Mitterrands Wirtschaftspolitik — Was bleibt vom *) Sozialismus?
Henrik Uterwedde
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Zusammenfassung
Mitterrand und die Linksparteien übernahmen 1981 die Regierungsverantwortung mit dem Anspruch, einen „anderen" Weg aus der Krise zu realisieren. Ihr wirtschaftspolitisches Konzept umfaßte eine Reihe von sozialen und ökonomischen Strukturreformen, eine links-keynesianische Konjunktur-und eine voluntaristische Industriepolitik mit dem Ziel einer autonomeren nationalen Wirtschaftsentwicklung. Dieses Konzept ist vor dem Hintergrund tiefgreifender Struktur-und Wettbewerbsschwächen der französischen Wirtschaft zu sehen, die durch die konservativ-liberale Austeritätspolitik Giscards nicht überwunden werden konnten. In der Praxis stieß die sozialistische Wirtschaftspolitik schnell an die — vor allem außen-wirtschaftlich bedingten — Grenzen des staatlichen Voluntarismus: Das nachfrageorientierte Wachstums-und Beschäftigungsprogramm von 1981/82 verschärfte das Außenhandelsdefizit und wurde nach der dritten Franc-Abwertung im März 1983 zugunsten einer klassischen Brems-und Stabilisierungspolitik aufgegeben. Nach dem umfangreichen Nationalisierungsprogramm von 1981/82 verfügte die Regierung zwar über erweiterte Interventionsmöglichkeiten, aber die neuen, mit z. T. hohen Verlusten arbeitenden öffentlichen Industriegruppen erwiesen sich nicht als die erhoffte „Speerspitze" der neuen Industriepolitik. Einschneidende Sanierungsmaßnahmen in einer Reihe von Branchen mit Strukturanpassungsproblemen kennzeichnen ab 1984 eine Politik der Anpassung an die Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz. Mit diesen Modifizierungen hat die Regierung das ursprüngliche Konzept der Sozialisten zur Krisenüberwindung weitgehend verlassen.
Als im Mai 1981 Francois Mitterrand und die sozialistische Partei die Regierung übernahmen, war damit auch der Anspruch — und für viele die Hoffnung — auf grundlegende Strukturveränderungen sowie vor allem auf eine Alternative zur konservativ-liberalen Krisenpolitik der Nachbarländer verbunden.
Was ist heute, nach vier Jahren Regierungspraxis, vom „Sozialismus ä la francaise" geblieben?
Im folgenden soll die sozialistische Wirtschaftspolitik seit 1981 in ihren wichtigsten Voraussetzungen, Grundzügen und Etappen beschrieben und bilanziert werden. Dabei wird besonders auf die Veränderungen eingegangen werden, die diese Politik im Laufe der Zeit erfahren hat.
I. Die Ausgangslage
Die französische Wirtschaft in der Krise Seit 1974 hatte die weltweite Wirtschaftskrise in Frankreich ihre tiefen Spuren hinterlassen.
Ein kurzer Vergleich mit der Bundesrepublik verweist aber auch auf die besondere Schärfe der Anpassungsprobleme für die französische Wirtschaft: Die schon seit 1971 steigende Arbeitslosigkeit überschritt Ende 1981 die 2-Millionen-Grenze und erfaßte im Jahres-durchschnitt 1981 7, 8% der zivilen Erwerbs-bevölkerung gegenüber 4, 7 % in der Bundesrepublik. Die Preisentwicklung geriet nach 1974 außer Kontrolle; der Unterschied zwischen den jährlichen Inflationsraten in Deutschland und Frankreich stieg von knapp 1 % (vor 1973) auf 8 % (1980). Der ohnehin anfällige Außenhandel geriet durch die beiden „Olpreisschocks" 1974 und 1979 tief in die roten Zahlen; die französische Exportwirtschaft konnte nicht wie ihre deutsche Konkurrenz die sprunghaft verteuerten Ölimporte durch vermehrte Industrieausfuhren kompensieren 1).
Hinter diesen Problemen stehen spezifische Struktur-und Wettbewerbsschwächen der französischen Nachkriegswirtschaft, die durch die Krise in aller Deutlichkeit offengelegt worden sind
Frankreich, bis 1945 mit erheblichen ökonomischen Entwicklungsrückständen belastet, hat den Weg zur modernen kapitalistischen Industriegesellschaft erst in den Nachkriegs-jahrzehnten vollzogen. Die durchgreifende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft seit 1945, die nachgeholte, forcierte industrielle Entwicklung durch die gaullistische Industriepolitik in den sechziger Jahren haben trotz unbestreitbarer Erfolge eine Reihe von Problemen nicht beseitigen können oder erst geschaffen: — eine „strukturelle" Inflation, die überwiegend auf gesellschaftliche Ursachen zurückgeführt wird: ein vergleichsweise starkes Gewicht der (selbständigen) Mittelklassen, verbunden mit traditionellen Strukturen im Handel; wettbewerbsfeindliche Strukturen und Verhaltensweisen der Unternehmen; inflationsfördernde Mechanismen des Verteilungskampfes (Indexierungen, Gleitklauseln); Besonderheiten der Einkommensverteilung (Ungleichheiten zugunsten der aufgeblähten tertiären Funktionen und Sektoren);
— ungelöste soziale Folgeprobleme der raschen Industrialisierung und Urbanisierung des Landes, die vor allem die Lohnabhängigen benachteiligen und in denen die Grenzen der konservativen Modernisierungspolitik zum Ausdruck kommen: tiefgreifende Ungleichheiten in der Einkommens-und Vermögens-verteilung; hierarchische Strukturen in den Unternehmen; ein anhaltendes ausgeprägtes regionales Entwicklungsgefälle; Mängel in der sozialen Infrastruktur schlechthin;
— eine kontrastreiche, unausgewogene Industriestruktur: Zu den Stärken der französischen Industrie zählen — neben der Automobilindustrie und davon abhängigen Branchen — vor allem moderne technologische Spitzen-industrien, die weitgehend unter staatlicher Führung und Finanzierung entwickelt worden sind (Flugzeugbau, Raumfahrtindustrie, Rüstungsgüter, Nukleartechnologie, teilweise die Elektronikindustrie). In anderen struktur-und entwicklungsbestimmenden Schlüsselindustrien des Investitionsgüterbereichs (Maschinenbau, vor allem Werkzeugmaschinen) weist die französische Produktion erhebliche Lücken und damit empfindliche Importabhängigkeiten auf. In traditionellen, krisengefährdeten Branchen (Textil-und Bekleidungsindustrie; Lederverarbeitung; Stahl u. a.) haben sich die Unternehmen (häufig traditionelle Familienbetriebe) zu spät auf die veränderten weltweiten Konkurrenzbedingungen eingestellt und Modernisierungsinvestitionen unterlassen, was den Anpassungsdruck in den siebziger Jahren nur noch verschärft hat — eine prekäre Außenhandelsposition, die nicht allein mit der hohen Inflationsrate erklärt werden kann, sondern auch und vor allem ein Spiegelbild der industriellen Strukturschwächen darstellt und von daher eine Neigung zu „strukturellen Defiziten" aufweist.
Eine sektorielle und geographische Analyse der französischen Außenhandelsbilanz ergibt, daß der im Handel mit Industriegütern erwirtschaftete Überschuß (1981: 66 Mrd.
Francs) nicht ausreicht, um die Energie-und Rohstoffeinfuhren auszugleichen. Mehr noch: Dieser Überschuß wird ausschließlich im Handel mit Ostblock-, Olförder-und Entwicklungsländern erzielt (122 Mrd. Francs), während das Defizit mit nahezu allen Industrie-ländern (insgesamt 56 Mrd. Francs) auf die Probleme der Wettbewerbsfähigkeit verweist. Besonders das in den siebziger Jahren gewachsene Defizit gegenüber den führenden Industrieländern (USA Japan, Bundesrepublik) bestärkt diejenigen Analysen, die der französischen Wirtschaft nur eine mittlere Position in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung zuweisen (als „Stärkster unter den Schwachen" bzw. „Schwächster unter den Starken") 2. Das „Erbe“ Giscards Die Wirtschaftspolitik des Staatspräsidenten Giscard d'Estaing (1974— 1981) und seines Premierministers Raymond Barre trug — obwohl mit dem Image einer liberalen Austeritätspolitik behaftet — durchaus widersprüchliche Züge.
Zumindest in den ersten Jahren überwogen Elemente einer „sozialdemokratischen Krisenlösung" die die Krisenfolgen durch einen Ausbau des Systems der Sozialleistungen auffangen wollte, im Gegenzug die Steuer-und Abgabenquote von 36% (1974) bis auf 43% (1981) steigerte und dennoch ungelöste Finanzierungsprobleme des Sozialbudgets hinterließ. Auch in der Einkommenspolitik konnten die Gewerkschaften den Verteilungskampf relativ günstig für die Lohnabhängigen gestalten und Einkommenszuwächse erzielen, die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich ausfielen Die Unternehmen hingegen verzeichneten eine kontinuierliche Verschlechterung ihrer Gewinnsituation, was sich unter anderem in einer Stagnation der Investitionen niederschlug. Mit dem Amtsantritt des Premierministers Barre 1976, spätestens aber nach dem Wahlsieg der Regierungskoalition 1978, gewann ein anderer Kurs Oberhand, der die Krise im wesentlichen durch eine marktbestimmte Anpassung der französischen Wirtschaft überwinden wollte. Dazu gehörte zum einen ein „ordnungspolitischer" Anlauf Barres zur Liberalisierung der Wirtschaft und die Zurückdrängung staatlicher Reglementierungen und Interventionismen (Abbau der Preis-kontrollen; Wettbewerbspolitik; Subventionsabbau). Zweitens richtete sich die Konjunkturpolitik primär an der Rückkehr zu den binnen-und außenwirtschaftlichen Gleichgewichten aus und räumte der Preisstabilität, dem Haushaltsausgleich, dem Ausgleich der Handelsbilanz und der Stabilität des Franc-Kurses Priorität vor Wachstums-und beschäftigungspolitischen Zielen ein. Die Industrie-politik schließlich verfolgte die Strategie einer am Weltmarkt orientierten Strukturanpassung der französischen Industrie (redploiement industriel), die die Aufgabe nicht rentabler Unternehmen, ja ganzer Branchen und die dadurch ausgelöste Arbeitslosigkeit als schmerzhaften, aber unvermeidlichen Preis für die dauerhafte Sanierung der Industrie hinnahm 3. Das Konzept der Sozialisten Die Wirtschaftspolitik Giscards wurde von den Linksparteien einer scharfen, grundlegenden Kritik unterzogen. Im Mittelpunkt stand der Vorwurf, die Strategie der Einbindung in (und Anpassung an) den Weltmarkt vernachlässige den Binnenmarkt, opfere ganze Industriebranchen auf dem Altar der kapitalistischen internationalen Arbeitsteilung, betreibe damit eine Auszehrung der Industriestruktur und eine verstärkte Außenabhängigkeit der französischen Wirtschaft. Kern der wirtschaftspolitischen Konzeption der Linksparteien war dagegen das Leitbild einer autonomen, eigengesteuerten nationalen Wirtschaftsentwicklung. Ohne die Einbindung in den Weltmarkt, das Freihandelsprinzip und die Integration in die EG grundsätzlich infrage zu stellen, bedeutete dies doch eine deutliche Akzentverschiebung zugunsten binnenwirtschaftlicher Ziele und gesellschaftspolitischer Reformvorstellungen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit grundlegender Strukturreformen in Wirtschaft und Gesellschaft: umfangreiche Nationalisierungen im Industrie-und Bankensektor sollten ebenso wie die Demokratisierung und Aufwertung der indikativen Rahmenplanung (Planification) das Instrumentarium für eine wirksamere staatliche Wirtschaftssteuerung bereitstellen. Reformen im Bereich der Unternehmensverfassung, des Steuersystems und der sozialen Sicherung sowie im Bildungsund Ausbildungssystem sollten sowohl die materiellen Interessen als auch die Mitentscheidungsrechte der lohnabhängigen Schichten stärken, soziale Ungleichheiten und hierarchische Strukturen überwinden.
Das wirtschaftspolitische Programm der Sozialisten kann als linkskeynesianisches, binnenmarktorientiertes Konzept für Wachstum und Beschäftigung umschrieben werden. Unter dem Begriff des „sozialen Wachstums" stellte es eine Verknüpfung von wirtschaftlichen (Wachstum, Arbeitsplätze) und sozialen Zielsetzungen dar (Abbau sozialer Ungleichheiten, Priorität für geringe Einkommen). Es lief darauf hinaus, den Binnenmarkt durch einen Nachfrageschub anzukurbeln, der vor allem vermittels der Erhöhung der Niedrig-löhne sowie der Sozialeinkommen erreicht werden sollte.
Den Sozialisten war klar, daß ein derartiges nachfrageorientiertes Wachstum den Außenhandel in die roten Zahlen zu bringen drohte, wenn es nicht durch eine gezielte Industrie-politik zur Stärkung der französischen Produktionsstruktur ergänzt würde. Die Über-windung der oben skizzierten Strukturschwä-chen und Abhängigkeiten der Industrie, die Aufrechterhaltung einer breitgefächerten, diversifizierten Produktion nach deutschem bzw. japanischem Vorbild, vor allem aber die Rückgewinnung einer gewissen Autonomie der französischen Industrie im Bereich der Schlüsselsektoren: diese Zielvorstellungen sollten nicht länger dem „freien Spiel" des Weltmarkts bzw.der multinationalen Unternehmen überlassen werden, sondern waren für die Sozialisten Aufgabe einer gezielten staatlichen Industriepolitik.
II. Mitterrands Wirtschaftspolitik in der Praxis
Die Wirtschaftspolitik der sozialistischen Regierung hat sich im Verlauf von knapp vier Jahren teilweise einschneidend verändert. — Die erste Phase 1981/1982 stand programmgemäß im Zeichen der Strukturreformen, mit denen die Wirtschafts-und Sozialpolitik auf eine neue Grundlage gestellt wurde (vgl. 1.). Gleichzeitig wurde in der Konjunkturpolitik ein Wachstums-und Beschäftigungsprogramm nach dem Konzept des „sozialen Wachstums" eingeleitet (vgl. 2.). — Die zweite Phase setzte ansatzweise im Juni 1982 und endgültig im März 1983 ein, als zunehmende außenwirtschaftliche Schwierigkeiten (Handelsbilanzdefizit, Franc-Abwertungen) einen Kurswechsel in der Konjunkturpolitik erzwangen. Fortan dominierte ein Brems-und Sparkurs, dessen Ziel die Rückgewinnung der binnenwirtschaftlichen Stabilität und des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts war (vgl. 2.).
— Die dritte Phase begann Anfang 1984, als die Regierung einen Kurswechsel in der Industriepolitik vollzog und endgültig klarstellte, daß eine Reihe von Branchen um einschneidende Sanierungs-und Rationalisierungsmaßnahmen nicht herumkommen könnten (vgl. 3.). Diese mit dem Abbau zahlreicher Arbeitsplätze verbundene, wenngleich sozial „abgefederte“ neue Politik veranlaßte letztlich die kommunistische Partei im Juli 1984 zum Austritt aus der Regierung und zum Bruch mit dem einstigen sozialistischen Bündnis-und Koalitionspartner.
Der gegenwärtige Kurs, hervorragend repräsentiert durch Premierminister Laurent Fabius, einen smarten Technokraten, stellt insgesamt eine liberale Wende gegenüber den ursprünglichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Ansätzen der sozialistischen Regierung dar. 1. Die Strukturreformen Die von der Linksregierung eingeleiteten Strukturreformen haben die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in unterschiedlichem Ausmaß verändert. Die Reform der Sozialbeziehungen brachte den Beschäftigten in den Unternehmen und im öffentlichen Dienst neue Rechte, die aber die bestehenden Formen der Arbeitnehmervertretung im Betrieb nicht grundsätzlich veränderten, sondern nur weiterentwickelten.
Auch die gesetzliche Verpflichtung der Tarif-parteien zu jährlichen Verhandlungen über Gehälter und Arbeitszeiten auf Unternehmens-und auf Branchenebene hat bislang keine wirkliche Veränderung der traditionell schwierigen und lückenhaften industriellen Arbeitsbeziehungen nach sich gezogen
Die Reform der Planification (verstärkter sozialer Dialog, Regionalisierung, bessere Verankerung im Staatshaushalt) hat ebenfalls nur begrenzte Veränderungen bewirkt. Die Planification hat weiterhin den Charakter einer lockeren mittelfristigen Rahmenplanung und eines Instruments des sozialen Dialogs bzw.der Konsensbildung, ist aber weit davon entfernt, die einst von den Linksparteien geforderte zentrale Steuerungsfunktion für die Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik auszuüben
Zumindest mittelfristig verspricht dagegen die 1982 eingeleitete Dezentralisierung, tief-greifende Strukturveränderungen auch für die Wirtschaft nach sich zu ziehen. Durch das Aufbrechen der jahrhundertealten zentralistischen Verwaltungsstruktur und die schrittweise Übertragung neuer Kompetenzen und Ressourcen auf die Gebietskörperschaften sind Gemeinden, Departements und Regionen dabei, zu eigenständigen wirtschaftspolitischen Akteuren mit wachsender Bedeutung aufzusteigen. Allein die 1984 abgeschlossenen Verträge zwischen Staat und Regionen im Rahmen des 9. Planes sehen Programme zur regionalen Wirtschafts-und Technologie-förderung in Höhe von 64 Mrd. Francs (verteilt auf 5 Jahre) vor
Die unmittelbar stärksten Veränderungen aber hat zweifellos das umfangreiche Nationalisierungsprogramm bewirkt, mit dem 1981/82 Industriekonzerne, 39 Banken und 2 Finanzholdings in öffentlichen Besitz übergingen. Damit erhöhte sich das Gewicht des öffentlichen Sektors an der gesamten Volkswirtschaft
— bei den Beschäftigten von 13% auf 16% (1, 9 Mio.);
— bei den Exporten von 11 % auf 23 %;
— bei den Investitionen von 29 % auf 36 %. In einzelnen Sektoren ergeben sich noch stärkere staatliche Anteile: Die öffentlichen Banken repräsentieren nunmehr 90 % der Einlagen und 85 % der Kreditsumme an die Wirtschaft. In der Eisen-und Stahlindustrie beherrschen die Firmen Usinor und Sacilor 80 % des Marktes, in der Chemie entfällt knapp die Hälfte des Umsatzes auf die öffentlichen Unternehmen, vor allem Rhne-Poulenc und P 6chiney. Mit Thomson und CGE ist in der Elektro-und Elektronikindustrie ein mächtiger staatlicher Pol entstanden 12).
Mit dem so erweiterten nationalisierten Wirtschaftssektor hatte sich die Regierung neue Interventionsmöglichkeiten geschaffen, die sie für ihre industriepolitischen Ziele zu nutzen gedachte (vgl. 3.). 2. Konjunkturpolitik: Vom „sozialen Wachstum" zur „rigueur“ a) Das Wachstumsprogramm der ersten Phase Gleich nach ihrem Amtsantritt im Mai 1981 stellte die Regierung Mitterrand/Mauroy die Weichen in der Konjunkturpolitik neu. Entsprechend den neuen Prioritäten — Wachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit — wurde eine Politik eingeleitet, deren Elemente aus einer Ankurbelung der Binnennachfrage und spezifischen beschäftigungspolitischen Maßnahmen bestanden — Zu den nachfragewirksamen Maßnahmen zählte die Erhöhung des staatlich festgelegten branchenübergreifenden Mindestlohnes SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance), in Frankreich ein Instrument direkter lohnpolitischer Einwirkung durch die Regierung. Von Juni 1981 bis März 1983 wurden insgesamt neun Erhöhungen vorgenommen, die den betroffenen Beschäftigten reale Lohnsteigerungen von 4, 6% (1981) und 5, 2% (1982) brachten. 940 000 Personen vor allem in Niedriglohnbranchen profitierten 1981 direkt von den Erhöhungen, dazu kamen — allerdings schwer zu berechnende — Anstoßeffekte in den unmittelbar über dem SMIC liegenden Lohngruppen.
Einen noch stärkeren Nachfrageeffekt hatte die Erhöhung bzw. Verbesserung zahlreicher Sozialleistungen, wodurch die Sozialeinkommen (Renten, Familienbeihilfen usw.) um 5, 1 % (1981) und 6, 7 % (1982) gesteigert wurden.
Schließlich wurden mit Hilfe einer expansiven Haushaltspolitik nicht nur die Sozial-und Personalausgaben erhöht, sondern auch neue Schwerpunkte der Investitionsförderung gesetzt (öffentliche Infrastruktur, Wohnungsbau, Forschung und Entwicklung, industrielle Modernisierung). — Eine direkte beschäftigungspolitische Wirkung hatte die — allerdings kostspielige und später teilweise zurückgenommene — Ausweitung der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst: zwischen 1981 und 1983 wurden in den Pariser Zentralverwaltungen sowie in den Gebietskörperschaften insgesamt 240 000 zusätzliche Stellen geschaffen.
Gleichzeitig wurde durch ein Abkommen zwischen Staat und Tarifparteien im Juli 1981 ein Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung gemacht. Eine Regierungsverordnung setzte im Januar 1982 die wöchentliche Arbeitszeit von 40 auf 39 Stunden bei vollem Lohnausgleich herab, machte die fünfte bezahlte Urlaubswoche für alle Arbeitnehmer verbindlich und unterwarf Überstunden und Interimsarbeit gewissen Beschränkungen. Das Rentenalter wurde auf 60 Jahre herabgesetzt.
Der weitere Abbau der Wochenarbeitszeit — geplant war eine schrittweise Verringerung auf 35 Stunden — wurde den Verhandlungen der Tarifparteien überlassen, ist dann allerdings versandet. Unterschiedliche Berechnungen über die Wirkung der 39-Stunden-Woche gehen von 14— 28 000 bzw. 25— 40 000 neugeschaffenen Arbeitsplätzen im Industrie-und Dienstleistungssektor aus
Den wichtigsten Effekt für den Arbeitsmarkt hatten schließlich spezifische Maßnahmen der Beschäftigungspolitik: Hilfen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Beschäftigung von Jugendlichen, die Verbesserung der beruflichen Bildung und Eingliederung von arbeitslosen Schulabgängern, sowie die Herabsetzung des Rentenalters. „Solidaritätsverträge" zwischen dem Staat und Unternehmen bzw. Gebietskörperschaften schufen Anreize zum vorzeitigen Ausscheiden älterer Arbeitnehmer bei gleichzeitiger Neubesetzung der Stellen.
Die Regierung setzte mit ihrer Politik ein deutliches Zeichen zugunsten ärmerer und benachteiligter Bevölkerungsschichten, für die sie den politischen Wechsel konkret und positiv erfahrbar machte; ökonomische Analysen haben ihr zudem bescheinigt, daß der von ihr ausgelöste Nachfrageschub in der Größenordnung von ca. 25 Mrd. Francs recht gemäßigt ausgefallen ist
Allerdings hatte die Regierung leichtfertig und voreilig den Prognosen der OECD und anderer Institute vertraut, die für 1982 einen weltweiten Konjunkturaufschwung voraussahen. Nach dem Kalkül der Regierung sollte dieser Aufschwung im Verein mit einem — vom neuen nationalisierten Sektor getragenen — Investitionsschub die Wachstumsimpulse des Nachfrageprogramms von 1981 weiter tragen und ihnen eine Eigendynamik geben. Aber die internationale Konjunkturbelebung blieb aus; auch verweigerten sich die EG-Partner dem französischen Vorschlag einer konzertierten Wachstumspolitik. So bildete sich ein Konjunkturgefälle zwischen Frankreich und seinen Nachbarn heraus; die Steigerung der Binnennachfrage kam in erster Linie der Auslandskonkurrenz zugute, nicht aber den französischen Produzenten. Die Regierung hatte auch die Fähigkeit der eigenen Industrie überschätzt, ihr Angebot an die neue Nachfrage anzupassen.
Damit verflüchtigte sich die erhoffte neue Wachstumsdynamik zusehends, während sich umgekehrt die Handelsbilanz verschlechterte, die Defizite der öffentlichen Finanzen sich verschärften und die Inflation angeheizt wurde. b) Der Delors-Plan Es waren schließlich die außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten, die einen Kurswechsel der französischen Konjunkturpolitik herbeiführten
Als am 12. 6. 1982 der Franc im Rahmen des Europäischen Währungssystems abgewertet wurde, legte Wirtschaftsminister Jacques Delors ein binnenwirtschaftliches Begleitprogramm vor, in dem schon die veränderten Prioritäten und die Hinwendung zu einer restriktiveren Haushalts-und Konjunkturpolitik zum Ausdruck kamen. Preise, Löhne und sonstige Einkommen wurden bis zum 31. 10. 1982 eingefroren. Danach sollte ihre Entwicklung auf dem Verhandlungswege auf die angestrebte niedrigere Inflationsrate heruntergeschraubt werden, was nichts anderes als einen Ausstieg aus den traditionellen Gleitklauseln (Anpassung der Einkommen an die Preisentwicklung) bedeutete. Haushaltskürzungen um 30 Mrd. Francs, eine Mehrwertsteuer-Erhöhung um 1 % sowie ein Sanierungsplan in der Sozialversicherung (November 1982) mit Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen waren weitere Elemente der neuen Politik.
Die damit eingeleitete Rückkehr zur Preisstabilität erwies sich allerdings als unzureichend, zumal in den Nachbarländern die Inflation noch rigoroser zurückgeschraubt wurde. So öffnete sich die Schere der Preisentwicklung zwischen Frankreich und seinen Konkurrenten, der Außenhandel schloß 1982 mit einem Rekorddefizit von 93, 5 Mrd. Francs* ab, der Franc geriet erneut unter Abwertungsdruck. Die Wechselkursanpassung vom 21. 3. 1983 markierte die endgültige Wende der sozialistischen Konjunkturpolitik und ihre Anpassung an den restriktiven Sparkurs der Nachbarländer. Wirtschaftsminister Delors setzte ein Sparprogramm (Delors-Plan) durch, das der französischen Volkswirtschaft insgesamt 65 Mrd. Francs (ca. 2 % des Sozialprodukts) entziehen sollte. Seine Logik war klar: höhere Einnahmen und Ausgabenkürzungen sollten die Defizite der öffentlichen Haushalte eindämmen; die Dämpfung der Binnennachfrage sollte die Importe reduzieren und damit eine Rückkehr zum Außenhandelsgleichgewicht ermöglichen. Eine restriktivere Lohnpolitik sollte die Inflationsrate zusätzlich herunter-drücken. Die Maßnahmen des Delors-Planes trafen, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, vor allem die privaten Haushalte: eine nach drei Jahren rückzahlbare Zwangsanleihe in Höhe von 10 % der zuletzt gezahlten Einkommensteuer für mittlere bis höhere Einkommen, eine Sonderabgabe von 1 % auf das steuerpflichtige Einkommen zugunsten der Sozialversicherung und eine Erhöhung der öffentlichen Tarife.
Der Kurswechsel vom März 1983 war eine grundsätzliche Entscheidung, deren Bedeutung weit über die Konjunkturpolitik hinausging. Erstmals war auch einer breiten Öffentlichkeit klargeworden, daß unter den Bedingungen einer offenen, eng in die Weltwirtschaft eingebundenen Wirtschaft eine isolierte nationale Wachstumspolitik unweigerlich das außenwirtschaftliche Gleichgewicht gefährdete. In diesem Zielkonflikt entschied sich Delors — gegen heftigen innenpolitischen Widerstand der Kommunisten und innerhalb der sozialistischen Partei — für ein Festhalten am Freihandelsprinzip, an der EG-Einbindung und insbesondere für den Ver-bleib im EWS. Dies hieß aber gleichzeitig, die sich daraus ergebenden Anpassungszwänge und die Verengung der Handlungsspielräume für die französische Wirtschaftspolitik zu akzeptieren. Damit rückte die sozialistische Regierung vom wirtschaftspolitischen Voluntarismus der ersten Phase ab und vollzog eine Anpassung an den konservativ-liberalen Kurs der Nachbarländer.
Der von Delors eingeleitete Spar-und Bremskurs wurde auch von seinem Amtsnachfolger Pierre Brgovoy (ab Juli 1984) beibehalten. Ein neuer Akzent wurde mit dem Haushaltsplan für 1985 gesetzt. Mit einer Einkommen-und Gewerbesteuersenkung und der Abschaffung der 1983 eingeführten Sonderabgabe zugunsten der Sozialversicherung wurde eine als „historisch" verkündete Senkung der Steuer-und Abgabenlast eingeleitet. Dies war nur eines von mehreren Zeichen, mit denen der im Juli 1984 eingesetzte Premierminister Laurent Fabius eine Neubestimmung der Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft signalisierte und eine liberalere, die Unternehmens-funktion nunmehr in den Vordergrund stellende Politik ankündigte 3. Industriepolitik: Vom Voluntarismus zum „industriellen Liberalismus"
a) Die Sektorenprogramme Zu Recht hatte die Linke darauf hingewiesen, daß die Schwierigkeiten der französischen Wirtschaft nicht allein konjunktureller, sondern auch struktureller Natur seien, und die Notwendigkeit einer ehrgeizigen Industrie-politik betont. Die großen Orientierungen dieser Industriepolitik seit 1981 umfaßten: — eine neue Priorität für die industrielle Entwicklung und Modernisierung (was in Frankreich alles andere als selbstverständlich ist); — die Überwindung der Strukturschwächen der französischen Industrie, die sich aus ihrer sektoralen Unausgewogenheit ergeben;
— die Forcierung der unter Giscard vernachlässigten Forschungs-und Entwicklungsaufwendungen und eine Vorwärtsstrategie im Bereich der neuen technologischen Entwicklungen; — die „Rückeroberung des Binnenmarktes" und die Wiedergewinnung einer relativen Autonomie der französischen Wirtschaft.
0 Dem erweiterten nationalisierten Sektor war eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der neuen industriellen Strategie zugedacht.
Zunächst freilich mußte der Staat seine Rolle als neuer Aktionär spielen und „seinen" Unternehmen neues Eigenkapital zuführen. Dies erwies sich als durchaus kostspieliges Unterfangen: allein die neu-nationalisierten Industriegruppen erhielten 1982 6 Mrd., 1983 12, 4 Mrd. und 1984 und 1985 je 15 Mrd. Francs staatlicher Zuwendungen, die allerdings nicht ausreichten, um die hohen Defizite und die wachsende Verschuldung der öffentlichen Industriegruppen einzudämmen Hervorzuheben aber ist, daß der Staat seit 1982 mehr für die Eigenkapitalausstattung dieser Unternehmen getan hat als die früheren privaten Eigner, und daß eine Reihe von Konzernen schon vor 1981 in finanziellen Schwierigkeiten steckten. Dies gilt besonders für die Stahl-unternehmen, aber auch für Rhöne-Poulenc, Bull, Thomson und andere. Insofern „hätte auch eine liberale Regierung in analoger Weise intervenieren müssen, um die großen Konzerne vor dem Konkurs zu bewahren" Die Regierung nahm weiterhin eine Reihe von Umstrukturierungen vor, mit denen die industriellen Aktivitäten der nationalisierten Unternehmen neu geordnet und voneinander abgegrenzt wurden. So erfolgte in der Stahlindustrie eine Konzentration um die beiden Pole Sacilor und Usinor. Der Mischkonzern Pöchiney-Ugine Kuhlmann gab seine defizitäre Chemie-und Stahlproduktion ab und konzentrierte sich auf den Aluminiumsektor. In der Elektroindustrie wurden mehrere staatliche „Unternehmenspole“ geschaffen: z. B. Bull für die Büroelektronik, Thomson und Matra-Harris für elektronische Bauelemente; ein Abkommen zwischen CGE (Telekommunikation) und Thomson (Unterhaltungselektronik u. a.) grenzte die Produktionsbereiche beider Gruppen neu voneinander ab. i Sektorale Schwerpunkte der sozialistischen Industriepolitik wurden die technologischen Spitzenindustrien. Die großen Technologie-Projekte der Giscard-Ära (Luft-und Raumfahrt, Kommunikationstechnik, Nuklearindustrie) wurden fortgeführt und erweitert. Die unter Giscard erheblich rückläufigen staatlichen Haushaltsmittel für Forschung und Technologie wurden in großem Umfang aufgestockt und Aktionsprogramme zur Entwicklung der Bioindustrien und zur Einführung neuer Technologien in der verarbeitenden Industrie beschlossen. Vor allem aber legte die Regierung im Juli 1982 ein umfassendes Fünf-Jahres-Programm vor, das erstmals alle zum Elektronik-Bereich gehörenden Branchen einschließt (Aktionsprogramm „filire ölectronique"). Es handelt sich dabei um eine Vorwärtsstrategie, die — gestützt auf die starken Positionen in einigen Branchen wie der Raumfahrt, der Telekommunikation und der professionellen Elektronik — die bestehenden Lücken in anderen Feldern (Bauelemente, Informatik, Unterhaltungselektronik) schließen will, um die französische Präsenz und Wettbewerbsfähigkeit in allen Gliedern dieser „Elektronik-Kette" zu sichern
Angesichts akuter Krisen in traditionellen Branchen den Konsumgüterindustrie (Textil-und Bekleidungsindustrie, Lederverarbeitung, Möbel und Spielzeuge, u. a.), der Kohle-und der Stahlindustrie sah sich die Regierung aber auch zu sektoralen Krisenplänen veranlaßt, die durchweg den Charakter defensiver Erhaltungsstrategien (allerdings teilweise ergänzt durch mittelfristige Modernisierungspläne) trugen. b) Die Sanierungspläne Ein Kurswechsel in der Industriepolitik deutete sich schon im Jahre 1983 an. Die aufgrund des neuen Sparkurses verengten Haushaltsspielräume zwangen die Regierung, deutlichere Prioritäten zu setzen. Im Oktober kündigte Industrieminister Fabius schon an, daß die knappen Ressourcen eine Konzentration auf die „zukunftssichernde" Beherrschung der neuen technologischen Verfahren und Produkte erforderten, und daß ein Kapazitätsund Beschäftigungsabbau in anderen Industriezweigen nicht verhindert werden könne. Konkretisiert wurde der neue Kurs mit dem am 8. 2. 1984 verabschiedeten „Aktionsplan für Beschäftigung und industriellen Wandel“, von dem drei „klassische“ Krisenbranchen (Werften, Stahl, Kohle) sowie zwei „moderne" Branchen mit Wettbewerbs-bzw. Sättigungsproblemen (Automobilindustrie, Telefonbau) betroffen waren Kern des Planes ist die Modernisierung und jahrelange verschleppte Strukturanpassung der betreffenden Branchen im Sinne einer „Gesundschrumpfungs" -Therapie. Was dies im einzelnen bedeutet, wurde erstmals in aller Klarheit am Sanierungsplan für die Stahlindustrie vom 29. 3. 1984 deutlich: Um den seit Jahren ununterbrochenen, kostspieligen Subventionsfluß (60 Mrd. Francs seit 1966) zu stoppen und die Stahlunternehmen finanziell zu sanieren, wurde unter anderem ein beschleunigter Kapazitäts-und Stellenabbau verfügt, dem 25 000 Arbeitsplätze innerhalb von 4 Jahren zum Opfer fallen sollen. Umfangreiche sozial-und legionalpolitische Begleitmaßnahmen haben die Aufgabe, die erwarteten Arbeitsplatzverluste abzufedern. In 14 von den Umstrukturierungen besonders betroffenen lokalen Beschäftigungsmärkten (pöles de conversion) wurden besondere Investitionsanreize und Erleichterungen geschaffen, mit denen Unternehmensneugründungen oder -ansiedlungen in diesen Gebieten gefördert werden. Den von der Arbeitslosigkeit betroffenen Beschäftigten wurden teils klassische Sozial-maßnahmen wie der Vorruhestand mit 55 Jahren, teils aber auch neuartige Fortbildungsmöglichkeiten geboten (zweijähriger bezahlter „Umschulungsurlaub" in der Stahl-und Schiffbauindustrie).
Kennzeichen der neuen industriepolitischen Linie ist eine Abkehr vom staatlichen Voluntarismus und ein stärkeres Gewicht horizontaler Maßnahmen, die vor allem auf verbesserte Rahmenbedingungen für die Unternehmen abzielen und deren Rolle aufwerten. Das bedeutet aber auch eine Rückkehr zu jener besonderen „französischen Spielart des industriellen Liberalismus: Der Staat verfolgt eine Politik der Rahmenbedingungen, finanziert die Restrukturierungen der Privatindustrie, verwaltet den industriellen Verzicht und die Beschäftigungsprobleme."
III. Bilanz
Eine Bilanz nach vier Jahren sozialistischer Wirtschaftspolitik in Frankreich muß diese als ökonomisch widersprüchlich und politisch eindeutig negativ beurteilen.
Nimmt man die ökonomischen Kennziffern so können sich die Ergebnisse der Regierung Mitterrands durchaus sehen lassen, vor allem wenn man sie mit den Maßstäben ihrer konservativen Gegner und Vorgänger mißt.
Die Preissteigerungsrate von 6, 7% (Ende 1984) stellt das niedrigste Niveau seit 12 Jahren dar. Dieser Erfolg wird auch nicht dadurch geschmälert, daß er in einer Periode internationaler Deflation erzielt wurde: Der Abstand der Inflationsraten zum wichtigsten Handelspartner Bundesrepublik konnte ebenfalls von 8% (1980) auf 4, 7% (1984) reduziert werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß ein Teil der Preise, vor allem im Handel und in der Konsumgüterindustrie, trotz schrittweiser Liberalisierung weiterhin staatlichen Reglementierungen und Beschränkungsabkommen unterworfen ist.
Die Situation des Außenhandels hat sich deutlich gebessert. Das Defizit von 93, 5 Mrd. Francs (1982) ist 1984 auf 25 Mrd. reduziert worden; für 1985 wird die Rückkehr zum Gleichgewicht erwartet. Der Delors-Plan hat mithin seine Früchte getragen. Aber die Verbesserung ist überwiegend konjunktureller Natur und verbirgt, daß die französische Exportwirtschaft weniger als ihre Konkurrenten vom weltweiten Handelsaufschwung profitierte, also ihre internationale Wettbewerbs-position nicht verbessern konnte
Hier zeigen sich die Grenzen einer Politik, die das Außenhandelsdefizit allein durch konjunkturpolitische Mittel bekämpft hat.
Kehrseite der erfolgreichen Rückkehr zum Gleichgewicht ist eine „historische" Trendwende in der Einkommensentwicklung und -Verteilung seit 1982. Erstmals seit Beginn der Krise wurde der Anstieg der Löhne, Gehälter und Sozialeinkommen deutlich gebremst. 1984 fielen die Lohnerhöhungen erstmals seit 20 Jahren geringer als die Inflationsrate aus. Auch die Haushaltseinkommen verzeichneten nach den starken Zuwächsen von 1981/82 in den darauffolgenden Jahren erstmals einen wenn auch geringen Rückgang. Dennoch bleibt den Haushalten insgesamt ein Kaufkraftzuwachs von real 5, 6% gegenüber 1980.
In der Einkommensverteilung hat der neue Kurs der Regierung zugunsten der Unternehmenserträge bereits volle Wirkung gezeigt. Die seit 1972/73 geöffnete Schere zwischen rückläufiger Gewinn-und steigender Lohn-quote hat sich 1982/83 erstmals umgekehrt und schließt sich seither deutlich zugunsten der Unternehmensgewinne Besonders schwerwiegend aber ist das Scheitern im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Nachdem die Politik der ersten Phase eine vorübergehende Stabilisierung der Arbeitslosenzahl bewirkt hatte — von Mitte 1982 bis Oktober 1983 blieb sie auf dem allerdings hohen Niveau von 2 Millionen — stieg die Zahl der Erwerbslosen infolge des wirtschaftspolitischen Kurswechsels wieder an und hatte Ende 1984 2, 4 Millionen erreicht. Ein besonders schwerwiegendes strukturelles Problem, das mit dem französischen Bildungs-und Ausbildungssystem zusammenhängt, ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit: Im Oktober 1984 war jeder vierte Jugendliche unter 25 Jahren erwerbslos
Politisch ist die Linke mit ihrem Anspruch, einen grundsätzlich anderen Weg zur Über-windung der Krise aufzeigen zu können, gescheitert. Sie ist dabei nicht nur Opfer ihres eigenen programmatischen Maximalismus geworden, sondern auch ihrer leichtfertigen Unterschätzung der außenwirtschaftlichen Zwänge, die sich aus den besonderen Struktur-und Wettbewerbsschwächen der französischen Wirtschaft ergeben Mit ihrer doppelten Kurskorrektur in der Konjunktur-und Industriepolitik hat die Regierung gleichzeitig einen Großteil ihrer ursprünglichen wirtschaftspolitischen Konzeption über Bord geworfen. Die Austeritätspolitik seit 1983, die einschneidenden industriellen Umstrukturierungen seit 1984 stellen — selbst mit ihren umfangreichen sozialen Begleitmaßnahmen — de facto eine Annäherung an die Politik Giscard/Barres dar.
Regierung und sozialistische Partei haben versucht, das hier entstandene konzeptionelle Loch zu stopfen und mit dem Begriff der „Modernisierung" der gegenwärtigen Politik eine mittelfristige Perspektive zu geben: Die eingeleiteten Strukturreformen, die neue Priorität für Forschung, Entwicklung und neue Technologien, aber auch die schmerzhaften Strukturanpassungen in den Krisenbranchen werden hier zu einer Gesamtstrategie gebündelt, deren Ziel die Überwindung überkommener Strukturschwächen und die Bewältigung der neuen technologischen Herausforderungen ist Ob dieser Diskurs ausreicht, um der grauen Regierungspraxis und dem „Sozialismus ä la francaise" zu jener neuen Attraktivität zu verhelfen, die beide dringend nötig haben, darf — ein Jahr vor den Parlamentswahlen — bezweifelt werden.
Henrik Uterwedde, Dipl. -Pol., geb. 1948; Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Paris; seit 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg. Veröffentlichungen u. a.: zus. mit Dieter Menyesch, Frankreich. Wirtschaft — Gesellschaft — Politik, Opladen 1983.
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