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Europa ohne Grenzen | APuZ 23-24/1984 | bpb.de

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APuZ 23-24/1984 Was ist die Idee Europas? Ist die EG noch zeitgemäß? Zur Tragfähigkeit der Integrationspolitik Europa ohne Grenzen Artikel 1

Europa ohne Grenzen

Francois Bondy

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Betrachtung des „europäischen Geistes" in einem Kolloquium bedeutendster Schriftsteller und Denker im Oktober 1933 im Zeichen eines Wandels und im Vorfeld einer Katastrophe ist Anlaß zu diesen, ein halbes Jahrhundert danach angestellten Überlegungen: Was wurde damals vorausgesehen, welches sind heutige Perspektiven? Die Schriften von Karl Löwith, der Europa aus der Distanz Japans zwischen 1930 und 1950 anders sah, und in den sechziger Jahren des Historikers Herbert Lüthy, der auf den „planetaren Zusammenhang" weist, führen zum Nachkrieg und zur Gegenwart. Trends dieser Jahre, die mit Divergenzen innerhalb Europas und Westeuropas, mit der Beziehung Europa— Amerika, mit dem Verhältnis Europa—Dritte Welt, mit dem wieder aktuell gewordenen Thema „Mitteleuropa“ und mit der (nicht gesamtwesteuropäischen) Friedensbewegung zu tun haben, werden — aber nur exemplifizierend — beleuchtet. Abschließend wird auf die Unterschiedlichkeit zwischen — wesensgemäß ungewissen — Grenzen des kulturellen Europa und notwendigerweise festen Konturen eines sich zusammenschließenden Europa hingewiesen. Die Frage nach der europäischen „Identität" wird als weder zentral noch eindeutig beantwortbar relativiert und es wird zwischen den Traditionen der künstlerisch-geistigen Kultur und der „politischen Kultur" unterschieden.

I.

Gesellschaften können einander immer ähnlicher werden, ohne daß ihre Mitglieder oder ihre Führer sich dieser wachsenden Ähnlichkeit bewußt würden, der Probleme, die sie stellt, der Lösungen, die ein gemeinsamer politischer Wille erreichen kann.

Francois Bourricaud in: Daedalus, Frühjahr 1979 „The european predicament"

Die entscheidende Frage ist: findet Europa den Mut, neue Ideen zu formulieren und auszuleben, die die ganze Welt angehen, also in diesem Sinne nicht spezifisch europäisch sind? Wir Europäer haben eine merkwürdige Art, uns mit unserem Selbstverständnis herumzuquälen. Was Europa ist, weiß die übrige Welt ganz genau: das Residuum seiner Geschichte. Der Begriff der Identität darf nicht den des geschichtlichen Wandels überdecken.

Rüdiger Altmann, Bergedorfer Gesprächskreis, Zürich 1983, Protokoll 73

Mitte Oktober 1933 fand in Paris im Rahmen des internationalen Institutes für intellektuelle Zusammenarbeit — eine Schöpfung des Völkerbundes — ein Kolloquium statt, das den Titel trug: „Die Zukunft des europäischen Geistes“. Die Teilnehmner gehörten zu den angesehensten Schriftstellern und Denkern. Da waren deutscherseits Thomas Mann und Graf Keyserling, unter den Franzosen Paul Valery — er präsidierte — und Julien Benda, ferner der Holländer Johan Huizinga, der Engländer Aldous Huxley, der Spanier Salvador de Madariaga, der nach Francos Sieg Emigrant wurde, und der Ungar Graf Teleki, der sich später das Leben nahm, weil er Hitlers Druck nicht nachgeben wollte — 30 Teilnehmer insgesamt.

Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung haben diese erlauchten Geister tiefgründig, in gewisser Weise katastrophenbewußt, aber meist unpolitisch über europäische Kultur, Bestimmung und Perspektiven gesprochen. Da böte sich der Schluß an, daß der Band, der diese Gespräche enthält, heute nur als Kuriosität von Interesse bleibt.

Wenn nämlich schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts — ich komme darauf noch zurück — Dichter, Historiker, Philosophen schwerste Erschütterungen, das Aufkommen grausamer Despoten für Europa voraussahen, so mag dieser Versuch einer gemeinsamen Bestimmung des „europäischen Geistes" im Herbst 1933 fast tragikomisch anmuten. Stritt nicht Byzanz um das Geschlecht der Engel, als die Türken zum siegreichen Ansturm ansetzten?

So hatte ich es erwartet und war entsprechend überrascht, hier Beachtlicheres und aktueller Interessantes zu finden, als zu vermuten war. Paul Valery weist zum Beispiel darauf hin, daß in der Literatur das spezifisch Nationale, dort wo es groß ist, ganz von fremden Einflüssen durchdrungen erscheint.

Er sieht zugleich einen beunruhigenden Wandel des Verständnisses und des Verhaltens: „Mir scheint, daß es eine Art Reaktion, eine Abwehr gegen die Kommunikation gibt, ein rätselhaftes Phänomen, das eben erst einsetzt und das wir noch nicht deutlich sehen. Was man versucht hatte zu vereinen, und was aus innerer Logik zur Einheit zu streben schien, scheint sich heute trennen zu wollen. Befragen Sie Ihr eigenes Herz, und was finden Sie? Zwei Personen. Den Europäer, der eine allgemeine europäische Kultur besitzt und das Gefühl des Universalismus, und daneben eine andere Person, die in ihre nationalen Traditionen eingeschlossen ist. Die Umstände entscheiden, was davon in uns der imaginäre, was der wirkliche Teil ist."

Graf Keyserling, der deutschen Ereignisse bewußt, sah keine Möglichkeit der Gegenwehr. Hätten sich denn einst die verfolgten Christen in den Katakomben retten können, wenn es schon Mikrophone und Funk gegeben hätte? Intellektuelle von der Art der hier versammelten seien eine winzige Minderheit, die nur noch wenig Prestige genieße und überhaupt keine Macht habe.

Johan Huizinga, der Autor von „Herbst des Mittelalters", hatte die sehr bestimmte dü21 stere Ahnung, daß die Welt an der Schwelle der Barberei stehe. Massen könnten sich nunmehr schnell und fest organisieren. Nicht die Wahrheit und das Recht würden daraus Nutzen ziehen, sondern der Wahnsinn und das Verbrechen.

Julien Benda — sein „Verrat der Intellektuellen" ist vor einigen Jahren auch deutsch wiederveröffentlicht worden — empfiehlt, auf versöhnlerische Erklärungen zu verzichten und auf die Heuchelei, mit der tiefes Verständnis für jede nationale Besonderheit ausgedrückt wird in der Zuversicht, alles lasse sich schließlich harmonisieren. „Hat sich etwa Frankreich gebildet, indem es den Provinzen Artois und Languedoc erklärte, sie sollten nichts von ihrer besonderen Zivilisation preisgeben?" Es käme darauf an, daß die Völker einen Bereich ihres Bewußtseins wahrnehmen, in welchem die Unterschiede schwächer werden. Der Apostel Paulus habe die Skythen, Griechen, Juden nicht gerühmt, weil sie ihre jeweils besondere Kultur bewahrten, sondern sie aufgefordert innezuwerden, daß Christus in allem ist.

Graf Teleki wies darauf hin, daß alle großen Bewegungen in Europa jeweils das ganze Europa erfaßt haben. Die Epoche, in der die großen europäischen Universitäten gegründet wurden, sei ein einziges Jahrhundert gewesen. Aldous Huxley, dessen schwarze Utopie „Brave New World" die spätere Genmanipulation vorwegnahm und einen Zustand stumpfen verordneten Glücks schilderte, erhoffte nichts von der Ausdehnung der Alphabetisierung und der Bildung. Einst hätten die Engländer die Bibel und Bunyans „Pilgrims progress" gelesen. Heute läsen sie nicht manchmal Meisterwerke sondern ununterbrochen Gemeinheiten und Blödsinn.

So müssen wir feststellen, daß die Zukunft des europäischen Geistes von dessen hervorragenden Vertretern vor einem halben Jahrhundert nicht hoffnungsvoll gesehen wurde, obgleich sie das Ausmaß der kommenden Schrecken und Greuel nicht erahnten.

II.

Zu jener Zeit korrespondierte der damals in Italien lebende Philosoph Karl Löwith mit seinem Lehrer Martin Heidegger, den er kritisch in einem Buch dieses Titels einen „Denker in dürftiger Zeit" genannt hatte; nach dem Krieg trug er bei aller politisch-philosophischen Distanzierung noch zu einer Festschrift für den Freiburger Philosophen bei.

Die Emigration führte Löwith dann für viele Jahre nach Japan und gab ihm Gelegenheit, Europa aus der Distanz einer ganz anderen Kultur zu sehen. Gerade diese Sicht erschien ihm aber als spezifisch europäisch, als Öffnung auf das Fremde und Hineinnehmen fremder Erfahrung ins Eigene.

Bedeutende Schriften, die Karl Löwith in englischer Sprache verfaßte, sind erst jüngst (1983) in der begonnenen Ausgabe der Gesammelten Schriften deutsch zugänglich geworden. Das gilt insbesondere für eine Arbeit von 1940 über den europäischen Nihilismus — dem Thema sind in diesen Jahren zwei Bücher gewidmet worden

Ihm wie auch anderen war bewußt, daß mit den Millionenopfern des ersten, wesentlich europäischen Weltkrieges die Zuversicht in ein Walten der Vernunft in einer zielgerichteten Geschichte tief erschüttert war; er sah, daß sich das Verhängnis nunmehr noch weiter ausbreiten würde. Löwith zitiert Voraussagen des neunzehnten Jahrhunderts, darunter Jacob Burckhardt, der in einem Brief schrieb: „Ihr alle wißt noch nicht, welche Tyrannei über den Geist ausgeübt werden wird unter dem Vorwand, daß Bildung eine geheime Verbündete des Kapitals sei, das man vernichten müsse" — und später: „Die Leute glauben nicht mehr an Prinzipien, werden aber wahrscheinlich periodisch an Erlöser glauben. Aus diesem Grund wird die Autorität wieder ihr Haupt erheben in dem erfreulichen zwanzigsten Jahrhundert, und ein schreckliches Haupt."

Löwith zitiert auch das 1916 verfaßte Gedicht „Der Krieg" von Stefan George, einem Autor, der heute manchmal ein wenig schablonenhaft abgetan wird und der damals ohne jeden Jubel, in den sogar Rilke eingestimmt hatte, „Untergänge ohne Würde" voraussagte. Dort steht auch die Zeile: „Erkrankte Welten fiebern sich zu Ende."

Europa — das war vielen vor allem: kultureller Reichtum der Formen, der Gedanken, die Polis mit ihren Bürgern und dem offenen Dialog, die jüdische, christliche, griechische, römische Überlieferung — in ihren Gegensätzen, aber auch in ihrer Synthese, ihrer Fülle; es war die Renaissance, die Ratio, wie sie sich nirgends sonst ausbildete, die Wissenschaft und ihre Anwendung, die Geschichtsschreibung und vieles mehr, das zunächst europäisch geprägt wurde und dann die ganze Welt erfaßt hat.

Doch Karl Löwith fragte, ob nicht der Nihilismus das Ende, der Fluchtpunkt, der geheime Drang dieser ganzen unvergleichlichen Entwicklung des Bewußtseins gewesen sei. Es ging ja nicht mehr um Griechen gegen Barbaren und asiatische Despoten, sondern um eine Barbarei von innen, und nicht etwa nur um die Barbarei eines „Pöbels", sondern um die Mitwirkung eines Großteils der Gebildeten, sogar bedeutendsten Geister, also derer, die als „Elite" galten. Die „Geschichte", deren Gang einst Hegel und später als Zeitlichkeit Heidegger gehuldigt hatte, erschien Löwith nicht mehr als ein möglicher Maßstab. Die Kultur, so schrieb er später, habe vor allem die Unterschiede wahrgenommen und nicht genügend die Konstanz menschlicher Bedürfnisse und Hinfälligkeiten. Das Gerede vom „Neuen Menschen" sei gegenstandslos gewesen und werden es bleiben.

Hier besteht Anlaß, einen späteren Autor zu zitieren, den Basler Historiker Herbert Lüthy, der zwar sein wissenschaftliches Hauptwerk in französischer Sprache geschrieben hat, aber vieles andere auf deutsch, so das Buch: Frankreichs Uhren gehen anders.

Zwei Essay-Bände, heute wohl nicht mehr greifbar, hat in den sechziger Jahren Mans Sperber veröffentlicht. Ihre Titel lauten: In Gegenwart der Geschichte und — Nach dem Untergang des Abendlandes.

Eine Einsicht dieses Historikers — durch seine spätere Asienforschung weiter entwickelt — ist diese: Europa kann nicht losgelöst von der westlichen Welt gesehen werden, und zwar zu keiner Zeit. Der Imperalismus, den Lenin als die „letzte Phase des Kapitalismus" bezeichnet hatte, sei vor allem seine erste Phase, sein Beginn gewesen. Vom Über-seehandel her sind die großen Aktiengesellschaften gegründet worden, sind die Effekten-geschäfte an den Börsen entstanden: „Von 1500 an läßt sich nichts mehr, was in Europa vorging, anders als in planetarem Zusammenhang begreifen. Die intellektuelle und moralische Umwälzung des plötzlichen Ausbruchs aus einer geschlossenen in eine offene Welt war nicht nur ein Vorgang im Reich der Ideen (...) Während mehr als zwei Jahrhunderten lebten Wirtschaft und Politik Europas im Rhythmus der spanischen Silberflotten und der von ihrer Ladung abhängigen Ostindienexpeditionen."

Das Europa der Moderne — und nur dieses Europa — trat dem ganzen „orbis terrarum" entgegen; hier entstanden die Indologie, die Sinologie und — füge ich hinzu — die entscheidend europäisch begonnene Islamforschung, die zu den Voraussetzungen des späteren islamischen „Erwachens" gehörte und die neuerdings der christliche Libanese Edward Said, Professor in den USA zu Unrecht mit Eroberung, Unterdrückung und Verfälschung gleichsetzt.

Fast gleichzeitig erschienen vor wenigen Jahren zwei Essays über „Europazentruismus" von Hans Magnus Enzensberger und von Leszek Kolakowski. Enzensberger setzt seinerseits die europäische Ära mit Unterdrückung gleich, während der in Oxford lehrende polnische Philosoph Europas Recht auf Selbstbehauptung und Wahrung seiner gewordenen Eigenart betonte. Ich habe beide Essays mit Gewinn, aber ohne volle Zustimmung gelesen. Denn Europas Ausdehnung war in ihrer Wirkung nicht nur Ausbeutung. Wie hätten ein paar tausend englische Verwalter und Soldaten das ganze, danach zerfallene Indien zusammengehalten, wenn dies nicht einer Funktion, einem Bedürfnis entsprochen hätte? Wie wäre der gewaltlose Widerstand, wie wäre die Demokratie anders als unter britischem Einfluß entstanden, um dann noch erstaunliche Kraft des Zusammenhaltens zu bezeugen, zugleich mit der bewahrten englischen Sprache?

Was aber das Eigene, Bewahrenswerte Europas ist — wie läßt es sich von der produktiven Aufnahme des Fremden, des Außereuropäischen sondern?

III.

Unlängst warf ein französischer Kulturphilosoph, auch Übersetzer Max Webers, den Europäern Selbstverrat vor, weil sie von Amerika den Jazz übernommen hätten; er tat dies ohne zu wissen, daß die Europäer sich darin längst nicht mehr mit der Rezeption begnügen. Wie war es denn mit dem bewundernden Interesse eines Leibniz gegenüber chinesischem Denken, wie mit der Aufnahme japanischer Kunst und später afrikanischer Skulpturen in Frankreich seitens der erneuernden Künstler? Wer dekretiert, was Europa kennzeichnet, was Europäern bekömmlich oder schädlich ist, der verkennt die lange Geschichte schier grenzenloser europäischer Aufmerksamkeit und Aufnahme, die gerade das Einzigartige, das Wahrzeichen Europas ist.

Der französische Ethnologe Claude Levi-Strauss hat die Auffassung vertreten, daß die einander folgenden mexikanischen Zivilisationen — Maya, Tolteken, Azteken — kulturell immer dürftiger wurden, während die ursprünglich nicht überlegene europäische Kultur sich immer reicher und komplexer entfaltete. Seine Vermutung: Von der Außenwelt isoliert, lebten die Mexikaner nur aus der eigenen sich erschöpfenden Substanz, während die Europäer dank ihrer Offenheit gegenüber anderen Kulturen nicht nur ihre eigenen starken Wurzeln hatten, sondern die Chancen der Begegnung wahrnahmen. Damit hänge die grundsätzliche europäische Bereitschaft zum Experiment, zum Wagnis zusammen. Wenn von Amerika die Rede war, sei daran erinnert, daß die Erklärung der Menschenrechte des Staates Virginia zum Muster der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers wurde und daß auch die Verfassung des Schweizer Bundesstaates dem amerikanischen Vorbild viel schuldet. Es mag eingewandt werden, daß diese Amerikaner ausgewanderte Europäer waren. Doch wird das nicht allgemein so gesehen. Ein wichtiges didaktisches Buch findet keinen Raum für die „Federalist Papers", für das Denken der amerikanischen Gründerväter, also für eine Entwicklung, die bei allen Unterschieden auch den Europäern ein Modell, ein Beispiel theoretischer und angewendeter politischer Kultur bleibt. Auf die europäisch-amerikanische Kulturverbindung wird noch zurückgekommen.

Den inneren Widerspruch Europas formuliert Herbert Lüthy folgendermaßen: „In diesem Europa, das ein Weltbewußtsein, eine Weltzivilisation und eine Weltgeschichte geschaffen hatte, blieben Nationalbewußtsein, National-kulturen und Nationalgeschichte das letzte absolute Maß des Denkens und Handelns, hoffnungslos unangemessen und im wahren Sinne des Wortes zurückgeblieben."

Da aber der Nationalismus ein so blutiger und schließlich Europa schwächender und verdummender Irrweg war, ein Mythos, den nationale Geschichtsschreibung miterzeugt hat — nicht weniger tendenziös als es später eine „stalinistische" Geschichtsschreibung war — wird von vielen davor gewarnt, nun aus Europa selber einen Mythos zu machen, der die nationalen Mythen zwar ersetze, aber wiederum ein „Holzweg" sein könne. Genügt nicht die Einsicht, die Vernunft der Interessengemeinschaft? Lüthy teilte diese naheliegende Auffassung nicht, weil er überzeugt war, daß eine Neuschöpfung, wie es ein geeintes Kerneuropa wäre, niemals aus der Wirtschaft entstehen könne; die spätere Entwicklung hat diese Auffassung bisher nicht dementiert: „Gibt es heute einen europäischen Mythos? Hoffen wir, es gebe ihn. Ganz ohne Vision der Zukunft kann nur der abstrakte homo oeconomicus in der Retorte der Wirtschaftstheorie leben. Man mache diesem noch zaghaften aber lebensfähigem „Mythos" den Garaus (...) und man wird sehen, welche Perversionen und Gespenster dann die Leere ausfüllen werden." Doch, so warnt der Historiker, zu diesem Europa gehöre mehr denn je ein wirklicher Dialog der Zivilisationen nach einem Jahrhundert „kaum von fremden Stimmen unterbro-• chenen westlichen Monolog". Zwar kreise die Welt längst nicht mehr um Europa, doch hänge die Antwort immer noch auch von Europa ab. Lüthy zitiert die berühmte Schrift des englischen Ökonomen John Maynard Keynes von 1919, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedens, in der zu lesen ist: „Europa ist in sich eins, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und Holland, Rußland und Rumänien und Polen leben im gleichen Pulsschlag, und ihre Zivilisation ist wesentlich eins. Sie blühten zusammen, sie wurden miteinander erschüttert im Krieg, und sie können miteinander stürzen." /Der europäischen Kultur in heutigen Perspektiven — Verhältnis der nationalen Einheiten zu den kleinen bürgernahen Zusammenhängen, von Stadtteilen bis zu Regionen, und zugleich nach oben hin zu den europäischen, auch atlantischen kulturellen Verbindungen — widmete sowohl der Europarat wie die Europäische Gemeinschaft — also das weite und das engere Europa — großangelegte Erklärungen wie jene des Europarats in 24 Punkten über Gemeinschaftsaktionen im Bereich der Kultur.

Diese Amtsprosa wirkt — das ist unvermeidlich — farblos gegenüber den Formulierungen einzelner Autoren, wie sie hier angeführt wurden. Ein Beispiel aus Punkt 17: „Der Sinn einer europäischen Politik der audiovisuellen Medien wird darin'liegen, einen ruinösen Wettbewerb der einzelnen Medien zu vermeiden und sie alle gemeinsam an der Verbreitung der europäischen Kultur zu beteiligen, wobei einem jeden Land der ihm intern und im Verhältnis zur Ausstrahlungskraft seiner Kultur zukommende Platz gesichert wird."

Wie sich die Proportion zwischen „Ausstrahlungskraft" und „Platz" errechnen läßt, ist nicht ganz klar; daß „Verbreitung von Kultur" hier als die Hauptsorge der Medien erscheint, mag manchen als übertriebener Optimismus erscheinen, andern wiederum als Schreck-bild.

Doch wie triftig und brillant solche kollektiven Entschlüsse und Vorsätze auch formuliert wären, so schätzenswert die Leistungen und Zielsetzungen dieser Institution in vielen praktischen Bereichen auch sind — auf dem Hintergrund der gar nicht fern zurückliegenden europäischen Katastrophen, wie sie in unseren Beispielen Löwith und Lüthy nahe-bringen, fallen sie flach.

Nach zwei Weltkriegen und im zweiten noch Millionen Opfern außerhalb des Kriegsgeschehens selber, angesichts der Lage mittel-und osteuropäischer Völker, deren eigener Wille in dem über sie verfügten Schicksal kaum zählt, ist die Verheißung von europäischer wie auch nationaler „kultureller Identität" fast so fragwürdig wie die feierlichen grundsätzlichen Resolutionen der UNESCO, etwa in der Konferenz von Mexiko, die die Wahrung nationaler Souveränitäten und Identitäten als einen Hauptzweck der kulturellen Aufgabe definieren, ganz als wären diese Souveränitäten gegeben und diese Identitäten dem Wandel entzogen.

IV.

Vorab einige Hinweise auf europäische Trends und Strömungen, teils mit Divergenzen innerhalb Europas, teils mit über Europa hinausreichenden Verbindungen. Aus der vielfältigen Thematik seien vier Exempel herausgegriffen: Europa — Amerika; Europa — Dritte Welt; Mitteleuropa; Friedensbewegung. Hier geht es darum, was in diesem Bereich nicht organisiert wird, sondern geschieht, mit Wirkungen, die gleichfalls nicht vorhergesehen und geplant wurden, eher unerwartet aber auch dann relevant sind, wenn sie, wie das oft der Fall ist, mit Mißdeutungen verbunden sind.

In einem „Bergedorfer Gespräch" das im Februar 1983 in Zürich stattfand, sagte der Schriftsteller Hans Mayer, der Literatur in Leipzig und in Hannover gelehrt hat: „Die französische, die italienische, die angelsächsische, die deutsche Literatur sind heute in ihrer Substanz so weit von einander entfernt wie eh und je. Die Schriftsteller sind in dem, was sie schreiben, einander nicht sehr nahe. Auch die Beziehungen der Sprachen zueinander sind nicht enger geworden. Und ich bezweifle, ob das mit vermehrten Übersetzungen besser werden würde. Es gibt eine andere Seite, die mit europäischer Solidarität etwas zu tun hat. Den Schriftstellern ist ihr kritisches Verhältnis zur Welt gemeinsam."

Auf dem Gebiet der Literatur — allerdings auch auf dem der Architektur und der Bildenden Künste ist festzustellen, daß die amerikanisch-europäische Verwobenheit unlösbar ist. Mochte General de Gaulle dieses Amerika „die Tochter Europas" nennen, mochte für europäische Föderalisten im Zeichen politischer Kultur das gleiche Amerika eher die „Mutter" sein und seinerzeit vor 150 Jahren für Tocqueville jener Bereich, aus dessen Be-trachtung sich auch für Europa eine „neue Sprache" des politischen Denkens entwickeln konnte — Ausgangspunkt ist in jedem Fall diese mit keiner anderen vergleichbaren Verbindung.

Die Europäer haben seit den dreißiger Jahren mehr als Leser amerikanischer Romane denn als Leser der Romane anderssprachiger europäischer Literaturen eine gemeinsame Erfahrung: Faulkner, Hemingway, O’Neill, Tennessee Williams, hier könnten zahlreiche Namen stehen. In Frankreich haben Andr Malraux und Jean-Paul Sartre früh auf John Dos Passos und William Faulkner hingewiesen, in Italien haben Pavese und Vittorini amerikanische Romane übersetzt. Eine Geschichte der Rezeption, des Einflusses kann hier nicht verkürzt geboten werden; es bleibe bei der Feststellung, daß es sich um eine tiefe Wirkung handelt. Nicht erst heute. Daß Amerika Goethes „derzeit hauptsächliches Interesse" sei, schrieb am 25. Mai 1819 der junge Amerikaner J. G. Cogswell aus Weimar einem Freund in New York.

Amerikabilder sind für Europa positiv wie negativ faszinierend in einem übergreifenden gesamteuropäischen Sinn, und man kann zugleich von der Begegnung mit einem wirklichen wie als mit einem imaginären Amerika (Vgl. Kafkas Roman Amerika) sprechen, wobei dieses imaginäre Amerika teils Raum für europäische Utopien war (etwa Etienne Cabet, Voyages en Icarie 1848), teils auf Information und neuerdings auf Vertrautheit mit dem amerikanischen Film beruht (und beim deutschen Filmregisseur Wim Wenders auf Teilnahme an ihm, was kein Einzelfall ist.)

Weil eine geistig-künstlerische und wissenschaftliche „Elite" in die USA emigrierte — teils schon vor 1933, doch vor allem nach Hitlers Machtergreifung — ist Amerika wie in Rückwirkung Europa verändert worden. Diese Verklammerung durch viele bedeutende einzelne — Kunsttheoretiker wie Panovski, Psychologen wie Köhler, Atomphysiker wie Szilard, Namen unter Hunderten — schuf eine amerikanisch-europäische Gemeinsamkeit von besonderer Art.

Der Gewinn Amerikas ist augenfälliger — von Fritz Lang bis zu Henry Kissinger — doch die Bedeutung der rückkehrenden Emigranten für die deutschen Hochschulen nach 1945 ist unverkennbar. Die Generation der französichen Historiker, Soziologen etc. zwischen 30 und 60 Jahren ist viel weltoffener, problembewußter als ihre Vorgänger, weil fast alle, die jetzt zählen, Jahre als Dozenten, Stipendiaten, Fellows in den Vereinigten Staaten verbracht haben und diese Verbindung aufrechterhalten. Der bis in die sechziger Jahre spürbare politisch-ideologische Antiamerikanismus ist — mit der Krise des „image" der Sowjetunion ebenso wie der französichen Kommunisten — weniger prägend gewesen als diese persönlichen Erfahrungen.

Allerdings kann auch hier die Gegenläufigkeit von Politik und Kultur festgestellt wrden. Als Frankreich im Politischen antiamerikanisch war — auch heute warnt die Regierung vor einem amerikanischen „Kulturimperialismus" (Jack Lang) — war es zugleich, zusammen mit Italien, das Land der stärksten Faszination und produktivsten Wirkung amerikanischer Literatur.

Der lange Aufenthalt amerikanischer Schriftsteller als expatriates'in Frankreich (HenryMiller, James Baldwin u. a.) wirkte im gleichen Sinn. Ob uns Amerika in besonderen Krisen (Ungleichheit, ethnisches Mosaik) im guten oder unguten Sinn „voraus" ist, spielt da keine Rolle, sofern die Empfindung eines solchen „Vorausseins" allgemein ist. Es sei mir gestattet den Schluß eines Aufsatzes leicht abgeändert zu zitieren. „Wer diese zugleich reale und mythische Durchdringung und Verwobenheit vergißt oder verdrängt, läßt so viel aus, daß sein Geschichtsbewußtsein dürftig ist. Er hat Angst vor allem, was er an „NichtEuropa" in sich selber finden könnte, als habe es je ein Europa der Introvertiertheit gegeben."

V.

Wie verhält es sich mit der Verbindung „Europa — Dritte Welt"? Da dieser vor allem in Frankreich als „Tiers Monde" geläufige Begriff gänzlich verschiedene Völker und Länder betrifft — Indien, Kamerun, Guyana ... — ist er zu weit gefaßt, um präzise Aussagen zu erlauben. Begnügen wir uns mit einzelnen Beispielen. Es gibt eine bedeutende nordafrikanische Literatur in französischer Sprache — auch der Libanon gehört dazu. Diese hat noch während des algerischen Krieges dank der Pariser Ver-läge und der Vermittlung „europäischer" Algerier wie Albert Camus eine weite Leserschaft erreicht und zum Selbstbewußtsein und Selbstverständnis der Nordafrikaner beigetragen

Für die schwarzafrikanische Literatur sind Französisch und Englisch unentbehrlich. Etliche Schriftsteller leben unter den Regimes nach der Unabhängigkeit im Exil — in andern afrikanischen Staaten oder im Westen. Die Zeitschrift, die kämpferisch afrikanische Eigenart gegen fremde Deutungen verteidigt, erscheint in Paris. Die Brüder Naipaul aus Trinidad gehören der englischen Literatur an wie der Inder Ved Mehta, der Pakistaner Rushdie. Auch die Auflehnung gegen die Kolonisatoren und ihre Kulturdominanz findet vor allem in unseren Sprachen statt; ebenso die Kritik an despotischen Regimes in unseren politischen Begriffen. Frantz Fanons Revolte gegen Europa gehört zur französischen Literatur — und das umfaßt weit mehr als nur die Benutzung einer Vektorensprache. Im deutschen Bereich ist die afrikanische literarische Präsenz trotz vieler Übersetzungen und Darstellungen (von Stackeiberg) geringer als bei den einstigen Imperialstaaten. Doch sind ohnehin Verallgemeinerungen über Europa als Kürzel zu verstehen. Man nehme die Beispiele als Hinweise, die jeder Interessierte leicht vermehren, eventuell auch korrigieren kann.

Unter europäischen Schlagworten und Tendenzen sei der neu belebte Begriff „Mitteleuropa" herausgegriffen. Das ist eine kulturelle und mehr als kulturelle Nostalgie — prägend das Buch des Triestiners Claudio Magris über den Habsburger Mythos in der Literatur —, und es ist die Andeutung eines sich dessen bedienenden politischen Programms.

Der in Paris lebende tschechische Romancier Milan Kundera sieht — so hat er es 1983 in der Zeitschrift „Le Debat" ausgedrückt — in Mitteleuropa den Raum der eigentlich schöpferischen europäischen Kultur, zu der Ruß-land nicht gehöre.

Nun hat die Sowjetunion den kleineren europäischen Staaten zugleich ihre Hegemonie und ihr System aufgezwungen, und das letztere mag der schwerer zu ertragende Teil dieser Abhängigkeit sein — „Finnlandisierung"

ist die große Sehnsucht. Daß hier Empörung stärker zum Ausdruck kommt als Nuancierung, ist verständlich. Doch wissen wir, daß Rußland um 1900 in der Liberalisierung große Fortschritte gemacht hatte; welcher Fortschritt wäre heute die Rückkehr zur damaligen Behandlung politischer Häftlinge! Wir können uns eine europäische Kultur ohne die russischen Schriftsteller des vergangenen und dieses Jahrhunderts nicht vorstellen. Wenn sich diese hohe und auch einer großen Schicht in Rußland bekannte Kultur nicht im politischen Leben ausdrückt, so haben Mittel-europäer entsprechende, gar nicht so weit zurückliegende Erfahrungen gemacht.

Kulturell hat „Mitteleuropa" in Frankreich geradezu Furore gemacht — das fing an mit dem unerwarteten Erfolg von Robert Musils Hauptwerk in den frühen fünfziger Jahren. Politisch berührt „Mitteleuropa" eher Deutsche und zwar im Sinn einer Abgrenzung nicht nach Osten (Kundera), sondern nach Westen.

Da hat „Mitteleuropa" mit Friedensverantwortung, Sicherheitspartnerschaft und ähnlichem zu tun. Es bedeutet ein erhofftes Überspringen oder doch Durchlässigermachen von Grenzen, die die große Teilung zwischen dem sowjetisch beherrschten und dem restlichen Europa gezogen hat und die die Tschechen und die Polen ebenso von ihrer langen Verbindung mit dem Westen abschneiden, wie sie Deutschland entzweischneiden. Im Kulturellen ist „Mitteleuropa" eine Gegebenheit, wobei die DDR durch Ausweisung von Schriftstellern — erlaubte oder erzwungene Abwanderung, Gunst oder Strafe, je nachdem — weit mehr um Trennung besorgt ist als etwa Polen — Exilschriftsteller wie Milosz, Kolakowski sind nie ausgebürgert worden — oder Ungarn.

Politisch und ideologisch ist aber „Mitteleuropa" die Chiffre für den Wunsch einer engeren Beziehung zwischen Völkern eines umreißbaren Raumes, zu dem Frankreich und Großbritannien nicht gehören; faktisch also eine Lockerung des Zusammenhangs mit Westeuropa. Dabei wird aber gerade die schmerzlichste Unterdrückung der Kultur, jene, die auf der Tschechoslowakei lastet und die Mehrheit ihrer besten Schriftsteller zum Schweigen, zur Publikation im Ausland, zum Exil verurteilt hat, selten hervorgehoben. In der weiteste Zustimmung findenden Theorie, wonach West-und Osteuropäer auch auf der politischen Ebene sehr viel gemein haben, wird die Tschechoslowakei fast nie besonders erwähnt und ist dabei doch von der Geographie her völlig Mitteleuropa. Wenn im europäisch-amerikanischen Ver-hältnis Politik und Kultur gegenläufig sein können — man darf schließlich John Updike mögen, nicht aber Ronald Reagan! —, so ist beim Thema „Mitteleuropa" eine gewisse Benutzung der kulturellen Verbundenheit für politische Zwecke festzustellen. So verschieden kann von Fall zu Fall die Wechselwirkung zwischen Kultur und Politik sein.

Soll noch die schon so viel und gründlich diskutierte Friedensbewegung in diesem Zusammenhang genannt werden? Es gibt Betrachter, namentlich in Frankreich, die darin eine Besonderheit des nördlichen protestantischen Europas sehen (Pierre Hässner) — was in Anbetracht des Unterschiedes in der Resonanz zwischen Rheinland und Bayern bestätigt werde.

Man kann aber auch feststellen, daß Völker mit starken Kommunistischen Parteien — Frankreich, Italien — zurückhaltender sind als andere, weil es hier einen Abstoßungseffekt gibt und eine Bewegung, die nur diese eine Partei ganz zu ihrer Sache macht, eben deswegen Mißtrauen bei anderen erweckt. Der Sekretär der französischen K. P., Georges Marchais, hat aus Moskau im französischen Fernsehen den Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan bejubelt. Allein dieser Umstand nimmt den Aufrufen seiner Partei zu Friedenskundgebungen, vorsichtig ausgedrückt, einiges an Überzeugungskraft. Freilich gilt die Trennung Protestanten — Katholiken nicht für die USA, überhaupt ist jede dieser vermuteten Trennungslinien diskutierbar. Festzuhalten ist aber, daß vor allem wegen des französischen Verhaltens die häufig zu hörende Rede von einer „gemeinsamen europäischen Bewegung" nicht zutrifft.

Ob die gegenwärtig sich anbahnenden Dialoge zwischen französischen und deutschen Intellektuellen mit ähnlicher Vergangenheit, aber divergierenden gegenwärtigen Positionen hier wieder einen gemeinsamen Nenner schaffen können? Es sei mir erlaubt, Skepsis anzumelden. Die mir bekannten deutschen Ansätze zum Gespräch gehen nicht davon aus, daß der Dialog beide zu neuen Perspektiven bringen kann, sondern davon, daß die Friedensbewegung die Dinge richtig sieht, und daß den Franzosen — Erinnerungen an München 1938, Wegentwicklung der Linken vom Kommunismus — psychologisches Verständnis für ihre sonderbare Verbohrtheit zu gewähren sei.

Auf französischer Seite ist das ein wenig anders, weil die Verschiedenheit zwischen politisch Analysierenden (Pierre Hässner, Jean-Francois Revel, Jacques Julliard usw.) und den mehr apodiktisch und polemisch schreibenden „Nouveaux philosophes" ins Gewicht fällt — eine Differenzierung die deutscherseits zu selten gemacht wird. In dieser summarischen Darstellung europäischer gemeinsamer oder divergierender Stimmungen gibt es keinen Grund, auf die Substanz dieser Debatte selber einzugehen. Es geht hier nur um jene kulturell-politische Geographie, die Europäer verschiedentlich verbindet — und trennt.

VI.

Fragen wir nunmehr: wie verhält sich der Bereich europäischer Kultur zu den andern Bereichen europäischer Zusammenarbeit und erwünschter wachsender Gemeinschaft?

Eine von der EG geförderte Zeitschrift — nicht die deutsche — berichtete systematisch Land für Land über die Kultur in dieser Gemeinschaft. Darin kam zwar Luxemburg als Teil dieser Kultur — zu Recht! — vor, nicht aber Österreich, Schweden, Polen. Deshalb sei, so banal das auch ist, auf einen Unterschied hingewiesen. Eine wirtschaftlich-politische Konstruktion muß, auch und gerade wenn sie ausdehnungsfähig ist, bestimmte Konturen und Grenzen haben. Eine Kultur muß und kann das nicht. Soweit Kultur mit Sprache zu tun hat, genügt es, an die Nation und Europa übergreifende Rolle des Englischen, Spanischen, Französischen, Deutschen zu erinnern. Gehört nicht das slawische Europa mit den Polen Geslaw, Milosz, Zbigniew’, Waida, dem Tschechen Kundera, um nur diese zu nennen, zu den stärksten gemeinsamen Kulturerfahrungen auch der Westeuropäer? Diese „Kultur ohne Grenzen" ist kein Argument — wird jedoch manchmal als solches verwendet — gegen ein Kern-und Kleineuropa zwischen Staaten, im Gegensatz zu andern, die selbständig über ihren Zusammenschluß bestimmen können. Wohl aber ist es ein Argument gegen die Vorstellung, es gebe eine definierbare „Westeuropäische Kultur". Da darf an ein übles Manifest französischer „InteB llektueller" von 1919 gedacht werden, in dem erklärt wurde, die Deutschen hätten keinen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet.

Zu unterscheiden bleibt zwischen literarisch-künstlerisch-philosophischer und politischer Kultur, wobei jener weite Bereich, den Anthropologen sowohl als Zivilisation wie als Kultur bezeichnen und auf den die Arbeiten von Norbert Elias weisen, noch ein Drittes wäre.

Wenn es um politische Kultur geht, ist zu unterscheiden was darin Tradition, Erfahrung, Handeln, was Wissen und Bildungsvorgang ist, und wie das notwendige Neue hier seinen Raum finden kann. Dies ist allerdings ein so weites Feld, daß es hier bei der stichwortartigen Andeutung bleiben muß.

Doch fragen wir auch: Was ist ein „gemeinsames europäisches Kulturbewußtsein" zwischen Francist, Hispanidad und Entsprechendem. Europa ist nicht Betrachtung seiner Gemeinsamkeit, sondern großenteils eine Sammlung der Restbestände von Imperien — sogar für die Niederlande und Belgien gilt das — innereuropäisch für das Habsburgerreich, dessen Untergang heute sogar Tschechen wie Milan Kundera als Verlust beklagen.

Im Bereich der Kultur ist der Versuch einer Definition — was ist europäisch, was ist es nicht mehr? — unergiebig. Hier dürfen die Abgrenzungen unscharf sein im Gegensatz zu dem Bereich, in welchem Kultur, insbeson-, dere Erziehung, Vergleich der Geschichtsbücher, einen restlichen, administrativen Unterbau braucht — also auch jene Bestrebungen europäischer Gremien, die der Vorbehalt gegen Formulierungen mancher Dokumente keineswegs herabmindern darf.

Solche Aufgaben wie der Unterricht von Fremdsprachen, wie die Mobilität der Dozenten, der Studenten, der „freien Berufe" mit akademischem Hintergrund — darin sind in der EG Fortschritte gemacht worden, die nicht zu unterschätzen sind — haben zentrale Bedeutung. Was liegt hier in der Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft? In den Römischen Verträgen kommt der Begriff . Kultur'nicht ausdrücklich vor. Im einstimmig angenommenen Paragraphen 75 des römischen Vertrages wurde allerdings die Geltung der Diplome und akademischen Titel in der Gemeinschaft gefordert sowie die Freiheit der Niederlassung für die akademischen Berufe. Widerstand gegen die Durchführung kam nicht zuletzt von akademischen Institutionen. Die Ausmarchung zwischen EG und Europarat ist nicht ganz problem-und konfliktlos, doch ist ein einander ergänzendes Wirken möglich. Aber der Europarat, dessen Gebiet von Island bis Anatolien reicht, kann nur Anregungen geben. Im Kolloquium „Die politische Zukunft Europas — Kulturpolitik in Europa" in Loccum hat der Luxemburger Raymond Weber, Präsident des Rats für kulturelle Zusammenarbeit des Europarats (CDCC), sich kritisch geäußert: „Heute muß man eingestehen, daß der CDCC im Begriff ist, ein „müder Laden" zu werden: es kommen keine neuen Ideen; Grundsatzdiskussionen finden nur sehr selten statt; die Projekte sind realitätsfremd und entsprechen nicht den Bedürfnissen der einzelnen Länder; zuviel Energie und Zeit wird auf reine Verwaltungs-und Budgetdiskussionen verwendet."

Gegen die Mobilität — man kennt die Klagen über die angeblich geringe Lust auf Fremderfahrung der deutschen Studenten und auch die begründeten Antworten auf diese Klagen — spricht nicht zuletzt die Dichte des sozialen Netzes in jedem Staat, die Sorge um Verlust von Chancen durch Entfernung, die Unklarheit über den Gültigkeitsbereich der Diplome. Es war eben leichter, ja, selbstverständlich, im Mittelalter einen Albertus Magnus zum Rektor der Sorbonne zu wählen oder für den Rotterdamer Erasmus, in Turin zu doktorieren und in Basel zu lehren. In dieser Hinsicht — es ist der Titel eines nostalgischen französischen Buches — liegt „Europa hinter uns". Die spezifisch europäischen Universitäten (Brügge, Florenz) sind beispielgebend, können aber nur wenige Studenten aufnehmen — und welche Karrieren ermöglichen ihre Diplome?

Immerhin ließe sich der nationale Protektionismus an einigen Stellen lockern. Der Altmeister der französischen Geschichtsforschung, Fernand Braudel, wundert sich, daß das College de France noch nie einen Ausländer berufen hat, während solches im Bereich der Kunst, der Oper, der Architektur stattfindet. Wir wissen es: wer erstrangige Gelehrte aus verschiedenen europäischen Ländern gemeinsam erleben will, wird es in Cambridge, Massachusetts oder in Berkeley finden. Da hier von den USA die Rede ist, mag erwähnt sein, daß in Studien über die Presse die in Paris erscheinende „New York Herald Tribune" schon die „einzige europäische Zeitung" genannt wurde. Gewiß: das Thema der „Europäisierung der europäischen Kultur" im breiten Sinn der Formung von Intellektuellen ist für die EG immer wichtig. Es muß immerhin Europäer geben, bevor es ein strukturiertes gemeinsames Europa gibt. Ohne entsprechende Sprachkenntnisse, ohne eigene Erfahrungen, ohne die Voraussetzung von Mobilität in Lehre, Studium, Beruf, können diese Erfahrungen zu selten erworben werden.

Ich empfinde deutlich die Diskrepanz zwischen der „schwarzen Chronik" einer europäischen Kultur, die weder Kriege noch Tyranneien, Mordregime verhindern, wirkungsvoll bekämpfen oder wenigstens mildern konnte, wie das hier anfangs dokumentiert wurde und den nüchternen Bestrebungen zugunsten eines gemeinsamen Unterbaus für Einrichtungen der Erziehung, Forschung, Kunst und für Freizügigkeit in diesen Bereichen starker nationaler Tradition und Empfindlichkeit.

Ist es eine kulturelle Errungenschaft, daß heute Europäer keine sogenannten Erbfeindschaften mehr austragen mögen, daß sie sich gern als „Region" im Windschatten der Groß-mächte halten, auch soweit sie deren mehr oder weniger freiwillige Verbündete sind und das, obgleich außereuropäische Machtverschiebungen, etwa im Persischen Golf, gerade die Europäer unmittelbar berühren und obgleich die Verstrickung ins Nichteuropäische nicht aufhört. Die Kultur hat gewiß damit zu tun, doch wesentlich auch die Veränderung der Größen-und Machtverhältnisse im weitesten Sinn.

Statt andere Kontinente zu besiedeln, zu verwalten, haben europäische Völker den Kolonialismus, wenn wir es so nennen wollen, gewollt — nichtgewollt verinnerlicht: durch Millionen Moslems, aus der Türkei, Nord-auch Schwarzafrika, die kaum in irgend eine Definition europäischer Identität passen, die aber doch zugegen sind. Von der Anwesenheit der Gastarbeiter ist insgesamt trotz großer Bemühungen kein bedeutender Dialog der Kulturen zu erwarten. Aus dem Islam wird vielfach auch in Europa ein starrerer „Islamismus" und jenen Europäern, denen die Kenntnis des Deutschen, Französischen oder Englischen, also jeweils zweier Fremdsprachen als allgemeine Grundlage zugetraut oder zugemutet wird, kann eine Vertrautheit mit der türkischen oder maghrebinischen Kulturwelt nur in einigen Einzelfällen als Ziel erscheinen. Der „Amerikanisierung" der Einwanderer aus allen Kontinenten in den USA entspricht keine derartige „Europäisierung". Europa, das vielsprachige, soll kein „Schmelztiegel" werden; aber mit der Behauptung dessen, was es nicht werden darf, ist noch kein Schritt auf dem Weg zu einem andern, übergreifenden europäischen Konzept getan.

VII.

Kultur oder Zivilisation — die Unterscheidung ist spezifisch deutsch — war in Europa Kitt, Sprengstoff oder indifferent, je nachdem. Der jüngst verstorbene Raymond Aron ging in seinem letzten Aufsatz über die atlantische Allianz darauf ein: „Im Lauf der Geschichte hat niemals die Zivilisationsgemeinschaft ein politisches Bündnis bewirkt. Große Kriege haben sich im Gegenteil sehr oft innerhalb einer gemeinsamen Kulturzone abgespielt. (...). Wenn 1949 das atlantische Bündnis geschlossen wurde, war die Kulturgemeinschaft, obgleich die Entscheidung auch mit der Verwandtschaft der politischen Institutionen zu tun hatte, nicht der entscheidende Grund.“ Das Europa jener Völker, die gegenwärtig über Selbstbestimmung und Freiheiten verfügen, besteht nicht mehr aus Imperien mit eigenem Großmacht-und Sendungsbewußtsein. Es kann sich nunmehr nur gemeinsam behaupten. Die politische Kultur ist eine entscheidende Voraussetzung — ihr Einfluß hat zum Zusammenbruch der Diktatur in Portugal, Spanien, Griechenland beigetragen. Die Vielsprachigkeit ist kulturell ein Reichtum, praktisch ein Problem. Mobilität, Freizügigkeit, Äquivalenz der Diplome ist notwendig, im möglichst vielen einen persönlichen europäischen Erfahrungshorizont zu vermitteln. Daß es in diesem Sinn viel mehr „gelernte Europäer" geben muß, als heute vorhanden sind, gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen der Festigung und Ausstrahlung einer europäischen Gemeinschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. Kraus, Nihilismus heute oder die Geduld der Weltgeschichte, Wien 1983; E. Severini, Vom Wesen des Nihilismus, Stuttgart 1983. Löwiths Schrift

  2. Oehmüller/Dölle/Piepmeier, Philosophische Arbeitsbücher, Diskurs Politik, Paderborn 1980.

  3. Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 73.

  4. Vgl. H. Kief-Niederwöhrmeier, Frank Lloyd Wright und Europa, Stuttgart 1983 und die Ausstellung de Kooning in Berlin, um ein Beispiel jüngster Zeit zu nennen.

  5. In: Jahresringe (1979/80), Einführung von F. B.

  6. Meine eigene Anthologie, Das Sandkorn, Zürich 1961, wäre inzwischen sehr ergänzungsbedürftig, doch leider entspricht im deutschen Bereich das literarische Interesse am afrikanischen Ausdruck nicht dem ideologischen.

  7. 9. — 11. November 1981 (Loccumer Protokolle 32/81).

  8. Politique Etrangre, (1983), 4.

Weitere Inhalte

Francois Bondy, Publizist, geb. 1915; Mitbegründer der europäischen föderalistischen Bewegung; Mitglied des deutschen PEN, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (korrespondierendes Mitglied); Kolumnist von Die Welt-woche, politischer Redakteur der Schweizer Monatshefte — Zürich. Veröffentlichungen u. a.: Literarische Monographien und Essaybände. Mitautor zeitgeschichtlicher Werke, darunter (mit Manfred Abelein): Frankreich— Deutschland, Geschichte einer schwierigen Beziehung, Düsseldorf 1973.