" Kriterien vor. Unter den reformorientierten chinesischen Wirtschaftswissenschaftlern läßt sich erste Resignation erkennen („Es wurde gedonnert, aber es fiel kein Regen"). Es ist zu früh, diese auf das Langesche Modell des „Konkurrenzsozialismus" hinführende Diskussion für tot zu erklären, aber sie hat viel von ihrer Vitalität verloren. Im Gegensatz zur Autonomiepolitik der staatlichen Betriebe und zur Frage des Konkurrenzsozialismus ist die Entwicklung in einem dritten Bereich der Reformsphäre, den soge-nannten „Einzelwirtschaftskörpern" in der Landwirtschaft und im Tertiärsektor, extrem schnell vorangeschritten. Die Neu-bzw. Wiedereinführung verschiedener Formen der „Einzelwirtschaft" und der „einzelwirtschaftlichen Verantwortlichkeitssysteme" in der Landwirtschaft und im Tertiärsektor (Handel, Restaurants, Reparaturwesen, Kleinhandwerk und sonstige Dienstleistungen) hat sowohl in China als auch im Ausland große Aufmerksamkeit erfahren. Die weitreichendsten Wandlungen haben sich im ländlichen Bereich vollzogen, wo offiziell 20— 25% der leistungsschwachen Einheiten zur Aufteilung der Bodenbewirtschaftung und des Ernteanbaus an Einzelhaushalte (baochan dao hu) übergehen durften. Den restlichen Einheiten wurde ein erhöhtes Maß an privatwirtschaftlicher Tätigkeit zugestanden. Tatsächlich hat sich die Ausdehnung einzelwirtschaftlicher Formen nicht nur auf die offiziell genehmigten Einheiten beschränkt, sondern unter verschiedenen Etiketten die Mehrheit der ländlichen Einheiten erfaßt. Nach Schätzungen sind 1981 30— 50% des landwirtschaftlichen Produktionswertes einzelwirtschaftlich erzeugt worden. In den Einheiten, die keine reguläre Einzelwirtschaft betreiben, stehen die „drei Selbstanteile" (ziliu) im Mittelpunkt. Gemeint sind das sogenannte „Selbstanteilsland" (Privatparzellen), das bis zu 15% der gesamten Anbaufläche der jeweiligen Kollektiveinheit ausmachen darf, der „Selbstanteilsberg" (Brennund Bauholz) und die „Selbstanteilsperson“ (eine Arbeitskraft je Haushalt von der Kollektivarbeit freigestellt).
Formal müssen die einzelwirtschaftlichen Verfahren unter der Kategorie „operationelle Wirtschaftslenkung" eingeordnet werden. Offiziell wird nachhaltig betont, daß sie zu Unrecht als „Restauration der Privatwirtschaft" bezeichnet werden. Tatsächlich handele es sich nur um eine neue „Verwaltungs-und Organisationsform der Kollektivwirtschaft". Es müsse ein klarer Unterschied zwischen „individuell-familiärem Nutzungsrecht" und „kollektivem Eigentumsrecht" gemacht werden. Nimmt man eine solche formale Unterscheidung ernst, dann erinnert das System bis zu einem gewissen Grad an das Pachtsystem des kaiserlichen China, insbesondere an die „Staatsfelder", in denen der Staat als Grundbesitzer auftrat und seinen Boden durch Einzel-pächter bewirtschaften ließ.
Die Auseinandersetzung um die „Ergänzungsfunktion der Einzelwirtschaftssysteme" hält seit zwei Jahren an und wird mit den ständig gleichen Argumenten geführt. In der Praxis der Landwirtschaft geht es nicht um Fragen des Eigentumsrechts, sondern um einen substantiellen Privilegienbestand. Die einzelwirtschaftlichen Einheiten (Produktionsbrigaden), die bisher von rd. 100 „Basisbürokraten" gelenkt wurden, glauben im Rahmen der neuen Produktions-und Verteilungsverfahren mit fünf Kadern auszukommen. „Nach 30 Jahren Mühen und Beschwerlichkeiten kehrt man in einer Nacht zurück (zum Zustand) vor der Befreiung", ist die Grundanklage von Millionen von Reformgegnern, deren Machtbasis bei den sogenannten „vier abhängigen Familien“ liegt. Es handelt sich um die Familien von Militär-angehörigen, dörflichen Kadern und Kadern, die in städtische Funktionen versetzt worden sind, sowie von ländlichen Kräften, die kollektivwirtschaftliche Fabrikarbeit erhalten haben. Die Familien dieser vier Gruppen haben bisher zu Lasten der restlichen Dorfgemeinschaft eine Vorzugsbehandlung bei der Einkommensverteilung erfahren. Zusammen mit den Familien solcher Bauern, die aufgrund mangelnder Leistungskraft durch die neuen Verfahren benachteiligt sind, ergibt sich ein massives Potential von 80 bis 100 Mio. Gegnern. Ihre Haltung gegenüber der Reformpolitik der Führung wird als „Nicht durchlassen, nicht verstehen, nicht kümmern" charakterisiert. Dies hat zu weit verbreiteter Unsicherheit über die Zukunft der einzelwirtschaftlichen Formen geführt, die den wirtschaftlichen Erfolg der Maßnahmen geschmälert haben. Die bäuerlichen Produzenten sind in vielen Fällen offensichtlich zu einer Anbauweise kurzfristiger Höchstergebnisse ohne entsprechende Bodenpflege übergegangen („Der vorbeifliegenden Gans eine Feder ausrupfen"). Die weitere Entwicklung scheint keineswegs entschieden, wie die fortlaufenden Beschwörungen der chinesischen Medien verdeutlichen. Danach handelt es sich bei den einzel-wirtschaftlichen Verfahren keineswegs um eine „situationsbedingte Augenblicksmaßnahme", sondern um eine „langfristige Politik".
Ausrichtung (zhengdun) und Niveau-anhebung (tigao):
Hinter diesen beiden Begriffen verbirgt sich in erster Linie der Versuch, durch ein Bündel von wirtschaftspolitischen Maßnahmen die durch das zehnjährige Chaos der Kulturrevolution verlorengegangene „Systemnormalität“ wiederzugewinnen. Unter „Ausrichtung" wird in erster Linie die Normalisierung der betriebsinternen Arbeit verstanden, d. h. es geht um eine Verbesserung des „chaotischen Zustands der Betriebsverwaltung" und um die Durchsetzung der verschiedenen Bestimmungen und Systeme, die für einen geordneten Produktions-und Arbeitsablauf notwendig sind. Diese Bestimmungen existieren seit den fünfziger Jahren, konnten jedoch in der betrieblichen Praxis der Vergangenheit nicht durchgesetzt werden. Zu ihnen gehören Bestimmungen zur betrieblichen Rechnungsführung und Arbeitsdisziplin der Belegschaften, Sicherheitsregeln und Wartungsbestimmungen. „Niveauanhebung" bezieht sich auf die Gesamtheit von Maßnahmen zur Steigerung der technischen und wirtschaftlichen Standards im Produktionsprozeß. Die Schwerpunkte können mit den beiden Begriffen . Arbeitsproduktivität" und „Wirtschaftlichkeit" gekennzeichnet werden. Eine entscheidende Verbesserung in diesen beiden Bereichen scheint der Führung um so dringlicher, als auf absehbare Zeit „die bestehenden Betriebe die Basis für unser Produktionswachstum bilden" müssen. Trotz permanenter „Antiverschwendungs-, Sparsamkeits-, Reserveerschließungs-und Produktivitätssteigerungsaufrufe" stagniert die Bewegung seit 1979. Teilweise zeigen sich sogar rückläufige Tendenzen. Zwei Drittel aller staatlichen Betriebe liegen nach wie vor in den Verbrauchskennziffern für Energie und Roh-/Werkstoffe je produzierter Wareneinheit (1981) unter ihrem „eigenen geschichtlichen Beststand" von 1964/65.
Insgesamtheißt es dazu für das Jahr 1981: Allerdings wär die wirtschaftliche Effizienz der industriellen Produktion als Ganzes noch verhältnismäßig niedrig. 1981 betrug die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter und Angestellten in den volkseigenen Industrieunternehmen, nach den festen Preisen von 1980 gerechnet, 11 863 Yuan, 1, 8% weniger als 1980. Die erwünschte Qualität bei 32 von 65 wichtigen Erzeugnissen konnte nicht erreicht werden. 48 von 101 Normen für den Pro-Einheit-Material-verbrauch stiegen, Gesamtkosten der vergleichbaren Produkte lagen um 1 % höher. Die Gewinne, die an den Staat abgeführt wurden, gingen um 8, 5% zurück. 27, 1% der Industrieunternehmen arbeiteten im unterschiedlichen Grad noch mit Verlust. Einige Unternehmen strebten blind nach dem Produktionswert und schnellerem Produktionstempo, mißachteten die Qualität der Produkte und den Bedarf auf dem Markt. Die Produktion einiger Erzeugnisse, deren Ausstoß gemäß dem Staatsplan beschränkt werden sollte, nahm unerwünscht zu, so daß diese überzähligen Waren in den Lagern blieben."
IV. Schlußbemerkungen
Zieht man eine abschließende Kurzbilanz aus der jüngsten wirtschaftlichen Entwicklung der VR China, so hat sich zwar das Problemgewicht, das auf dem Land lastet, in einigen grundlegenden Bereichen — insbesondere was die rückläufige Einkommensentwicklung in großen Teilen des ländlichen Raumes und die städtische Konsumgüterversorgung angeht — verringert, aber gleichzeitig ist sichtbar geworden, daß sich die Kosten zukünftiger Problemlösungen deutlich erhöht haben. Der entwicklungspolitische Handlungsspielraum der Führung ist kleiner geworden, und sei es nur aufgrund der Tatsache, daß gewaltige Mehrleistungen erbracht werden müssen, um bei einem geschätzten Wachstum von weite ren 500 Millionen Menschen den jetzigen Pro Kopf-Leistungsstand zu halten. Erfolg unc Mißerfolg werden wesentlich davon abhän gen, ob und in welchem Zeitraum die laufende Sanierungs-und Reformpolitik einen umfassenden „Durchbruch" erzielen kann. Die „Diagnose" dieser Politik erscheint weitgehend korrekt und wirklichkeitsnah. Es fehlt — zumindest augenblicklich — an einer systematischen „Therapie", die zwangsläufig auf den hinhaltenden Widerstand jener Teile der Gesellschaft und der Partei-wie Staatsbürokratie trifft, deren Interessen durch den Wandel beschnitten werden.
Rüdiger Machetzki, Dr. phil., geb. 1941; Studium der Sinologie, Politikwissenschaft und Japanologie in Hamburg und Taibei 1964 bis 1970; Forschungsaufenthalt am Contemporary China Institute, London 1971 bis 1972; seit 1973 wissenschaftlicher Referent am Institut für Asienkunde in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Chronologie des innerparteilichen Linienkampfes der kommunistischen Partei Chinas, 1974; Die Entwicklungshilfepolitik der VR China, 1975; zahlreiche Aufsätze zu Problemen der VR China und Südostasiens.
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