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Italien in den achtziger Jahren | APuZ 8/1986 | bpb.de

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APuZ 8/1986 Artikel 1 Portugal und Spanien in der Europäischen Gemeinschaft Politische Lage, ökonomisches Potential und wirtschaftspolitische Problembereiche der neuen Mitgliedsländer Die Iberische Halbinsel und Europa Ein kulturhistorischer Rückblick Italien in den achtziger Jahren

Italien in den achtziger Jahren

Günter Trautmann

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Zusammenfassung

Die jüngsten Präsidentschaftswahlen, das Referendum zur automatischen Lohnanpassung sowie die neuesten Administrativ-Wahlen haben erneut die notorischen verfassungspolitischen Strukturdefizite und die komplizierten Mechanismen sozialer und nationaler Konsensbildung in Italien sichtbar werden lassen. Nimmt man die äußerst skeptische politische Einstellung der Bürger zu dem etablierten Institutionensystem als Indikator hinzu, so basieren die politischen Institutionen Italiens auf einer sehr schwachen Legitimationsgrundlage. Auf diese Legitimationslücke zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung haben Parteimitglieder und Wähler entgegen zahlreichen pessimistischen Erwartungen auch in den achtziger Jahren aber keineswegs mit einem starken Legitimationsentzug reagiert. Statt dessen haben die Wähler entlang stabiler Parteiidentifikationen entschieden, die durch historische, soziale, familiäre und kulturelle Sozialisationsprozesse weit stärker geprägt sind als in den meisten anderen EG-Ländern. Insbesondere aufgrund der kulturellen, sozialen sowie politischen Kohärenz und der gleichzeitigen Kompromißfähigkeit der beiden großen Lager Katholizismus und Kommunismus ist das politische System Italiens relativ stabil geblieben. Das Land ist trotz einer Überlastung durch ökonomische Schwierigkeiten, soziale Konflikte und internationale Auseinandersetzungen keineswegs in eine grundlegende Legitimationskrise geraten, die von Politikern und politikwissenschaftlichen Experten häufig prognostiziert wurde. Die gleichzeitig Stabilität verbürgende und Reformen blockierende Existenz der beiden politischen Zentralkulturen Katholizismus und Kommunismus sowie die krisenentschärfende Abkoppelung der partiell selbstregulierten Gesellschaft vom politisch-administrativen System werden Italien auch in Zukunft stärker als andere EG-Länder vor einem Umschlagen der wirtschaftlichen und administrativen Rationalitätskrise in eine politische Legitimationskrise bewahren.

I. Besser als der politische Ruf? Außenpolitische Initiativen und wirtschaftliche Teilerfolge

DC PCI PSI PSDI PRI PLI PR DP PDUP MSI Grüne Pensionierte Andere 11 063 230 9 497 959 4189 149 1 132 606 1 261 788 692 675 : — 464 200 con il pci 2 055 726 637 655 79 351 429 019 Die Resultate der Regionalwahlen % 35, 1 30, 2 13, 3 3, 6 4, 0 2, 2 — 1, 5 — 6, 5 2, 1 0, 3 1, 3 33, 0 34, 5 11, 3 3, 4 6, 2 3, 2 1, 4 — 6, 3 — — 0, 7 32, 6 31, 2 11, 4 4, 0 5, 0 3, 0 2, 9 1, 5 — 6, 6 — — 1, 8 11 154 642 9 564 073 3 851 980 1 506 640 924 341 818 220 — 274 911 373 073 1 787 386 — — 95 526 % 36, 8 31, 5 12, 7 5, 0 3,ﯔ

. Das politische Image Italiens Italiens politischer Ruf nach dem Zweiten Weltkrieg blieb ambivalent. Allgemein bewundert werden die kulturelle Vielfalt des Landes, der vitale gesellschaftliche Pluralismus, Kreativität und Kompromißfähigkeit der politischen Elite sowie die erstaunliche Krisenfestigkeit der italienischen Bevölkerung selbst in äußerst schwierigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situationen 1). Es gibt aber auch massive Vorbehalte gegen notorische Funktionsschwächen des ökonomischen, sozialen und politischen Systems. Darüber hinaus werden in den Massenmedien zahlreiche Meldungen über Papst-Attentate, die organisierten Verbrechen der Mafia und Camorra, rechts-und linksextremistische Terroraktionen, Korruptionsfälle bis in höchste politische Ämter, Staatsverschwörungen, Bankenskandale und phantastische Formen der Steuerhinterziehung unnötig hochgespielt. Dieses mediale Image trägt im Ausland zu einer publizistisch konstruierten Wirklichkeit bei, die Italiens realer Leistungsbilanz keineswegs entspricht.

Die hohe Bedeutung des Landes für die europäische Kultur ist unbestritten. Auch die Vorrang-stellung Roms in der katholischen Welt und die politische Mittlerrolle des Vatikans zwischen Ost'und West wird weltweit anerkannt. Im letzten Jahrzehnt ist Italien außerdem in zahlreichen internationalen Organisationen erfolgreich tätig geworden Das EG-und NATO-Land hat sich für den inneren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft stark gemacht, eine autonomere Stellung der Westeuropäer im internationalen System gefordert, durch aufsehenerregende Initiativen zur Entspannungspolitik beigetragen und darüber hinaus die Rolle des ehrlichen Maklers im Mittelmeerraum gespielt. In der sozialstaatlichen Krisensituation Westeuropas wird außerdem seit einem Jahrzehnt die außerordentliche Fähigkeit der italienischen Gesellschaft beachtet, durch eine informelle Ökonomie, regionale Politikkulturen und kleine Netze subsidiärer Solidarität die strukturelle Wirtschaftskrise sozial und politisch besser aufzufangen als andere EG-Länder Dem ambivalenten politischen Ruf Italiens im Ausland kommt natürlich entgegen, daß auch die Bevölkerung den politischen Institutionen und internationalen Aktivitäten des eigenen Landes äußerst skeptisch gegenübersteht So äußerten etwa 80 % der befragten Italiener in den siebziger Jahren konstant ihre Unzufriedenheit mit der etablierten Politik. Das Vertrauen auf Systeme gesellschaftlicher Selbsthilfe war bedeutend größer als in das Parteiensystem und in die staatlichen Institutionen. Nur 43, 6% der Befragten zeigten Vertrauen ins Parlament, noch weniger schätzten die Arbeitnehmer-und Arbeitgeberverbände (knapp 40 %), und die traditionellen Parteien waren sogar nur für ein Viertel der Bevölkerung (26, 6 %) glaubwürdig. Dagegen setzten die Italiener auf ihre Familie (84, 9 %) und die Kompetenz der Wissenschaft (83, 7 %). Mit dem sozialen und politischen System war nur eine verschwindende Minderheit sehr zufrieden (3, 7 %). Die Hälfte sprach sich für grundlegende Reformen aus (49, 8 %) und ein Drittel hielt tiefgreifende Wandlungen in allen Bereichen für erforderlich (28, 8 %)

Als besonders dringlich werden folgende Reformpunkte eingestuft: ein Personenrevirement in den Staats-und Parteiämtern, die moralische Erneuerung des politischen, gesellschaftlichen und privaten Lebens (moralizzazione), die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, d %) und ein Drittel hielt tiefgreifende Wandlungen in allen Bereichen für erforderlich (28, 8 %) 5).

Als besonders dringlich werden folgende Reformpunkte eingestuft: ein Personenrevirement in den Staats-und Parteiämtern, die moralische Erneuerung des politischen, gesellschaftlichen und privaten Lebens (moralizzazione), die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Sanierung des Gesundheitswesens, die Reform des Schulsystems, die Überwindung der Wirtschaftskrise und eine grundlegende Veränderung des Verteilungssystems.

In der politischen Kultur sind die zentralen politischen Institutionen des Landes (Parteien, Verbände, Parlament) also wenig verankert. Für eine partiell selbstgeregelte Gesellschaft, die den Staat historisch und politisch nie so stark überhöhte wie zahlreiche andere europäische Länder, sind diese demoskopisch feststellbaren Legitimationsverluste aber nicht unbedingt ein Indiz für strukturelle Legitimationskrisen des ökonomischen, sozialen und politischen Systems. In Italien reguliert sich das teilautonome System der Bedürfnisse stärker über gesellschaftliche Organisationen als über den klientelistisch geschwächten Staatsapparat. Insofern ist die ökonomische Rationalitätskrise bisher von der politischen Legitimationskrise weit stärker abgekoppelt geblieben als in den meisten anderen EG-Ländern.

Dennoch wird Italien oft als ein Land permanenter Krisen wahrgenommen, in dem ein europäischer Rekord an Regierungswechseln und Streiks das wirtschaftliche, soziale und politische Institutionensystem weitgehend lähmt. Auch in der Außenpolitik galt Italien eine Zeitlang wegen der großen kommunistischen Massenpartei PCI besonders in den Vereinigten Staaten — weit weniger bei den europäischen Regierungen — als schwieriger NATO-Partner 6). Als Mitte der siebziger Jahre kommunistische Regierungsbeteiligungen in Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland nicht mehr auszuschließen waren, sah sich besonders Italien massiven direkten und indirekten Pressionen der eigenen EG-und NATO-Partner ausgesetzt.

Nicht nur christdemokratische Bruderparteien wie die CDU versuchten mit starkem Druck, eine rot-schwarze Koalition aus Katholiken und Kommunisten zu verhindern. Italiens NATO-Partner wurden bei aller diplomatischen Zurückhaltung noch deutlicher gegen die erkennbare Absicht des großen christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro, Kommunisten an einer Notstandsregierung zu beteiligen, damit die Wirtschafts-und Sozialkrise Italiens durch einen neokorporatistischen Pakt überwunden werden konnte 7). Besonders Henry Kissinger äußerte schon 1976 die Befürchtung, beim Eurokommunismus handele es sich nur um ein geschicktes Täuschungsmanöver zur Gewinnung von Wählerstimmen. Eine kommunistische Regierungsbeteiligung habe negative Folgen für den Zusammenhalt des NATO-Bündnisses. Diese Linie, der auch Präsident Gerald Ford folgte, wurde von Jimmy Carter nur vorübergehend modifiziert. Im Wahlkampf regte der Präsidentschaftskandidat an, eurokommunistische Parteien von außen her auf eine Westorientierung ihrer Politik zu drängen. Paul Warnke vertrat die Auffassung, Eurokommunisten könnten in der Regierung durchaus verantwortlich handeln, zumal die Koalitionsbeteiligung noch keine volle Teilhabe an der Staatsgewalt bedeute.

Nach dem Amtsantritt Carters änderten sich aber die Sprache und der politische Tonfall in Fragen einer kommunistischen Regierungsbeteiligung in Südeuropa. Kurz vor den Märzwahlen in Frankreich (1978), die einen Sieg der unitarischen Linken erwarten ließen, erklärte das State Department, die italienische Christdemokratie solle die Bevölkerung vor einer kommunistischen Regierungsbeteiligung warnen 8). Das NATO-Hauptquartier EUROPA hatte sich zuvor über Kürzungen im italienischen Militärbudget beunruhigt gezeigt. Nach der Verlautbarung des US-State Department erklärten auch militärische NATO-Kreise, Italien werde von allen strategischen und taktisch-nuklearen Planungen ausgeschlossen, falls Kommunisten an der Regierung beteiligt würden.

Da diese Frage von amerikanischer Seite allein unter dem Aspekt der globalen Blocklogik behandelt wurde, befand sich Carter in voller Übereinstimmung mit einer außenpolitischen US-Traditionslinie, die innereuropäische Nuancierungen im globalstrategischen Szenario nicht zuläßt. Die europäischen NATO-Länder, die einer kommunistischen Regierungsbeteiligung in südeuropäischen Ländern ebenfalls skeptisch gegenüberstanden, verhielten sich diplomatisch und politisch weit zurückhaltender, indem sie die natio-nalen Konstellationen in Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechendland innen-und außenpolitisch sehr unterschiedlich bewerteten. Als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt auf der internationalen Konferenz von Puerto Rico (1976) äußerte, die deutsche Kredithilfe könnte in Frage gestellt sein, wenn Kommunisten an die Regierung kämen, reagierte die politische Öffentlichkeit in zahlreichen NATO-Ländern zwar entrüstet auf diese unverhohlene Andeutung einer wirtschaftlichen Intervention gegen Italien Schmidt hatte damit aber nur einen weitgehenden Konsens im Atlantischen Bündnis öffentlich konstatiert. 2. Neueste Initiativen in der Außenpolitik Die außenpolitischen Image-Verluste Italiens bei dem Versuch, während der siebziger Jahre Kommunisten in den Stabilitätspakt zur Sicherung der Wirtschaft und der Demokratie einzubeziehen (1976— 1979), sind ein Jahrzehnt später nur noch schwer verständlich. Die kommunistische Partei Italiens (PCI) hat seit Ende der siebziger Jahre durch massive Kritik an der sowjetischen Afghanistan-Intervention und an dem repressiven Militärsystem in Polen die eurokommunistische Westoption auch gegenüber den realsozialistischen Ländern nachdrücklich vertreten Außerdem ist der PCI heute von der nationalen Regierungsverantwortung bedeutend weiter entfernt als Mitte der siebziger Jahre. Von einem demokratischen Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition (alternanza), das zum Altagsgeschäft westlicher Demokratien gehört, kann in Italien auch in absehbarer Zeit keine Rede sein.

Abgesehen von der relativen Stabilisierung des Parteiensystems durch die Fünferkoalition aus Christdemokraten (DC), Sozialisten (PSI), Republikanern (PRI), Liberalen (PLI) und Sozialdemokraten (PSDI) hat sich Italiens Rolle auch im internationalen System durch erfolgreiche Initiativen gefestigt. Während die Gesellschaft Italiens aufgrund ihrer relativen Krisenfestigkeit künftig als Paradigma eines selbstregulierten, teilautonomen Systems noch von sich reden machen wird, haben die italienischen Regierungen auch außen-politisch Profil gewonnen. Die These des italienischen Außenministers Giulio Andreotti auf dem jährlichen Nationalfest des PCI, es gäbe zwei deutsche Staaten, und so solle es auch bleiben, hat nur in der Bundesrepublik starke Irritationen hervorgerufen, zumal der Vorwurf des „Pangermanismus“ hier besonders provozieren mußte. Andreotti hat ansonsten seit 1983 zahlreiche außenpolitische Initiativen entwickelt, bei denen er auf die weitgehende Unterstützung seines Bonner Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher rechnen konnte

Italien macht sich traditionell für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der EG-Institutionen stark. Emilio Colombo und Hans-Dietrich Genscher unternahmen 1981 einen koordinierten Vorstoß, die „Europäische Union“ politisch und institutionell endlich weiter voranzubringen. Auf dem Mailänder EG-Gipfel (Juni 1985) und beim Luxemburger Treffen der Staats-und Regierungschefs (Dezember 1985) blieb das exportorientierte und modernisierungswillige Italien seiner Rolle als ständigem EG-Inspirator ebenfalls treu. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sollte verhindert, die Technologiepolitik auf EG-Ebene vorangetrieben und auch die Westeuropäische Union (WEU) reaktiviert werden. Hinter dieser starken EG-Option, die jenseits des Atlantiks zunehmend Irritationen hervorruft, steht nicht nur die kommunistische Oppositionspartei, sondern auch eine breite Bevölkerungsmehrheit, der das Eurobarometer seit Jahren die größte EG-Euphorie unter allen Mitgliedstaaten attestiert.

Der außenpolitische Experte Cesare Merlini hat die EG-und NATO-Optionen Italiens kürzlich pointiert so formuliert: Europa sei für Italien die einzige Alternative zum Status eines Satelliten Amerikas Trotz der nachdrücklichen Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses und seiner loyalen Ausführung sind die EG-Option und die traditionelle USA-Orientierung des Landes erst kürzlich in einen bisher nie dagewesenen außenpolitischen Konflikt geraten Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten drängte Ministerpräsident Bettino Craxi schon vor Beginn der Genfer Verhandlungen auf die Einbeziehung der Reaganschen SDI-Pläne in das Spitzengespräch der Supermächte. Europäische Gemeinschaft, Westeuropäische Union und EG-Technologiepolitik sollen aus italienischer Sicht den europäischen NATO-Ländern mehr Handlungsspiel-_, 1-1 \ räume im Rahmen des Atlantischen Bündnisses schaffen. Ein innerlich gefestigtes Westeuropa könnte auch erfolgreicher auf globale und regionale Entspannungsprozesse einwirken, eigene Regionalinteressen nachdrücklicher wahrnehmen und eine aktivere Nahost-und Dritte-Welt-Politik betreiben.

Als es wegen der Entführung palästinensischer Terroristen zwischen den Bündnispartnern Italien und USA auf dem Sizilianischen Flughafen Sigonella fast zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam (Oktober 1985), trat die strukturelle Spannung zwischen regionaler Friedenspolitik und globalen Supermachtinteressen in offenen Rechtsbrüchen der USA zutage. Nicht nur Italien, sondern auch das Europäische Parlament sprach sich in diesem Zusammenhang gegen den „Akt der Piraterie“ bei der Entführung des ägyptischen Flugzeugs durch amerikanische Militär-maschinen aus

Die traditionelle atlantische Bindung Italiens ließ diesen strukturellen Konflikt aber schon kurze Zeit später auf diplomatischem Weg zum Betriebsunfall einer substantiell intakten Partnerschaft werden. Die Tatsache freilich, daß sich Italien — wie die übrigen EG-Länder — im neuesten Libyen-Konflikt (Januar 1986) gegen eine Militärintervention der USA ausspricht und einem Wirtschaftsboykott Libyens sehr skeptisch gegenübersteht, macht deutlich, daß regionale Friedensinteressen, atlantische Bündnistreue und globale Supermachtlogik durchaus kollidieren können. 3. Wirtschaftliche Teilerfolge Die politische Stimme Italiens im internationalen System ist während des letzten Jahrzehnts hörbarer geworden. Im Weltwirtschaftssystem nimmt das Land aber unter den führenden westlichen Industrienationen immer noch eine Randstellung ein, obwohl Italien während der letzten Jahre in einigen Branchen beachtliche Modernisierungserfolge vorweisen kann. Dennoch: Zu einem Zeitpunkt, als sich die Lira im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) deutlich stabilisiert hatte, wurde Italien in den Club der Großen Fünf (USA, Japan, Großbritannien, Bundesrepublik Deutschland und Frankreich) zur Beratung der Finanzminister und Notenbankpräsidenten über eine abgestimmte Geld-und Währungspolitik nicht einmal eingeladen (Januar 1986),

Dabei hat die italienische Industrie durch Rationalisierungsmaßnahmen und eine innovatorische Produktionspolitik selbst in der deutschen Wirtschaftspresse inzwischen einige Aufmerksamkeit erregt Längere Zeit schien sich eine Kooperation zwischen FIAT (34, 5 Mrd. DM Konzernumsatz 1984) und Ford anzubahnen. Der italienische Fernsehunternehmer Silvio Berlusconi übertrifft inzwischen mit seinen beiden privaten Fernsehanstalten „Canale 5“ und „Rete 4“ nicht nur die Zuschauerzahlen des staatlichen Fernsehens RAI. Er schloß auch mit der französischen Privatgesellschaft „La Cinque“ /Seydoux einen Vertrag ab, der mit Hilfe neuer Satelliten 250 Millionen mögliche Zuschauer und Ausstrahlungen bis nach Afrika sichern soll.

Die staatseigene Firma Italimpianti sicherte sich derweilen in der UdSSR einen Milliarden-Dollar-Auftrag zur schlüsselfertigen Errichtung eines Stahlröhrenwerks, um das sich auch deutsche Firmen beworben hatten. Das hohe italienische Defizit im Handel mit der Sowjetunion (2, 1 Mrd. Dollar 1984), aus der Italien Rohöl und Erdgas importiert, um dafür hauptsächlich Industriegüter zu liefern, dürfte bei dieser staatlichen Investitionsentscheidung der UdSSR eine wichtige Rolle gespielt haben. Michail Gorbatschow hat dem italienischen Ministerpräsidenten Craxi nämlich zugesagt (Mai 1985), für ein besseres Handelsgleichgewicht zwischen den beiden Ländern zu sorgen. Das italienische Interesse an diesem Gleichgewicht trägt sicherlich auch zu den entspannungspolitischen Aktivitäten des italienischen Außenministers Andreotti und zu den italienischen Vorbehalten gegen die SDI-Pläne bei.

Nicht nur diplomatisch und außenpolitisch gelangen Italien in den letzten Jahren einige Durchbrüche. Auch im Bereich der Hochtechnologie sind neue Initiativen und innovatorische Erfolge zu verzeichnen. Der Wirtschaftskorrespondent der Tageszeitung „Die Welt“ in Mailand, Günther Depas, zeichnet jedenfalls in einem jüngst erschienen Sonderreport über die italienische Technologie ein optimistisch gestimmtes Zukunftsbild Staatspräsident Francesco Cossiga hat kürzlich erklärt (November 1985), durch engere wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit könne Europa seine Position in der Welt stärken. Er vertritt die Auffassung, daß Italien mehr Geld für die Forschung ausgeben muß. Außerdem soll die bisher überwiegend auf den militärischen Sektor eingeschränkte technologische Zusammenarbeit der EG-Länder stärker auf den zivilen Sektor ausgedehnt werden Auch der italienische Forschungsminister Granelli bemängelt, daß sein Land bisher weniger öffentliche Mittel für die wissenschaftliche Technologieforschung zur Verfügung gestellt hat als die übrigen großen Industrienationen. Der Minister fordert wie die meisten seiner Amtskollegen eine phantasievolle Forschung auf dem Gebiet der sogenannten Software und erhofft sich von einem koordinierten Vorgehen der Europäer die Schließung der Technologielücke zu den USA und Japan.

Italien investiert zwar im Vergleich zur Bundesrepublik nur etwa die Hälfte an öffentlichen Mitteln in die Forschung. Für den italienischen Staatspräsidenten Cossiga aber sind gemeinsame Projekte im Rahmen der EG — wie etwa der „Tornado“ — durchaus zukunftsträchtig. Wenn es gelungen sei, ein gemeinsames Jagdflugzeug zu bauen, dann könnten die Bundesrepublik, Großbritannien und Italien auch weitere Projekte in Angriff nehmen. Indem Cossiga vorsichtig anklingen ließ, daß eine deutsch-französische Bilateralisierung der EG-Technologiepolitik nicht im Interesse Italiens liegt, begrüßte er das Eureka-Projekt als eine Chance, die EG-Länder auch in diesem Bereich stärker anzunähern.

Die italienische Realität sieht zur Zeit freilich anders aus Im Bereich der Hochtechnologie sind nur 4, 3 % aller Beschäftigten tätig (Vereinigte Staaten: 5, 1 %), und auf dem Gebiet der Elektronik sowie der Nachrichtentechnik stellen sich sehr wenige Unternehmen dem internationalen Wettbewerb.

Dagegen arbeitet heute aber die Textil-und Bekleidungsindustrie Italiens schon mit modernsten Produktionstechniken wie elektronischer Steuerung und Kontrolle. Die italienische Automobil-industrie, besonders FIAT, aber auch andere Branchen sind inzwischen zur Robotorisierung und Automatisierung übergegangen. Im Fahrzeug-und Maschinenbau werden ebenfalls Hochtechnologien eingeführt. Italienische Anlagebaufirmen haben sich in den letzten Jahren gute Marktanteile erobert, und die Werkzeugmaschinenbauer Italiens rangieren der Produktion nach auf dem fünften Platz in der Welt. Mit dem zweitgrößten westeuropäischen Chips-Hersteller (SgsAtes) und der Welt fünftgrößtem Silizium-scheiben-Hersteller (Dynamit Nobel Silicon) kann Italien in der Mikroelektronik immerhin seine Fähigkeit demonstrieren, Anschluß an die dritte industrielle Revolution zu halten. Die großen italienischen Konzerne haben daher in den vergangenen zwei Jahren ihre Forschungs-und Entwicklungsabteilungen weitgehend reorganisiert; sie arbeiten außerdem enger mit in-und ausländischen Forschungsinstituten zusammen. Auch der nationale Forschungsrat Italiens (CNR) zeigt sich bemüht, die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft voranzutreiben. Eine staatliche Behörde für nukleare und alternative Energien (ENEA) bietet kleinen und mittleren Unternehmen mittlerweile einen Sonderservice an. Diese öffentliche Förderung wurde 1983 gemeinsam mit dem Spitzenverband der italienischen Industrie beschlossen. Daß Italien unter allen Umständen den Anschluß an die Spitzen-technologie halten will, machte auch eine Expertenkonferenz über „Technologische Innovationen und Produktionsstruktur: Die Position Italiens“ deutlich, die von der Banca Nazionale del Lavoro veranstaltet wurde (Dezember 1983) Für die Experten dieser Konferenz stand es außer Frage, daß die italienische Wirtschaft und auch der Staat nur im Rahmen einer EG-konzertierten Technologiepolitik der wirtschaftlichen und politischen Herausforderung durch die USA und Japan begegnen können.

Es wird sich in den achtziger und neunziger Jahren zeigen, ob die nationale Wirtschaftsstärke Italiens reicht, diese Ziele zu verwirklichen. Zur Zeit sieht sich das Land vor ganz anderen wirtschaftspolitischen Problemen Italien konnte erst gegen Ende 1983 Anschluß an den weltwirtschaftlichen Konjunkturaufschwung gewinnen. Die 2, 6prozentige Erhöhung des realen Bruttosozialprodukts kam 1984 vor allem durch eine leichte Belebung der Inlandsnachfrage zustande. Die Industrieproduktion aber blieb 1984 mit einer Zuwachsrate von 3, 1 % unter den ursprünglichen Erwartungen. Eine Arbeitslosenquote von gut 10 % senkte die Massenkaufkraft und trug zu einer Schwächung der Binnennachfrage bei. Während Italien in den siebziger Jahren steigende Realeinkommen verzeichnen konnte, wurde die hohe Inflationsrate in den folgenden Jahren durch eine restriktive Geldpolitik, besonders aber mit Hilfe des gewerkschaftlichen Kampfverzichts auf eine volle Ausschöpfung der automatischen Lohnanpassung (scala mobile) von 14, 6 % (1983) auf 10, 8 % (1984) gesenkt. Ein Jahr später machte das Referendum über die scala mobile (Juni 1985) deutlich, daß die Mehrheit der Bevölkerung bis tief in die Arbeiterklasse hinein diesen Anti-Inflationskurs der Regierung durchaus honoriert.

Trotz solcher Maßnahmen blieb die internationale Wettbewerbsfähigkeit Italiens jedoch eingeschränkt und das notorische Handelsdefizit stieg in den Jahren 1983/84 weiter an. Auch 1985 hat sich die wirtschaftliche Situation des Landes nicht wesentlich verbessert Im Januar 1985 blieb die Zahl der Arbeitslosen mit 2, 5 Mio. gegenüber dem Vorjahr unverändert. Die Inflationsrate konnte im ersten Halbjahr immerhin wesentlich unter 10% gedrückt werden. Die hohen Schulden der öffentlichen Hand aber blieben. Im September 1985 brachte die wenig später zurückgetretene Regierung Craxi einen Haushaltsvoranschlag für 1986 mit dem Defizit von 110 000 Mrd. Lire (165 Mrd. DM) ein. Das sind 14, 6 % des zu erwartenden Bruttosozialprodukts.

Wahrscheinlich wird dieser Ansatz auch 1986, wie schon in den vorangegangenen Jahren, deutlich nach oben korrigiert werden müssen. Das hängt zum Teil davon ab, ob die Inflation von 8% (Oktober 1985) tatsächlich auf 6% heruntergedrückt werden kann und ob die Zinsersparnis für Staatsschulden groß genug sein wird. Die italienische Zentralbank hat jüngst mitgeteilt (Februar 1986), daß die Gesamtverschuldung der öffentlichen Hand (ca. 700 000 Milliarden Lire) 1986 voraussichtlich zum ersten Mal den Umfang des Bruttosozialprodukts erreichen wird. Der Internationale Währungsfonds (IWF) vertritt jedenfalls die Auffassung, daß ein dauerhafter Aufschwung der italienischen Wirtschaft nur möglich ist, wenn der Staatshaushalt ausgeglichen, die öffentlichen Schulden reduziert und auch strukturelle Probleme der Industrie — wie die geringe Rentabilität der Staatsbetriebe, eine im Vergleich zu anderen führenden Industrienationen schwache Produktivität und geringere Investitionsneigung — überwunden werden.

II. Das schwere historische Erbe und die politischen Strukturdefizite der italienischen Demokratie

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 6. 1983.

1. Der historische Sonderweg Italiens im. Modernisierungsprozeß Im Vergleich zu anderen führenden westlichen Industrieländern fällt die innenpolitische und außenwirtschaftliche Bilanz Italiens in den achtziger Jahren sicherlich weniger positiv aus. Verändert man aber die komparative Bewertungsskala und stellt historische Belastungsfaktoren stärker in Rechnung, so ist die Erfolgsbilanz der erst 1943/1947 gegründeten Demokratie ohne starke Traditionen erstaunlich gut. Im Unterschied zu den meisten anderen EG-Ländern haben nämlich historische, kulturelle, sozioökonomische und politische Sonderprobleme den italienischen Modernisierungsprozeß im 19. und 20. Jahrhundert weit stärker behindert

Zu dem schweren historischen Erbe und den politischen Strukturschwächen der italienischen De-mokratie zählen insbesondere folgende Faktoren

1. Eine späte Nationbildung und das Überleben starker Regionalkulturen, die eine politische, soziale und ökonomische Systemintegration wesentlich erschwerten;

2. das traditionelle ökonomische Entwicklungsgefälle vom industriellen Norden zum agrarischen Süden, das Italien in drei Wirtschaftssysteme spaltete (tre Italie), die bis auf den heutigen Tag nur schwer integrierbar sind;

3. eine entsprechend starke Fragmentierung des sozialen Systems, die sich als 4. Spaltung der politischen Kultur in ein katholisches und ein kommunistisches Lager auswirkt; 5. die historische und politische Verfestigung dieser konträren Subkulturen (Katholizismus/Kommunismus/schwache Mitte) im Parteien-und Verbandssystem, in den staatlichen Institutionen und sogar in zahlreichen Sektoren des Banken-und Industriesystems;

6. dadurch bedingt eine starke gesellschaftliche und politische Blockierung, die Modernisie-rungsprozesse im etablierten Institutionensystem erschwert, sowie eine in der Welt fast einmalige politische Sonderstruktur mit dem 7. historisch gesicherten Regierungsmonopol der christdemokratischen Massenpartei (DC) und ihren laizistischen Koalitionspartnern auf der einen Seite sowie 8.dem nach 1947 permanenten Ausschluß der zweitgrößten Partei des Landes (PCI) von der nationalen Regierungsverantwortung auf der anderen Seite.

Der italienische Nationalstaat wurde zwar nicht so ausschließlich von oben her gebildet wie Preußen-Deutschland 1867/71, aber die historischen Parlamentarisierungs-und Demokratisierungsimpulse der Französischen Revolution kamen auch hier über gut anderthalb Jahrhunderte verfassungspolitisch nicht zum Tragen Wie im deutschen Kleinstaatensystem des 18. und 19. Jahrhunderts zerrieb sich die schwache liberale und demokratische Bewegung auch in Italien an der nationalen Frage. Bis 1861 war das Land politisch und kulturell in vier Regionen zerschnitten, die heute noch in der Alltagskultur, in den politischen Wertorientierungen und sogar in der Wahl-geographie zu erkennen sind: im Süden das Königreich von Neapel und Sizilien (Bourbonen), im Norden — der die territorialen Einigungsund industriellen Modernisierungsimpulse gab — das Königreich Piemont-Sardinien (Savoyer), schließlich die Toskana, die Lombardei und Venetien (Habsburg-Lothringen) sowie quer durch das mittlere Italien ein Kirchenstaat, der sich mit klerikalen Ansprüchen und mit Hilfe seiner internationalen Beziehungen gegen den werdenden Nationalstaat stellte und auf Jahrzehnte die katholischen Gläubigen von der politischen Welt auszuschließen suchte (non expedit).

Am 17. März 1861 rief das Turiner Parlament den gemäßigt-konstitutionellen Viktor Emanuel II. zum „König von Italien“ aus. Dieses neue Italien konnte sich auf keine kulturelle, territoriale oder politische Identität stützen, noch weniger auf national integrierte Verwaltungsstrukturen Die Vision eines einheitlichen Italien zwischen den Alpen, dem Ionischen, Tyrrhenischen und Adriatischen Meer läßt sich zwar bis in das antike Rom zurückverfolgen. Im Jahr der italienischen Nationbildung beherrschten aber erst 2 % der regional zersplitterten . Italiener'jene Hochsprache der Gebildeten, die schon Dante (1265— 1321) und fünf Jahrhunderte später nach ihm der Lombarde Manzoni (1795— 1873) zur kulturellen Grundlage des künftigen Italiens machen wollten.

Nicht nur der kulturelle Regionalismus und die territoriale Zersplitterung des jungen Nationalstaats erschwerten die demokratische Entwicklung Italiens. Auch das zukunftprägende sozioökonomische Strukturgefälle (schematisch: agrarischer Süden mit konservativem Großgrundbesitz und Landproletariat/industrieller Norden mit liberalem Besitzbürgertum, Industriearbeitern, Bauern) sowie die verfassungspolitischen Kompromisse zwischen Agrar-und Industriekapital auf Kosten von Tagelöhnern, Halbpächtern, Kleinbauern, Angestellten und Industriearbeitern verhinderten eine kontinuierliche Demokratisierung und Parlamentarisierung des italienischen Verfassungslebens

In Deutschland gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg ein demokratisches Wahlrecht auf der Reichs-und Länderebene. Im Rahmen des Wilhelminischen Scheinkonstitutionalismus konnten sich sogar Grundzüge eines modernen Parteien-und Verbandssystems entwickeln. Seit 1867/71 kämpften Linksliberale und Sozialdemokraten außerdem um die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit, und das englische Regierungsmodell war für die politische Öffentlichkeit Deutschlands schon im 19. Jahrhundert richtungweisend. Die Forderung der (links-) liberalen und sozialistischen Parteien nach einer Demokratisierung des Wahlrechts und einer Parlamentarisierung der Reichsverfassung war damit Bestandteil der politischen Kultur, bevor dieses Verfassungskonzept in der Weimarer Republik realisiert werden konnte.

Solche Komponenten demokratischer Kontinuität sind in der italienischen Geschichte schwächer ausgeprägt Im Jahr der italienischen Nationalstaatsgründung (1861) wurde nur 1, 9 % der Bevölkerung das Wahlrecht eingeräumt. Selbst die Historische Linke (sinistra storica) erhöhte diesen Anteil im Jahre 1882 nur auf 6, 9% (etwa 2 Mio. Wahlbürger). Erst 1910 wurde das allgemeine Wahlrecht eingeführt — aber nur für Männer. Die Parlamentarisierung ließ noch länger auf sich warten. Giolittis (1901— 1914) Versuche, durch parlamentarische Kompromißstrategien die ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätze zu neutralisieren (trasformismo), erschwerten eine Parlamentarisierung eher als sie zu fördern. Die erste italienische Demokratie (1918— 1922), die auf fragmentierten Sozialstrukturen und einem hochpolarisierten Parteien-und Verbandssystem gegründet wurde, konnte dem sehr bald aufkommenden Faschismus keinen Widerstand entgegensetzen; sie blieb ein politisches Zwischenspiel, das der Faschismus auf Jahrzehnte (1922— 1943/45) zerschlug. 2. Soziale Fragmentierung und die Spaltung der politischen Kultur Als 1943 ein nationales Befreiungskomitee aus Kommunisten, Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten entstand, schienen sich zunächst ähnliche politische Kräfteverhältnisse wie 1919/20 zu entwickeln. In der ersten italienischen Republik verfügten die Sozialisten bei den Wahlen von 1919 über 34, 3 %, die linkskatholische Volkspartei PPI über 20, 5 % und die konstitutionellen Listen über 44, 3 % der abgegebenen Stimmen. Nach 1945 gab es im italienischen Parteien-system aber zwei entscheidende Umschichtungen Die laizistische Mitte schrumpfte auf zwei kleine liberale Parteien (PRI, PLI) und die große sozialistische Arbeiterpartei wurde weitgehend vom Kommunismus beerbt (PCI) und mit Ausbruch des Kalten Krieges in zwei Organisationen gespalten (PSI, PSDI).

Bis 1979 konnte sich die christliche Demokratie Italiens (DC) als stärkste Partei auf einem relativ konstanten Niveau von knapp 40 % halten (1953: 40, 1 %/1979: 38, 1 %). Die Kommunisten steigerten ihren über zwei Jahrzehnte um 25 % oszillierenden Stimmanteil (1953: 22, 6 %/1963: 25, 3 %/1972: 27, 2 %) in dem sensationellen Wahldurchbruch des Jahres 1976 auf 34, 4%, um dann wieder auf 31, 8 % (1979) bzw. 31, 2 % (1983) bei den nationalen Wahlen auf ein relativ festes Niveau von knapp über8 % (1979) bzw. 31, 2 % (1983) bei den nationalen Wahlen auf ein relativ festes Niveau von knapp über 30 % zurückzufallen. Die Sozialisten dagegen pendelten über Jahrzehnte mit ihren Stimmanteilen um etwa 10%; darüber lag der PSI in den fünfziger Jahren (1953: 12, 7%), darunter in den siebziger Jahren (1976: 9, 6%/1979: 9, 9 %).

Wie gesagt, basieren die politischen Machtstrukturen Italiens auf einer historisch ererbten Fragmentierung der Sozialstrukturen und auf einer Spaltung der politischen Kultur. Bis auf den heutigen Tag haben sich zwischen den 20 Regionen Italiens massive soziale Unterschiede erhalten, die in der Wahlgeographie auch politisch sicht-bar werden. Das große Einkommensgefälle von Nord nach Süd und die damit stark korrelierenden politischen Einstellungen der Italiener sind in den Grundzügen hinreichend bekannt. Aber erst eine von der Banco di Santo Spirito durchgeführte Untersuchung zu den italienischen Einkommensstrukturen (1982) hat die krassen regionalen Unterschiede im Detail sichtbar werden lassen. Das disponible Einkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt im Süden weit unter dem Durchschnitt der nördlichen Regionen (in Mio. Lire): Kalabrien (4, 5), Sizilien (4, 9) und Apulien (5, 0) erreichen nur gut zur Hälfte die Einkommenshöhe von Ligurien (8, 6), der Emilia-Romagna (8, 2) oder Piemonts (8, 1), wobei das mittlere Italien auch hier eine Zwischenstellung einnimmt. Italiener mit einem Einkommen über 8 Mio. Lire wohnen zu 77 % in Ligurien und nur zu 0, 3 % in Kalabrien. Das inneritalienische Entwicklungsgefälle spiegelt sich auch im Sozialsystem, etwa in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. In der Basilicata kommen 490 Einwohner auf einen Mediziner, in Kalabrien 345, in Sizilien 321, dagegen in Ligurien nur 245 und in der Emilia Romagna 270.

So zeigen die gegenwärtigen Sozial-und Einkommensstrukturen, daß die historische Erblast des politischen Systems bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben ist. Als der italienische Arbeitsminister Giovanni De Michelis in neuester Zeit Pläne zur Neuordnung des Sozialwesens vorlegte, um den Haushalt zu entlasten, teilte er die italienische Gesellschaft unter breitem Protest in drei Klassen ein: Familien, deren Einkommen im Jahr 18 000 DM nicht übersteigt (knapp 20%), Personen, die in ihrer Steuererklärung ein Jahreseinkommen von 18 000 bis36 000 DM angeben (fast 60 %), und eine nicht näher spezifizierte Kategorie von Einkommensempfängern, die in die Klasse der Reichen eingestuft wird

Die sozialpolitischen Reformvorschläge De Michelis waren diesen Einkommensklassen gemäß gestaffelt. Die erste Klasse sollte kostenlos Leistungen des Gesundheitssystems und andere staatliche Vergünstigungen erhalten; die zweite, mittelständische Gruppe sollte kostenorientierte Beiträge zahlen und bei Selbstbeteiligung die sozialen Dienste in Anspruch nehmen können; die Klasse der Wohlhabenden aber sollte bis zu einer bestimmten Höhe Beiträge zahlen und gleichwohl von sozialen Dienstleistungen des Staates ausgeschlossen werden. Dieser kuriose Reformvorschlag machte zwar die Grundlagen des italienischen Sozialsystems schlagartig deutlich, konnte aber keinen politischen und parlamentarischen Konsens zur Überbrückung der strukturellen Sozialkonflikte schaffen.

Politische Werte, Einstellungen und das Wahl-verhalten in Italien sind besonders durch die Spaltung der politischen Kultur in ein katholisches und ein kommunistisches Lager geprägt. Die Wählerbindung an die beiden Zentralkulturen des Landes, die zu Wahlhochburgen politisch verfestigten sozialen Differenzen sowie starke Wählerkonzentrationen auf die Democrazia Cristiana (DC) und den Partito Comunista Italiano (PCI) sind bis in die jüngste Zeit für das politische System Italiens kennzeichnend geblieben.

Nach dem politischen Einfluß der Subkulturen können fünf geographische Einheiten unterschieden werden

— das industrielle Dreieck (mit elf Provinzen im Norden Italiens), — die sogenannte weiße Zone mit christdemokratischer Vorherrschaft (Venetien z. B.), — die rote Zone (Emilia-Romagna, Toskana, Umbrien), — das Zentrum (Latium u. a.) und — der Süden (Molise, Kampanien, Apulien, Basilicata, Kalabrien und Sizilien).

Diese regionalen, kulturellen und sozioökonomischen Bedingungskonstellationen haben auch für die jüngsten Wahlentscheidungen wieder eine entscheidende Rolle gespielt. Die Mai-Wahlen 1985 bestätigen eine klar umrissene Wahlgeographie, die seit Jahrzehnten durch sozioökonomische, historische und kulturelle Faktoren geprägt ist. In Venetien (DC: 45, 9%/PCI: 20, 4%) und in der Lombardei (36, 0%/26, 7%) behaupteten die Christdemokraten 1985 den historisch sicheren Stimmvorsprung gegenüber dem PCI ebenso wie in den südlichen Regionen Kalabrien (38, 5%/23, 7%), in der Basilicata (43, 9%/23, 3%), in Apulien (38, 4%/24, 4%), in Kampanien (38, 6%/23, 3%) und in den Abruzzen (44, 3%/26, 9%). Die christdemokratische Partei erreichte in Molise sogar die absolute Mehrheit (56, 5%) und übertraf damit den PCI (16, 2%) um mehr als das Dreifache. Die Kommunisten dagegen hielten ohne große Verluste ihre klassischen Wählerhochburgen im sogenannten roten Gürtel der Emilia-Romagna (PCI: 47, 5%/DC: '24, 6%), Toskana (46, 2%/26, 6%) und in Umbrien (45, 04%/27, 0%)

III. Sozialer Konsens und politische Stabilität — Die Regionalwahlen und das Lohn-Referendum vom Mai/Juni 1985

AOSTA-TAL . Turin PIEMONT Genua LIGURIEN bis 30% bis 35% bis 40% bis 45% Mailand LOMBARDEI TOSKANA über 45% Stimmenanteil in Prozenten ° Trient \ 0 ifat LATIUM Triest Venedig EMILIA ROMAGNA Italien nach den Parlamentswahlen 1983 . Ancona MARKEN Neapel KAMPANIEN SIZILIEN Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 6. 1983. VENEZIEN KOMMUNISTEN o \ABRUZZEN EAquilla),, MOLISE Campobasso 0• 0p° o BASILIKATA O Re KALABRIEN 250 km APULIEN Copyright F. A. Z. -Karte Sturm

Nicht nur die Regional-und Administrativwahlen vom Mai 1985 markieren für die achtziger Jahre eine historische Zäsur. Bedeutsam wurde dieser Urnengang auf subnationaler Ebene (Regionen, Provinzen, Kommunen) erst durch zwei weitere Entscheidungen, nämlich Referendum und Präsidentschaftswahl, die das Wirtschafts-, Sozial-und Verfassungssystem Italiens in den kommenden Jahren strukturell prägen werden.

Die Regionalwahlen bestätigten erneut, daß der PCI im Unterschied zu den Wahlen zum Europäischen Parlament (1984) die Christdemokraten auf absehbarer Zeit nicht überrunden kann (sorpasso), so daß ein grundlegender Machtwechsel durch alternative Wählerentscheidungen auch in Zukunft sehr unwahrscheinlich ist. Das Referendum über die automatische Lohnanpassung (scala mobile) schwächte im Juni 1985 die kommunistische Linke außerdem auf dem gewerkschaftlichen Sektor und führte zur weiteren Auflösung der schon zuvor stark in die Krise geratenen Gewerkschaftsföderation CGIL-CISL-UIL.

Bei den Präsidentschaftswahlen, die zwei Wochen nach dem Referendum am 24. Juni 1985 stattfanden, zeigte sich dann, daß die durch Wahlen und Volksbefragung deutlich gestärkte Mitte aus Christdemokraten, Sozialisten, Republikanern, Liberalen und Sozialdemokraten die im Mai/Juni 1985 geschlagene kommunistische Linke (PCI/CGIL) keineswegs marginalisieren, sondern durch einen geeigneten Präsidentschaftskandidaten politisch integrieren wollte. So stabilisierte sich die parteipolitische Mitte zwar deutlich auf Kosten der Linken. Der verfassungspolitische und soziale Konsens des Landes wurde durch die hohe Integrationskunst der Christdemokratie aber nicht ernstlich gefährdet. 3 . Die Stabilisierung der Koalitionsregierung und die historische Niederlage der klassischen Linken Die jüngsten Regional-und Administrativwahlen im Mai 1985 haben nach den vorausgegangenen hohen Verlusten der Democrazia Cristiana und nach den Gewinnen des Partito Comunista Itali-ano in der ersten Hälfte der achtziger Jahre wieder eine leichte Wende zur historischen . Normalität'gebracht Die DC konnte sich 1985 deutlich erholen (35, 1%), der PCI wurde leicht geschwächt (30, 2%) und die Sozialisten blieben mit nur wenig steigender Tendenz deutlich über zehn Prozent (13, 3%). Die kleineren Parteien der Mitte und die neuen sozialen Bewegungen behaupteten sich dagegen zwischen dem katholischen und dem kommunistischen Lager nur schwach. Die linksliberale PRI erreichte 4%, die rechtsliberale PLI 2, 2%, die rechte Sozialdemokratie PSDI 3, 6% und die Grünen 2, 1%.

Trotz einiger Schwankungen und elektoraler Brüche hat der italienische Wähler die Grundstruktur des Parteiensystems damit in einem veränderten politischen Gesamtkontext auf dem historischen Niveau der fünfziger Jahre . stabilisiert'. Die Christdemokraten monopolisieren seither die Regierung, die Kommunisten blieben drei Jahrzehnte lang von der nationalen Regierungsverantwortung ausgeschlossen, die laizistische Mitte kam nie über einen bescheidenen Machtanteil in den christdemokratisch dominierten Koalitionsregierungen hinaus, und durchsetzungsfähige Alternativbewegungen konnten sich bisher nicht formieren.

Vor den Mai-Wahlen 1985 hatten Demoskopen eine geringere Wahlbeteiligung als in den voran-gegangenen Jahren vorausgesagt. Zahlreiche Politiker befürchteten den Legitimationsentzug durch Stimmenthaltungen. Es zeigte sich aber erneut, daß die traditionellen Wählerbindungen in Italien relativ leicht aktiviert werden können, wenn die politische Existenz des eigenen Lagers bedroht zu sein scheint

Nachdem der PCI-Vorsitzende Allessandro Natta schon vor Beginn des Wahlkampfes unvorsichtig genug war, eine Überrundung der Christdemokraten durch die Kommunisten anzukündigen, war es für die Christdemokratie nicht sonderlich schwer, durch antikommunistische Töne aus einer vergangenen Zeit Stammwähler zu aktivieren und darüber hinaus Unschlüssige mit dem Szenario eines äußerst riskanten Machtwechsels zu beeindrucken.

Außerdem wurden auch Teile der katholischen Kirche politisch aktiv Auf einer KirchenVersammlung in Loreto sprach sich der Papst Mitte April 1985 für die innere Einheit der Kirche aus und ermahnte die Katholiken zu einem geschlossenen Engagement (impegno unitario) auf sozialem und politischem Gebiet. Die Gläubigen sollten keine Angst haben, auch eine öffentliche Rolle zu spielen, zumal der christliche Glaube eine wichtige Rolle für die Zukunft spiele.

Drei Wochen vor den Wahlen mußte eine solche päpstliche Verlautbarung als Wahlempfehlung verstanden werden. Nicht nur der PCI, sondern auch die kleineren laizistischen Parteien des Landes verwahrten sich daher gegen integralistische Tendenzen in der katholischen Welt Der organisierte Katholizismus Italiens — besonders die Christdemokratie — hielt zwar mehrheitlich Distanz gegenüber solchen päpstlichen Äußerungen. Der offene Beifall durch Vertreter der konservativen Azione Cattolica, die schon seit Jahren für eine katholische Rückgewinnung der säkularisierten Welt eintritt, signalisierte aber auch, daß die Trennung von Kirche und Staat in Italien bei weitem nicht so deutlich vollzogen ist wie in den übrigen europäischen Ländern. Die unerwartet hohe Wahlbeteiligung und der klare Sieg der Democrazia Cristiana im Mai 1985 kamen also auch durch die christdemokratische Polarisierungsstrategie und die subtilen Einflußnahmen der Kirche zustande.

Umfragen ergaben außerdem, daß bei den Regional-und Administrativwahlen im Mai 1985 nur für 35, 4% der Wähler lokale Probleme, für 38, 5% dagegen nationale Belange stimmentscheidend waren, für 26, 1% spielten beide Faktoren eine ähnlich starke Rolle So stand nicht nur die Existenz der Linksregierungen in den Regionen, Provinzen und Gemeinden auf dem Spiel und damit auch die wenigen unitarischen Machtbastionen, die der PSI-Vorsitzende Craxi im politi’schen Tausch gegen seine Ministerpräsidentenschaft seit zwei Jahren räumen ließ. Es ging bei der Mai-Wahl auch um die grundsätzliche Bestätigung oder Ablehnung der christdemokratischen Monopolstellung im Verfassungs-und Parteien-system Italiens.

Die Wähler gaben darauf drei klare Antworten

— Sie beteiligten sich mit 88, 9% in einem unerwartet hohen Maß an den Wahlen (1970: 92, 5%, 1975: 91, 5%, 1980: 88, 5%);

— sie kamen mit 35, 1% in einer deutlichen Trendwende gegenüber den vorangegangenen Jahren wieder verstärkt zur Christdemokratie zurück; — und sie ließen den Partito Socialista Italiano (PSI) Craxis mit 13, 3% nicht stark genug werden, um das innere Machtgefüge der Fünferkoalition zugunsten der Sozialisten und einer laizistischen Mitte zu verändern.

Dieses Ergebnis zusammen mit der späteren Wahl des Christdemokraten Francesco Cossiga zum Staatspräsidenten, der im Juni 1985 den Sozialisten Sandro Pertini im Amt ablöste, dürfte die christdemokratische Vorrangstellung im italienischen Parteien-und Regierungssystem für die nächsten Jahre unangreifbar machen, zumal eine Linksalternative vorläufig nur sehr geringe Wahlchancen hat — ganz zu schweigen davon, daß eine unitarische Option in den beiden Links-parteien PCI und PSI auch heute noch große Probleme aufwirft.

Der Logik der konträren Subkulturen Katholizismus/Kommunismus sowie den polarisierten Auseinandersetzungen zwischen Democrazia Cristiana und Partito Comunista Italiano (PCI) entging im Mai 1985 auch die neue soziale Bewegung nicht. Soweit sich alternative Gruppen auf der subnationalen Ebene mit Hilfe von Listen überhaupt zu einer Partei der Grünen institutionalisiert hatten, kamen sie trotz eines weit höheren allgemeinen Akzeptanzgrades in der Bevölkerung über 2, 1% der Stimmen nicht hinaus Auf elf Regional-und 130 Kommunallisten zogen schließlich 141 von etwa 6 000 kandidierenden Grünen in die Parlamente ein. Ca. 40% kamen aus sehr unterschiedlichen Organisationen für den Umweltschutz, 20% aus der pazifistischen Bewegung und über 10% waren Mitglieder des Partito Radicale (PR). Auch für diese neue parlamentarische Kraft sind regionale Schwerpunktbildungen ebenso kennzeichnend wie für die etablierten Parteien. Allein 25 Vertreter kommen aus der Lombardei, 22 aus dem Trentin, 18 aus Venetien und Piemont, 17 aus der Toskana, während im Süden nur Achtungserfolge verzeichnet werden konnten.

Dennoch haben die Vertreter der neuen Listen die etablierten Parteien schon im Wahlkampf gezwungen, die Themen des Umweltschutzes weit stärker als in der ersten Hälfte der achtziger Jahre aufzugreifen Insbesondere der PCI versuchte durch eine integrative Programmstrategie, keine Prozentpunkte an die alternative Konkurrenz zu verlieren. Immerhin hatten 44, 7% der potentiellen Grünen-Wähler beim letztenmal für den PCI und zu 24, 3% für die links davon stehende Democrazia Proletaria (DP) gestimmt. So rückten grüne Themen während des Wahlkampfes überraschend schnell auf die vorderen Plätze der kommunistischen Parteipresse, Vertreter der ökologischen Bewegung kamen auf PCI-Listen, und die Erfolge der deutschen Grünen sowie StimmVerluste der SPD wurden vom PCI breit erörtert. In zahlreichen Fernsehdiskussionen traten besonders die Repräsentanten des liken Parteienspektrums als bewußte Umweltschützer auf. Christdemokraten dagegen, die durch konservative Strömungen in der ökologischen Bewegung bedeutend weniger herausgefordert werden als die CDU in der Bundesrepublik, konnten auf solche programmatischen und politischen Integrationsstrategien weitgehend verzichten und sich darauf beschränken, die Anwendung bestehender Gesetze zum Schutz der Umwelt zu fordern. 4. Der soziale Konsens gegen die klassische Linke — Das Referendum zur automatischen Lohnanpassung vom 9. /10. Juni 1985 Die Regional-und Administrativwahlen im Mai 1985 standen für einige PCI-Optimisten in engem politischen Zusammenhang mit dem folgenden Referendum und den Präsidentschaftswahlen im Juni 1985. Falls die Mai-Wahlen erfolgreich ausgehen sollten und auch das Referendum gewonnen werden konnte, hätte sich das Land damit gegen die regierende Fünferkoalition ausgesprochen und der Christdemokratie das politische Vertrauen entzogen. Selbst die Democrazia Cristiana konnte Neuwahlen auf nationaler Ebene in einer solchen hypothetischen Situation keinen glaubwürdigen Widerstand entgegensetzen. Die anstehenden Präsidentschaftswahlen wären ebenfalls in den Sog dieser dynamisierten parteipolitischen und parlamentarischen Konstellation geraten. Ein Regierungs-und Machtwechsel in Italien war dann nicht mehr auszuschließen.

Falls eine solche strategische Vision die heimliche Hoffnung der PCI-Führung gewesen sein sollte, so wurde sie schon durch die Mai-Wahlen nachdrücklich widerlegt. In dem vom PCI initiierten Referendum, das mit 54, 3% zu 45, 7% gegen die klassische Linke (PCI/CGIL) entschieden wurde — obwohl das befragte Volk damit gegen seine unmittelbaren Einkommensinteressen und für den Anti-Inflationskurs der Regierung stimmte —, ging es daher nur noch um eine Politische Schadensbegrenzung 7% gegen die klassische Linke (PCI/CGIL) entschieden wurde — obwohl das befragte Volk damit gegen seine unmittelbaren Einkommensinteressen und für den Anti-Inflationskurs der Regierung stimmte —, ging es daher nur noch um eine Politische Schadensbegrenzung . Die PCI-Füh-rung hatte nicht nur den einmaligen Aufwärtstrend der Partei bei den Europawahlen, der durch den überraschenden Tod des populären PCl-Führers Enrico Berlinguer ausgelöst wurde, massiv überbewertet. Sie überschätzte auch die soziale und politische Rolle der Arbeiterklasse in einer Industriegesellschaft, die durch Ausdehnung des Dienstleistungssektors, aufgrund einer relativen Abnahme des Industriearbeiteranteils und wegen postmaterialistischer Wertorientierungen nicht mehr rein lohnpolitisch zu mobilisieren ist.

Am 9. /10. Juni 1985 waren knapp 45 Mio. Italiener aufgerufen, im Rahmen einer Volksbefragung (referendum popolare) zu entscheiden, ob ein Gesetzesartikel aus dem Jahre 1984 aufgehoben werden sollte, der die automatische Lohnanpassung von sechs auf zwei Punkte, d. h. um 27 000 Lire, heruntersetzte 44). Die Regierung Craxi hatte diese Maßnahme unter starkem Protest der Linksparteien und Gewerkschaften zur Reduzierung expandierender Lohnkosten ergriffen, um die galoppierenden Inflationsraten in den Griff zu bekommen und die Investitionsneigung der Unternehmer anzuregen. Damit griff die Regierung Anfang 1984 ungewöhnlich stark in den Mechanismus der automatischen Lohnanpassung (scala mobile) ein. Die Fünferkoalition strapazierte so die durchaus vorhandene Kompromißbereitschaft der drei größten Gewerkschaften des Landes (1978: CGIL 4, 42 Mio., CISL 2, 81 Mio. und UIL 1, 25 Mio. Mitglieder), die seit Ende der siebziger Jahre unter großen Legitimationsverlusten eine Korrektur der extremen Lohnindizierung bedingt mitgetragen hatten. Der soziale Friede des Landes schien seit 1984 in Frage zu stehen.

Während eine ungewollte Koalition aus PCI, DP (Democrazia Proletaria) und MSI (Neo-Faschisten), die in den vorangegangenen Wahlen nur 38, 8% der Stimmen erreicht hatte, sich mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen für eine Wiederherstellung des Lohnmechanismus einsetzte, bekämpften die Regierungsparteien das Referendum, nachdem eine Anregung der Radikalen Partei, das Referendum zu boykottieren, trotz vorübergehender PSI-Sympathien an pragmatischen und verfassungspolitischen Überlegungen gescheitert war 45). Die Parteienlandschaft polarisierte sich nunmehr scharf. Die Regierung, weit weniger der Industriellenverband Confindustria und mit sehr unterschiedlicher Kompromißbereitschaft auch die großen Gewerkschaften ver-suchten bis Ende Mai, das anstehende Referendum durch einen neokorporativistischen Konsens in letzter Minute zu vermeiden.

Dem polarisierenden Druck, der die parteinahen Gewerkschaften CGIL (PCI), UIL (PSI) und CISL (DC) vor eine Zerreißprobe stellte, zeigte sich die seit 1972 bestehende Gewerkschaftsföderation nicht gewachsen CISL und UIL kritisierten Ende Mai den pragmatischen CGIL-Führer Luciano Lama, der sich nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 für die energische Sparpolitik der Regierung stark gemacht hatte, um damit auch die Einbeziehung des PCI in ein nationales Krisenkabinett zu unterstützen. Lama, so die beiden Gewerkschaften CISL und UIL, habe dem Druck der kommunistischen Partei gegen besseren politischen Willen nicht standgehalten. Die CGIL konnte dieser Kritik entgegenhalten, daß es der Regierung Craxi 1984/85 nicht gelungen war, mit Hilfe der lohnreduzierenden Gesetzes-maßnahmen die Inflation entscheidend zu bekämpfen und die versprochenen Arbeitsplätze zu schaffen. Die politische Polarisierung vor dem Juni-Referendum verschärfte schließlich auch die CGIL-internen Spannungen, nachdem die sozialistischen Mitglieder dieser Gewerkschaft ähnlich der CISL und der UIL gegenüber den staatlichen Vermittlungsversuchen eine viel weitergehende Kompromißbereitschaft gezeigt hatten.

Auf die Stabilisierung der regierenden Mitte hatte die italienische Börse unmittelbar nach den

Mai-Wahlen schon sehr positiv reagiert Der Ausgang des Juni-Referendums mußte im In-und Ausland noch beruhigender wirken. Mit 54, 3% brachte die Fünferkoalition trotz der deutlich gesunkenen Abstimmungsbeteiligung eine Mehrheit von knapp 10% gegenüber den 45, 7% der Opponenten einer gesetzlichen Lohnreduzierung zustande. Nicht einmal die Arbeiterklasse in den klassischen PCI-Zentren des Nordens votierte geschlossen für eine gesetzlich garantierte Anhebung der Löhne Selbst das industrielle Mailand, besonders aber die Mittelschichten Roms und etwa die venezianische Provinz bildeten den typischen Nährboden für eine Unterstützung der Regierungsparteien. In den roten Regionen dagegen konnte der PCI wie in den vorangegangenen Wahlen relativ breite Mehrheiten erzielen. In der Toskana sprachen sich 55, 2%, in Umbrien 53, 4% und in der Emilia-Romagna 52, 9% für die Initiative der Referendum-Parteien aus. Mit Ausnahme Sardiniens (54, 2%) blieben ansonsten alle Regionen unter 50%. In den nördlichen Regionen Lombardei, Venezien, Trento-Adige und Friaul-Julisch-Venetien votierten übet 60 Prozent für die Regierung, am nachdrücklichsten der Trentin mit 75%. Selbst linke Stimmen in der italienischen Presselandschaft waren sich einig darüber, daß die PCI-Altorientierung an der Arbeiterklasse (operaismo) in der sozio-ökonomisch gewandelten Industriegesellschaft des Landes damit eine weitere historische Niederlage erlitten hatte

IV. Herstellung des nationalen Konsens — Die Präsidentschaftswahlen vom 24. Juni 1985

In der Volksbefragung zur automatischen Lohn-anpassung am 9. /10. Juni sowie in den vorangegangenen Regional-und Administrativwahlen zeichnete sich eine dreifache politische Tendenz ab: erstens die Stabilisierung der regierenden rechten Mitte (DC, PSI, PRI, PLI, PSDI) unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Bettino Craxi, zweitens die deutliche Stärkung der dominierenden Koalitionspartei DC nach jahrelangen Machtverlusten und drittens eine ebenso deutliche politische Schwächung des PCI und der CGIL. Diese Machtverlagerungen im italienischen Parteien-und Verbandssystem konnten für die Präsidentschaftswahlen am 24. Juni 1985 nicht ohne politische und personelle Folgen bleiben. Die Suche nach einem geeigneten Kandidaten erst kurz vor den Wahlen am 24. Juni 1985 war der politische Ausdruck einer für Italien typischen Macht-und Konsenslogik, die den innerund intraparteilichen Interessen der Regierungsparteien voll Rechnung trägt, ohne das Parlament oder die öffentliche Meinung angemessen in den politischen Entscheidungsprozeß einzubeziehen Die politische Qualität des künftigen Präsidenten stand schon fest, bevor die Suche der Christdemokraten nach einem geeigneten Präsidentschaftskandidaten überhaupt begonnen hatte. Es war nach dem eindeutigen Wahlsieg der Christdemokraten klar, daß die DC das Amt des Staatspräsidenten beanspruchen würde. Außerdem konnte der DC-Vorsitzende De Mita unter starkem innerparteilichen Druck nicht länger die einmalige verfassungspolitische Situation akzeptieren, in der die sozialistische Partei den Regierungschef (Bettino Craxi) und auch den Staatspräsidenten stellte (Sand Pertini). Ohne größeren Widerstand der Koalitionspartner forderte De Mita daher einen katholischen Präsidentschaftskandidaten, zumal sich ein laizistischer und ein katholischer Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem höchsten Staatsamt in der Regel abwechseln.

Der katholische Präsidentschaftskandidat mußte aber nicht nur eine breite innerparteiliche DC-Zustimmung finden und von den Sozialisten sowie den übrigen Koalitionspartnern PRI, PLI und PSDI akzeptiert werden. Er durfte auch keinen Widerstand im kommunistischen Lager provozieren. Der künftige Präsident — in diesem Punkt waren sich nach schwierigen, aber relativ kurzen Verhandlungen alle Koalitionspartner schließlich einig — sollte die parlamentarische Mehrheit der Regierungsparteien ebenso repräsentieren wie die große Mehrheit des Landes, und darüber hinaus sollte er den historischen Verfassungskonsens verkörpern. Es war damit politisch eindeutig, daß es der Christdemokratie darum ging, den PCI und die CGIL in den Präsidentschaftsberatungen zu konsultieren, um das kommunistische Lager mit einer integrativen Geste in den nationalen Konsens einzubeziehen.

Dieses innerparteiliche, koalitionspolitische und parlamentarische Kunststück gelang dem DC-Vorsitzenden De Mita bravourös. Am 24. Juni 1985 konnte der Christdemokrat Francesco Cossiga, einmalig in der italienischen Verfassungsgeschichte seit 1948, schon im ersten Wahlgang mit voller Unterstützung der kommunistischen Partei tum neuen Präsidenten der Republik gewählt Werden (752 von 877 Stimmen)

Der „Corriere della Sera“ kommentierte, wenn ein politisches Ereignis in Italien so klar und ein-

fach verlaufe, müßte man glauben, zu träu-

men Ganz so einfach war die Herstellung der nner-und intraparteilichen Kompromisse sowie die Organisation des ntionalen Konsenses aber keineswegs Der PCI, der ursprünglich eine Verlängerung der Amtszeit Pertinis favorisierte, war zwar politisch entschlossen, nach den vorangegangenen elektoralen und plebiszitären Niederlagen nicht in eine Strategie der Polarisierung auszuweichen, um dadurch verlorenes politisches Terrain zurückzugewinnen. Auf der anderen Seite wollte die Partei aber allein schon aus symbolischen Gründen nicht von vornherein darauf verzichten, im ersten Wahlgang eigene Präsidentschaftskandidaten wie Pietro Ingrao oder Nilde lotti zu nominieren. Erst als nach den parteiinternen Entscheidungen der Christdemokratie feststand, daß mit Francesco Cossiga ein von der DC breit unterstützter Kandidat gefunden war, dem von kommunistischer Seite zwar keine großen Sympathien, aber doch politische Achtung entgegengebracht wurde, entschloß sich die PCI-Führung zu dem verfassungsgeschichtlich ungewöhnlichen Schritt, schon im ersten Wahlgang für einen Christdemokraten zu stimmen.

Während der PCI alles tat, um auch in der Niederlage den nationalen Konsens zu wahren, sorgte die Christdemokratie für den künftigen sozialen Konsens des Landes, indem sie — entgegen den Stimmen auf ihrem rechten Flügel und bei den kleineren Koalitionspartnern PSDI/PLI — nicht der Versuchung erlag, die Kommunisten über eine Kampfkandidatur zum Präsidentenamt aus dem Konsens des historischen Verfassungsbogens auszugrenzen. Mit Mario Segni wurden im Vorfeld der zahlreichen Parteienkonsultationen solche DC-Stimmen durchaus laut Segni forderte, der künftige Präsident müsse nicht in erster Linie — wie es Artikel 87 der Verfassung vorsieht — die Einheit der Nation repräsentieren, -sondern die Kandidatur solle vielmehr das Bündnis der regierenden Parteien symbolisch und politisch stärken. Der neu gewählte Staats-präsident Francesco Cossiga trat aber schon in seiner ersten Rede nachdrücklich als Repräsentant der nationalen Einheit auf. Cossiga verzichtete sogar für die Dauer seiner Amtszeit auf eine Mitgliedschaft in der DC, um die parteiübergreifende Stellung des Präsidenten zu betonen. Er versicherte darüber hinaus vor dem Parlament, ein Präsident des ganzen Volkes zu sein (presidente della gente comune).

Sandro Pertini konnte während seiner siebenjährigen Amtszeit bei fast allen italienischen Parteien, besonders aber in der Bevölkerung und auch im Ausland großes Ansehen gewinnen. Pertini hat darüber hinaus deutlich werden lassen, daß ein italienischer Staatspräsident — trotz der relativ geringen Machtfülle und selbst ohne eine plebiszitäre Legitimation durch direkte Wahlen — die Nation real repräsentieren und das Land in Krisen politisch integrieren kann. Cossiga war von vornherein klar, daß es schwer sein würde, das Amt ähnlich überzeugend auszufüllen und ein ebenso großes Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen

Da seine Kandidatur das Ergebnis typischer Machtverteilungs-und Konsensstrukturen im italienischen Parteiensystem war, entstand ein großes Meinungsgefälle zwischen dem paese legale und dem paese reale. So ergaben Umfragen in der Bevölkerung Roms (N = 1 000), daß bei einer direkten Wahl der Altpräsident Pertini mit 41, 5 % die weitaus meisten Stimmen erhalten hätte: vor Andreotti (DC/10, 4%), lotti (PCI/10, 2%) und Forlani (DC/5, 2 %), besonders aber vor Cossiga mit nur 2, 4 %

Dieser Kontrast zwischen den Präferenzen der Bevölkerung und den Prioritäten des politischen Establishment tat sich auch in der veröffentlichten Meinung auf. Eine Befragung führender Journalisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ergab, daß auch sie im Unterschied zur demoskopisch erfaßbaren öffentlichen Meinung Cossiga wegen seiner Unparteilichkeit, der korrekten Amtsführung und politischen Vertrauenswürdigkeit sehr schätzten Bei einem so großen Konsens im Parteiensystem und in der Presse ist es auch nicht weiter erstaunlich, daß in den neuesten verfassungspolitischen Reformdiskussionen Italiens keine Partei des Verfassungsbogens die rechtliche Stellung, die Struktur und die Funktion des Präsidentenamtes in Frage stellt, das sich unter Sandro Pertini bestens bewährt hat. Der MSI (Neo-Faschisten), der über direkte Wahlen ein präsidentielles System und eine starke Staatsautorität anstrebt, steht daher mit solchen verfassungspolitischen Vorstellungen allein.

V. Verfassungspolitische Reformdiskussionen und Perspektiven

Die jüngsten Präsidentschaftswahlen, das Referendum zur automatischen Lohnanpassung sowie die neuesten Administrativwahlen haben notorische verfassungspolitische Strukturdefizite und die komplizierten Mechanismen sozialer und nationaler Konsensbildung in Italien erneut sichtbar werden lassen. Wenn man die äußerst skeptische politische Einstellung der Bürger zu dem etablierten Institutionensystem (Parteien, Verbände, Parlament, Regierung) als Indikator nimmt, so basieren die politischen Institutionen Italiens auf einer sehr schwachen Legitimationsgrundlage. Auch die Präsidentschaftswahlen haben gravierende Defizite realer Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie Italiens offengelegt. Das höchste Staatsamt wurde ausschließlich nach den Regeln des inner-und intraparteilichen Machtausgleichs sowie der nationalen Konsensbildung in einem hoch polarisierten Parteiensystem besetzt, ohne daß die Popularität des künftigen Präsidenten und seine plebiszitäre Akzeptanz eine Rolle spielten.

Auf diese Legitimationslücke zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung haben Parteimitglieder und Wähler entgegen zahlreichen pessimistischen Erwartungen auch in den achtziger Jahren aber keineswegs mit einem starken Legitimationsentzug reagiert Der seit Jahren befürchtete Stimmprotest blieb auch 1986 aus. Es zeigte sich statt dessen, daß die katholische Welt immer noch genügend elektorale Reserven mobilisieren kann, wenn das etablierte Hegemonialgefüge mit dem christdemokratischen Machtmonopol in Gefahr gerät.

Gegenüber dieser christdemokratischen Vormachtstellung im politischen System Italiens waren bisher die drei wesentlichen Versuche zur Herbeiführung grundlegender Koalitions-, Macht-und Reformalternativen zum Scheitern verurteilt:

1. Der kommunistischen Partei gelang es auch 1985 nicht, zur stärksten Partei des Landes zu werden, die gesellschaftlichen Machtpositionen auszubauen und ein politisches Bündnissystem ins Leben zu rufen, das den demokratischen Regierungswechsel (alternanza) und grundlegende Reformen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der politischen Institutionen ermöglicht. Es dürfte Jahre dauern, bevor sich der PCI von die-37) ser historischen Doppelniederlage des Jahres 1985 (Wahlen/Referendum) erholen wird, zumal auch keine realisierbare Linksunion wie in Frankreich während der siebziger Jahre in Sicht ist.

2. Auch der laizistischen Mitte (PSI, PRI, PLI, PSDI) ist es keineswegs gelungen, zwischen der katholischen Welt und dem kommunistischen Lager eine (Regierungs-) Position aufzubauen, von der eine autonomere Politik der Mitte betrieben werden kann. Insbesondere der reformistischen PSI des amtierenden Ministerpräsidenten B. Craxi gelang es trotz großer Hoffnungen nicht, sich auf Kosten des PCI und der DC zu jener modernen Volkspartei zu entwickeln, die — wie in Frankreich — eine neue parteipolitische Kraft darstellt und zum dynamischen Reformfaktor werden kann.

3. An der historischen Stabilität und der politischen Regenerationsfähigkeit der beiden Zentral-kulturen (Katholizismus/Kommunismus) scheiterten bisher auch die neuen sozialen Bewegungen, die — ohnehin weitaus schwächer als in der Bundesrepublik — von den etablierten Parteien weitgehend absorbiert oder integriert werden konnten.

Wenn Legitimation auf der bloß faktischen Anerkennung bestehender Machtverhältnisse beruht, so hat der italienische Wähler trotz konstanter Skepsis dem etablierten Institutionensystem die Legitimität keineswegs entzogen Statt dessen haben die Wähler entlang stabiler Parteiidentifikationen entschieden, die durch historische, familiäre, kulturelle und soziale Sozialisationsprozesse weit stärker geprägt sind als in den meisten anderen EG-Ländern (voto di appartenanza). In der Minderheit blieb wieder einmal jener kalkulierende Wähler, der durch rationale Entscheidungen auf Koalitionsverhältnisse Einfluß nehmen will, um die Regierungs-und Machtverhältnisse demokratisch zu verändern (voto di opinione) So zeigt sich auch auf der Wählerebene, daß die normalen Funktionsmechanismen der westlichen Demokratie — insbesondere das Wechselspiel von Regierung und Opposition — in Italien schwer zu etablieren sind. Da die laizistische Mitte bei weitem nicht stark genug ist und eine Linksalternative vor zu großen Problemen steht, dürfte sich auch auf längere Sicht eine Systemalternative zum christdemokratischen Machtmonopol nur über eine Neuauflage des so-genannten historischen Kompromisses (Katholiken/Kommunisten) im Rahmen einer nationalen Notstandsregierung anbahnen. Von dieser politischen Zwangssituation ist Italien aber zur Zeit weit entfernt.

Insbesondere aufgrund der kulturellen, sozialen sowie politischen Kohärenz und gleichzeitigen Kompromißfähigkeit der beiden großen Lager Katholizismus und Kommunismus ist das politische System Italiens seit 1945 relativ stabil geblieben. Das Land ist trotz einer Überlastung durch ökonomische Schwierigkeiten, soziale Konflikte und internationale Auseinandersetzungen keineswegs in eine grundlegende Legitimationskrise geraten, die von Politikern und politikwissenschaftlichen Experten häufig prognostiziert wurde.

Die relative Stabilität und die nur schwachen Legitimationsverluste sind um so erstaunlicher, als die notorischen Strukturschwächen der italienischen Parteiendemokratie bisher nicht einmal ansatzweise überwunden werden konnten. In der jüngsten verfassungspolitischen Reformdiskussion, die bisher in guten Vorsätzen ohne Politik-relevanz steckenblieb, werden die Strukturdefizite der italienischen Demokratie prägnant thematisiert die äußerst scharfen Richtungskämpfe in den Parteien (correntocrazia), Dauer-spannungen zwischen den Regierungsparteien, ständige Regierungskrisen und Kabinettswechsel, häufige Ämterrotationen auf der Ministerebene, die schwache Stellung des Ministerpräsidenten im Kabinett, strukturelle Entscheidungsschwächen der Exekutive, die Aushöhlung der parlamentarischen Legislativ-, Kontroll-und Repräsentationsfunktionen, die partielle Verselbständigung der Verwaltung sowie eine fehlende politische Kontrolle, die Verpfründung und klientelare Besetzung staatlicher Stellen, mangelnde Verwaltungseffizienz von der nationalen bis zur kommunalen Ebene, langwierige Entscheidungsverfahren auf allen politischen und administrativen Ebenen, vor allem aber die Unfähigkeit des politischen Systems, die Wirtschafts-und Sozialkrise des Landes zu steuern und darüber hinaus die gesellschaftlichen Interessen und Konflikte in bindende politische Entscheidungen zu transformieren. All diese politischen und institutionellen Strukturschwächen Italiens sind seit Jahrzehnten bekannt. Das italienische Paradox bleibt aber auch noch in den achtziger Jahren bestehen: Trotz der generellen Problemüberlastung des politischen Systems sowie einer geringen parteipolitischen, parlamentarischen und administrativen Problemverarbeitungskapazität ist die historische Legitimität und politische Stabilität Italiens nicht ernstlich in Frage gestellt. Die gleichzeitig Stabilität verbürgende und Reformen blockierende Existenz der beiden politischen Zentralkulturen Ka-tholizismus und Kommunismus sowie die krisen-entschärfende Abkoppelung der partiell selbstregulierten Gesellschaft vom politisch-administrativen System werden Italien auch in Zukunft stärker als andere EG-Länder vor einem Umschlagen der wirtschaftlichen und administrativen Rationalitätskrise in eine politische Legitimationskrise bewahren.

Fussnoten

Fußnoten

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Weitere Inhalte

Günter Trautmann, Dr. phil., geb. 1941; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg; 1985 Gastprofessor in Rom/Salerno. Veröffentlichungen u. a.: Industrialisierung ohne politische Innovation. Staat, Parteien und Sozialpolitik in Deutschland 1857 bis 1878, Heidelberg 1972 (Diss.); Zwischen Fortschritt und Restauration. Liberale Doktrin und Parteientwicklung in Deutschland 1861— 1933, Hamburg 1975; (zus. mit H. Richter) Eurokommunismus — Ein dritter Weg für Europa?, Hamburg 1979; (hrsg. zus. mit H. Gärtner) Ein dritter Weg zwischen den Blöcken? Die Weltmächte, Europa und der Eurokommunismus, Wien 1985; (zus. mit K. Holl und H. Vorländer) Sozialer Liberalismus, Göttingen/Zürich 1986 (im Druck); Aufsätze u. a. zur sozialistischen Theoriegeschichte, zum Eurokommunismus und zu Italien.