Soziale Statik und Dynamik in der DDR Zum Leistungsverhalten von Industriearbeiterschaft und wissenschaftlich-technischer Intelligenz | APuZ 46-47/1985 | bpb.de
Soziale Statik und Dynamik in der DDR Zum Leistungsverhalten von Industriearbeiterschaft und wissenschaftlich-technischer Intelligenz
Fred Klinger
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Zusammenfassung
Leistungsorientierungen und effizientes Arbeitsverhalten nehmen in der zeitgenössischen DDR-Diskussion nicht ohne Grund einen erheblichen Stellenwert ein. Ihren Hintergrund bilden vornehmlich veränderte technologische und ökonomische Operationsbedingungen der DDR-Wirtschaft, die einerseits veränderte Arbeitsanforderungen stellen und qualitativ neue Einstellungsmuster zur Arbeit erforderlich machen, andererseits eine Reihe von Motivationsdefiziten in ihrer Brisanz stärker hervortreten lassen. Die strukturell bedingten Gebote des Wandels in der Arbeitswelt lassen ihre Verwirklichungschancen freilich erst dann erkennen, wenn man danach fragt, welche sozio-kulturell gewachsenen Bestände an Verhaltenstypik das Arbeitsgeschehen bislang regulierten und auf welchen Bedingungen solche sozialen Charakteristika gründeten. Drei Aspekte werden exemplarisch in historischer wie soziologischer Perspektive untersucht: die Zusammenhänge zwischen Arbeitsleistung und materieller Gratifikation, die Bedeutung von Gruppenbeziehungen und die mentale Anpassung an Verhaltensanforderungen, die durch die demokratisch-zentralistische Entscheidungspyramide und bürokratische Verfahrensprozeduren beeinflußt werden. Dabei zeigt sich eine enge Wechselbeziehung zwischen konstitutiven Strukturen des partei-staatlichen Systems einerseits und Verhaltens-wie Einstellungsprägungen andererseits. Die hier nachweisbaren Zusammenhänge haben sich seit den frühen fünfziger Jahren entwickelt und konnten sich mit relativer Kontinuität bis in die heutige DDR-Gesellschaft reproduzieren. Demgegenüber führen die verstärkte Anwendung der Mikroelektronik und höhere Niveaus der Automatisierung zu einer Reihe von sozialen Dynamisierungseffekten, von denen nicht absehbar ist, wie sie sich mit den bislang tradierten und systemisch bedingten Formungen der Arbeitswelt vereinbaren lassen. Ferner ist erkennbar, daß technologisch höher entwickelte Arbeitsinhalte der Tendenz nach größere Ansprüche an Motivation und individuelle Verhaltenssteuerungen stellen, daß aber gleichzeitig damit die Möglichkeiten geringer werden, diese subjektiven Komponenten einer durchgehenden Kontrolle zu unterwerfen.
Gekürzte Fassung eines Beitrages zum III. Weltkongreß für Sowjet-und Osteuropastudien in Washington, D. C, vom 30. Oktober bis 3. November 1985.
Vorbemerkung
Daß Arbeitsmoral und engagiertes Arbeitsverhalten, d. h. das Streben nach Leistung, in den sowjetisch verfaßten Gesellschaften bei nahezu allen Beschäftigtengruppen chronisch defizitär ausgeprägt sind, ist in der westlichen Literatur weitgehend bekannt und oft thematisiert worden. Arbeitszeiten, kontinuierliche disziplinierte Anstrengung, eigenständiges Interesse an der wirtschaftlichen und technologischen Rationalität der Arbeitsprozesse und nicht zuletzt die Qualität der Arbeitsergebnisse selbst scheinen im Bewußtsein namhafter Teile von Arbeiterschaft und wissen-schaftlich-technischer Intelligenz nicht jenen Stellenwert zu besitzen, wie dies nach Ansicht von politischen Entscheidungsträgern und Fachleuten wünschenswert wäre. Zumindest halten sie einem Vergleich mit entwikkelten westlichen Maßstäben nicht stand. Die kritischen Einlassungen des Nowosibirsker Papiers, das unlängst im Westen bekannt wurde, mögen hierfür ein markantes, im Aussagegehalt gleichwohl typisches Beispiel bilden Ähnliche Dilemmata von Leistung und Leistungsverhalten lassen sich auch für die DDR aufzeigen.
I. Das Problem des Leistungsverhaltens
Was ist unter Leistungsverhalten im engeren, soziologischen Sinne zu verstehen? Die Begriffsbestimmungen der DDR-Sozialwissenschaftler sind zwar nicht einheitlich, doch läßt sich zusammengefaßt folgende grundsätzliche Sichtweise erkennen Danach sind Leistung und Leistungsverhalten eine bestimmte Form der Arbeitsaktivität, die durch besondere Anstrengung über das Normalmaß hinausreicht und die aus eigenem Antrieb Initiativen und Verhaltensformen entwickelt, die eine sachgerechte Erfüllung der Arbeitsanforderungen wie gesellschaftlicher Erfordernisse sicherstellt.
Wenn wir.den Ergebnissen soziologischer Untersuchungen folgen wollen, dann ist gegenwärtig etwa ein Drittel der untersuchten Werktätigen dieser . Leistungsgruppe'zuzurechnen, während etwa ein weiteres Drittel in seinem Verhalten nicht nur negativ abweicht, sondern auch unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Die Restgruppe setzt sich aus Beschäftigten zusammen, die nicht eindeutig zu kennzeichnen sind, deren Leistungen und Arbeitsverhalten aber „überwiegend auf einem hohen Niveau" liegen
Entscheidend ist freilich in diesem Zusammenhang nicht so sehr die Frage nach den genauen empirischen Proportionen bestimmter Verhaltensmerkmale, die immer nur anhand ausgewählter Einzeluntersuchungen und mehr oder weniger willkürlicher Merkmalskataloge vorgetragen werden. Wesentlich ist vielmehr die qualitative Tatsache einer bestimmten (auch empirisch erkennbaren) Abstufung von Arbeitsmotivationen und sozialtypischer Charakteristika des Arbeitsverhaltens.Denn das Leistungsverhalten drückt sich ja nur zum Teil und nur äußerlich in der Erfüllung von Pflichten und in meßbaren Verhaltenskriterien aus. Leistung hat etwas mit subjektiven Antrieben, mit bestimmten, in der Person verankerten emotionalen und verstandesmäßigen Fertigkeiten zu tun.
Solche leistungszentrierten Persönlichkeitsprofile werden über systemisch wirksame Verhaltenssteuerungen im Sozialisationsprozeß einerseits eingeübt, andererseits über äußerliche Verhaltensanforderungen fortlaufend erzwungen und reproduziert. Für real-sozialistische Gesellschaften, die über systemisch verankerte Leistungszwänge wie etwa Markt-und Konkurrenzmechanismen nicht oder nur unzureichend verfügen, stellt sich damit ein entscheidendes Problem.
So formulierte der Chefsoziologe der DDR, Rudi Weidig, Anfang der achtziger Jahre in einem forschungsprogrammatischen Beitrag, daß man offenkundig wesentlich „leichter“ und „schneller“ die für „den Kapitalismus typischen Triebkräfte für effektive Arbeit... beseitigen (könne), als neue, dem Sozialismus entsprechende Triebkräfte voll wirksam werden zu lassen“. Offensichtlich, so Weidig, „handelt es sich bei der Herausbildung der dem Sozialismus entsprechenden Antriebe oder Triebkräfte zur effektiven Arbeit um einen langen historischen Prozeß" Und ganz ähnlich argumentierte unlängst in einer Studie über das Leistungsverhalten der DDR-Soziologe Frank Adler, der darauf hinwies, daß das Maß materieller und sonstiger Bedürfnis-befriedigung zukünftig in deutliche Relation zur individuellen Arbeitsleistung gebracht werden müßte. Geschähe dies nicht, dann erhöhe „sich die Wahrscheinlichkeit, daß zwar alte’ Leistungsantriebe negiert werden, aber neue nicht in der erforderlichen Intensität an ihre Stelle treten,... daß . allgemeinmenschliche Schwächen — die ja mit der Aufhebung kapitalistischer Ausbeutung nicht aus der Welt geschafft sind —, wie Trägheit, Konservatismus, einen sozialen Nährboden erhalten"
Diese allgemeine Verhaltensproblematik ist aufs engste verknüpft mit jenen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, die die SED auf ihrem X. Parteitag im Rahmen der Wirtschaftsstrategie der achtziger Jahre getroffen hat. Die hierbei intendierte Anpassung der DDR-Ökonomie an qualitative Faktoren des Wirtschaftswachstums (Beherrschung des Zeitfaktors, soziale und ökonomische Innovationsfähigkeit, komplexe Vernetzung von wissenschaftlich-technischen und Produktionsressourcen etc.) ist wesentlich darauf angelegt, zu jenen fortgeschrittenen Standards der kapitalistischen Technologie-und Welt-marktentwicklung aufzuschließen, die der DDR wie den anderen real-sozialistischen Ökonomien davonzueilen drohen.
Die sozial-ökonomischen Zusammenhänge, um die es hierbei geht, lassen sich im Lichte des Problemverständnisses der DDR-Sozialwissenschaftler mit folgenden drei zentralen Gedankengängen umreißen:
— Weltweit und daher auch für die DDR unumgänglich hat sich eine in Rhythmus, Breitenwirkung und Gehalt qualitativ veränderte
Entwicklungsphase des wissenschaftlich-technischen Fortschritts vollzogen. Neue Basistechnologien, insbesondere die von der Mikroelektronik ausgehenden Impulse für die progressive Automatisierung von Tätigkeiten innerhalb der produzierenden wie der nicht-produzierenden Sphäre, bewirken nicht nur tiefe Einschnitte in überkommene Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen, sie verändern auch das Profil der Arbeitsanforderungen
— Die neuen Technostrukturen wirken in sozialer Hinsicht nicht gleichförmig, sondern berühren verschiedenen soziale Gruppen innerhalb der werktätigen Bevölkerung auf höchst unterschiedliche und widersprüchliche Weise. Einen außerordentlichen Stellenwert nimmt die Effektivität von Wissenschaft und Technik ein. Die „Effizienz der geistigen Arbeit“ wird zum Kriterium zukünftigen sozialen Fortschritts und materiellen Reichtums und dementsprechend wächst auch die Bedeutung bestimmter Teile der Intelligenz und ihrer Leistungen in den „Spitzenbereichen des Innovationsprozesses"
— überkommene soziale Verhaltensweisen und Einstellungen innerhalb wie außerhalb der Arbeitssphäre, die sich bislang mit relativer Kontinuität und Stabilität bis zum Ende der siebziger Jahre entwickelt oder erhalten haben, sind in entscheidenden Aspekten mit den neuen technostrukturellen Herausforderungen unvereinbar. Es geht daher aktuell wie zukünftig um einen sozio-kulturellen Substitutionsprozeß. An die Stelle eines — wenn wir so wollen — . extensiven'Sozialcharakters, der im negativen Verhaltensspektrum durch „Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen" oder etwa durch „Bequemlichkeit in der Arbeit, Mangel an Risikobereitschaft und Selbstgenügsamkeit" gekennzeichnet ist, muß ein neuer . intensiver'Sozialcharakter treten, für den Leistung, innovative Dynamik und soziale Flexibilität typisch sind.
Woraus erklären sich jene sozialen Charakteristika und woraus die Dimensionen ihres Wandels? Zur ansatzweisen Beantwortung dieser Frage scheint es sinnvoll zu sein, im weiteren zwischen zwei unterscheidbaren äußeren Einflußfaktoren des sozialen Verhaltens im allgemeinen und des Leistungsverhaltens im besonderen zu differenzieren.
Zum einen geht es um Einflüsse, die aus der Spezifik der gesellschaftlichen Verhältnisse resultieren, zum anderen um solche, die mit den sich verändernden technischen und technologischen Bedingungen des Wirtschaftsgeschehens im Zusammenhang stehen. Für diese Unterscheidung lassen sich begriffsgeschichtliche Gründe ins Feld führen — man denke an die Unterscheidung zwischen praktischer und instrumenteller Vernunft, zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften oder die Begriffe der formalen und materialen Rationalität bei Max Weber —, vor allem jedoch scheint sie analytisch zweckmäßig zu sein. Ohne strengere begriffliche Differenzierung genügt an dieser Stelle der Hinweis, daß beide Einflußdimensionen soziales Verhalten auf qualitativ unterschiedliche Weise regulieren. Gesellschaftliche Verhältnisse basieren wesentlich auf Strukturen von Herrschaft und sozialer Akzeptanz; Techno-Strukturen wirken hingegen auf soziales Verhalten vor allem dadurch, daß sie eine bestimmte Relation zwischen Menschen und den Mitteln ihres Wirtschaftens herstellen.
Im weiteren soll nun zunächst versucht werden, die Zusammenhänge zwischen Verhaltenstypik und gesellschaftlichen Verhältnissen zu erhellen. Die hier gewonnenen Befunde sollen dann in einem zweiten Schritt mit jenen sozialen Wirkungen und Bedingungen konfrontiert werden, die aus der Dimension der Technostrukturen hervorgehen.
II. Die soziale Typik der Arbeit — der Einfluß der Systemstrukturen
Mit der globalen Kategorie der gesellschaftlichen Umwelt oder der Verhältnisse ließen sich die Einflüsse auf sozial typisches Verhalten freilich kaum präzisieren. Sie wäre zu breit angelegt. Es liegt vielmehr nahe, nur jene Aspekte der gesellschaftlichen Verhältnisse für unsere Zwecke in Betracht zu ziehen, die einen dauerhaften und zugleich umfassenden, d. h. für die Mehrheit der Gesell
Schaftsmitglieder erfahrbaren Einfluß ausüben. Diese Rolle spielen offenkundig nur diejenigen Verhältnisse, die für den Bestand der sowjetisch verfaßten Gesellschaften konstitutiv sind, ohne deren Vorhandensein es keine allgemeinen Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen und anderen Typen von Gesellschaft — etwa den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften — gäbe. Solche bestandwichtigen Verhältnisse können als Systemstrukturen bezeichnet werden. Zu ihnen gehören: — das strategische Entscheidungsund Kompetenzmonopolder führenden kommunistischen Partei, die universelle Zugriffschancen auf das gesellschaftliche Geschehen besitzt. Konstitutiv für sowjetisch verfaßte Gesellschaften ist die „Kompetenz-Kompetenz“ der Partei, d. h. ihr prinzipielles Vermögen, Individuen und Gesellschaft zum Gegenstand souveräner Entscheidungen zu machen, nicht jedoch die Tatsache, daß die führende Partei jederzeit und in jedem Falle steuert — der im Grundsatz staatlich gelenkte Charakter von Wirtschaftsprozessen; das heißt, daß bei allen Mischformen von Plan und Markt wie staatlich regulierten und informellen Wirtschaftssektoren die Antriebsdynamik des Wirtschaftens auf politische Entscheidungen und staatliche Lenkungen zurückzuführen sind oder in Abhängigkeit von ihnen stehen; — die konstitutionelle Einheit von Staat und Gesellschaft; der Bereich des Gesellschaftlichen gilt nicht als Sphäre, die gegenüber nicht-legitimen staatlichen Eingriffen durch konstitutionelle Einschränkungen abzusichern ist und des legalen Schutzes bedarf. Denn auf der Basis sozialistischer Produktionsverhältnisse gilt eine prinzipielle Interessenidentität zwischen Regierenden und Regierten. Öffentlichkeit besteht daher immer nur im Sinne sozialistischer Demokratie und Mitwirkung, die sich nach der Umsetzung partei-staatlich formulierter Gesamtinteressen auszurichten hat. Zwar gibt es einen Fächer von Sub-und Teilöffentlichkeiten, die kaum oder nur in geringen Maße der politischen Überformung unterliegen (so etwa die Kirche, Arbeitskollektive, Freizeitgruppen oder Massenorganisationen wie die Klein-gärtner etc.); die hier wie anderswo vorhandenen Teilinteressen besitzen indessen keine prinzipielle politische Handlungsautonomie und Koalitionsfreiheit. Öffentlichkeit ist nicht autonom gestaltbar
Diesen Systemstrukturen lassen sich drei charakteristische Aspekte der Arbeitseinstellungen und -praktiken zuordnen. Dabei ist davon auszugehen, daß die einzelnen System-strukturen in ihrem Einfluß zwar analytisch getrennt werden können, in der Realität jedoch immer in ihrer komplexen Wirkung in Erscheinung treten, so daß die Verhaltensaspekte nicht isoliert auf einzelne Systemstrukturen zurückgeführt werden können. Diese drei charakteristischen Aspekte von Arbeitseinstellungen und -praxis sind:
— die Entkopplung von Lohn und Leistung und reziprozitäre (Karl Polanyi) Formen des Tausches;
— die personale Rationalität der Kollektivbeziehungen; — der Regelvollzug und das hierarchische Bewußtsein. 1. Die Entkopplung von Lohn und Leistung und reziprozitäre Tauschbeziehungen Vor allem während der Entstehungsphase des zentralistischen Planungs-und Leitungssystems mit seinem hochgradig inkonsistenten Preisgefüge war das Zielsystem der Betriebe weitgehend von Markteinflüssen abgetrennt und anstelle dessen an ein administratives System des Vollzuges zentraler Planvorgaben angebunden. Die betrieblichen Prozesse wurden de facto natural und — so weit als möglich — durch konkrete sortimentative Auflagen gesteuert, so daß Wert-und Preisrechnungen wie betriebswirtschaftliche Kalküle schlechthin nur eine sehr begrenzte Bedeutung besaßen und als Bewertungsmaßstab weitgehend aussagelos waren Dieser aus dem administrativen Charakter der Ökonomie resultierende Mangel an ökonomischer Rationalität beeinflußte auch das Lohn-und Leistungsgefüge.
Schon für die Frühphase der DDR läßt sich zeigen, daß die Lohneinkommen mehr und mehr ihren kalkulierbaren und transparenten Zusammenhang zu den erbrachten Arbeitsleistungen und Arbeitsanforderungen verloren. Während noch unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus rund 80% der Industriearbeiter im Leistungslohn vergütet wurden, war dieser Anteil kurz vor der Staatsgründung der DDR auf schätzungsweise 25 bis 30% _ zusammengeschrumpft Trotz erheblicher Anstrengun-gen der SED sollte sich an diesem Zustand auch in der Folgezeit wenig ändern. 1956, nach Ablauf des ersten Fünfjahrplans, wurden nur 25% der im Bereich des Schwermaschinenbaus geleisteten Arbeitsstunden effektiv nach Leistungslohnformen, d. h. auf der Grundlage der sogenannten technisch begründeten Arbeitsnormen (TAN), vergütet In einem traditionell entwickelten Industrie-bereich der DDR, dem allgemeinen Maschinenbau, betrug der Anteil der Leistungslöhne % nur 32, 8
Hinzu kam ein weiterer Aspekt: Die in der Praxis angewandten Arbeitsnormen, unabhängig davon, ob man sie technisch begründet nannte oder nicht, basierten in der Regel kaum auf exakten technischen und wirtschaftlichen Kalkulationen. Da sie veränderten produktions-organisatorischen und technologischen Bedingungen häufig nicht neu angepaßt wurden, waren sie zumeist veraltet Entsprechend hoch waren daher auch die Leistungsreserven. Ende 1956 lag beispielsweise die durchschnittliche Normerfüllung im Maschinenbau bei 153%, 1960 sogar bei 188, 5 % In der gesamten zentralgeleiteten Industrie wurden 1956 die Arbeitsnormen im Durchschnitt mit rund 135% erfüllt, 1961 lag dieser Satz bei 160% Mit anderen Worten: Die Arbeitsnormen als Bewertungsgrundlage der Arbeitsleistung hatten weder eine Meßnoch eine Anreizfunktion.
Dieser Zustand kombinierte sich mit einem weitgehenden Wildwuchs der branchenmäßigen und betrieblichen Einkommensdifferenzierungen, so daß die Höhe der Effektivverdienste nicht nur aufgrund des Fehlens realer Normen weitgehend von den effektiven Arbeitsleistungen abgekoppelt war, sondern auch durch zufällige lokale Umstände beeinflußt wurde.
Diese Entstrukturierung von Arbeitsleistung und Arbeitseinkommen bedeutet aber als sozialer Erfahrungszusammenhang, daß materielle Gratifikationen nicht mehr notwendigerweise an verbindliche 'Kriterien und meßbare Leistungen gebunden waren. Sie stellten vielmehr einen diffusen, durch soziale und ökonomische Regeln nicht weiter bestimmten Anspruch auf Vergütung von Arbeitstätigkeit schlechthin dar. Nicht die Art einer bestimmten, individuell variierenden Leistung regulierte das Einkommen, sondern der substantielle Sachverhalt, daß man irgendwie und irgendwo einer Beschäftigung nachging. Leistung und Gratifikation hörten auf, in meßbaren und für die Beteiligten durchschaubaren Relationen zu stehen.
Der Entstrukturierung der Einkommensbedingungen korrespondierte die Unbestimmtheit der Arbeitsanforderungen. Die fortlaufenden Dysfunktionen zentralistischer Planung und Leitung führten auf Betriebsebene zu permanenten Improvisationsakten, die, weitgehend unabhängig vom ökonomischen Nutzen, darauf ausgerichtet waren, den jeweiligen Planprioritäten und dem Wildwuchs administrativer Ad-hoc-Interventionen zu entsprechen. Unterhalb der Ebene formaler Planungsprozeduren vollzog sich in der Regel das Chaos eines betrieblichen Krisenmanagements der Planerfüllung Für das Beziehungsgefüge zwischen Betriebsleitungen und Arbeiterschaft aber bedeutete dieser Umstand, daß man gewissermaßen voneinander „abhängig" war. Denn die Unwägbarkeiten des Produktionsgeschehens, das Ausbleiben von Zulieferungen, die permanente Revision der Pläne, das berühmte „Stürmen" gegen Ende des Planquartals und schließlich und vor allem am Ende der Planperiode erforderten immer auch ein Mindestmaß an Handlungsbereitschaft und Loyalität seitens der Arbeiter, im Krisen-und Bedarfsfälle verfügbar zu sein Welche Betriebsleitung hätte sich dieses essentielle good-will der Belegschaft verscherzt? Was also äußerlich als formale Kontrakt-und Austauschbeziehung von Lohn und Leistung in Erscheinung trat, war de facto ein subtiles Gleichgewicht der Interessen und ein Gefüge der wechselseitigen Komplizenschaft. Das heißt, wir haben es mit einer Form des Tausches zu tun, die dem nahe kommt, was Karl Polanyi im Anschluß an die anthropologischen und ethnologischen Forschungen von Richard Thurnwald, Bronislaw Malinowski u. a. „Reziprozität“ nannte ein Gefüge von Leistung und Gegenleistung, das auf unbestimmten Angeboten und unpräzisen Erwartungen basiert. Typisch für solche Tauschbeziehungen ist, daß nicht kalkulierte Güter oder Leistungen getauscht werden, die in bestimmten zeitlichen und quantitativen Relationen zueinander stehen, sondern daß wechselseitige Interessen, Haltungen und Praktiken miteinander in Übereinstimmung gebrachtwerden. Solche Austauschbeziehungen spiegeln unmittelbar eine bestimmte Qualität sozialer Beziehungen und nicht das quantitative Verhältnis der getauschten Dinge.
Reziprozitäre Tauschakte hießen etwa bezogen auf das Arbeitsverhalten und die Leistungsanforderungen, daß die Bereitschaft, bei höchst unregelmäßigem Arbeitsanfall auch tatsächlich verfügbar zu sein, nicht vereinbarte Aufgaben zu übernehmen etc., gegen das stillschweigende Einverständnis „getauscht“ wurde, daß Arbeitszeiten, technologische Disziplin oder Qualitätsstandards nicht sonderlich streng kontrolliert wurden. Nicht die dynamische Spirale einer fortlaufenden Optimierung von Leistung und Gratifikation regulierte diese betrieblichen Sozialbeziehungen, sondern die Wahrung von Interessen-gleichgewichten. Solche Beziehungssysteme sind aber ihrer inneren Logik nach in erster Linie auf soziale Statik bedacht, auf die Fortschreibung üblicher Ansprüche und des Status quo der Arbeitsbedingungen und Anforderungen.
Wenn man diese in der Entstehungsphase der DDR etablierten Veränderungen der Soziokultur der Arbeitswelt mit den heutigen Bedingungen vergleicht, so ist eine Kontinuität der sozialen Typik unübersehbar. Freilich wäre in Rechnung zu stellen, daß sich seit den Wirtschaftsreformen der sechziger Jahre weitreichende Veränderungen der Planungsmethoden und Leitungsorganisation vollzogen haben, die insbesondere zu einem Bedeutungszuwachs von Wertkennziffern und wirtschaftlich-technischer Kalküle führten. Dennoch haben sich auch unter diesen veränderten Bedingungen eine Reihe typischer Erscheinungsbilder des Produktionsgeschehens erhalten, die als Rahmenbedingungen jene tradierten Verhaltensweisen der Arbeitswelt zumindest teilweise stabilisieren und damit auch ihre sozio-kulturelle Reproduktion ermöglichen. Das Problem der achtziger Jahre besteht gerade darin, daß diese soziale Schwerkraft überkommener Verhaltensmuster, ihre leistungsdefizitären , statischen und auf soziales Arrangement bedachten Dimensionen sich nicht mehr ungebrochen und konfliktlos umsetzen können. So zeigen etwa die unter dem Druck von Weltmarktentwicklungen seit dem Beginn der achtziger Jahre eingeleiteten Rationalisierungsmaßnahmen u. a. auch auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation partielle Erfolge (vgl. Tabelle). Eindeutig erkennbar ist die Tendenz, daß die Rationalisierungseffekte steigen und daß durch vermehrte Schichtarbeit die kalendertäglichen Betriebszeiten wichtiger Maschinen und Anlagen zunehmen. Solchen gegenläufigen Entwicklungen in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stehen andererseits gesamtgesellschaftliche Entwicklungstendenzen gegenüber, die jene tradierten Verhaltensweisen reziprozitärer Tauschbeziehungen stabilisieren.
Dazu gehört insbesondere der forcierte Ausbau sozial-politischer Leistungen im Rahmen der seit 1971 propagierten „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik". Seit diesem Zeitpunkt haben sich die staatlichen Ausgaben für sozial-politische Leistungen, die Zuwendungen des Staates an die sogenannten „gesellschaftlichen Fonds", mit einem Anstieg von 26, 2 Mrd. auf 75, 8 Mrd. Mark im Jahre 1984 nahezu verdreifacht, wobei vor allem die Subventionen für niedrigere Verbraucher-preise und Tarife sowie die Zuwendungen für Wohnungswirtschaft und Mieten eine besondere Dynamik 2 Mrd. auf 75, 8 Mrd. Mark im Jahre 1984 nahezu verdreifacht, wobei vor allem die Subventionen für niedrigere Verbraucher-preise und Tarife sowie die Zuwendungen für Wohnungswirtschaft und Mieten eine besondere Dynamik entwickelten 24).
Die Ambivalenz solcher kollektiven Güter besteht freilich darin, daß ihr wachsender Umfang und sozial-stabilisierender Effekt mit einer zunehmenden Intransparenz zwischen den eigenen Leistungen einerseits und den Gesamtbedingungen von Einkommen und Konsum einhergeht.
Die „Errungenschaften des Sozialismus" seien, wie etwa Herbert Steininger argumentiert, „bereits so fest zum Bestandteil des Alltags geworden ..., daß sie nicht selten als Selbstverständlichkeiten begriffen und gewertet werden" 25). Problematisch sei dabei allerdings, daß „die politischen und ökonomischen Zusammenhänge“, auf denen solche Selbstverständlichkeiten des Alltags aufbauen, noch nicht im notwendigen Ausmaße von der Bevölkerung erkannt würden. In jüngster Zeit lassen sich — wenn auch sehr zaghaft vorgetragene — sozialwissenschaftliche Überlegungen ausmachen, die darauf hinauslaufen,.
sozial-politische Zuwendungen leistungsabhängig zu gestalten.
Den verschiedenen Anläufen, die es seit dem VIII. Parteitag der SED 1971 gegeben hat, die Löhne und Gehälter verstärkt nach Leistungsprinzipien auszurichten, sind zumindest spürbare Erfolge bislang versagt geblieben 26). Die jüngste lohnpolitische Reform, die Einführung neuer Produktivlöhne seit 1976, beabsichtigte einerseits erneut eine Bereinigung des nahezu schon obligaten Wildwuchses von 31 Zweigtarifen mit über 200 verschiedenen Tariftabellen, andererseits eine deutlichere Differenzierung zwischen den einzelnen Lohngruppen und eine größere Bedeutung der leistungsabhängigen Lohnbestandteile Diese Reform gilt seit Beginn der achtziger Jahre als abgeschlossen. Doch liegt es nahe, daß selbst die ausgeklügelsten Anreizsysteme Makulatur bleiben müssen, wenn es nicht gelingt, das soziale Geflecht der reziprozitären Tauschbeziehungen und das sie stützende wirtschaftliche Zielsystem der Betriebe im Kern aufzubrechen.
Die historisch ersten Formen des Leistungslohnes scheiterten bekanntlich daran, daß die Arbeiter nach Hause gingen, sobald sie ihren . gewohnten Lohn'erwirtschaftet hatten.
Bei einer Untersuchung von über 50 Arbeitskollektiven in der Industrie Anfang der achtziger Jahre konnte denn auch festgestellt werden, daß diejenigen Arbeiter, die zu 66 % einräumten, daß es bei ihrer Arbeit an Qualität mangele, daß das Zeitregime nicht eingehalten (54 %) und mit Material nicht immer sparsam umgegangen würde (44 %), keineswegs irgendwelche Lohneinbußen hinnehmen mußten. Ganz im Gegenteil: Die von ihnen offenkundig manipulierten Arbeitsnormen und Leistungskennziffern wurden regelmäßig erfüllt und übererfüllt So sei es, wie in dieser Studie festgestellt wurde, in „vielen Fällen noch nicht gelungen, mit der Einführung der Produktivlöhne einen engen und überschaubaren Zusammenhang zwischen der disziplinierten Erfüllung der Arbeitspflichten ... und der Höhe (des) Einkommens herzustellen" 2. Kollektivbeziehungen und personale Rationalität des Verhaltens Arbeitskollektive sind hinsichtlich der Form der ihnen eigentümlichen sozialen Beziehungenmehr als Beziehungen der Kollegialität. Charakteristisch für sie, und hierin wird man den Befunden der DDR-Sozialwissenschaftler zustimmen müssen, ist vielmehr der Umstand, daß sie einen Typus von Sozialgebilden darstellen, die auf vielfältige Weise durch Formen der Wertschätzung, der Sympathie und des Verständnisses reguliert werden. Da diese Art von Beziehungen nicht notwendigerweise durch bestimmte, allgemein geteilte Wertorientierungen geprägt sind, sondern in erster Linie durch unterschiedliche zwischenmenschliche Arrangements innerhalb von Gruppen beeinflußt werden, sollen entsprechende Verhaltensweisen und Einstellungen im folgenden mit dem Begriff der personalen Rationalität umschrieben werden.
Beziehungen der Kollegialität, die wir auch aus westlichen Industriegesellschaften kennen, sehen im mitarbeitenden Partner zwar auch den . Menschen, sie nehmen ihn jedoch zumeist aus der Perspektive der jeweiligen Arbeitsanforderungen, -praktiken und arbeitsfunktionellen Verkehrsformen wahr. Jenseits dieser Arbeitsfunktionen und Zwecke . interessiert'der Kollege in der Regel nicht. Im Falle der Arbeitskollektive, d. h. von Sozialbeziehungen der Arbeit innerhalb der kleinsten Organisationseinheit des Arbeitsprozesses in der DDR, haben dagegen diese affektiven Elemente einer Gemeinschaftsbeziehung eine sozial eigenständige Qualität und autonome Sinnhaftigkeit gewonnen.
Insofern ähneln die real-sozialistischen Kollektivbeziehungen jenen elementar menschlichen Bezügen einer gemeinsam geteilten Last-und Genußerfahrung von Beziehungen anerkannter Bedürftigkeit, gefühlsbedingter Erwartungen und kommunizierbarer Gefühle, die in der klassischen Soziologie zuerst von Ferdinand Tönnies systematisch untersucht wurden. Tönnies hat diese und differenziertere Merkmale von „Gemeinschaft“ analytisch gegenüber dem Bereich der „Gesellschaft" abgegrenzt, die ihrerseits auf künstlich verregelten, durch Sachinteresse und Konvention bestimmten Sozialbeziehungen aufbaut. „Gesellschaft" integriert gewissermaßen isolierte Personen als Träger von Interessen und Funktionen, „Gemeinschaften" hingegen verbinden Menschen auf der Grundlage naturwüchsig gegebener Gefühlskontakte und zwischenmenschlicher Bindungen, die auch dann noch andauern und verhaltenssteuernd wirken, wenn die Mitglieder von Gemeinschaften voneinander getrennt sind oder sich die äußerlichen Zwecke gemeinschaftlicher Kooperation verändert haben
Für die Kollektivbeziehungen in der DDR gelten diese Bestimmungen selbstverständlich nur im Sinne einer prägnanten Hervorhebung und Deutung des sozial Typischen, das im empirischen Durchschnittsfall in vielfältigen Mischformen in Erscheinung tritt Eine Reihe empirischer Anhaltspunkte lassen jedoch diese Gemeinschaftstypik als Interpretationsansatz durchaus sinnvoll erscheinen.
Sozial befriedigende Beziehungen am Arbeitsplatz und harmonische Sozialkontakte in den Arbeitskollektiven haben im Durchschnittsbewußtsein der werktätigen Bevölkerung einen erheblichen Stellenwert Sie bezeichnen nicht nur eine allgemeine Anspruchshaltung, sondern bestimmen auch das konkrete Arbeitsverhalten selbst Von ihnen hängt in entscheidendem Maße ab, ob und in welchem Maße Menschen mit ihrer Arbeit zufrieden sind, ob sie den Arbeitsplatz wechseln oder nicht oder inwieweit sie etwa technologisch bedingte Arbeitsveränderungen oder Rationalisierungsmaßnahmen und damit verbundene Veränderungen in den Kollektivbeziehungen hinzunehmen bereit sind.
Erhebungen in ausgewählten Betrieben in Leipzig zeigten beispielsweise, daß solche gemeinschaftlichen Kollektivbeziehungen den wichtigsten Einfluß auf die Arbeitszufriedenheit ausüben und noch vor solchen Einflußfaktoren wie „gute Entlohnung" oder „interessante“ Arbeit rangierten Untersuchungen bei 750 Chemiearbeitern führten u. a. zu dem Ergebnis, daß für die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter die Art der Kollektivbeziehungen entweder das einzig entscheidende (36 %) oder das Hauptkriterium (41 %) für die Bewertung ihrer Arbeit darstellt Für eine Minderheit von 16 % rangierten Lohnmotive vor dem Wert der Kollektivbeziehungen und für nur 7 % bildeten die Verdienstmöglichkeiten das alles entscheidende Bewertungskriterium. Auf der Grundlage der (vermutlich) gleichen Untersuchung ergab sich beispielsweise auch, daß der Anteil derjenigen Arbeiter, die in ihren Arbeitskollektiven stabile Freundschaften eingegangen waren, die über ihre Arbeitsbeziehungen hinausreichten, innerhalb von zehn Jahren (1967— 1977) von 33 % auf 44 % angestiegen war Bei hohem sozialen Integrationsgrad der Arbeitskollektive stoßen daher betriebswirtschaftlich oder technologisch bedingte Umsetzungen oder Tätigkeitswechsel auf den Widerstand der Betroffenen. „Die Ursache hierfür" liege, wie die Autoren einschätzen, darin begründet, „daß die stabile Zugehörigkeit zu einem Kollektiv ganz wesentlich die soziale Geborgenheit des einzelnen bestimmt Ein Teil der Befriedigung, die die Werktätigen aus ihrer Arbeit ziehen, ist dieser stabilen sozialen Zuordnung zuzuschreiben.“
Veränderungen in den Arbeitsinhalten und -bedingungen scheinen hingegen, sofern keine anderen gravierenden Nachteile entstehen, kaum Probleme zu bereiten, wenn es gelingt, die bestehenden Kollektive oder zumindest ihre Kerngruppen intakt zu lassen. Nach Angaben des DDR-Soziologen Kurt Ducke waren 96, 7% der befragten Arbeiter bereit, an neuen automatisierten Anlagen zu arbeiten, wenn die bisherigen Kollektivbeziehungen erhalten blieben, die Bereitschaft zum Tätigkeitswechsel außerhalb des Kollektivs wurde jedoch nur von 53, 3% bejaht
Charakteristisch für die hier beschriebenen Gemeinschaftsbeziehungen ist eine bestimmte Innen-Außen-Differenz. Der Raum außerhalb der Gruppe gilt als fremd und — sofern er nicht überschaubar ist — als bedrohlich, während das intakte Regelwerk der Binnenorganisation Sicherheit spendet. Daß beispielsweise die gesellschaftlich organisiertenZwecke der Arbeit und ihr Zusammenhang mit der eigenen Leistung von nur untergeordneter Bedeutung sind, zeigte sich bereits im Verhaltensbereich der reziprozitären Tauschbeziehungen. Den Besonderheiten und dem Stellenwert der Kollektivbeziehungen, die die Aufmerksamkeit so eindeutig beanspruchen, korrespondiert die verbreitete Indifferenz gegenüber äußeren Zwecken und Anforderungen.
Als fremd und die Logik affektiver Gruppen-beziehungen störend werden nachweislich auch solche sozialen Muster empfunden, die die Qualitäten zwischenmenschlicher Nähe und des wechselseitigen Verständnisses durch differenzierte Kriterien der Leistungsbewertung oder ähnliche Formen der negativen oder positiven Heraushebung des einzelnen aus der Gruppe zu beeinträchtigen drohen. Solche Differenzierungen schaffen soziale Distanz und Individualisierung, die personale Rationalität der Gemeinschaftsbeziehungen basiert hingegen auf sozialer Unmittelbarkeit und dem Vorrang der Gruppe.
Politische und wirtschaftliche Strategien, den sozial-stabilisierenden wie erzieherischen Wert der Kollektivbeziehungen mit dem gegenläufigen Prinzip der Individualisierung von Leistung, Gratifikation und sozialen Chancen zu kombinieren, wiesen bislang eine bemerkenswerte Bilanz historischer Erfolglosigkeit auf. Die in den fünfziger Jahren eingespielte Praxis egalitärer Prämienverteilung hat sich entgegen allen leistungsdifferenzierenden Bestimmungen bis in die Gegenwart fortgesetzt Die typische Aussage einer Arbeiterin aus dem Jahre 1962 — „Ich bin der Meinung, arbeiten tun wir alle, jeder muß mal eine Prämie kriegen“ — reflektierte denn auch jenes Grundmotiv einer leistungs-unspezifischen Gemeinschafts-und Solidarhaltung, die auch noch zwanzig Jahre später bei Arbeitskollektiven der Gegenwart kritisiert werden. Unabhängig vom Ausmaß der Disziplinbrüche oder anderer Verstöße gegen das Arbeitsregime, ist es auch heute noch übliche Praxis, daß jeder seine ungeschmälerte Jahresendprämie erhält
Während egalitäre Gruppenpraktiken für die Frühzeit der DDR-Entwicklung im wesentlichen nur für die Arbeiterschaft nachgewiesen werden können, hat es den Anschein, daß solche Praktiken und Einstellungen mittlerweile auch für die wissenschaftlich-technische Intelligenz üblich sind. So stellen Leonhard Kasek und Klaus Ulbrich bei ihrer Untersuchung des Leistungsverhaltens von Hoch-und Fachschulkadern im Forschungs-und Entwicklungsbereich fest, daß bei Diskussionen um leistungsabhängige Gehaltszuschläge „manchmal Tendenzen zur Gleichmacherei sichtbar (würden)" Andere Untersuchungen von Forschungs-und Entwicklungskollektiven machen deutlich, daß leistungsorientierte, (im westlichen Sinne) managerielle Verhaltensweisen auf starke Ablehnung stoßen. Verhaltensmerkmale, wie etwa das Streben nach persönlichem Erfolg, die absolute Vorrang-stellung der Arbeit vor Freizeit, Hobbies und Familie werden der Tendenz nach negativ bewertet, während bestimmte kommunikative Eigenschaften wie die Einpassung in die Gruppe, persönliche Aufrichtigkeit und Interessenvielfalt in der Bewertungsskala von Arbeitskollegen ganz oben stehen
Damit im Zusammenhang steht auch die Grenzlinie, die zwischen dem Innenraum der Gruppe mit ihren Verhaltensregulierungen und dem Bereich der gesellschaftlich vorgegebenen Normorientierungen und Zwecksetzungen verläuft Zwischen der verbalen Zustimmung und der formalen Akzeptanz gesellschaftlicher Wertorientierungen und dem faktischen Verhalten in bezug auf Leistung bestehen erhebliche Widersprüche. Während verbal die Bereitschaft zu Höchstleistungen, also die formale Akzeptanz gesellschaftlicher Normen, bei allen untersuchten Forschungsund Entwicklungskollektiven überwiegend bejaht wird, ist nahezu die Hälfte der Befragten der Meinung, daß in ihren Kollektiven derlei Leistungsansprüche in praxi keine Rolle spielen. Gesellschaftliche Werte, die zwar auf formale Billigung stoßen, würden sich, so eine der Schlußfolgerungen dieser Befragung, „nicht in der Kollektivmeinung (widerspiegeln). Wahrscheinlich sei, daß der „Wettstreit um hohe Leistungen" wohl „eher als ein Moment angesehen (wird), der das Kolektivklima stören könnte" Gemeinschaftlich regulierte Sozialbeziehungen haben der Tendenz nach statischen Charakter. Sie verweigern sich nicht nur dem Prinzip der Individualisierung und damit auch jenen sozial isolierenden Ambitionen, die für Leistungs-und Erfolgsorientierungen typisch sind, sie müssen auch bestrebt sein, das gruppendynamische Gleichgewicht der personalen Rationalität gegenüber äußeren, stören-40 den Zwängen abzuschotten und damit auf Dauer zu erhalten. Anderenfalls verlören solche Gemeinschaftsbeziehungen auch ihren Sinn, der gerade darin besteht, Vertrautheit, affektive Verbindlichkeit und die Konstanz der zwischenmenschlichen Bedingungen zu gewährleisten.
Die äußeren Rahmenbedingungen gemeinschaftlicher Verhaltensweisen werden ebenso wie im Falle der reziprozitären Tauschbeziehungen besonders deutlich durch die System-struktur der administrierten Ökonomie vorgegeben.
Gleichfalls wirkt aber auch, wie an der sozialen Logik von Innen-und Außenbezügen ersichtlich, die Systemstruktur der Einheit von Staat und Gesellschaft und einer politisch überformten Öffentlichkeit. Denn die Grenzen zwischen dem gesellschaftlichen Bereich formaler Gebote und herrschaftsadäquater Verhaltensanforderungen auf der einen und dem gemeinschaftlichen Bereich entlastender wie bedürfnis-zentrierter Verhaltensmöglichkeiten auf der anderen Seite sind um so schärfer gezogen, je mehr der Außenraum reglementiert wird und die Gemeinschaft affektive Spontanität duldet. Die „Nische“ der Kollektivbeziehungen, um einen treffenden Begriff von Günter Gaus zu wählen, stabilisiert sich in ihrer eigenen Verhaltensrationalität in um so höherem Maße, je mehr der Außenraum der Gesellschaft auf sinnfällige Weise als fremd, als nicht beeinflußbar erfahren wird und sich autonomen, auf Öffentlichkeit gerichteten Gestaltungsversuchen entzieht .
Aber dieses Abschotten von Öffentlichkeit, die Konzentration auf den Binnenraum der Gruppe als eine Art Schicksalsgemeinschaft Gleicher, hat auch umgekehrt stabilisierende Effekte für die Systemstruktur. Die Gemeinschaftsorientierung hat logisch wie faktisch nicht notwendigerweise etwas mit bewußter Verweigerung oder gar oppositioneller Gesinnung zu tun. Denn gerade die symbiotische Koexistenz von Vertrautheit und Entlastung einerseits und mehr oder minder stark gegebenem Reglement in den gesellschaftlichen Außenbereichen andererseits macht, sofern ein Gleichgewicht zwischen beiden Verhaltensbereichen respektiert bleibt, die in sich gegenläufige Gesamtheit von Verhaltensan-forderungen und -möglichkeiten überhaupt erst erträglich. 3. Hierarchisches Bewußtsein und Regel-vollzug Während im Bereich der reziprozitären Tauschbeziehungen und der personalen Rationalität Verhaltensweisen in Erscheinung treten, die in ihrer Eigenlogik indirekt auf die Wirkung der Systemstrukturen ausgerichtet sind und zu ihnen eine relativ autonome (wie in den Effekten häufig ungewollte) Entsprechung bilden, müssen die Zusammenhänge im Falle von hierarchischem Bewußtsein und Regelvollzuganders bewertet werden. Denn beide sozialen Erscheinungen bilden einen Gesamtkomplex von Verhaltens-und Einstellungsmustern, die unmittelbar an die Logik der Systemstrukturen in ihrer universellen Wirkweise anknüpfen. Hierarchisches Bewußtsein und Regelvollzug bilden jene subjektive Grundausrichtung sozialen Handelns, die sich in allen herrschafts-adäquaten Verhaltensformen niederschlägt.
Der Gesamtmechanismus einer „demokratisch-zentralistischen“ Organisation sozialer Prozesse ist, ungeachtet der variierenden Gestaltung von Zentralismus einerseits und funktioneller Eigenständigkeit in der Umsetzung(Demokratie) andererseits, in praktischer Hinsicht wesentlich auf die prinzipielle Anwendung vorgegebener Regeln bzw. die Umsetzung zentraler, politisch entschiedener Zwecke ausgerichtet. Das entscheidende Verhaltenskriterium ist nicht, ob einzelne Tätigkeiten, Maßnahmen und dergleichen der Sache nach angemessen sind oder nicht, sondern ob den Regeln oder Zwecken formal entsprochen wurde. Priorität besitzt der Regel-vollzug unabhängig von den Effekten des Handelns. Hierarchisches Bewußtsein heißt in diesem Zusammenhang, daß immer nur dann auf regelhafte Weise gehandelt wird, sofern zentral vorgegebene Zwecke in die Entscheidungspyramide eingespeist werden oder Regeln verbindlich angewandt werden können. Fehlen diese zentralen Impulse oder sind Regeln nicht anwendbar, dann bleiben die Handelnden stumm. Gehorsam gegenüber Befehlen setzt in diesem Falle, wenn wir einen Max Weberschen Gedanken weiterführen wollen, implizit mit voraus, daß Handeln auch dann unterbleibt, sofern keine Befehle vorliegen
Regelvollzug und hierarchisches Bewußtsein gehorchen immer der formalen Erfüllung fest umgrenzter Aufgabenbereiche. Probleme entstehen für gewöhnlich dann, wenn mit wachsender Komplexität unterschiedlicher Aufgabenbereiche konfligierende oder sogar sich wechselseitig ausschließende Anforderungen an die Erfüllung gestellt werden. Das Prinzip des Regelvollzugs und die Logik des hierarchischen Bewußtseins lösen dieses Verfahrensdilemma dadurch, daß sie informell wirksamen oder formell festgelegten Prioritäten gehorchen. Ausgeklammert und unbeachtet bleibt dann, was mit diesen Prioritäten inkompatibel ist. Auf einen Ausschnitt des wissenschaftlich-technischen Innovationsprozesses in Betrieben beschränkt, soll dieser Zusammenhang im folgenden verdeutlicht werden.
Trotz aller verbalen und programmatischen Hervorhebungen der Rolle des wissenschaftlich-technischen Fortschritts seit Mitte der fünfziger Jahre blieb bis zum Beginn der Reformphase des Neuen ökonomischen Systems (NÖS, ab 1963) die Ausrichtung auf quantitative und in ihrem Effekt häufig dysfunktionale Produktionszuwächse die alles beherrschende Priorität der betrieblichen Planerfüllung. Bis zur ersten Einführung eines integrierten Planes „Neue Technik“ im Jahre 1961 wies das Planungsszenario allein ein halbes Dutzend unterschiedlicher Technikpläne aus, die nicht nur untereinander unverbunden blieben, sondern auch isoliert neben den betrieblichen Produktions-und Finanzplänen standen Aufgrund dieser zwar ungewollten faktischen Prioritätensetzung ergab sich, daß wissenschaftlich-technische Innovationen auf Betriebsebene ein weitgehendes Schattendasein führten. Sollte die Einführung neuer Technologien die jeweilige Planerfüllung gefährden, was aufgrund von Produktionsumstellungen, Anlaufschwierigkeiten und dergleichen sehr häufig der Fall war, so unterblieb auch, zumeist mit Duldung der wirtschaftsleitenden Organe, die betriebliche Innovation. Von 292 Forschungs-und Entwicklungsvorhaben, die beispielsweise im Jahre 1957 im Be-reich des Ministeriums Allgemeiner Maschinenbau abzuschließen waren, wurden nur knapp 60% erfüllt. In anderen Bereichen schwankte die Erfüllung von Entwicklungsvorhaben zwischen 36% und 116% Auch die unterschiedlichen Zeithorizonte vor! Jahr-plänen einerseits und Forschungs-und Entwicklungsvorhaben andererseits, die — wie etwa in der Radio-und Fernmeldetechnik — damals zwischen drei bis fünf Jahren umfaßten, schlugen regelmäßig zuungunsten betrieblicher Innovationsprozesse aus
Es wäre vordergründig, wollte man diese, im übrigen beliebig vermehrbaren Beispiele einer betrieblichen Innovationsfeindlichkeit allein auf die Inkonsistenz der verfügbaren Planungsmethoden oder — aufgrund des Preissystems — fehlender Nutzenkalküle reduzieren. Denn die Mängel der Lenkungsinstrumentarien selbst können nicht das Desinteresse und die beinahe schon internalisierte Gleichgültigkeit betrieblicher und anderer Wirtschaftsfunktionäre in all jenen Bereichen erklären, in denen entweder Innovationen stattfinden sollten, stattfanden oder die mit ihnen engstens verbunden waren. Politische volkswirtschaftliche Prioritätensetzungen und andere Zwänge mögen die geringen Realisierungschancen betrieblicher Innovation plausibel machen, sie erklären jedoch nicht, weshalb technische Pläne oftmals völlig veraltet waren weshalb sie nur formal und ohne Rücksicht auf ihren Nutzeffekt erarbeitet wurden oder etwa die Qualität der Erzeugnisse für den betrieblichen Produktionsprozeß eine Quantit n 6gligeable darstellte
Wenn etwa zu Beginn der sechziger Jahre nicht einmal 5% der Erzeugnisse eines vor-mals hochentwickelten Maschinenbausektors nach den gegebenen Qualitätsstandards überhaupt auf dem Weltmarkt absatzfähig waren wenn innerhalb des gesamten Maschinenbaus wie in anderen Industriezweigen zwischen 15 und 20% der Ausfallzeiten allein auf qualitativ defizitäre Produktionsmittel zurückzuführen waren dann hingen solche und ähnliche Symptome dysfunktionaler Wirtschaftsprozesse vornehmlich damit zusammen, daß sie in ihrer Detailliertheit und Feinstruktur durch zentrale Steuerungen nicht oder nur ungenügend beeinflußt werden konnten. Das heißt, in diesen Fällen wirkte jener Mechanismus, der bereits mit den Begriffen des Regelvollzugs und des hierarchischen Bewußtseins umschrieben wurde. Wenn das Gefüge aus Entscheidung und Entscheidungsumsetzung Leerstellen aufweist, das wirtschaftliche Handeln also nur unzureichend gesteuert werden kann, muß auch davon ausgegangen werden, daß sachlich angemessene Improvisationen und Selbstregulierung ausbleiben. Leistungen fehlen offenkundig der Tendenz nach dann, wenn sie nicht unmittelbar abgerufen oder adäquat kontrolliertwerden können. Der ungarische Ökonom Jänos Kornai hat Ende der fünfziger Jahre diese Zusammenhänge einmal zu Recht als ein in sich kohärentes System wirtschaftlicher Verschwendung und sozialer Indifferenz gekennzeichnet
Man wird die heutige DDR mit ihren wirtschaftlichen Leistungen und den erreichten technologischen Innovationen kaum mit jenen extremen Verzerrungen eines rigiden Entscheidungszentralismus vergleichen können, der für ihre Entstehungsphase typisch war. Rund die Hälfte des Grundfondsbestandes in der Industrie in Höhe von 365 Mrd. Mark (Ende 1983) besteht aus automatisierten Maschinen und Anlagen, wobei vollautomatisierte Bereiche freilich eine Ausnahme darstellen Ein Drittel des Maschinenbestandes der Industrie ist nicht älter als fünf, 60% sind nicht älter als zehn Jahre Bis Ende 1984 dürften rund 43 000 Industrieroboter im Einsatz gewesen sein, die allerdings in ihrer überwiegenden Mehrzahl im Vergleich zu internationalen Standards als technisch unterentwickelt gelten müssen
Angesichts solcher makroökonomischen Wandlungsprozesse und globaler technologischer Leistungskriterien darf andererseits nicht übersehen werden, daß auch die zeitgenössischen Innovationsprobleme auf Verhaltensweisen und Einstellungen verweisen, die in einer deutlichen Kontinuität der sozialen Grundfiguren von hierarchischem Bewußtsein und Regelvollzug stehen. Die gegenwärtige Diskussion über Risikobereitschaft und Kreativität bei Forschungs-und Entwicklungsvorhaben mag hierfür exemplarischen Charakter haben.
Die sogenannten Pflichtenhefte die vor allem auf Kombinatsebene als Planungs-und Leistungsinstrument für Forschungs-und Entwicklungsvorhaben dienen, legen in praxi relativ detailliert die einzelnen Zeitphasen, Maßnahmen, Arbeitsschritte und intendierten Arbeitsergebnisse fest, über die möglichen Nutzeffekte solcher planmäßig vollzogenen Forschungsarbeiten ist zweifellos Skepsis angebracht. Forschungs-und Entwicklungsprozesse mit innovativem Niveau sind in der Regel offene, im möglichen Ergebnis nicht determinierbare Vorgänge. Sie sind zwar planbar im Sinne einer Rahmen-oder Projektplanung, der Ressourcenzuteilung und thematischer Abgrenzungen, nicht jedoch im Sinne einer antizipierenden Ergebnisplanung. Denn lich-technischem Gebiet ungenutzt blieben Solche Vorbehalte gegen die gängige Praxis der Durchplanung und Übersteuerung nehmen sich freilich noch diplomatisch aus, wenn man sie mit Auffassungen vergleicht, die in den Pflichtenheften nicht mehr sehen als eine „nutzlose Papierausfüllerei"
Operationsweise und Wirkung hierarchisch gegliederter Verwaltungstrukturen wie klassischer Bürokratien schlechthin bestehen wesentlich darin, offene, wie im Effekt mehrdeutige soziale Prozeßlogiken in verwaltbare und steuerbare Prozesse zu überführen. Daß daher auch im Bereich der Forschungs-und Entwicklungsplanung die Tendenz besteht, nach „. sicher'realisierbaren technischen Lösungen“ zu streben die nach Möglichkeit alle Unwägbarkeiten und potentiellen Risiken schon im Planansatz selbst zu vermeiden trachten, liegt nahe. Der Preis für diesen Zuwachs an Übersicht besteht freilich darin, technologisches „Mittelmaß in die Zukunft zu transformieren und ... ökonomischen Prestigeverlust auf dem Weltmarkt" in Kauf zu nehmen „Teilweise muß“, so der DDR-Soziologe Klaus Ladensack, „überhaupt erst das Verständnis und die unabdingbare Notwendigkeit, gerechtfertigte Risiken einzugehen, weiter vertieft werden" Denn für „Leiter, Leitungsund Kontrollorgane" sei das „Risiko vor allem ein Begriff mit negativem Inhalt. Taucht Risiko auf, werden sofort Maßnahmepläne zur Eliminierung des Risikos verlangt.“
In solchen Haltungen spiegelt sich der soziologisch relevante Tatbestand, daß die unzureichende Flexibilität und Offenheit gegenüber Innovationsprozessen nicht nur und nicht einmal primär auf sachliche Zwänge und Wirkungen der Planerfüllung oder fehlsteuernder Planungsinstrumentarien zurückgeführt werden können, zumal gerade in jüngerer Zeit strukturelle Hindernisse dieser Art zurückgedrängt wurden. Vielmehr macht sich das besondere Profil einer allgemeinen geistigen Grundausrichtung und praktisch erprobter Verhaltensstrategien bemerkbar, die sich in
Forschungen, die ihre möglichen Resultate bereits vorwegnehmen können, sind offenkundig keine. Immerhin ist — einer jüngeren Untersuchung zufolge — auch die überwiegende Mehrheit der dort befragten Forschungs-und Entwicklungskader der Auffassung, daß auf der Grundlage planmäßig vorgegebener technischer und ökonomischer Parameter, die dann im Forschungs-und Entwicklungsprozeß umgesetzt werden, bestenfalls »internationale Durchschnittswerte erreicht werden (könnten)", dä vorhandene schöpferische Innovationspotentiale auf wissenschaft-einem sozialen Kosmos verbindlicher Regelvollzüge und fortlaufender Anpassungsleistungen gerade deshalb konfliktlos bewegen können, weil sie Abweichungen von der Norm und selbst zu verantwortendes Risiko zu vermeiden gelernt haben. Doch scheint mittlerweile der politische Nutzen solcher sozio-kulturellen Prägungen zum erstrangigen Problem zu werden. „Versuche", hieß es erst unlängst im theoretischen Parteiorgan „Einheit", „dem Risiko aus dem Wege zu gehen, möglichst nur Forschungsaufgaben in den Forschungsplan aufzunehmen, die mit absoluter Sicherheit zum Termin erfolgreich abgeschlossen werden können, bieten lediglich eine . Sicherheit’: Die ökonomische Wirksamkeit der wissenschaftlich technischen Arbeit wird völlig unzureichend sein"
III. Technostrukturen und Leistungsanforderungen
Die bisher betrachteten Erscheinungsformen des Leistungsverhaltens wurden in ihrer besonderen Prägung durch Strukturen der Herrschaft, der sozialen Akzeptanz und damit einhergehender Ausformungen des sozialen Arrangements bestimmt. Die techno-strukturelle Dimension des Leistungsverhaltens verweist hingegen auf einen hiervon analytisch unterscheidbaren Typus, auf eine andere . Gattung'von Verhaltensweisen. Anders als bei John Kenneth Galbraith, der mit dem Begriff Technostrukturen die Vorstellung bestimmter technisch-organisatorischer Funktionsgruppen verband, sollen hier unter diesem Begriff die Gesamtheit der gesellschaftlich akzeptierten Techniken und Technologien, aber auch etablierte technische Fertigkeiten und Verfahrensweisen verstanden werden, die im weitesten Sinne im Prozeß des Wirtschaftens zur Anwendung gelangen.
Verhaltensmuster, die in ein techno-strukturelles Beziehungsgefüge eingelassen sind, unterscheiden sich von anderen zum einen durch ihre sachliche Qualität. Eine CNC-Werkzeugmaschine besitzt keine Gefühle, eine Konstruktionsvorlage übt keine Sanktionen aus. Diese sachliche Qualität des Verhältnisses ist zum anderen wesentlich — wenn auch nicht ausschließlich — geprägt von dem, was gemeinhin als das Rationalitätskriterium oder Wirkprinzip von Technik schlechthin angesehen wird: das Prinzip des vergleichsweise kleinsten Kraftmaßes. Technik und technisches Handeln richten sich, wie etwa Max Weber definiert, nach dem „Optimum des Erfolges im Vergleich mit den aufzuwendenden Mitteln"
Für unsere Zwecke mag hier die Feststellung genügen, daß zumindest für die entwickelte-renkapitalistischen wie sowjetisch verfaßten Industriegesellschaften dieses technische Prinzip und die durch dieses beeinflußten techno-strukturellen Aspekte von Verhalten eine weitgehend unhinterfragte und im allgemeinen Bewußtsein selbstverständliche Rolle spielen. Auch die DDR-Soziologie räumt etwa ein, daß die materiell-technische Basis des sozialistischen Gesellschaftsgefüges über dieselben techno-strukturellen Operationsbedingungen verfügt wie die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Der Prozeß der materiellen Produktivkraftentwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sei der gleiche, Ost wie West.
Keineswegs jedoch bedeutet diese Orientierung auf dn vergleichsweise effektivsten Mitteleinsatz, daß sie auch jederzeit und in praxi vollständig zur Entfaltung käme. Entscheidend ist vielmehr, daß dieses technostrukturelle Prinzip als Potenz wirkt und bereits der sachlichen Ausrichtung und Konzeption den Technostrukturen inhärent ist. Daß an industriellen Arbeitsplätzen in der DDR bisweilen Effektivitätsreserven zwischen 30 und 40% vorliegen, die man in jüngerer Zeit durch die unterschiedlichsten Rationalisierungsmaßnahmen auszuschöpfen versuchte besagt lediglich, daß das techno-strukturelle Wirkprinzip aufgrund diverser Umstände sich realiter nur gebrochen unsetzt; besagt aber auch, daß es latent vorhanden ist und durch bestimmte Maßnahmen wie Verhaltensstrategien zur Wirkung gelangen könnte.
Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen will ich mich auf die exemplarische Diskussion von zwei Wirkungszusammenhängen beschränken, die durch die Entwicklung der Mikroelektronik induziert werden und auf die bislang erörterten Formen des Arbeitsund Leistungsverhaltens ausstrahlen. Diese sind:
— die abnehmende technologische Determination des Arbeitsprozesses:
— die Veränderung der Zeitstrukturen und die damit einhergehenden sozialen Dynamisierungseffekte. Die Nutzung der Mikroelektronik ermöglicht insbesondere das progressive Voranschreiten von Automatisierungslösungen und die Automatisierung ganzer Komplexbereiche der Arbeit, die bislang technisch nicht formalisierbar waren. Es scheint daher zunächst paradox, wenn dieses Zusammenwachsen einer zweiten, technisch gestalteten . äußeren Natur'des Menschen, dieser Prozeß seiner zunehmenden Objektivierung, gleichzeitig als Prozeß der abnehmenden Determination menschlicher Arbeitshandlungen gedeutet wird.
Plausibilität gewinnt diese These jedoch aufgrund folgender Zusammenhänge: Die menschliche Arbeitskraft wird aus den technisch formalisierbaren Bereichen, gegenwärtig insbesondere innerhalb des industriellen Fertigungsprozesses, zwar zunehmend ausgeschieden, zugleich aber bleiben auch auf höherer Automatisierungsstufe in den technologischen Lücken diverse Restfunktionen wie etwa Bedienen und überwachen, aber auch elementare Funktionen wie beispielsweise die Instandhaltung erhalten. Arbeitsanforderungen treten in diesen Fällen häufig unregelmäßig und oft verbunden mit längeren Phasen der Tätigkeitsarmut auf. Gleichzeitig wachsen damit die Anforderungen an Konzentration und Reaktionsvermögen deutlich an Im Bedarfsfälle muß schnell, auf hohem fachlichen Niveau und mit Übersicht, man denke an eine Havarie, gehandelt werden.
Das heißt, die Steuerung des Arbeitsverhaltens erfolgt in diesen und vergleichbaren Fällen wesentlich über subjektive Antriebe und weniger durch ein äußeres technologisches Regime, das bestimmte Handlungsabläufe kontinuierlich vorgibt.
In anderen Fällen wiederum bleibt zwar die äußere Determination durch vorgegebene Handlungsabläufe erhalten, gleichzeitig jedoch wachsen die Anforderungen an Präzision und Qualität erheblich, wobei die Arbeitsumwelt, wie etwa bei der Herstellung mikroelektronischer Bauelemente, noch zusätzliche Belastungen schafft Hier gehen beispielsweise extreme Anforderungen an Reinheit, Präzision und Konzentrationsvermögen (Schaltkreisproduktion) mit besonders belastenden Bedingungen wie einseitig repetitive Arbeitsvollzüge oder Anstrengung des Sehvermögens einher. Anders ausgedrückt: Ein hohes Maß an innengeleiteter Beherrschung und Disziplin bilden die Voraussetzung für sachgerechte Arbeitsvollzüge, die selbst nur geringe Möglichkeiten der affektiven Entlastung und motivationalen Bindung bieten.
Mit logisch ähnlichen, wenn auch im Erscheinungsbild anders gearteten Zusammenhängen haben wir es im Bereich der intelligenz-typischen Arbeitsfunktion zu tun. Beim Entwurf von Schaltkreisen, der sehr komplexe Arbeitsfunktionen involviert, die aufgrund der zu beobachtenden Datenmengen selbst nur noch rechnergestützt ausgeführt werden können, ist beispielsweise die Vorgehensweise der Entwicklungsingenieure im Sinne determinierbarer Arbeitsschritte und -ergebnisse nicht mehr möglich. Es bestehen, wie Peter Bartsch ausführt, nur „sehr eingeschränkte Prüf-und Kontrollmöglichkeiten" -Auch hier liegt es offenkundig im Verantwortungsbereich handelnder Subjekte, was von ihren Arbeitsergebnissen erwartet werden darf. Ihr inneres Engagement, ihre Handlungsbereitschaft sind aber ebensowenig zu erzwingen, wie die Früchte innovativer Forschungs-und Entwicklungsarbeit vorhersehbar sind.
Wo jedoch die determinierende Steuerung und die lückenlose Kontrolle des Arbeitsprozesses schon aus sachlichen Gründen ausscheiden, um die Effektivität des Wirtschaftens zu gewährleisten, kommt es offenkundig gerade und erneut auf jene Restgröße, auf die subjektiven Freiheitsgrade des Verhaltens an.
Auch die Veränderung der Zeitstrukturen erweist sich in ihrer sozialen Dimension als be-sonders konflikthaltig. Fortgeschrittene Automatisierungsmöglichkeiten und auch die Möglichkeiten der Technisierung ingenieur-typischer Tätigkeiten durch CAD-und CAM-Systeme senken den herkömmlichen Aufwand an Arbeitszeit in nahezu allen Phasen des Reproduktionsprozesses erheblich und verändern damit auch die Bedeutung des Zeitfaktors. Noch in den sechziger Jahren konnten etwa Erzeugnisse der metallverarbeitenden Industrie durchschnittlich in einem Zyklus von zehn bis zwölf Jahren mit relativem wirtschaftlichen Erfolg auf den nicht-sozialistischen Märkten abgesetzt werden Gegenwärtig hingegen dauert die Zeitphase, in der notwendige Adaptionen einer Erzeugnisgeneration an technisch mögliche Veränderungen und Innovationen stattfinden, durchschnittlich nur noch vier Jahre. Im Werkzeugmaschinenbau verkürzte sich der qualitative Erneuerungszyklus zu Beginn der achtziger Jahre auf Weltmarktebene bereits auf drei Jahre. Entsprechend entscheidet auch der Zeitpunkt der Absatztätigkeit zu mindestens 50% über die möglichen Erlöse eines Erzeugnisses
Solche Wandlungsprozesse der makroökonomischen Umwelt ziehen aber auch die eingespielten Verhaltensmuster der Arbeitswelt in den Sog einer sich unablässig verjüngenden Zeitspirale. Sie erfordern fortlaufende Anpassungsprozesse an den immer rascheren Wechsel der Bedingungen und Inhalte der Arbeit. Grundlegende Arbeitsanforderungen in der Industrie verändern sich derzeit bereits in einem Rhythmus von fünf bis zehn Jahren; technologisch bedingte Anforderungen und Qualifikationen schlagen teilweise sogar schon in einem Zyklus von drei bis vier Jahren um
Was gegenwärtig noch in sehr bescheidenem Umfang stattfindet, der Wechsel des Arbeitsplatzes, der Arbeitsstelle, aber auch des Berufes, wird, wenn wir westliche Entwicklungen für die DDR perspektivisch übertragen wollen, eher zur durchschnittlichen Regel denn zur Ausnahme werden. So sei es für das kommende Jahrzehnt nicht mehr ungewöhnlich, daß „ein Werktätiger im Laufe seiner Berufs-tätigkeit mehrmals aktiv an der Einsparung oder Umgestaltung seines bisherigen Arbeitsplatzes mitwirken muß" Wurden 1971 erst 20% aller Beschäftigungsverhältnisse durch „gesellschaftlich notwendige“ Veränderungen aufgelöst, so belief sich dieser Anteil 1980 bereits auf 33% und dürfte gerade in den letzten Jahren — neuere Zahlen liegen nicht vor — erheblich zugenommen haben
Zu Beginn der achtziger Jahre waren in jenen volkswirtschaftlichen Sektoren, die gegenwärtig und in jüngster Zukunft besonders stark durch mikroelektronische Technologien umgewälzt werden — die produktionsdurchführenden und Verwaltungsbereiche —, etwa 60% aller Beschäftigten (rund 4, 5 Mio. Menschen) konzentriert Gerade in diesen Sektoren häufen sich die technisch formalisierbaren und damit auch rationalisierbaren Tätigkeiten. Zwar lassen sich aufgrund der Wirkung heterogener Beschäftigungsfaktoren (Faktoren des zusätzlichen wie abnehmenden Arbeitskräftebedarfs) die technologisch bedingten Einsparungseffekte seriöserweise kaum isoliert betrachten, doch kann generell von einer betont rückläufigen Bewegung des Arbeitskräftebedarfs in diesen — quantitativ gesehen — Hauptsektoren der Beschäftigung gesprochen werden. Allein im Büro-und Verwaltunsgbereich weisen westliche Schätzungen darauf hin, daß zwischen 25 und 30% der Geschäftigten durch Automatisierung freigesetzt werden könnten Dieser (rechnerische) Prozentsatz dürfte angesichts der — gemessen an westlichen Standards — personellen Überbesetzung in allen Wirtschaftsbereichen in der DDR noch erheblich höher liegen.
IV. Ausblicke
Die sich hier abzeichnende Permanenz des Wandels, die Verflüssigung und Auflösung stabiler Arbeits-und Lebensverhältnisse, kontrastiert stark mit den auf soziale Statik angelegten Charakteristika des Arbeits-und Leistungsverhaltens. Die bislang erprobten Muster der individuellen wie kollektiven Orientierung, die auf der Landkarte des Parteistaats in der Vergangenheit einen brauchbaren sozialen Kompaß boten, waren — wenn wir die sozialen Veränderungen der Entstehungsphase vernachlässigen — wesentlich auf soziale Kontinuität und konservative Bestands-wahrung ausgerichtet. Diese Muster scheinen nun irreversibel veraltet, ohne daß erkennbar wäre, daß an ihre Stelle neue, den sich verändernden Umweltbedingungen angepaßtere Verhaltensorientierungen und Bewältigungsstrategien getreten wären Vor allem jedoch wird zu bedenken sein, daß die tradierten Bewegungsformen der Arbeitswelt mit dem Komplex der Systemstrukturen bislang ein durchaus stimmiges, wenn auch keines-wegs konfliktfreies Gefüge sozialer Entsprechungen bildeten.
Man kann daher die entlastende Funktion der Arbeitskollektive und den Binnenmechanismus ihrer Konfliktverarbeitung nicht ersatzlos streichen, ohne sich Örientierungsverluste und soziale Konflikte an anderer Stelle einzuhandeln. Wer das Risiko und das selbständige Engagement in Innovationsprozessen will, wird das System des politischen Wohlverhaltens und des konformen Regel-vollzugs außer Kraft setzen müssen. Wer kalkuliertes Leistungsverhalten und wirksame materielle Anreize verankern will, wird nicht nur den sozialen Preis des Konsumismus zahlen, sondern auch die systemischen Voraussetzungen dafür schaffen müssen, daß nach dynamischen und individuellen Bedarfskriterien konsumiert werden kann. Die grauen und schwarzen Tauschmärkte und die immer fehlenden tausend kleinen und großen Dinge des Lebens vertragen sich mit den Prämissen einer Leistungsgesellschaft nur schlecht.
Das eine wird man also ohne das andere nicht erreichen können. Die Innovation des sozialen Verhaltens setzt die Innovation der Systemstrukturen voraus. In welchem Maße dies möglich sein wird und welche sozialen Ansatzpunkte die gegenwärtige DDR-Gesellschaft hierfür bietet, ist freilich eine andere Frage. Daß sie sich zwingend stellt, ist eine Konsequenz dieser Analyse.
Fred Klinger, Dr. rer. pol.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Osteuropa-und DDR-Forschung.
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