Das Parteiensystem Italiens. Stabilität, Instabilität und Dynamik
Wolfgang Merkel
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Zusammenfassung
Aus der Kritik theoretischer Erklärungsmodelle muß der Schluß gezogen werden, daß das italienische Parteiensystem nicht länger hinreichend mit den Modellen des „polarisierten Pluralismus" und des „zentripetalen Pluralismus“ beschrieben werden kann. Um den Wandel und die Tendenzen des italienischen Parteiensystems zu Beginn der achtziger Jahre präziser zu erfassen, müssen die geänderten Beziehungen zwischen Parteien und Wählerschaft sowie die neugewonnene Mobilität der italienischen Wähler analysiert werden. Im Zusammenhang von Wahlstrukturen, Wandel in den Parteien und koalitionären Strategien läßt sich die Dynamik des italienischen Parteiensystems angemessener erfassen als mit den starren Strukturen eines Modells. Dabei zeigt sich, daß sich die italienische Christdemokratie unter dem Druck der Wirtschaftskrise und der „zentristischen" Konkurrenz der Sozialisten aus dem Zentrum weg auf den rechten Pol des Parteienspektrums zubewegt Die Kommunisten befinden sich weiter auf Reformkurs, der sie vom linken Pol des Parteiensystems weiter zum Zentrum tendieren läßt. Trotzdem scheint der PCI heute mehr isoliert als acht Jahre zuvor, da ihm gegenwärtig die Bündnispartner für seine Bündniskonzeption der „Demokratischen Alternative“ fehlen. Die Sozialisten befinden sich weiterhin in einer Schlüsselposition, da sie es sind, die bestimmen können, ob eine Mitte-Links-Koalition (DC, PSI und die kleineren laizistischen Parteien) oder ein Linksbündnis (PCL PSI und evt PSDI, PRI) die Regierung bildet. In ihrem Entscheidungsbereich liegt es, ob sich aus einem blockierten tripolaren (Rechte — Heterogenes Zentrum — Linke) ein bipolares System entwickelt, in dem sich analog zu der Mehrzahl der europäischen Parteiensysteme ein bürgerlich/konservatives und ein progressiv/reformistisches Lager gegenüberstehen. Von der Bündnispolitik des PSI wird es abhängen, ob nach fast 40jähriger ununterbrochener christdemokratischer Herrschaft der „bipartitismo imperfetto“ (Giorgio Galli) in ein perfektes alternierendes System verwandelt wird, in dem es zu dem für die Demokratie so wichtigen Wechselspiel von Regierung und Opposition kommt. Da sich die Sozialistische Partei Italiens in der Kampagne für die Parlamentswahlen am 26. /27. Juni 1983 erneut gegen ein Bündnis mit den Kommunisten ausgesprochen hat und damit implizit auf eine Neuauflage der Mitte-Links Koalition zielt, läuft sie Gefahr, zum Garanten des blockierten Systems Italiens zu werden.
„Alea iacta est“. Bettino Craxi, Generalsekretär der Sozialistischen Partei Italiens (PSI), kündigte mit den Worten Gaius Julius Caesars am 22. April 1983 den Christdemokraten die Zusammenarbeit in der Regierungskoalition auf. Der von vielen politischen Beobachtern schon früher erwartete Schritt der Sozialisten leitete den Fall des 43. Kabinetts der italienischen Nachkriegsgeschichte ein. Auch der Erfingungsreichtum der christdemokratischen Koalitionstechniker reichte diesmal nicht aus, durch die Bildung einer neuen Regierungskoalition ein vorzeitiges Ende der 9. Legislaturperiode zu verhindern. Die Sozialisten beharrten auf Neuwahlen; Kommunisten, Sozialdemokraten, Republikaner und Liberale signalisierten ihr Einverständnis. Die vorgezogenen Parlamentswahlen wurden für den 26. 727. Juni 1983 festgesetzt.
Gewann der Ausruf des römischen Feldherrn durch die Eroberung Galliens post festum Jahrzehntelang galt Italien den Politologen und Wahlforschern als ein Musterbeispiel elektoraler Stabilität. G. Galli, der in dieser immobilen Wählerschaft eine der Ursachen und Folgen das „bipartitismo imperfetto“ (unvollständiges Zweiparteiensystem) sah, führte dieses Wählerverhalten auf die starren Parteiidentifikationen in der italienischen Wählerschaft zurück. Eine traditionell vermittelte Sozialisation in der katholisch-integralistischen oder kommunistischen Subkultur konnte von den beiden größten italienischen Parteien über ein Netzwerk kollateraler Organisationen stabilisiert und in Stimmengewinne umgesetzt werden. Die Entscheidung des Wählers für eine Partei wurde nicht, wie
Einleitung
strategische Qualität, bleibt heute abzuwarten, ob die von den Sozialisten erzwungenen Neuwahlen nicht nur das Vorspiel kurzsichtigen, parteitaktischen Kalküls darstellen. Nach ersten Äußerungen und taktischen Schachzügen der politischen Parteien muß die Aussicht auf Veränderungen in der italienischen Politik skeptisch beurteilt werden.
Daß die Wahlen dazu beigetragen haben, die „Blockierung" des politischen Systems Italiens zu lösen, jenen starren Mechanismus zu brechen, der die Christdemokraten (DC) nahezu 40 Jahre lang beständig in der Regierung hielt und der das für die Demokratie und die Dynamik eines politischen Systems so wichtige Wechselspiel von Regierung und Opposition verhinderte, ist nach den Wahlergebnissen der Parteien vorläufig nicht zu erkennen, wird nun aber auch von den Koalitionsstrategien abhängen.
I. Die Änderung des Wählerverhaltens
Abbildung 2
Tabelle 2: Wahlergebnisse von 1946— 1979 (in Prozent)
Tabelle 2: Wahlergebnisse von 1946— 1979 (in Prozent)
in modernen, säkularisierten Gesellschaften, auf der Basis der Interaktion von „sozio-ökonoischer Ausgangslage“ und „politischem Räsonnement“ getroffen, sondern auf der Grundlage einer „kulturellen Tradition" und einer familiär vermittelten politischen Sozialisation gefällt
Die Immobilität dieser „voto di appartenenza" (wörtlich: Stimme der Zugehörigkeit; am ehesten noch mit dem Begriff des „Stammwählers" zu fassen) führte dazu, daß die Wahl-kämpfe nur um die „Gewinnung eines marginalen Teils der Wählerschaft geführt wurden. Tab. 1 soll die geringen Wählerbewegun-gen zwischen den drei richtungspolitischen Lagern (Rechts-Mitte-Links) bis 1979 verdeutlichen:
Die Stabilität der italienischen Wählerschaft seit 1953, d. h.seit der Konsolidierung des Parteiensystems, fand zu Beginn der siebziger Jahre ein Ende. Dies wird nicht nur aus den erheblichen Stimmengewinnen des PCI (1972: 26, 3%; 1976: 34, 4 %; dann 1979 und 1983 Verluste: 30, 4 %; 29, 9%), sondern vor allem in der Niederlage der Christdemokraten (und des MSI) im Referendum zur Freigabe der Scheidung (1974) deutlich. Wichtiger als eine quantitative Untersuchung der Wahldaten scheint jedoch eine qualitative Analyse, die Aufschluß über die gewandelten Beziehungen zwischen Wählerschaft und Partei in den letzten Jahren geben kann.
Nach der von Parisi/Pasquino entwickelten Typologie läßt sich die Wählerschaft Italiens in drei Gruppen einordnen:
1. „voto die appartenenza" (Stimmabgabe aufgrund traditionaler, sozial-kultureller Bindung an eine Partei)
2. „voto di opinione"
(Stimmabgabe, die an eine rationale politische Meinung gekoppelt ist; „Meinungswähler") 3„, voto di scambio"
(Stimmabgabe, abhängig vom Austausch (scambio) klientelistischer Leistungen von Gewählten an den Wähler) Im Gefolge einer Erosion der katholischen und einer Lockerung der kommunistischen Subkultur ist der für diese beiden Wähler-gruppen typische „voto di appartenenza" einem anhaltendem Schrumpfungsprozeß unterworfen. Aber gerade dieser größte Teil des italienischen Elektorats war, vermittelt durch eine starre, subkulturell geprägte politische Sozialisation, hauptsächlich für die Immobilität der italienischen Wählerschaft in der Vergangenheit verantwortlich. Während sich diese gelockerte Beziehung schon in faktischen Verlusten für die DC unter den katholischen Arbeitern niederschlug sich darüber-hinaus ein wachsender Anteil der ehemaligen christdemokratischen Stammwählerschaft zu alternativen Wahlentscheidungen bereit zeigt, verlieren auch die Bindungen zwischen wichtigen traditionellen Wählergruppen und dem PCI an Intensität.
Als ein Resultat der sich lockernden subkulturellen Bindungen und der damit verbundenen aktuellen und potentiellen Erosion traditionaler Wählerschichten von PCI und DC wuchs der Sektor des „voto di opinione”. Die Wähler dieser Gruppe gründen ihre Entscheidung mit einem „Maximum an Rationalität" auf die vorurteilsfreie Beurteilung der konkurrierenden Parteien, ihrer Programme sowie ihres aktuellen politischen Verhaltens. Aufgrund dieser Eigenschaft sind die Meinungswähler eine mobile Wählergruppe. Besonders der PSI und die anderen laizistischen Parteien (PSDI, PRI, PLI) erhoffen sich von diesen rationalen Wählern ein Anwachsen ihrer Wahlklientel.
Läßt sich der „voto di appartenenza“ als stabil, der „voto di opinione“ als ungebunden und potentiell wechselhaft charakterisieren, verkörpert gegenwärtig der „voto di scambio" die unbeständigste Form der Stimmabgabe. Er wird vom Wähler im . Austausch" (scambio) mit erwarteten klientelistischen Leistungen (z. B. Arbeitsplätze, Pensionen, Konzessionen, partikuläre Wohlfahrtsleistungen etc.) durch den Gewählten geleistet. Diese Beziehung zwischen Wähler und Gewählten ist direkt und personalisiert -die Wähler sind meist Angehörige des ländlichen und zunehmend des städtischen „Lumpenproletariats“ des Südens. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der traditionell hohe Anteil von Präferenzstimmen für bestimmte Politiker im Süden auf den „voto di scambio“ zurückzuführen ist War diese Wählergruppe früher fast ausschließlich Domäne der Christdemokraten, so konnten neben den Sozialisten auch die Kommunisten mit ihrem Einzug in die Rathäuser und Regionalregierungen und der damit verbundenen Verfügungsgewalt über lokale Ressourcen ansehnliche Einbrüche in diese Wählerschicht verzeichnen. Dies schlug sich zum ersten Mal bei den Parlamentswahlen 1976 nieder, als der PCI erhebliche Stimmengewinne im Süden des Landes verzeichnen konnte. Aber in den darauffolgenden Jahren wurde sehr schnell deutlich, daß der PCI gegenwärtig weder von seiner ideologischen Basis noch von seiner organisatorischen Struktur her geeignet ist, die aus dem Bereich des „voto di scambio“ erzielten Stimmengewinne längerfristig an die Partei zu binden.
DC = Democrazia Cristiana (Christdemokratische Partei) PCI = Partito Communista Italiano (Kommunistische Partei)
PSI = Partito Socialista Italiano (Sozialistische Partei)
PSDI = Partito Socialdemocratico Italiano (Sozialdemokratische Partei) PRI = Partito Republicano Italiano (Republikanische Partei)
PLI = Partito Liberale Italiano (Liberale Partei)
PR = Partito Radicale (Radikale Partei)
MSI = Movimento Sociale Italiano (Neofaschistische Partei)
SVP = Südtiroler Volkspartei Das Ausbleiben klientelistischer Leistungen beantwortete diese Wählergruppe mit dem Entzug ihrer Stimmen. Dies erklärt weitgehend die schweren Stimmenverluste, die der PCI in Süditalien bei den Parlamentswahlen 1979 hinnehmen mußte. Doch die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die unübersehbare Fiskalkrise des Staates erschweren zunehmend die flächendeckende Verteilung dieser Leistungen. Der Wählertypus des „scambio" verliert dadurch seine einzige Bindung und wendet sich anderen Parteien zu. Noch wahrscheinlicher jedoch ist die Umwandlung der „voti di scambio“ in Protest-stimmen (z. B. MSI) oder Stimmenthaltungen. Doch Mobilität bedeutet nicht automatisch Bewegung. Wahlverhalten ist keine unabhängige Variable, sondern eingebunden in die Interaktion von Parteien (Faktionen Kandidaten) und Wählerschaft. Ob Mobilität sich tatsächlich in Bewegung umsetzt, hängt von der Mobilisierung der Wählerschaft ab. Diese ist wiederum gebunden an die Glaubwürdigkeit der einzelnen Parteien, ihren Programmen, ihrer Politik, ihren koalititonären Strategien
II. Koalitionsstrategien und Wandel der politischen Parteien
Abbildung 3
Abbildung 3
Abbildung 3
1. Die DC — „a Party for All Seasons“?
Unter den Parteien der wettbewerbsorientierten Parteiensysteme repräsentiert die Democrazia Cristiana ein einzigartiges Phänomen: Seit 1945 ununterbrochen in der Regierung, stellte sie als dominante Regierungspartei in 41 von 43 Kabinetten den Ministerpräsidenten. Die DC war, so paradox das scheinen mag, gleichermaßen Garant für Stabilität und Instabilität des politischen Systems Italiens.
Die ununterbrochene Präsens der DC in der Regierung sowie der geringe Wechsel innerhalb des christdemokratischen Führungspersonals garantierte eine bemerkenswerte Kontinuität in der italienischen Politik. Wie unlängst Franco Cazzola nachwies, beschränkte sich die Elitenzirkulation in der DC auf eine bloße Rotation der Parteiführer in hohen Regierungs-und Parteifunktionen Im deutlichen Kontrast zu dieser Stabilität stehen die 43 Regierungswechsel nach dem Kriege. Nicht selten waren es interne Differenzen unter den einzelnen „correnti“ (organisierte Strömungen innerhalb der italienischen Parteien; politikwissenschaftlicher Terminus: Faktionen) der DC, die den christdemokratisch geführten Koalitionsregierungen Abstimmungsniederlagen eintrugen und schließlich zu deren Sturz führten.
Die außerordentliche Fragmentierung der DC läßt sich deutlich an der Faktionierung der Partei ablesen. F. Cazzola zählt für 1980 und 1982 insgesamt elf Faktionen, von denen 1980 zehn und 1982 acht Faktionen mit eigenen Listen zu den Vorstandswahlen der Partei angetreten sind Auch die innerparteiliche koalitionäre Verbindung von acht „correnti“ zu drei „correntoni (1982) brachte keine Homogenisierung der Parteistrukturen, da die einzelnen Faktionen weiterbestehen und für ein ausreichendes Konfliktpotential innerhalb der Faktionskoalitionen sorgen. Die christdemokratischen Faktionen werden weiter zur Destabilisierung christdemokratisch geführter Koalitionsregierungen beitragen.
Die „correnti“ waren/sind zugleich Stärke und Schwäche der Democrazia Cristiana. Während sie häufig einen effektiven Entscheidungsprozeß in Regierung und Parlament verhinderten, ermöglichten die meist regional und sektorial (Gewerkschaften, Bauern, Staatsapparat, Banken etc.) orientierten Faktionen der DC, verschiedene, ja „manchmal kaum vereinbare Sektoren der italienischen Gesellschaft“ an sich zu binden und in Stimmengewinne umzusetzen.
Die Faktionen allein erklären jedoch keinesfalls die kontinuierlichen Wahlerfolge der DC in den siebziger Jahren. Vielmehr verstand es die italienische Christdemokratie, ihre beherrschende Stellung im System auf vier tragende Säulen zu stützen:
— Katholizismus als politisch integrierende Kraft;
— klientelistische Durchdringung des Staatsapparates und der verstaatlichten Sektoren der Wirtschaft;
— Interklassismus, Populismus;
— Ideologischer Appeal des Antikommunismus.
Während der siebziger Jahre bekamen jedoch alle vier Säulen deutliche Risse, so daß es für die achtziger Jahre insbesondere nach den jüngsten Wahlergebnissen eher fraglich erscheint, ob sich die italienischen Christdemokraten erneut als „Masters of Survival" erweisen können.
Auf die schwindende politische Bindungskraft des Katholizismus vor allem in den be-völkerungsreichen urbanen Zonen Nord-und Mittelitaliens wurde schon hingewiesen.
Die Wahlerfolge von Kommunisten und Sozialisten in Regionen und Kommunen schnitten die DC von vielen lokalen wirtschaftlichen Ressourcen ab. Auf nationaler Ebene mußte die DC zu Beginn der achtziger Jahre der aggressiven klientelistischen Strategie der Partei Bettino Craxis erheblichen Tribut zollen. Selbst das zum großen Teil verstaatlichte Bank-und Kreditwesen, einst unbestrittene Domäne der Christdemokraten, ist längst nicht mehr unter der alleinigen Kontrolle der DC
Hohe Inflationsraten (1983: ca. 17 Prozent) und eine bedrohliche Verschuldung der öffentlichen Haushalte erschwerten es der DC überdies, ihr ehemals ausgedehntes Patronagesystem weiterhin funktionsfähig zu erhalten.
Die DC hatte stets auch eine starke populistische Komponente als Grundlage ihrer auf alle sozialen Schichten abzielenden Wahlstrategie. Nur so war di Prozent) und eine bedrohliche Verschuldung der öffentlichen Haushalte erschwerten es der DC überdies, ihr ehemals ausgedehntes Patronagesystem weiterhin funktionsfähig zu erhalten.
Die DC hatte stets auch eine starke populistische Komponente als Grundlage ihrer auf alle sozialen Schichten abzielenden Wahlstrategie. Nur so war die breite Anhängerschaft unter der kleinen und mittleren Bauernschaft, dem städtischen Kleinbürgertum und den untersten sozialen Schichten der Gesellschaft zu erklären. Doch mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise und dem neuen, eher dem modernen Industriemanagement zugeneigten Kurs des Generalsekretärs De Mita, konfligieren populistischer Appeal einerseits und investitionsorientierte Sparpolitik andererseits immer häufiger. Es ist zweifellos für die DC schwerer geworden, die Interessen der Unternehmer und der an einer marktorientierten Wirtschaftspolitik interessierten Gruppen mit den Interessen der von einer Wohlfahrtspolitik abhängigen, untersten sozialen Schichten gleichzeitig zu vertreten.
Auch der scharfe Antikommunismus, der Katholizismus, Klientelismus, Populismus und Interklassismus zusammengehalten hatte 15), verlor zunehmend seine ideologische Überzeugungskraft. Seine säkularisierte Form — die Opposition zu den konkreten politischen Plänen des PCI — besitzt längt nicht mehr die bindende Kraft eines ideologischen Verdikts. Mit diesen Rissen im Gefüge der christdemokratischen Machtkonstruktion sind Tendenzen sichtbar geworden, die schon mittel-und kurzfristig zu erheblichen Wählerverlusten führen. Es ist unwahrscheinlich, daß es der DC gelingt, die zentrifugalen Tendenzen innerhalb dieses Machtsystems zu stoppen. De Mitas Versuch, die vielschichtige, von fragilen innerparteilichen Gleichgewichten (konservativ-populistisch-katholisch; Nord-Süd) abhängige DC auf eine einheitliche konservative, neoliberale Wirtschaftspolitik zu verpflichten, dürfte sich für die komplizierte Konsens-Konstruktion der Christdemokraten als zu simpel erweisen. So ist die Wahrscheinlichkeit, sich erneut als eine „Party for all Seasons" 16) zu erweisen, für die DC der achtziger Jahre sehr gering geworden. 2. Der PCI weiter auf Reformkurs Es läßt sich fast als Ironie der Geschichte deuten, daß es die Kommunistische Partei war, die dem „kapitalistischen“ System Italiens während der siebziger Jahre entscheidende Stabilität verlieh. Besonders die kommunistische Strategie des Historischen Kompromisses half den Christdemokraten, den Status quo eines blockierten politischen Systems aufrechtzuerhalten. In einer Art paradoxer Intervention sollten mit der DC, hauptverantwortlich für Stagnation, Verkrustung und Korruption in Staat und Gesellschaft, die notwendigen Reformen und Innovationen verwirklicht werden. Doch die „Quadratur des Zirkels“ mißlang. Was italienische Politikwissenschaftler als „konsorzionale" oder „semikonsorzionale“ Strategie analysierten 17), der sozialistische Intellektuelle G. Amato schlicht als . Angst vor dem Regieren“ bezeichnete, nutzte nur den Christdemokraten. Das Auseinanderbrechen der informellen „Großen Koalition“ (1976— 1978/79) hinterließ die Kommunisten geschwächt, die DC jedoch hinweggerettet über eine der schwersten Krisen ihres Bestehens. Der PCI hatte schwere Verluste an Wählern und Mitgliedern hinneh-men müssen, ohne die ersehnte Legitimation als regierungsfähige Partei erhalten zu haben
Aus dem Bewußtsein, mit dem Historischen Kompromiß einer gescheiterten Strategie gefolgt zu sein, entwickelte sich seit 1980 im PCI die „Demokratische Alternative". Es wurde zur allgemeinen Überzeugung in der Partei, daß jede Regierungsalternative, die auf wirksame Reformen und Veränderungen in Staat und Gesellschaft zielen will, gegen die Christ-demokratie gerichtet sein müsse Als Bündnispartner wurden die Sozialisten, und — wenn möglich — die Sozialdemokraten sowie die Republikaner ausersehen. Der Verlauf der Wahlkampagne im Mai 1983 zeigte jedoch, daß gegenwärtig keine dieser Parteien zu einer solchen Koalition bereit ist Dennoch: Mit der „alternativa democratica" formulierte der PCI nach über zehn Jahren erstmals wieder eine Strategie, die ausdrücklich gegen die Blockierung des politischen Systems gerichtet ist und längerfristig die italienischen Parteien um zwei Pole sammeln könnte: einem konservativen um die DC und einen progressiv-reformistischen um PCI und PSI. Gleichzeitig vollzogen sich innerhalb der Kommunistischen Partei bedeutsame Veränderungen, die den PCI weiter in das westlich-demokratische System integrierten. Veränderte sich die Nomenklatura im engsten Führungszirkel der Partei während der letzten Jahre nur geringfügig, so übernahmen die 30— 40jährigen im PCI zunehmend immer wichtigere Positionen auf der mittleren Entscheidungsebene. Diese Übernahme von parteiintern bedeutsamen Funktionen war weit mehr als ein bloßer Generationswechsel. Mit der neuen Führungsgeneration infiltrierten unorthodoxe Denkweisen und Führungsstile die Partei. Wie unlängst eine Studie enthüllte, vollzog über die Hälfte dieser neuen Führungsschicht ihre politische Sozialisation außerhalb der uniformierenden Strukturen der kommunistischen Jugendorganisation (FGCI).
über ein Drittel dieser neo-kommunistischen Aktivisten erlebten ihre prägenden Erfahrungen im links-libertären Klima der außerparlamentarischen ‘ 68er Bewegung Unübersehbar waren sie es, die die politische Debatte im Vorfeld des Kongresses wesentlich mitbestimmten und innovative Akzente zu setzen wußten. Die Diskussionen bewiesen, wie weitgehend sich der PCI heute schon pluralisiert hat Sehr beredt dementierten sie jenen Mythos, der noch immer von Freund und Feind um die ideologische Geschlossenheit der Partei gewoben wird.
Selbstbewußt präsentieren sich gegenwärtig verschiedene Strömungen (Linke um Ingrao, das Zentrum um Berlinguer, Rechte um Napolitano) in der Partei. Sie gründen in unterschiedlichen politischen Positionen und konkurrieren um Einfluß und Macht in der Partei. Drang G. Napolitano im Januar 1981 nur teilweise mit seinen liberalisierenden Reformvorschlägen in der Partei durch so stimmten im Frühjahr 1983 auf den Provinzkongressen die Mehrheit der Delegierten — den Vorschlägen Ingraos folgend — für eine weitergehende Modifizierung des Demokratischen Zentralismus: Geheime Stimmabgabe auf Parteikongressen, Möglichkeit der Formierung von Minderheitspositionen in der Partei, Recht auf Publizierung von abweichenden Meinungen, Lockerung der zentralen Kontrolle über lokale Parteiorganisationen sollen die interne Struktur der Partei demokratisieren. Aber trotz dieser innerparteilichen Demokratisierung, trotz der weiteren Mäßigung seiner Programmatik, trotz der unter Beweis gestellten administrativen Effizienz in Regionen und Kommunen und — last but not least — trotz des Bruchs mit Moskau nach den Ereignissen in Polen bleibt der PCI weiterhin von einer Regierungsbeteiligung ausgeschlossen. Noch halten die anderen Parteien die „conventio ad excludendum“ aufrecht, obwohl unter den meisten italienischen Politikwissenschaftlern kaum Zweifel bestehen, daß eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten nach einer kurzen Phase der Destabilität „die Unterstützung für das System als Ganzes verbreitern — und somit eine stabilisierende Rolle spielen — wird“ 3. Die Schlüsselrolle der Sozialisten Die Sozialistische Partei Italiens ist mit ca. 10 Prozent der Wählerstimmen eine mittlere Partei (partito medio), d. h. eine klassische Ko-alitionspartei, sei es der Regierung oder der Opposition. Die Sozialistische Partei ist, wie es der sozialistische Philosoph N. Bobbio formuliert, „eine notwendige, aber keine hinreichende Partei" und wird sich deshalb in „jedweder Koalition in einer subordinierten Position gegenüber der dominanten Partei wiederfinden"
Aber die Sozialistische Partei ist nicht nur ein „partito medio“, sondern auch ein „partito intermedio“, d. h. eine Partei, die ihren politisch-ideologischen Standort zwischen den beiden großen Parteien DC und PCI hat. Nicht zuletzt dieser Position ist es zuzuschreiben, daß der PSL seit der Gründung der italienischen Republik beständig zwischen einer Allianz mit den Kommunisten und Christdemokraten hin und her pendelt: Volksfront (1947— 1956), centro-sinistra (1963-1975, mit Unterbrechungen), alternativa di sinistra (offizielle Langzeitstrategie der Partei seit 1976), Konzeption der „governabilita" (Regierbarkeit durch Mehrheitsbeschaffung garantieren, seit 1979/80) waren die wechselnden Bündniskonstellationen. Fand sich der PSI in der Volksfront wie im Centro-sinistra-Bündnis sehr schnell in einer subalternen Position wieder, präsentierte er sich 1980 unter seinem neuen Generalsekretär Bettino Craxi (seit 1976) sehr selbstbewußt als Koalitionspartner der DC und der kleineren laizistischen Parteien auf nationaler Ebene, während er in den Regionen, den Provinzen und Kommunen je nach Mehrheitsverhältnissen mit den Kommunisten oder Christdemokraten koaliert. Dies sicherte den Sozialisten einen überproportionalen Anteil an öffentlichen auf Entscheidungsebenen: allen Bei einem Stimmenanteil von 9, 8 % national und 12, 7 % regional hielt der PSI zu Beginn des Jahres 1983 25 % der Ministerressorts in der Nationalregierung, 17 % der Bürgermeisterämter des Landes und stellte 31 % der Provinz-und 30 % der Regionalpräsidenten
% der Provinz-und 30 % der Regionalpräsidenten 29).
Begründet wird dieses ambivalente Koalitionsverhalten von der PSI-Führung mit der Notwendigkeit, die Regierbarkeit des Landes zu sichern. Doch die Sozialistische Partei begnügte sich häufig damit, Regierungsmehrheiten zu beschaffen. Sie scheiterte in ihrem Anliegen, eine stabile Regierung zu ermöglichen, um eine wirksame Reformpolitik zu verwirklichen. Sehr schnell wurde deutlich, „daß keine Koalition mit den Christdemokraten stabil sein kann, da die DC von ihren Faktionen hin-und hergerissen wird" 30).
Darüber hinaus wurde die Heterogenität innerhalb der Regierungskoalition immer sichtbarer. Die sich häufig widersprechenden wirtschaftspolitischen Konzeptionen von DC und PSI zur Überwindung von 9 % Arbeitslosen, 16 % Inflation und der ständig steigenden Staatsverschuldung lähmte die Koalition zuletzt bis zur Entscheidungslosigkeit. An diesem Widerspruch scheiterten vier der sechs Regierungen von 1980 bis 1983 (Kabinett Cossiga II 1980; Kabinett Spadolini I und II 1981 bis 1982, Kabinett Fanfani V 1983).
Ebenso negativ ist die reformerische Wirksamkeit dieser letzten Regierungen zu beurteilen. Weder im Bereich der Wirtschaftspolitik noch in der die Korruption betreffenden „moralischen Frage" noch im Hinblick auf die „Institutioneile Reform" wurden nennenswerte Strukturreformen verwirklicht.
Aber auch das strategische Projekt, das der PSI an die governabilitä gekoppelt hat, mißlang. Den Sozialisten gelang es nicht, zur führenden Kraft eines geschlossenen laizistischen Lagers zu avancieren, um wirkungsvoll die zentrale Position der DC im Parteiensystem (centralitä) herausfordern zu können. Weder der Konsultationspakt mit den Sozialdemokraten (1980) noch die besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Republikanern, noch die Neubewertung der Liberalen als progressive Kraft hinderten die kleinen laizistischen Parteien, sich in der Wahlkampagne 1983 auf zentristische Positionen und damit in den koalitionären Einzugsbereich der DC zu begeben.
So muß es als perspektivlos erscheinen, wenn die Sozialisten sich erneut, wie vor den Parlamentswahlen im Juni 1983, gegen eine Links-koalition aussprechen und somit auf eine Neuauflage des eben gescheiterten Bündnisses mit den Christdemokraten zielen 31). Mit der Aufrechterhaltung der „conventio ad excludendum" hilft der PSI, der sich von 1976 bis 1979 für eine Alternative („alternativa di sinistra") ausgesprochen hatte, die doppelte Blockierung des politischen Systems Italiens aufrechtzuerhalten. Er verhindert einerseits weiterhin einen effektiven Wechsel in der Regierungsverantwortung und hält andererseits jene Koalitionen (DC, PSI, PSDI, PRI, PLI) am Leben, die erst in der jüngsten Vergangen-heit bewiesen haben, daß sie infolge ihrer Heterogenität nur zu unzureichenden Kompromißlösungen in der Lage waren
Entschiede sich der PSI jedoch für eine Links-koalition auch auf nationaler Ebene, würde es zur Bildung zweier politischer Lager (bürgerlich-konservativ versus progressiv-reformistisch) kommen. Dies könnte zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte der italienischen Republik die Democrazia Cristiana in die Opposition verbannen und somit eine weitere Erosion dieser Partei einleiten. In einem für den ehemaligen christdemokratischen Ministerpräsidenten Andreotti völlig unerwarteten Sinne könnte sich dann sein Ausspruch bewahrheiten: „Die Macht nutzt denjenigen ab, der sie nicht hat."
III. Die theoretische Debatte
Abbildung 4
Abbildung 4
Abbildung 4
1. Das Modell des . polarisierten Pluralismus* Es kann kaum verwundern, daß das italienische Vielparteiensystem mit all seinen Besonderheiten (elf Parteien im Parlament DC seit 37 Jahren ununterbrochen dominante Regierungspartei, größte kommunistische Partei der westlichen Welt, etc.) immer wieder zu wissenschaftlichen Untersuchungen und akademischen Debatten herausforderte. Der intellektuellen Versuchung, die Komplexität des italienischen Parteiensystems in einem theoretischen Modell zu fassen, konnten nur wenige italienische Parteiforscher widerstehen. Begonnen hat die nicht endenwollende wissenschaftliche Diskussion mit Giovanni Sartori. Der Nestor der italienischen Politikwissenschaft versuchte in immer wieder neu überarbeiteten und reformulierten Fassungen (1974, 1976, 1982), seiner Grundkonzeption jedoch treubleibend (1966) die Dynamik des italienischen Parteiensystems in seinem Modell des . polarisierten Pluralismus'begreiflich zu machen.
Pluralistisch nennt Sartori das italienische Parteiensystem, weil es mehr als vier Parteien umfaßt und die mannigfachen gesellschaftlichen Interessen von einer Vielzahl parlamentarischer Parteien politisch repräsentiert werden. Die Polarisierung leitet er aus der von ihm behaupteten intensiven Ideologisierung der Parteimitglieder ab. Diese habe — so Sartori — . subkulturelle Züge'(marxistisch/kommunistisch — katholisch/integralistisch) angenommen und behindere dadurch einen fruchtbaren Kommunikationsprozeß zwischen den Parteieliten.
Um die ideologische Distanz zwischen den einzelnen Parteien zu verdeutlichen, ordnet Sartori die parlamentarischen Parteien auf einer eindimensionalen links-rechts Achse an
Ausgehend von dieser Achse liest sich Sartoris modellhafte Beschreibung der italienischen Parteienlandschaft sehr kurz gefaßt wie im folgenden dargestellt: Das italienische Parteiensystem besitzt eine tripolare Grundstruktur. Die beiden Außenpole werden von der Antisystempartei MSI (Movimento Sociale Italiano — neofaschistische Partei) und der „semiakzeptierten" fundamental-oppositionellen Kommunistischen Partei besetzt. Das metrische Zentrum der Achse wird unangefochten von der Democrazia Cristiana ge-halten. Die kleineren laizistischen Parteien PLI, PRI und PSDI . rotieren'um das Zentrum DC, sie sind die . natürlichen'(subalternen) Koalitionspartner der Christdemokraten.
Aus dieser besonderen Konfiguration leitet Sartori die entscheidenden Aussagen für die Dynamik des italienischen Parteiensystems ab: Infolge der unangreifbaren Besetzung des Zentrums durch die DC bleibt dieses dem allgemeinen elektoralen Wettbewerb entzogen — MSI und PCI sehen sich gezwungen, auf die Flügel auszuweichen, um neue Wähler zu finden und dabei die alten nicht zu verlieren. Das Bestreben der beiden Flügelparteien PCI und MSI durch extreme ideologische Positionen Wähler auf dem linken und rechten Pol des politischen Meinungsspektrums zu suchen, bezeichnet Sartori mit dem aus der Sprache der Physik entlehnten Begriff der Zentrifugalität und erklärt diese zur bestimmenden Dynamik des italienischen Parteien-systems. Die unvermeidliche Diagnose: Das italienische Parteiensystem ist „instabil“, weist ein „Maximum an Dysfunktionalität“ auf und besitzt zudem eine extreme Verwundbarkeit gegenüber „exogenen Krisen"
Folgende zentralen Aussagen von Sartori sind jedoch zu bestreiten und erweisen sein Modell als Erklärungsansatz für das italienische Parteiensystem der siebziger und achtziger Jahre als unbrauchbar: Ideologische Polarisierung der politischen Kultur Italiens; Antisystemcharakter bzw. rein . negative Integration'des PCI; Zentrifugalität des italienischen Parteienwettbewerbs; konkurrenzlose Besetzung des Zentrums des italienischen Parteiensystems durch die DC (zu diesem Punkt siehe II. 2).
Die These der ideologischen Polarisierung der politischen Kultur Italiens und der dadurch verhinderten Kooperationsbereitschaft der Parteieliten wurde schon 1972 von F. Cazzola weitgehend widerlegt, als er in einer detaillierten Analyse der italienischen Gesetzgebung einen hohen Grad an Übereinstimmung und parlamentarischer Zusammenarbeit von PCI und DC nachwies Verstärkt wurde diese Entwicklung noch in den siebziger und achtziger Jahren. Die Säkularisierung der Gesellschaft — deutlich geworden in den Referenden über Ehescheidungen (1974) und Abtreibung (1981) — sowie die Aufgabe vieler Mythen durch kommunistische Mitglieder und Sympathisanten (Modell Sowjetunion, Glorifizierung der Oktoberrevolution, Proletarischer Internationalismus, etc.), lassen es als unangebracht erscheinen, heute noch von zwei polarisierten Subkulturen zu sprechen.
Nennt Sartori den PCI noch 1966 eine , Antisystempartei" so gesteht er ihm schon 1974 den Status einer „negativ integrierten", „semiakzeptierten“ Partei zu, aber auch 1982 ist für ihn die Kommunistische Partei Italiens „noch nicht als Pro-Systempartei klassifizierbar" Ohne der linguistisch reizvollen Frage nachzugehen, ob Sartoris Etikettenwandel (Anti-Systempartei — keine Pro-Systempartei) nur ein semantischer Trick ist, bleiben folgende für die Systemimmanenz des PCI sprechende Fakten in Erinnerung zu rufen: aktive Teilnahme des PCI an der Ausarbeitung der demokratischen Verfassung (1946); Ablehnung des sowjetischen Gesellschaftsmodells; Bekenntnis zu pluralen politischen Strukturen, freien Wahlen etc.; konstruktive Mitarbeit in den Institutionen der EG (seit 1975); Akzeptierung der NATO-Mitgliedschaft (1976); weitgehende Entfremdung zwischen PCI und Moskau im Gefolge des coup detat in Polen (1981/82).
Analysiert man die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des PCI 1983, fühlt man sich allenfalls an die schwedische Sozialdemokratie erinnert, keinesfalls jedoch an die Realität der osteuropäischen Planwirtschaft Eine zusätzliche empirische Absicherung der These, daß der PCI „weit mehr in das System eingebunden (ist), als der Ausdruck . negative Integration verrät“ zeigt dessen demokratische Regierungspraxis in fünf Regionen, zahlreichen Provinzen und den meisten Großstädten des Landes.
Eine eindrucksvolle Widerlegung erfuhr Sartoris These der zentrifugalen Dynamik im italienischen Parteienwettbewerb durch die Ereignisse der siebziger Jahre. Die Entwicklung des MSI wie die des PCI lesen sich wie eine Falsifikation der Behauptung Sartoris, die an den Polen angesiedelten Parteien müßten nach außen streben oder zumindest ihre extreme Position behaupten, wollten sie nicht Gefahr laufen, von der Wählerschaft . bestraft'zu werden. Der neo-faschistische MSI-DN (Movimento Sociale Italiano — Destra Nazionale) versuchte nach dem Wahlerfolg von 1972 (8, 7 %) eine Strategie der Spannung und Radikalisierung. Das Ergebnis war ein emp-findlicher Stimmenverlust bei den nächsten Parlamentswahlen 1976 (6, 1 %).
Bemerkenswert ist noch die Entwicklung des PCI: Mit einer Politik der ideologischen Mäßigung bewegte sich die Kommunistische Partei immer mehr zum Zentrum hin. Das Ergebnis: sie steigerte ihren Stimmenanteil von 27, 2 % (1972) auf 34, 4 % (1976). Eine solche Entwicklung läßt sich nicht mit Sartori, sondern eher mit einer gemäßigten . catch all strategy'erklären, wie sie Otto Kirchheimer für die europäische Sozialdemokratie der Nachkriegsperiode beschrieben hat
Die Stimmenverluste der Kommunisten bei den Parlamentswahlen 1979 (4 %) lassen sich keineswegs mit der weiteren Mäßigung der politischen Positionen des PCI erklären. Sie sind vielmehr auf die Tatsache zurückzuführen, daß es dem PCI in der Phase von 1976 bis 1979 nicht gelang, aus dem . Vorhof der Macht'herauszukommen und in die Regierung aufgenommen zu werden. So war die Kommunistische Partei zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt, konnte weder Regierungs-noch Oppositionspartei sein. Darüber hinaus erwies sich der PCI als unfähig, die 1976 im Süden gewonnenen , klientelistischen‘ Stimmen an sich zu binden (siehe 1. 1).
Sartoris Ansatz analysiert zwar zutreffend die Polarisierung der italienischen Parteien in der Periode von 1945— 1965. Seine auf Dysfunktion und Zentrifugalität konzentrierte Perspektive mußte ihm jedoch den Blick auf jene Strukturen und zentripetalen Entwicklungen verstellen, die zu Quellen der Stabilität der traditionellen Parteienlandschaft Italiens wurden. 2. Das Modell des . zentripetalen Pluralismus 1
Wie eine späte Antwort auf die Theorie Sartoris liest sich das im Frühjahr 1983 posthum erschienene Buch Paolo Farnetis über das italienische Parteiensystem in dem er dem . polarisierten Pluralismus', dem Sartori zentrifugale Tendenzen zuschreibt, sein Modell des . zentripetalen Pluralismus'entgegenstellt.
Farneti schlägt eine Periodisierung der Entwicklung des italienischen Parteiensystems vor, um die Bewegungen des Parteienwettbewerbs der siebziger Jahre präziser zu erfassen, als es das auf zeitlose Gültigkeit bedachte Modell Giovanni Sartoris vermag. „Das Modell des . polarisierten Pluralismus'bleibt gültig', schreibt Farneti, „um die Periode von 1945 bis 1965 zu beschreiben Die Phase von 1965 bis 1979 müsse dagegen als . zentripetaler Pluralismus definiert werden, gekennzeichnet von der „Tendenz zur Transformation eines tripolaren zu einem bipolaren Parteiensystem Mit dem ebenfalls der Fachsprache der Physik entlehnten Begriff . zentripetal'versucht Farneti, die Orientierung des Parteienwettbewerbs zum Zentrum hin zu beschreiben. Denn aus der Erkenntnis — so der italienische Politologe —, daß das Zentrum entscheidend für soziale und politische Mehrheitsbildungen bleibt, tendieren vor allem die linken Parteien PSI und PCI auf der Suche nach neuen Wählern zur Mitte des Parteien-spektrums. Im Gegensatz zu Sartori begreift Farneti die Democrazia Cristiana keineswegs mehr als die unangefochtene Partei des Zentrums. Der erfolgreiche Versuch der Sozialisten, sich, beginnend mit den sechziger Jahren, zum Zentrum des Parteiensystems zu bewegen, „um selbst die entscheidende Partei für zukünftige Regierungskoalitionen zu werden, indem sie die DC auf den rechten und den PCI auf den linken Flügel drängt", macht eine „Neudefinierung des Zentrums“ notwendig. Mit dem Eintritt des PSI in das Zentrum verlor dieses zusehends an Homogenität. Es ist nun seinerseits gegliedert in eine Rechte (DC, PLI), ein Zentrum (PRI, PSDI) und eine Linke (PSI), repräsentiert verschiedene soziale Schichten, Ideologien und politische Formen der Willensbildung. Trotz dieser Heterogenität bleibt das Zentrum aber stabiler und homogener als ein linkes (PCI, PSI, PSDI) oder rechtes (MSI, PLI, DC) Bündnis. Denn „weder die Hypothese einer Volksfront noch die einer Nationalen Front wird von der Mehrheit der Wählerschaft für praktizierbar und akzeptabel gehalten“ Es ist also nicht so sehr die Stärke des Zentrums als die Schwäche der beiden Außenpole, die immer wieder „zentristische“ Regierungskoalitionen entstehen läßt.
Gegenüber dem . polarisierten Pluralismus', der eine beharrliche Tendenz zur Radikalisierung und Politisierung der Wählerschaft vor-aussagt, eine Entwicklung, die die Substanz der repräsentativ-demokratischen Institutionen angreift, sind die Prognosen des . zentripetalen Pluralismus'für eine positive Evolution des politischen Systems keineswegs positiver. Dafür benennt Farneti drei Ursachen, die durch die faktische Entwicklung nach 1976 bestätigt werden können: a) Der . zentripetale Pluralismus'bringt eine Entpolitisierung der Bevölkerung, den Rückzug ins Private mit sich; die „Kluft zwischen Wählerschaft und politischer Klasse" erweitert sich, b) Durch die Mäßigung der kommunistischen Politik und Programmatik finden radikalere links-oppositionelle Meinungen keinen parlamentarischen Bezugspunkt mehr. Dies führt über weitere Zwischenschritte zu günstigen Rekrutierungsmöglichkeiten extremistischer und terroristischer Gruppierungen c) Das Zentrum bleibt Aggregationspunkt aller Regierungskoalitionen. Die Folge ist eine beständige Reproduktion derselben politischen Eliten, derselben Ideen und Politiken. Das politische System bleibt blockiert, der für eine Innovation notwendige Wechsel in der Regierungsverantwortung findet nicht statt. Die einzige Möglichkeit zum (unzureichenden) Wandel besteht in der Neuordnung des Zentrums, d. h. einer Rotation der Parteien, die das Zentrum und damit die Regierungskoalitionen beherrschen.
Zu bemerken bleibt, daß das Modell des . zentripetalen Pluralismus'sehr treffend die Tendenz der Sozialistischen Partei seit 1957 und der kommunistischen Partei seit Beginn der siebziger Jahre zum Zentrum des Parteiensystems hin beschreibt. Damit gibt es nicht nur die Hauptbewegung in der Dynamik der italienischen Parteienlandschaft dieser Periode wieder, sondern liefert auch eine einleuchtende Erklärung für die relative Stabilisierung‘des politischen Systems während der letzten 15 Jahre.
Doch auch Farneti wird Opfer der zu starren Strukturen seines Systems. Sich souverän über die elementaren Gesetze der Logik hinwegsetzend, schreibt er dem Parteienwettbewerb eine zentripetale Dynamik zu und sagt gleichzeitig die Entwicklung von einem drei-poligen zu einem zweipoligen Parteiensystem (konservatives versus progressiv/reformistisches Lager) voraus. Will Farneti seine Hypothese der allgemeinen Tendenz der Parteien zum Zentrum hin nicht selbst widerlegen, müßte er jedoch bei einer zentripetalen Tendenz die Entwicklung zu einem unipolaren Parteiensystem prognostizieren.
Wie oben dargestellt, läßt sich die Dynamik innerhalb der italienischen Parteienlandschaft überhaupt nicht auf eine einzige Bewegungsrichtung reduzieren. Vielmehr koexistieren gegenwärtig zentripetale Bewegungen (PCI, PSI) mit zentrifugalen Tendenzen (DC) im italienischen Parteiensystem. Diese Entwicklung ist darüber hinaus dem taktischen Kalkül der römischen Parteiführer unterworfen, deren Erfindungsreichtum auf diesem Felde keine Grenzen zu kennen scheint.
All diese Faktoren, Tendenzen und Entwicklungen lassen sich nur auf Kosten einer groben Reduzierung der komplexen Wirklichkeit in die starren Strukturen eines Modells zwängen. Ein Unterfangen, das der amerikanische Italien-Spezialist Sidney Tarrow schon 1977 lakonisch kommentierte: Der Fehler vieler Modelle von Parteiensystemen bestehe im Hochmut ihrer Schöpfer: „To explain to much with to little."
IV. Die Wahl im Juni 1983
Die Wahl von 1983 sah mindestens zwei Verlierer: die Democrazia Cristiana und die Meinungsforschungsinstitute. Sagten diese den Christdemokraten ein Wahlergebnis von 39, 5% voraus, wurden sie von dem tatsächlichen Wahlergebnis geradezu beschämt. Mit diesem Stimmenverlust von 5, 4% (1979: 38, 3%; 1983: 32, 9%) erlitt die DC eine empfindliche Niederlage und konnte sich nur noch knapp vor den Kommunisten (29, 9%) als stärkste Partei behaupten. Drastischer als erwartet griffen gesellschaftliche Prozesse wie Säkularisierung der Gesellschaft, Erschwerung klientelistischer Politik, Abflachung des Anti-Kommunismus etc. auf die Wahlentschei-düng der traditionalen christdemokratischen Wählerschaft durch.
Wenngleich auch detaillierte Zahlenanalysen fehlen, scheint es sehr wahrscheinlich, daß die DC Wähler an die laizistischen Parteien (PSI: + 1, 6%, PRI: + 2, 1%; PLI: + 1%; PSDI: + 0, 3%) abgeben mußte. Diese Wählerwanderung dürfte vor allem aus dem Lager der „voto di apartenenza“ und der „voto di opinione" kommen; unmittelbare Ursache scheinen die sich häufenden Skandale und eine gescheiterte Wirtschaftspolitik zu sein, mit denen die Wähler hauptsächlich die DC identifizierten.
Die erheblichen Stimmenverluste der Christdemokraten im Süden des Landes kamen vor allem dem neofaschistischen MSI (1979: 5, 3%, 1983: 6, 8%) zugute. Diese „Proteststimmen" können als erste Anzeichen dafür gewertet werden, daß es für die Christdemokraten schwerer geworden ist, ihre klientelistische Verteilungspolitik zu finanzieren.
Die Kommunisten verloren nur unerheblich an Stimmen (0, 5%), sie verfügen nach wie vor über die treueste Wählerschaft. Stimmengewinne von Sozialisten (1, 6%) und Republikanern (2, 1 %) lassen ein Duell von Craxi (PSI) und Spadolini (PRI) um den Posten des Ministerpräsidenten erwarten. Nachdem der Sozialistenchef Bettino Craxi noch in der Wahl-nacht erneut ein Bündnis mit den Kommunisten ablehnte, scheint eine Neuauflage der alten Fünferkoalition (DC, PSI, PSDI, PRI, PLI) als die wahrscheinlichste Koalitionsformel. Ob sich mit diesem in der Vergangenheit gescheiterten heterogenen Regierungsbund die dringenden Probleme des Landes lösen lassen, bleibt eher skeptisch abzuwarten.
Wolfgang Merkel, geb. 1952; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Sportwissenschaft in Heidelberg; Diplom der School of Advanced International Studies (John-Hopkins University, Bologna). Veröffentlichungen: „Bettino Craxi — Taktiker oder Stratege? Die Sozialistische Partei Italiens vor den Parlamentswahlen 1983“, in: Zukunft 6/1983 und Neue Gesellschaft 6/1983.