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Strategische Stabilität als Folge von Entspannungs-und kooperativer Sicherheitspolitik | APuZ 44/1985 | bpb.de

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APuZ 44/1985 Ist die Sowjetunion an Rüstungskontrolle interessiert? Strategische Rüstungskontrolle und Verteidigungspolitik unter Reagan. Eine Zwischenbilanz Strategische Stabilität als Folge von Entspannungs-und kooperativer Sicherheitspolitik SDI oder EUREKA? Die Position Frankreichs

Strategische Stabilität als Folge von Entspannungs-und kooperativer Sicherheitspolitik

Franz H. U. Borkenhagen

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine ausschließliche Politik des Gleichgewichtsstrebens, zumal mit deutlicher militärischer Prägung, muß wegen der herrschenden internationalen politischen Konstellationen als obsolet erkannt werden. Doch nicht nur der Status des Veraltetseins ist festzustellen; bloße Gleichgewichtspolitik birgt auch erhebliche Gefahren, die in einem diffizilen West-Ost-Verhältnis und bei einem aktuellen Gefälle zwischen Nord und Süd Krisen nach sich ziehen und/oder militärische Konflikte zur Folge haben können. Als ein Programm, das aus dem gegenwärtigen und beiderseits hochgerüsteten Dilemma herausführen kann, wird eine Politik hin zur Strategischen Stabilität entworfen. Sie wird abgeleitet und geprägt von einer Sicherheitspolitik, die sich als Instrument der Entspannung versteht. Fünf Dimensionen dieser Sicherheitspolitik (Politik, Wirtschaft, Militär, Gesellschaft und psychologische Lage) bestimmen gleichzeitig die Felder einer Strategischen Stabilität. Ziel ist es, eine Stabilität auf diesen Ebenen zwischen West und Ost — speziell in Europa und mit deutlichem deutschen Beitrag — zu erlangen, die sich nicht in dem permanenten Vergleich ständig anwachsender und qualitativ verbesserter Militärpotentiale erschöpft Sicherheit ist nicht nur ein Ergebnis militärischer Stabilität; sie kann heute und zukünftig nur noch mittels umfänglicher Akzeptanz der Sicherheit des Gegenüber gewährleistet werden und darf deshalb nicht als Nullsummen-Spiel verstanden werden, das eigene Sicherheit dann erreicht sieht wenn die Sicherheit des anderen instabil wird. Strategische Stabilität und Sicherheitspartnerschaft bedingen sich somit einander.

„Könnten wir völlig auf unsere Individualität verzichten und die Geschichte der kommenden Zeit etwa mit ebenso viel Ruhe und Unruhe betrachten, wie wir das Schauspiel der Natur, z. B. eines Seesturms vom festen Lande aus, mit ansehen, so würden wir vielleicht eines der größten Kapitel aus der Geschichte des Geistes bewußt miterleben.“

I. Unzulänglichkeiten und Vereinfachungen

Stabilität könnte auf den ersten Blick im allgemeinen politischen Raum als Begriff an sich dem wirtschaftlichen und währungsspezifischen Bereich zugeordnet werden. Stabilitäts-Anleihe oder Stabilitäts-Gesetz mögen als bekannte Synonyme genügen. Ergänzt man dagegen Stabilität durch das Adjektiv strategisch, wandelt sich der Charakter des Wort-gebildes unvermittelt in einen vermehrt gebrauchten sicherheitspolitischen Terminus. Der Grund dafür ist sicherlich in der nach wie vor fast automatischen Assoziation — strategisch zu militärisch zu Sicherheit — anzunehmen. Auch ist zu beobachten, daß Strategische Stabilität und militärisches Gleichgewicht nicht selten als übereinstimmende Bezeichnungen eines zahlenmäßigen militärischen Kräfteverhältnisses herhalten müssen, welche die Parität an Waffenpotentialen aller Art anmahnen oder beweisen wollen — je nach sicherheitspolitischem Standort oder Verständnis.

Parallel und fortführend werden in Anlehnung an die genannten Vorstellungen zunehmend Forderungen nach einer — eher nebulös formulierten und nicht näher definierten — Strategischen Stabilität in politische Absichtserklärungen aufgenommen. Eine durchaus notwendige klassifizierende Einordnung in eine überzuordnende Sicherheitspolitik und eine begriffliche Abgrenzung zu den möglicherweise gleichermaßen gültigen Dimensionen einer Sicherheitspolitik gelingen meist nicht oder werden nur verschwommen angesprochen und abgeleitet.

Es ist jedoch unsinnig und falsch zugleich, für einen sicherheitspolitischen Sachverhalt oder einen Aspekt eines wahrlich komplexen Gefüges von Verbindungen, Faktoren, Daten und Waffenmengen wechselweise zwei Begriffspaare zu nutzen. Gleichgewicht einerseits und Stabilität andererseits sind weder semantisch identisch noch sollten und dürfen sie in der Anwendung in der Sicherheitspolitik den gleichen Rang einnehmen, weder in der Beschreibung eines Sachverhaltes noch in der politischen Zielverfolgung.

Diese irrtümliche Gleichsetzung hat aber vielerlei Ursachen: Sie finden sich in einer bekanntermaßen eiligen Dynamik der Sicherheitspolitik und in der mit ihr einhergehenden inflationären Begriffsentwicklung und -Wandlung. Zudem gesellen sich eine Vielzahl von Lösungsansätzen und Programmen für globale wie regionale Probleme der verzwickten und facettenreichen sicherheitspolitischen Verhältnisse. Diese lassen sich nicht mehr nur auf ein ausschließliches und konfrontatives West-Ost-Verhältnis beschränken. Längst sind Ansätze und Verbindungen für eine Kooperation hinzugekommen. Des weiteren hat sich die weltweite Konstellation in ein pentagonales Verhältnis gewandelt, in dem nicht wenige und nicht zu Unrecht die wahren Komplikationen im Nord-Süd-Gefälle entdecken.

Einer solcherart gestalteten Vielfachverbindung ist nicht mit einer simplifizierten Politik des Gleichgewichts beizukommen. Sie verlangt vielmehr eine umfassende und weitestgehend alle sicherheitspolitischen Dimensionen einbeziehende Stabilitätspolitik.

Eine bedeutende und wesentliche Erweiterung erfährt dieser Beurteilungsansatz durch das nüchterne und notwendige Einbeziehen der Sicherheitsinteressen „auch des potentiellen Gegners" das „das Nullsummenspiel — Gewinne des einen sind identisch mit Verlusten des anderen — aufgeben" muß.

In dieser angedeuteten Verbindung von Sicherheitspolitik und (Strategischer) Stabilität läßt sich der Ansatz für eine Klärung des letztgenannten Politikbegriffes finden. Dazu soll in den folgenden Schritten die Skizze ei-ner Sicherheitspolitik dienen; hinzugefügt werden die aus der Politik der Sicherheit ableitbaren Instrumente, eine Abgrenzung zur Politik des Gleichgewichtes und eine Forderung nach Aktivierung und Durchsetzung einer strategischen Stabilitätspolitik. In diesem Zusammenhang darf eine Warnung vor mißverstandener Stabilität nicht fehlen.

II. Vorgaben durch eine umfassende Sicherheitspolitik

Will man politischer Stabilität oder der Strategischen Stabilität an sich näher kommen und sie zugleich in ihrem instrumenteilen Wirkungsbereich kennzeichnen, so gewinnt die Ausformulierung einer glaubwürdigen Sicherheitspolitik an besonderem Gewicht. Dies soll heißen: Das Vorhandensein zweier gegnerischer Machtblöcke mit unterschiedlichem Verständnis von politischen Werten und Normen, von Ideologien, von Wirtschaftsstrukturen sowie von Gesellschaftsmaximen und Individual-und Freiheitsbegriffen erfordert zwischen den Vormächten der jeweiligen Allianzen wie auch den Blöcken selbst weltweit und insbesondere in Europa eine Politik, die nicht mehr nach dem alten Muster einer „balance of power" regulierbar ist. Zählt man zwei weitere und wesentliche Merkmale dieses zwischenstaatlichen Gefüges hinzu, nämlich einerseits die vornehmlich und ursprünglich militärische Ausrichtung und Dominanz der Verträge — hier NATO, da Warschauer Pakt — und andererseits die Stimmungen in den einzelnen Vertragsländern, erhält man zugleich die Dimensionen und Wirkungsfelder einer breit anzulegenden Sicherheitspolitik.

Denn soll Sicherheitspolitik nicht einseitig als nur militärisches Aktions-und Reaktionsprogramm mißverstanden werden und somit unzeitgemäß, ineffizient und schließlich untauglich sein, bedarf sie, entsprechend den zuvor skizzierten Aktionsfeldern, einer mehrschichtigen Politik der Sicherheit. Demnach sollte die westliche Sicherheitspolitik sich zumindest aus fünf Dimensionen zusammensetzen. Es sind dies die — politische (außen-wie innenpolitische) Dimension, — wirtschaftliche Dimension, — militärische Dimension, — gesellschaftliche Dimension und — psychologische Dimension einer nationalen oder Bündnispolitik.

Es wäre der Sicherheitspolitik in keiner Weise zuträglich, würde der eine oder andere Aspekt die übrigen dominieren und allein oder im Verbund mit einem anderen die übrigen in der Denk-und Handlungsweise der verantwortlichen Politik überwiegen. Dies wäre zum Beispiel im hohen Maße schadhaft, wenn militärische Gesichtspunkte, entstanden aus militärstrategischen und -operativen Überlegungen und Lagebeurteilungen, das politische und wirtschaftliche Handlungskonzept einseitig bestimmen würden. Die Geschichte ist voll von Beispielen derartiger Mißverhältnisse. Andererseits wäre es absurd, zum Beispiel nur nach ökonomisch ausgerichteten Abläufen mit gewinnträchtigen Bilanzen Sicherheitspolitik bestimmen zu lassen. Derartige Konstellationen ließen sich fortsetzen bis hin zur Aufgabe jedweder eigenständigen Selbstbehauptung, um Konfrontationen um jeden Preis zu vermeiden.

Nicht zuletzt kann und muß die Gleichrangigkeit der angeführten Dimensionen auch Eingang finden in die gemeinsame Sicherheitspolitik des Bündnisses, dem der Staat angehört, von dem dieses beschriebene Verständnis von Sicherheitspolitik verlangt wird.

Es bleibt ferner fehlerhaft und erfolglos, wenn zwar das einzelne Mitglied ein offenes sicherheitspolitisches System verfolgt oder durchsetzen will, diese Absicht aber bereits ihre Grenzen in der Umsetzung im eigenen Lager findet. An dieser Stelle scheint der geeignete Zeitpunkt, die eher allgemein und theoretisch gehaltene Forderung umzusetzen auf die herrschenden realen Bedingungen. Denn Sicherheitspolitik und Strategische Stabilität sollen in dieser Ausarbeitung im wesentlichen an den konkreten Verhältnissen gemessen und in Forderungen ausgeweitet werden. An einem weiteren Anspruch an heutige Sicherheitspolitik des Westens und insbesondere in Europa wird die Notwendigkeit des Bezugs zur Realität schließlich deutlich. Wie eingangs zitiert, sind die Sicherheitsinteressen des Gegenüber für die Ziele und Maßnahmen der eigenen Sicherheitspolitik von her-21 vorragender Wichtigkeit Dies gilt in nicht zu verkennender Weise speziell unter den derzeit und wahrscheinlich noch in mittlerer Zukunft wirkenden Verbindungen zwischen West und Ost. Die Sicherheit des westlichen Lagers ist schlichtweg ohne die Sicherheit des östlichen und die Akzeptanz derselben durch den Westen mehr denkbar nicht — und umgekehrt!

Die politischen und wirtschaftlichen gegenseitigen Abhängigkeiten, die militärischen Potentiale mit ihren zur Apokalypse nutzbaren Fähigkeiten und Optionen wie die beiderseits als besonders schützenswert empfundenen Bevölkerungen und Gesellschaftsstrukturen lassen bei nüchterner Betrachtung und im Sinne einer Überlebensnotwendigkeit gar keine andere Politik als die der gegenseitigen Respektierung zu.

Allgemeine politische Konfrontation ist demnach nur begrenzt möglich und gestattet. Soll sie nicht ausufern in militärische Konflikte und deren weltweite Eskalation, heißt die Lösungsformel nur Kooperation und Fähigkeit zur Entspannung.

In den herrschenden Konstellationen zwischen West und Ost und innerhalb der jeweiligen Allianzen läßt sich von einem einzelnen Staat die Durchsetzung einer derartigen Sicherheitspolitik nicht denken. Weder ist eine Anerkennung im eigenen Lager erreichbar, wenn sie nicht gemeinsam als richtig erkannt wird, noch würde sie zur notwendigerweise zu erhaltenden Stabilität beitragen. Noch viel weniger würde sie auf Gegenliebe stoßen, wenn beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland sie im Alleingang versuchen würde. Sie kann nur im Einklang mit den Bündnispartnern gelingen. Das bedarf der Abstimmung, aber auch des selbstbewußten Einbringens und Durchsetzens nationaler Sicherheitsinteressen. Im Zusammenhang mit den Bündnismaßstäben einer Sicherheitspolitik — -gesehen er weitert durch den Sachverhalt, daß Sicherheit nur im Verhältnis, in Korrespondenz mit der Sicherheit des Gegenüber verstanden und erhalten werden kann —, ist eine Politik der Sicherheitspartnerschaft nur die schlüssige und verantwortungsgerechte Formel für ein friedlicheres und sichereres Zusammenleben zwischen West und Ost — ohne einseitige Aufgabe eigener Interessen und Absichten. Das Ziel einer solcherart definierten Sicherheitspolitik heißt dann zwangsläufig: Strategische Stabilität. Sie bedarf im folgenden der näheren Erläuterung. Hinzuzufügen sind des weiteren die Instrumente, welche diese Strategische Stabilität erreichen und ihren Bestand garantieren lassen.

In dem bisher geschilderten Aktions-und Reaktions-Fünfeck und mit den gewachsenen Implikationen zwischen den Bündnissen wie innerhalb der NATO wirkt Sicherheitspolitik glaubhaft und glaubwürdig gegenüber den eigenen Mitgliedstaaten und kann auch akzeptiert werden vom Gegenüber. Unklar ist dagegen — weil unterschiedlich verstanden —, wie umfangreich Strategische Stabilität angelegt sein muß und wie weit militärische Orientierungspunkte hinsichtlich eines Gleichgewichts und der strategischen wie operativen Fähigkeiten und Optionen dominant sind oder sein müssen.

III. Mehrdimensionalität der Strategischen Stabilität

In Verfolg dieser Sicherheitspolitik ist zum einen anzunehmen, daß Strategische Stabilität kaum nur auf einer Ebene politischer Aktivität darstellbar ist und zum anderen auch nicht nur geschlossen in einer Bilanz mehrerer, den fünf Dimensionen der Sicherheitspolitik entsprechend, zu verstehen ist. Vielmehr scheint es politisch plausibel, wenn Strategische Stabilität sich als Summe von Stabilitäten eben dieser separat zu beurteilenden Aktions-und Reaktionsfelder unterschiedlicher Gewichtung versteht und parallel dazu auch als ausbalanciertes Verhältnis dieser Ebenen untereinander im Kontrast zu dem Gegenüber, auf den die Sicherheitspolitik gerichtet ist.

Umgemünzt auf die aktuell herrschende Situation im Westen und dessen Politik gegenüber dem Osten heißt das: Strategische Stabilität zwischen West und Ost besteht dann, wenn es der Sicherheitspolitik des Westens insgesamt gelingt oder gelungen ist, politisch, wirtschaftlich, militärisch, gesellschaftlich und psychologisch ein austariertes Verhältnis im Nebeneinander herzustellen, das weder der einen noch der anderen Seite ein dominierendes und permanentes Übergewicht gestattet. Desgleichen herrscht Strategische Stabilität, wenn es ebenfalls vermieden wird, diese Balance im Bereich einer der genannten Dimensionen auf Dauer einseitig zu kippen. Sonst besteht die unmittelbare Gefahr, daß diese Nicht-Balance auf die eine oder andere Ebene übergreift oder so stark genutzt wird, daß sie von der anderen Seite nicht in einem ausreichenden Maß ausgeglichen werden kann oder aber durch Überkompensation — wo auch immer — zu beheben versucht wird, was wiederum Instabilität insgesamt mit sich brächte.

Am sinnfälligsten läßt sich die Gefahr einer solchen Ebene am Beispiel der militärischen Stabilität kurz erläutern: Militärische Destabilität kann — im krassen Maße vorhanden — auswuchern, die übrigen Stabilitätsebenen beeinflussen und wirtschaftliche wie gesellschaftliche oder politische und psychologische Ungleichgewichte schaffen, die dazu führen können, daß es zu einer breitangelegten Deformierung dieses kunstvollen Gebildes kommt und letztlich einmündet in Konfrontation mit militärischen Mitteln.

Der Ursprung einer derartigen strategischen Nicht-Stabilität kann ihren Ansatz in einseitig gesuchter Vorteilnahme des einen oder des anderen Bündnisses, einer der jeweiligen Vor-Mächte oder eines Staates oder mehrerer Staaten haben. Ungeachtet der verschiedenen Gefährdungen und ihrer vielfältigen Ursachen muß aber auch zugegeben werden, daß Disparitäten auf den einzelnen Stabilitätsebenen zulässig sind, ja, realistischerweise geradezu lebensnotwendig sind, um eine Strategische Stabilität überhaupt funktionsfähig zu erhalten.

Durch die vorgegebenen unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen, Wirtschaftskräfte, militärischen Potentiale, Fähigkeiten und den sich daraus ableitenden Optionen, ferner das Politik-Verständnis und die psychologische Situation ergeben sich „naturbedingt" von vornherein differenzierende Verhältnisse. Sie unterliegen zusätzlichen kurz-, mittel-und langfristigen Einflüssen und Programmen, auch Ereignissen oder radikalen Einschnitten und unvorhersehbaren Wandlungen. All diese Faktoren können temporäre und/oder partielle Ungleichgewichte, Stabilitätsverschiebungen nach sich ziehen. Und doch müssen sie nicht zwangsläufig zu einer umfassenden Destabilität führen. Nicht einmal innerhalb der möglicherweise betroffenen Dimension muß es zwangsläufig zu einem gefährdenden Stabilitätsverlust kommen. Wiederum, am Beispiel militärischer Stabilität nachgewiesen, heißt das: Ein zahlenmäßiges Übergewicht der WP-Streitkräfte in Europa bedeutet weder eine militärische Destabilität insgesamt, da Optionen und Fähigkeiten zwischen NATO und Warschauer Pakt sich die Waage halten und die Waffenarsenale weltweit Parität aufweisen. Auch ein langsames und kontrolliertes wie kontrollierbares Sich-Neigen der militärischen Waagschale bedeutet noch nicht zwangsläufig und unmittelbar Gefahr.

Solange die anderen vier Aktionsfelder die Möglichkeit zum Ausgleich in sich bergen, kann kompensiert werden. Erst ein plötzliches Ansteigen des militärischen Gewichts brächte Gefahr.

Dieses Bild wieder verlassend, kann man resümieren, daß Strategische Stabilität ein Ergebnis einer Sicherheitspolitik mit fünf vorrangigen Ebenen ist, die wiederum mehrere Tätigkeitsbereiche aufweisen. Vergleichbar mit einem Spiel und in ungewollter Anlehnung an einen geschichtlichen Begriff aus der Zeit des Zweiten Deutschen Reiches heißt das: Sicherheitspolitik ist das nüchterne und kalkulierte wie kalkulierbare Ausbalancieren von fünf Bällen, die in sich wiederum Kugeln mit verschiedenen Gewichten und somit die Fähigkeit zur Gewichtsverlagerung tragen.

Folgt man diesem Versuch einer Definition, bleibt zu untersuchen, inwieweit die Strategische Stabilität von welchen der Aktionsfelder stärker und von welchen minder abhängig ist. Denn unzweifelhaft scheint zu sein, daß politische Kraft und Potenz vornehmlich abhängig sind von wirtschaftlichen und militärischen Potentialen. Dafür spricht einerseits, daß sie in gewisser Weise meßbar sind: Wirtschaftliche Kraft läßt sich entsprechend internationaler Vorgaben bilanzieren; militärische Potentiale können in ihrer Quantität und einigermaßen in ihrem technischen Standard verglichen werden. Gesellschaftliche Strukturen und psychologische Stimmungen hingegen können zwar beurteilt werden, sie unterliegen aber Schwankungen und Einflüssen, die in ihrer Aussagekraft nicht definitiv meßbar sind.

Darüber hinaus werden Kritiker sofort einwenden wollen: Die bestfunktionierende Gesellschaftsstruktur unterliegt fremder militärischer Macht, so sie denn der eigenen überlegen ist, die zum Schutz eben dieser Gesellschaft zur Verfügung steht. Und doch findet man genügend Beispiele in der Geschichte, die belegen, daß überlegene militärische und wirtschaftliche Potentiale einen weit unterlegenen Gegner nicht bezwingen konnten, da das jeweilige gesellschaftliche System und seine psychologische Kraft schließlich in einem langwierigen Prozeß sich durchsetzen konnten Dennoch bleibt die Tatsache, daß unparitätische Verhältnisse, also eine nichtvorhandene Strategische Stabilität, zu einer Konfrontation geführt, besser gesagt: verführt haben. Und Ziel einer glaubwürdigen Sicherheitspolitik ist es doch, Strategische Stabilität zu erreichen, zu halten und zu gewähren, um eben eine Konfrontation und einen Krieg zu vermeiden. An der herrschenden internationalen Konstellation zwischen West und Ost deutlich gemacht, heißt das: Entspannung bleibt das unverzichtbare Ziel zum Ausgleich und zum Miteinander-leben-können zwischen zwei unterschiedlichen politischen Systemen. Entspannung kann aber nur gelingen, wenn sie von einer Sicherheitspolitik getragen wird, die auf den fünf bekannten Ebenen Stabilität anstrebt. Strategische Stabilität schließlich gelingt nur im Gleichklang dieser Bestimmungsfaktoren, verlangt einen permanenten dynamischen gegenseitigen Austausch der Gewichte und zwingt dazu, daß in Friedenszeiten und zur Vermeidung von Krisen oder Destabilitäten meß-und kontrollierbare Einflußgrößen wie politisches, militärisches und wirtschaftliches Gewicht als maßgebend zur Feststellung der Stabilitätssituation herangezogen werden.

Helmut Schmidt ist es in treffender Weise gelungen — lange bevor Sicherheitspolitik so deutlich im öffentlichen, aber auch im politischen Mittelpunkt des Interesses stand —, dieses Verhältnis von Sicherheitspolitik und strategischer Stabilität darzulegen. Auch wenn er seinen Ansatz mit „Strategie des Gleichgewichts“ überschreibt, versteht er Strategie als einen „Komplex von teils gleichzeitigen, teils einander folgenden politischen Entscheidungen, die insgesamt das gesetzte politische Ziel mittels eines zusammenhängenden Planes verfolgen;... sie bezieht gewiß alle Möglichkeiten ein, die daraus erwachsen, daß Staaten militärische Machtmittel anwenden können; aber sie bezieht ebenso deren ökonomische, soziale und psychologische Möglichkeiten ein“ Übertragen in eine eher formelhafte Sprache, die dessenungeachtet aber gleichzeitig den Weg weist zu den Anforderungen und Fähigkeitsfeldern zur Erreichung und Festigung der Strategischen Stabilität, bietet das „Lexikon zur Sicherheitspolitik''von Ernst Lutz unter anderem eine Definition an. Danach ist Strategische Stabilität: „ein von der technologischen Entwicklung, aber auch außenpolitischen, wirtschaftlichen, demographischen und anderen Faktoren beeinflußter dynamischer internationaler Zustand politisch-militärischer Sicherheit"

Lutz konzentriert sich des weiteren dann auf den militärischen Aspekt und erhält dadurch einen engeren Aktionsspielraum für die Strategische Stabilität, als er bisher in diesen Ausführungen zugestanden wird.

Dieser nach dem hier zu erklären versuchten Verständnis von Strategischer Stabilität als Verkürzung oder Verengung zu betrachtende Ansatz steht erstens nicht allein und wird zweitens verständlicher, wenn im folgenden die gewählten und bewußten Begrenzungen von Strategischer Stabilität im bisherigen Gebrauch vorgestellt werden.

IV. Strategische Stabilität in der sicherheitspolitischen Praxis

In einem in mehreren Folgen veröffentlichten„Sicherheitspolitischen Glossar" definieren drei Autoren Strategische Stabilität als ein Resultat, das „dann gegeben (ist), wenn die strategischen defensiven Optionen der einen Seite die strategischen offensiven Optionen der anderen Seite ausgleichen oder doch zumindest die Risiken des potentiellen Aggres-sors so hoch ansetzen, daß die Abschreckung wirksam bleibt“

Abgesehen von dem Versuch um eine allgemeine Beschreibung wird deutlich, daß hier Strategische Stabilität als ausschließlich einseitiges Bemühen um Parität von Waffenpotentialen und den daraus resultierenden Optionen in militär-strategischer Absicht verstanden wird und als im Sinne einer Politik oder Strategie — ob das eine oder andere gemeint ist, wird nicht deutlich — der Abschreckung einzuordnen ist Zudem kann hier Strategische Stabilität nur aus der Warte der NATO erkannt werden, ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen des Gegenüber. Diese Definition läuft einem umfassenden Verständnis von Strategischer Stabilität zuwider und bedeutet im Grunde nichts anderes als die Gleichstellung von Stabilität mit Gleichgewichtsstreben, hier beschränkt auf die Ebene der nuklear-strategischen Waffen. Ein Gleichgewicht der Potentiale wie der Fähigkeiten und Optionen muß aber in der herrschenden Vielgestaltigkeit der in West und Ost verfügbaren Mittel, der deklarierten Doktrin wie entwickelten Militärstrategien fast als anachronistisch angesehen werden. Derartiges Denken hat seinen Ursprung in der in den sechziger Jahren entstandenen und über die SALT-Prozesse hinaus entwickelten Verhältnisse von strategischen Waffenpotentialen nuklearen Charakters, der damit einhergehenden politisch-militärischen Doktrin sowie den nuklear-strategischen Optionen und Fähigkeitsentwicklungen, aber auch in den unverändert aktuellen Diskussionen um operative Konzepte des Westens und des Ostens und ihrer — vornehmlich auf europäische Bedingungen bezogenen — Einsatzgrundsätze

Derartige Ansätze greifen aber zu kurz, da sie nicht nur die umfassend angelegten Ziele der bisher definierten Strategischen Stabilität erreichen, sondern auch ungeeignet sind, den Anforderungen einer effizienten Sicherheitspolitik zu entsprechen, die detailliertere wie komplexere Wirkungsbereiche einzubeziehen haben. Sie beschränken sich — unbewußt oder weil sie die militärische Komponente als vorrangig gültig oder allein maßgebend betrachten — auf ein ausschließliches Gleichgewichtsdenken und -streben.

Verfolgt man aber diesen militärischen Maßstab von Strategischer Stabilität weiter, so gelangt man zwangsläufig in eine militärisch dominierte Sicherheitspolitik, die Stabilität nur in der Parität von Potentialen, Waffenarten sowie in Fähigkeiten und Optionen der daraus zu entwickelnden Defensiv-Anstrengung erkennen mag und will. Nicht nur, daß dieses — wie die Erfahrung zeigt — keine Garantie für Stabilität ergibt, birgt es des weiteren auch die Gefahr der militärischen Dominanz in einem sicherheitspolitischen Prozeß, der den Blick auf militärische Bestimmungsfaktoren verengt und die übrigen Wirkungsmöglichkeiten verkennt, unterschlägt und somit zwangsläufig zu Fehlbeurteilungen und schließlich zum internen Ringen um Vorherrschaft und der externen Sucht nach Destabilitäten mit eigenen Vorteilen verführt Dieses ist nicht nur als Gefahr auf der einen Bündnisseite, sondern gleichermaßen auch auf der anderen Seite erkennbar. Vermeintliche Unterlegenheiten auf politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Sektor scheinen beiderseits immer am leichtesten durch Aufrüstung im militärischen Bereich kompensierbar. Gleichgewichtsdenken, weil — wie angemerkt — meßbar, muß herhalten zum Ausgleich von vermeintlichen Unterlegenheiten. Auch aus diesem Grund wirkt Schmidts ehemals richtig angesetzte Formel der „Strategie des Gleichgewichts" heute sprachlich obsolet. Die Gesamtentwicklung der das Ost-West-Verhältnis bestimmenden Politikfelder erfordert neue Prozesse, die in zeitgemäßen Formeln zu fassen sind. Dabei kann „Strategische Stabilität" nicht einfach ein neues Kleid für eine alte Militärpolitik sein, sondern beansprucht ebenso einen treffenden Kern. Deshalb ist es wirkungsvoll, einem anderen Ansatz zu folgen, der sich im Zusammenhang mit dem Konzept der Kooperativen Rüstungssteuerung (KRSt) finden läßt und eine breitere Palette der sicherheitspolitischen Wirkungsmöglichkeiten anbietet. Inwieweit er ausreicht und der heutigen wie der zukünftigen sicherheitspolitischen Praxis genügen kann, muß einer Klärung im nächsten Abschnitt vorbehalten sein. Zunächst jedoch läßt sichder praktische Bezug der Strategischen Stabilität zur geltenden Sicherheitspolitik in einem Programmentwurf von Wolf Graf von Baudissin weiterentwickeln. In mehreren Beiträgen, beginnend 1977, und des weiteren zusammen mit seinem Co-Autor Dieter S. Lutz, 1980/81, werden die Grundmuster einer breiter als zuvor beschrieben angelegten Strategischen Stabilität aufgezeichnet.

Baudissin, der Sicherheitspolitik als die Strategie der Entspannungspolitik begreift, erkennt als ihr Ziel, „strategische Stabilität zu erzeugen, zu erhalten, zu optimieren und zu institutionalisieren"

Zusätzlich werden die vornehmlich militär-strategischen Bedingungen einer Strategischen Stabilität erläutert, welche „steht und fällt mit der Erkenntnis, daß das militärische Kräfteverhältnis jeden Versuch einer einseitigen Konfliktregelung mit militärischen Mitteln verbietet — ob diese nun direkt oder indirekt eingesetzt werden ... Eigene Sicherheit ist nicht mehr auf Kosten der Sicherheit anderer zu erhöhen."

Demnach hat Strategische Stabilität derzeit eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen, besser gesagt: Sicherheitspolitik heute muß eine Palette von Aktionsfeldern gleichzeitig bearbeiten, um Strategische Stabilität zu gewährleisten. Das sind:

— eine Politik und Militärstrategie der Kriegsverhütung/-Verhinderung, — eine phasengesteuerte politische Anstrengung zur Kriegsverminderung, — eine Suche nach Ausschlußmechanismen von allgemeinen Kriegen und — eine institutionalisierte Politik der Verminderung, Reduzierung und Eindämmung von begrenzten Kriegen und Kriegen durch Zufall.

Wesentliches Ziel ist eine friedliche Regelung von Konflikten. Dazu muß die Politik der Strategischen Stabilität mit Instrumenten ausgestattet werden, die als fester Baustein in nationale und internationale Regulierungsebenen aufgenommen werden müssen und nicht nur „im Falle eines Falles" Platz greifen.

Diese Maßnahmen zur Krisenbewältigung sollten umfassen: — eine Präventive Kooperative Rüstungssteuerung (PKRSt) die Rüstungsmaßnahmen bereits in der Planungsphase kontrolliert und steuert und so einseitige Aktionen mit dynamisierendem Charakter verhindern hilft;

— eine allgemeine Kooperative Rüstungssteuerung (KRSt), die Vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) und wirkungsvolle Verifikationsmechanismen einschließt;

— ein nationales und internationales und anerkanntes Procedere eines Krisenmanagements, das rechtzeitig und wirkungsvoll greift und den Konfliktausbruch verhindern hilft. Zusammengefaßt ergibt dieser Katalog, daß Strategische Stabilität nicht Parität im militärischen Kräftevergleich voraussetzt. Das Prinzip der Hinlänglichkeit (sufficiency) ist das militärische Grundmuster der Strategischen Stabilität. Mögliche Folgen können beiderseitige Verminderungen von Rüstungsausgaben sein. Das bedeutet einen wichtigen Schritt hin zur Verringerung von politischer Unsicherheit in der europäischen Ordnung — mit Modellcharakter für andere Regionen und mit möglicher globaler Auswirkung. Maßgebend ist die ständige Berücksichtigung der die Strategische Stabilität bestimmenden Interdependenz zur Außen-und Innenpolitik, den wirtschaftlichen Prozessen, der militärischen Komponente und den gesellschaftlichen Entwicklungen wie den darin herrschenden psychologischen Grundströmungen.

Diese zuletzt genannten Mitfaktoren neben der militärischen Komponente der Strategischen Stabilität sind derzeit nicht ausgeprägt genug als Handlungsinstrumente zur Erreichung der Strategischen Stabilität in der politischen Praxis wie auch in der Wahrnehmung derselben. Doch läßt sich speziell an den drei vorrangig genannten Maßnahmen zur Krisen-bewältigung die Verknüpfung der Dimensionen der Sicherheitspolitik zum Erhalt der Strategischen Stabilität festmachen.

Auf allen drei Ebenen, ferner der vorbeugenden wie der allgemeinen Kooperativen Rüstungssteuerung und anhand eines Krisenmanagements werden die Implikationen und Einflüsse der Aspekte neben der militäri-sehen Komponente deutlich. Rüstungssteuerung ist letztlich ein tatsächlicher politischer Prozeß, der den militärischen Anteil überdekken muß. Vertrauensbildende Maßnahmen und Kontrolle lassen sich nur in gegenseitiger politischer Akzeptanz durchsetzen. Dazu bedarf es einer gesellschaftlichen und psychologischen Bereitschaft und eines Rückhalts. Die wirtschaftliche Seite wird immer dann sichtbar, wenn die Rüstungsumfänge, -entwicklungen und -vorhaben, wie auch umgekehrt deren Begrenzung, ins politische Spiel kommen.

Strategische Stabilität weist also zwangsläufig das Zusammenspiel der fünf Dominanten auf, auch wenn — wie es bisher den Anschein hatte — der militärische Komplex ein Über-gewicht hatte. Dieser Eindruck insofern ist nicht falsch, als die Gefährlichkeit, destabil zu werden, vorrangig im militärischen Verhältnis zwischen West und Ost zu finden ist, in dem Streben nach verbesserten Mitteln, Optionen und Fähigkeiten. Nur muß ebenfalls zuerkannt werden, daß die wirtschaftlichen und politischen Aspekte von der verantwortlichen Politik nicht immer in ausreichendem Maß als Ausgleichs-und Harmoniserungsmittel in der Praxis erkannt, geschweige denn genutzt wurden.

In welcher Form dieses zum gegenseitigen Nutzen möglich wäre und als entwicklungsfähig angesehen werden kann, zeigt der KSZE-Prozeß mit dem Anschlußteil KVAE. Die in den bisherigen Verhandlungen und im derzeitigen Ablauf erkennbaren Verquickungen und Lösungsmodelle zum gegenseitigen Nutzen und Gebrauch auf wirtschaftlichem, gesellschaftspolitischem und militärischem Gebiet geben Anlaß zu einem positiven Verständnis von Strategischer Stabilität. Auch wenn die KSZE-Vereinbarungen von Helsinki 1975 keinen völkerrechtlich bindenden Charakter haben, sind die politischen Nutzbarmachungen und Wirkungsmöglichkeiten nicht übersehbar. Doch dürfen sie insgesamt nur als erste Ansätze bewertet werden, die beileibe nicht ausreichen, das komplexe Terrain der Strategischen Stabilität zu „managen".

Um wieviel unübersichtlicher, wirkungsbreiter und gefährlicher aber wird das sicherheitspolitische Tätigkeitsfeld, wenn an die übrigen unbewältigten Aufgaben wie START-, INF-und Weltraumwaffen-Verhandlungen in Genf erinnert wird (!), wenn angefügt wird der Hinweis auf eine wachsende Disparität zwischen Nord und Süd im ökonomischen Sinne einerseits und bezüglich des Gesamtbevölkerungsanteils andererseits. Schließlich sei an die nicht zu unterschätzende Gefahr durch Ideologisierung jedweder Spielart erinnert, Zweifel nur zu gewalttätigen die ohne immer Machtausbreitungen herhalten muß.

Soll nun zu diesem gespannten, ständig labilen Verhältnis zwischen Bündnissen und einzelnen Staaten eine Leitformel und Handlungsanweisung für die Politik gefunden werden, so könnte die Weiterentwicklung der Baudissin-Definition durch Varianten des gleichen Autors und von Dieter S. Lutz eine entsprechende Hilfestellung. bieten: „In diesem Rahmen versteht man unter Strategischer Stabilität ein Gesamt-Kräfteverhältnis zwischen Bündnissen und Staaten, das jeden Versuch einer Konfliktregelung mit militärischen Mitteln ...deutlich als kalkuliert untragbares Risiko erkennen läßt."

Allerdings wirkt es in diesem Zusammenhang unklar, wenn die Autoren die Strategische Stabilität nur als „Ziel kooperativer Rüstungssteuerung" definieren Richtiger scheint es dagegen zu sein, Rüstungssteuerung im Bezugsfeld der vielfältigen sicherheitspolitischen Faktoren als eines der Instrumente neben Krisenmanagement, Verhandlungen, Rüstung und Militärstrategie zur Erreichung von Strategischer Stabilität anzusehen und zu nutzen.

V. Weiterentwicklungsmöglichkeiten der Strategischen Stabilität

Dem dynamischen Chrakter einer sich wandlungsfähig darbietenden, glaubwürdigen Sicherheitspolitik entsprechend, muß Strategische Stabilität als ein modellierfähiges, aber daher auch zugleich fragiles Gebilde bezeichnet werden. Es erhält aber nicht dadurch seine Balance und gegenseitig anerkannte Konsistenz, indem es sich auf militärisches Kräftegleichgewicht versteift, das sich bisher fast ausnahmslos als ein immer nur durch Zunahme von Waffenarten und neuen Waffen-technologien hergestelltes Gleichgewicht erweist. Und doch scheint diese Sichtweise immer noch die allein prägende im Westen wie im Osten zu sein.

Für einen ersten Schritt aus diesem Dilemma heraus ist eine nüchterne und umfassend an-gelegte Bedrohungsanalyse notwendig. Wobei dieser letztere Begriff bereits wieder die Gefahr in sich birgt, sich ausschließlich militärischen Kräfteverhältnissen zuzuwenden. Besser müßte es heißen: Analyse der Potentiale, Absichten und Fähigkeiten der sicherheitspolitischen Komponenten. Wenn diese Formel auch nicht so gängig wirkt, hat sie doch den Vorteil, die konzeptionell angelegte Sicherheitspolitik auf einen sicheren und damit sachlicheren Boden zu stellen und des weiteren zu effizienteren Lösungen hinsichtlich einer Strategischen Stabilität beizutragen. Diese Analyse wird sicherlich in ihren Teilen weltweit und immerwährend getätigt, nur muß sie als eine Gesamtanalyse in einem politischen Programm jetzt angestellt werden, um gefährlichen Trends in der derzeitigen Situation entgegenzuwirken, die sich zunehmend und ausschließlich auf den Ausgleich von vermeintlichen Ungleichgewichten nur mit militärischen Mitteln versteifen.

Es gibt eine Reihe von Versuchen, diesen Lösungseinstieg zu wagen, nur in der realpolitischen Durchsetzung zeigen sich erhebliche Widerstände — zumal es nach wie vor plausibler zu sein scheint, expansiv wahrgenommene politische Aktionen am ehesten durch die Zunahme von Waffenpotentialen zu erklären und diesem Anwachsen wiederum nur mit einem Dagegenhalten in Form von Rüstungsschüben der eigenen Bevölkerung gegenüber plausibel machen zu können. Wird dagegen in einer objektiven Analyse auch deutlich — und das scheint nach Feststellung der sicherheitspolitischen Dominanten und ihrer Einflußgrößen gewährleistet —, daß Rüstung nur ein Vehikel von mehreren anderen ist, so kommt dem Instrument Rüstungssteuerung auf dem „Spielfeld" der Strategischen Stabilität fast automatisch eine tragende Rolle als „Spielmacher" zu.

Die Verhandlungsebene KVAE erhielte einen beschleunigenden Anstoß. MBFR in Wien böte sich endlich die Chance, aus der Phase des Waffen-und Soldatenzählens in eine Phase von gleichgewichtigen Rüstungsund Potentialbegrenzungen überzuwechseln. Ähnliches, wenn auch schwieriger (da Großmachtinteressen hineinspielen), wäre in Genf bei START, INF und Weltraumwaffen möglich.

Zugleich werden an diesen Beispielen die Möglichkeit, die Chance und die Verpflichtung eines europäischen Beitrags zu einer regionalen Strategischen Stabilität mit Auswirkung auf die globale deutlich.

Eine geschlossene europäische Politik, wie teilweise im KSZE-und KVAE-Prozeß ansatzweise praktiziert, ergäbe eine nicht unerhebliche Gewichtung in einer fünfgliedrigen westlichen Sicherheitspolitik, die im eigenen Lager wie in der östlichen Perzeption von nicht zu unterschätzender Bedeutung wäre. Dies soll heißen: Ist West-Europa fähig und willens, die vielfachen nationalen Programme in Politik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft in Bündnisprogrammen zu bündeln, dann ließe sich Strategische Stabilität um ein Vielfaches einfacher, vor allem aber effizienter und wegweisender konzipieren.

Eine derartige Umorientierung ist nicht von heute auf morgen möglich. Sie verlangt Rücksichtnahmen, Zugeständnisse, ja, Verzichte, muß aber hinsichtlich einer stabilen Zukunft im West-Ost-Verhältnis und mehr noch als ein sinnfälliger Beitrag zum Ausgleich zwischen Nord und Süd angestrebt und verwirklicht werden.

Einerseits böte sich durch eine westeuropäische Stärkung die Erstellung eines Modells für andere Regionen; andererseits gebieten die historisch gebildeten Verantwortungen für eine Vielzahl von Staaten in den Kontinenten Asien, Afrika, Südamerika geradezu die Pflicht, Strategische Stabilität nicht nur auf das West-Ost-Verhältnis zu verengen. „Man muß also die Auswirkungen der Interdependenz auf politische Strategien untersuchen, um zu einem differenzierten Ansatz weltpolitischer Analyse zu finden, ohne nur den bisherigen Vereinfachungen eine weitere übertriebene Vereinfachung als Handlungsmaxime hinzuzufügen."

Die Mitträgerverpflichtung hinsichtlich einer Strategischen Stabilität zwischen Nord und Süd und zwischen West und Ost hat zweifelsfrei auch eine nicht unbedeutende deutsche Komponente. Diese Beitragsforderung hat ihre mannigfaltigen Ursachen aus der ganz speziellen jüngsten deutschen Geschichte, der Spaltung Deutschlands und des damit einhergehenden Eingebundenseins der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in die jeweiligen Militär-und Wirtschaftsallianzen in West bzw. Ost.

Zum einen findet die Trennung zwischen West-und Osteuropa in den beiden deut-* sehen Staaten ihren Ausdruck; zum anderen scheidet jede radikale Lösungsmöglichkeit für eine Wiedervereinigung aus. Auch wirken Ansprüche auf eine Wiederherstellung ehemaliger Grenzen nicht nur irreal, sondern auch destabilisierend und das herrschende Machtgefüge verkennend. Nichtsdestoweniger bieten sich aus dieser Konstellation heraus gleichzeitig auch Chancen und legitime Ansprüche für einen deutschen Beitrag zur klimatischen Verbesserung der europäischen Sicherheitssituation.

Wenn nicht in diesem Bereich, wo denn dann wohl sonst ist jede Veränderung — zum Schlechten wie zum Guten — einer Strategischen Stabilität fast mit den Händen greifbar? So liegt es doch geradezu auch im Eigeninteresse jeder deutschen Sicherheitspolitik, Beiträge zu einem Programm zu liefern, das Strategische Stabilität festlegen und gewährleisten soll. Dazu sind im begrenzten Maße bilaterale Wege und Prozesse möglich, nützlich und notwendig. Die praktizierte Entspannungspolitik hat das bewiesen. Sie läßt sich auch fortsetzen in einer neuen Entspannungspolitik, die allerdings die eingeleiteten Ausgleiche fortschreiben muß und sich sicherlich schwieriger bewerkstelligen lassen wird, da sie nicht mehr den Charakter des Novums des erstmals gesuchten Ausgleiches zwischen Ost und West aufweist und sich zudem das gesamteuropäische Gefüge fortentwickelt hat. Aber neue Impulse benötigt es allemal. Und diese erneuten Anstöße und Anreize bedürfen auch und gerade des deutschen Beitrags für eine Strategische Stabilität — und dieser Anteil soll und darf nur in Abstimmung und im Gleichklang mit den übrigen westeuropäischen Mitgliedern der Allianz und im Einklang mit der atlantischen Vormacht eingebracht und durchgesetzt werden.

Strategische Stabilität erfährt fast zwangsläufig mehr Gewicht, wenn sie von der speziell deutschen Erfahrung geleitet wird, daß sie von einer Sicherheitspolitik geformt wird, die darauf verzichtet, die eigene Sicherheit nur immer dann gewährleistet zu sehen, wenn das Gegenüber sich unsicher fühlt. Und die des weiteren — auch das ist im deutschen Interesse mehr als verständlich — Sicherheit nicht nur als fortgesetzte Anhäufung von Waffen-potentialen jedweder Art garantiert sieht. Auch wenn unverkennbar ist, daß heute jeder Ort der Welt mit interkontinentalen Waffen erreichbar und zerstörbar ist, erhält die Tatsache, daß Waffenpotentiale immer auch eine vorrangige Zieloption bilden, bei der Anhäufung von Streitkräften in beiden deutschen Staaten ein außerordentliches Gewicht in der Bewertung der typisch deutschen vitalen Interessen. Zusammengefaßt bedeutet das:

Sicherheitspolitik umfaßt aufgrund der fünf Dimensionen alle lebenswichtigen internationalen und nationalen Bereiche und ihre Verbindungen untereinander. Soll sie nicht einseitig und gefährlich werden, sondern Krisen und Kriege vermeiden helfen, kann ihr Ziel unter den herrschenden Bedingungen nur Strategische Stabilität lauten.

Ist Strategische Stabilität möglich und gewährleistbar, erhält Entspannung wieder eine Chance.

Strategische Stabilität darf aber nur so verstanden werden, daß sie ihre Gleichgewichtigkeit nur dadurch erhält und behält, wenn sie die eigene Sicherheit tatsächlich nur in der gleichzeitigen Anerkennung der Sicherheit des Gegenüber versteht. Die Formel „Sicherheitspartnerschaft" ist für diese Situation deshalb treffend, da — gegeben durch Militär-potentiale, wirtschaftliche Überlebensnotwendigkeit und politisches Krisenmanagement — die durchaus antagonistisch angelegten Politiksysteme zur Partnerschaft gezwungen sind.

Allerdings sind Sicherheitspartnerschaften und Strategische Stabilität zwischen West und Ost wenig wert, wenn sie nicht auch auf den Nord-Süd-Bereich erweitert werden.

Den westeuropäischen Staaten und der Bundesrepublik Deutschland bietet eine gemeinsam gestaltete und beeinflußte Strategische Stabilität darüber hinaus die Chance, das Dilemma der Teilung überbrücken und zu gegenseitigem Nutzen stabilisierend egalisieren zu können.

Sollte die Formel zur Strategischen Stabilität tatsächlich ausgebaut werden können, gewänne die heute eher euphemistisch klingende These von Hans-Peter Schwarz durchaus an Realität: „Der einzige der neuartigen Ansätze zum Macht-Management, der sich voll bewährt und zu einer vielleicht dauerhaften Abkehr von traditioneller Machtpolitik geführt hat, ist die Entwicklung moderner Sicherheits-und Integrationsgemeinschaften zwischen den liberalen Industriestaaten im atlantischen und im westeuropäischen Raum."

Allerdings wird nur eine realistische Politik gegenüber dem nicht so liberalen östlichen Partner zum gegenseitigen Ausgleich die Neuartigkeit wie Effizienz beweisen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin-Stuttgart 1910, S. 273.

  2. Ausführlich definiert Erhard Forndran die Ziele und Probleme von Abschreckung und Stabilität, in: ders. /Gert Krell (Hrsg.) unter Mitwirkung von Hans-Joachim Schmidt, Kernwaffen im Ost-West-Vergleich, Baden-Baden 1984, S. 31 f. Forndran vermeidet allerdings den Begriff Strategische Stabilität, weist aber auch auf die Verbindung von Stabilität und Rüstungskontrolle und auch auf die Abgrenzung zum Gleichgewichtsdenken hin.

  3. Ebd.

  4. Die vielfältigen Faktoren von Krisen und Kriegen, ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen wie die psychologischen und gesellschaftlichen Einflußgrößen hat Andrä Beaufre in seinem Buch: Die Revolutionierung des Kriegsbildes. Neue Formen der Gewaltanwendung, Stuttgart 19752, in ausführlicher und treffender Weise dargelegt. Diese Arbeit kann als eine der klassischen Texte zum Verständnis von Kriegführungsmodellen angesehen werden. Sie beweist u. a., daß militärische Vorherrschaft nicht ausreicht, um langfristig Machtansprüche mittels Streitkräften durchzusetzen.

  5. Helmut Schmidts Arbeit — Strategie des Gleichgewichts, Stuttgart 1969 — ist in Fortsetzung seiner für deutsche Verhältnisse bahnbrechenden sicherheitspolitischen Ausarbeitung: Verteidigung und Vergeltung, Stuttgart 1961, eine unverändert wichtige Darstellung notwendigen sicherheitspolitischen Denkens und Handelns in Europa, die vielerlei Anleitungshinweise anbietet Nur sollte sich der Leser hüten, die Begriffe ohne weitere Prüfung zu • übernehmen, will er in der heutigen Diskussion Mißverständnisse vermeiden.

  6. Ebd., S. 16. Zu berücksichtigen ist, daß Schmidt diese Definition gebraucht für die „Strategie des Gleichgewichts“. Wobei er Gleichgewicht mehr als gleichgewichtige Maßnahmen versteht, denn als zahlenmäßige Parität.

  7. Siehe ausführlich, und eine weitere Definition von Wolf Graf von Baudissin zur Strategischen Stabilität anführend (näheres im Abschnitt V), bei Ernst Lutz, Lexikon zur Sicherheitspolitik, München 1980, S. 251 f.

  8. Lutz beschränkt sich in den folgenden Ausführungen zu sehr auf den militärischen Aspekt einer Strategischen Stabilität, weist aber zugleich auf einen wesentlichen instrumenteilen Bestandteil derselben hin, wenn er ihre Funktion als Regelebene vor Krisensituationen klassifiziert. Er folgt dabei vornehmlich Baudissinschem Verständnis, das im Abschnitt V. noch näher betrachtet werden soll.

  9. Siehe die Ergänzungsfolge zum sicherheitspolitischen Glossar von O. Buchbender/H. Bühl/H. Quaden, in: Europäische Wehrkunde, (1985) 6, S. 341.

  10. Ebd.

  11. Zu dem gleichgewichtsorientierten Begriff »Strategische Stabilität" siehe u. a. ausführlich Klaus-Dieter Schwarz, Amerikanische Militärstrategie 1945— 1978, in: ders. (Hrsg.), Sicherheitspolitik. Analysen zur politischen und militärischen Sicherheit, Bad Honnef 19783, S. 345— 372.

  12. Auf die Gefahren eines solchen Politik-und Handlungsverständnisses weist Hartmut Bühl hin, wenn er in seinem Beitrag „Prämissen für eine erfolgsorientierte Rüstungskontroll-und Abrüstungspolitik" ausführt: „Gleichgewicht kann deshalb nicht Selbstzweck sein, sondern ist Mittel, Stabilität zu schaffen.“, in: O. Buchbender/H. Bühl/H. Quaden, Sicherheit und Frieden, Herford 1983, S. 275.

  13. Siehe ausführlich Wolf Graf von Baudissin, Sicherheitspolitik im Entspannungsprozeß, in: Anne-marie Große-Jütte/Rüdiger Jütte (Hrsg.), Entspannung ohne Frieden. Versäumnisse europäischer Politik, Frankfurt 1977, S. 242— 268.

  14. Ebd., S. 247.

  15. Eingehend beschäftigt sich Wolf Graf von Baudissin mit dem Begriff der präventiven Kooperativen Rüstungssteuerung (PKRSt) in seinem Beitrag „Thesen zur Präventiven Kooperativen Rüstungssteuerung (PKRSt)" zur Vermittlungstagung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) vom 23. bis 24. 4. 1982 (Manuskript).

  16. Den grundlegenden Ansatz für die Kooperative Rüstungssteuerung (KRSt) wie deren Verhältnis zur Strategischen Stabilität erläutern Wolf Graf von Baudissin und Dieter S. Lutz in ihrem Beitrag „Kooperative Rüstungssteuerung in Europa", in: dies. (Hrsg.), Kooperative Rüstungssteuerung, Baden-Baden 1981, S. 9— 48, hier: S. 15.

  17. Ebd.

  18. Eine ausführliche Darstellung des Themas „Macht und Interdependenz" von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye findet sich in: Karl Kaiser/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik. Strukturen — Alternativen — Perspektiven, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 217, Bonn 1985, S. 74— 88, hier: S. 88. Insgesamt bietet das umfangreiche Werk von Kaiser und Schwarz eine Fülle von Ansätzen und Belegen für eine Programmatik der Strategischen Stabilität auch wenn die Schwerpunkte nicht immer identisch mit den hier dargelegten Ausführungen sind.

  19. Siehe besonders die Thesen von Hans-Peter Schwarz, Der Faktor Macht im heutigen Staatensystem, in: K. Kaiser/H. -P. Schwarz (Hrsg.) (Anm. 18). S. 50— 73, hier: S. 71f.

Weitere Inhalte

Franz H. U. Borkenhagen, geb. 1945; Major, Mitglied der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik — SAS. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) „Wehrkraftzersetzung". Offiziere äußern sich zur Heilbronner Erklärung, Reinbek 1984; Grundzüge einer effizienten Logistik in einem militärischen Defensivkonzept, in: C. F. von Weizsäcker (Hrsg.), Die Praxis der defensiven Verteidigung, Hameln 1984; Der Rogers-Plan: Ein militärisch operatives Konzept für Europa?, in: Erwin Müller (Hrsg.), Dilemma Sicherheit Baden-Baden 1984.