Der NATO-Abschnitt Europa-Mitte und die Frage der „defensiven Verteidigung“
Heinz Magenheimer
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Zusammenfassung
Die aktuelle Verteidigungsplanung der NATO im Abschnitt Europa-Mitte hat in den letzten Jahren verschiedene kritische Erörterungen erfahren, wobei die Abhängigkeit vom Rückgriff auf Nuklearwaffen sowie die Wirksamkeit der „Vorneverteidigung“ im Mittelpunkt stehen. Während die Befürworter der aktuellen Verteidigungsdoktrin Verbesserungen zur Stärkung der grenznahen Abwehr unter schrittweiser Abkehr von taktischen Kernwaffen vorschlagen, konzentrieren sich die Vertreter der „defensiven Verteidigung“ auf zwei Kernpunkte: völlige „Konventionalisierung“ des Abwehrkampfes sowie Umrüstung der Bundeswehr auf defensive Waffensysteme und Formationen. Damit soll auch ein sicherheitspolitischer Anreiz zur Vertrauensbildung gegenüber dem Warschauer Pakt geboten werden. In der Praxis zeigt die Bestandsaufnahme jedoch, daß im taktisch-operativen Sinne verschiedene „Modelle“ vorliegen, die sowohl einen Abnutzungskampf von Jägerkräften in der vorderen Zone als auch diverse Arten von Gegenschlagskräften vorsehen. Einerseits bleiben zahlreiche Fragen nach der Wirksamkeit des Verzögerungskampfes der Jägerkräfte angesichts des gegnerischen Angriffsverfahrens offen, andererseits bedarf das Kernproblem, wie gegnerische Durchbrüche verhindert, d. h. Raumeinbußen größeren Ausmaßes zunichte gemacht werden können, der Lösung. Insgesamt gesehen müssen alle diese Konzepte daran gemessen werden, ob sie die derzeitige Abhaltewirkung erhöhen und ob sie keinen Anreiz für dementsprechende offensive Planungen des potentiellen Gegners schaffen. Alle anderen „Modelle“, die sich primär auf die enorm gesteigerte Wirkung künftiger Abwehrwaffen stützen, müssen die großen Schwierigkeiten berücksichtigen, die mit der Beschaffung und Umrüstung verbunden sind. Schließlich bleibt offen, wie die anderen NATO-Staaten auf die vorgeschlagenen Umrüstungsmaßnahmen reagieren werden.
Einführung Die Erörterung der NATO-Nachrüstung war kaum abgeebbt, als fast übergangslos weitere Schwerpunkte in der sicherheitspolitischen Debatte auftauchten, die die aktuelle strategische Doktrin der NATO erneut in Frage stellten und in das Stichwort von der „defensiven Verteidigung“ mündeten. Die Schwierigkeit einer Bestandsaufnahme liegt vor allem darin, einerseits die Kritik an der strategischen Doktrin der NATO auf konkrete Gegenvorschläge hin zu untersuchen, andererseits diese oft unterschiedlichen Vorschläge der jeweiligen Führungsebene — Taktik, Operation, Militärstrategie — zuzuordnen. Viele Mißverständnisse resultieren eben aus der Unfähigkeit, diese Führungsebenen zu unterscheiden und etwa zu meinen, durch Neuerungen bei der Taktik auch Änderungen auf strategischer Ebene bewirken zu können.
Ferner tritt zutage, daß sich manche der „alternativen“ Vorschläge durchaus im Rahmen einer Verfeinerung des bestehenden NATO-Konzepts bewegen und daher nicht als Gegensatz zu bewerten sind. Schließlich bleibt zu fragen, ob die „alternative Verteidigung“ wirklich eine Denkschule darstellt oder ob sie vielmehr einen Sammelbegriff für verschiedene Denkschulen umreißt.
I. Die aktuelle Abwehrplanung der NATO in Mitteleuropa
Die im Prinzip noch immer gültige strategische Doktrin der „Flexible response“ vom 16. Januar 1968 hat in den letzten Jahren verschiedene Ergänzungen und Verfeinerungen erfahren, wobei aber im wesentlichen am Grundsatz der „Vorneverteidigung" festgehalten worden ist. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner der aktuellen Einsatzdoktrin der NATO machen das Prinzip der „Vorneverteidigung“ zum zentralen Gegenstand ihrer Betrachtungen. Dies resultiert zunächst daraus, daß praktisch alle an der Diskus-ion Beteiligten innerhalb der NATO von der Forderung ausgehen, einen eventuellen Krieg zwischen NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa möglichst konventionell zu führen und auf die „vorbedachte Eskalation“ entweder gänzlich zu verzichten oder sie nur als allerletztes Mittel zu betrachten.
Wenn unter „vorbedachter Eskalation“ verstanden werden kann, „durch Androhung oder Anwendung der politisch kontrollierten Steigerung der militärischen Mittel die Einstellung einer Aggression zu bewirken“ so bestehen bei vielen Denkrichtungen starke Befürchtungen, ob nicht schon die Androhung eines Kernwaffeneinsatzes zu unabsehbaren Folgen führen könne. Auch die Möglichkeit der politischen Kontrollierbarkeit unterliegt starken Zweifeln. Zur Verdeutlichung des Sachverhaltes hat man angeführt, daß die sowjetische Seite, auch wenn sie in einer möglichst langen Aufrechterhaltung der konventionellen Kampfphase Vorteile erblickt, zur nuklearen Präemption übergehen werde, wenn ein Kernwaffeneinsatz der NATO als unmittelbar bevorstehend anzusehen sei Aus dieser Sicht erscheint die Androhung eines Nuklearwaffen-einsatzes durch die NATO ziemlich problema-tisch. Die Abhängigkeit vom frühzeitigen Rückgriff auf Kernwaffen und die Überwindung dieser Abhängigkeit spielt somit die Rolle des kleinsten gemeinsamen Nenners, auf dem sich Befürworter und Kritiker der aktuellen NATO-Doktrin treffen
Zur Frage, wie lange die NATO-Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland in rein konventioneller Kampfart eine zusammenhängende Verteidigung im grenznahen Raum erfolgreich führen können, gibt es Antworten, die von der Aussage „nur für kurze Zeit“ bis zur Angabe einiger Tage, etwa im Ausmaß von vier Tagen reichen. Deshalb konzentriert sich die Erörterung auf die Überlegung, wie effektiv man die Vorneverteidigung im Kräfteaufwand, Kampfverfahren, in der Wahl der Kampfmittel u. a. m. gestalten müsse, um einen Durchbruch durch diese Zone möglichst lange zu verhindern. Damit würde nicht zuletzt wertvolle Zeit gewonnen, um die vorgesehenen operativen Reserven aus den USA, aus Großbritannien und Kanada nach Mitteleuropa zu verlegen.
Nach herkömmlicher Sicht versteht man unter „Vorneverteidigung" eine taktisch-operativ zusammenhängende Abwehr in Grenznähe mit der Absicht, möglichst wenig Gebiet zu verlieren sowie Gebietsverluste durch Gegenangriffe wieder wettzumachen. Die Begrenzung des Schadens stellt hierbei ein wichtiges politisches Ziel dar. Vorneverteidigung enthält jedoch kein taktisches Prinzip, d. h., sie bindet die Brigaden und Divisionen nicht in ihrer Kampfführung und Beweglichkeit. Die Tiefe des grenznahen Gefechtsfeldes (samt der Verzögerungszone) ist mit 40— 60 km begrenzt; somit reicht der Bewegungsspielraum der Großverbände bis an die rückwärtige Divisionsgrenze
Es müsse daher Zielsetzung aller acht alliierten Korps sein, die von den vorne eingesetzten Armeen des Warschauer Paktes vorgetragenen Angriffe zum Stehen zu bringen und hierzu sämtliche verfügbaren Kräfte einzusetzen. Jeder weitere Raumverlust würde den rückwärtigen Korpsbereich treffen und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Durchbruch des Gegners im operativen Sinne und damit den Zusammenbruch der Vorneverteidigung bewirken. Neben der Abwehr der frontnah eingesetzten Feindkräfte umfaßt „Vorneverteidigung“ auch die Bekämpfung des gegnerischen Potentials in der Tiefe, womit ein ergänzender Aspekt auftritt.
Das Bemühen um die Verhinderung von entscheidenden Durchbrüchen noch vor der rückwärtigen Begrenzung des Divisionsraumes erklärt sich auch aus der kürzlich verbesserten Kampf-doktrin der sowjetischen Land-und Luftstreitkräfte. Verstärkte Panzerdivisionen, zum Teil als „operative Manövergruppen“ bezeichnet, sollen frühzeitig und überraschend die vorderen Stellungsräume der NATO-Truppen überwinden und die Vereinigung mit luftgelandeten Kräften suchen, die zur Offenhaltung wichtiger Gelände-teile im Zuge der „Luftoperation“ eingesetzt worden sind. Nach der Vereinigung mit diesen Kräften soll der Stoß in die Tiefe des Raumes mit starker Luftunterstützung fortgesetzt werden, um den operativen Durchbruch zu vollenden. Sowjetische Aussagen sprechen davon, daß sich diese „operativen Manövergruppen“ während der Überwindung der taktischen Verteidigungszone, also des Brigade-und Divisionsraumes, möglichst auf keine größeren Gefechte einlassen sollen, um die Kräfte für den Kampf jenseits dieser Zone aufzusparen
Gelänge es also den NATO-Verbänden nicht, den Vorstoß dieser Kräftegruppen noch vor deren Vereinigung mit den luftgelandeten Teilen — u. a. Luftsturmbrigaden — aufzufangen, könne das sowjetische Angriffskonzept als im wesentlichen gelungen bezeichnet werden. Der Verteidiger folgt damit dem Prinzip, den Gegner an der Entfaltung seiner Kräfte bereits im Ansatz zu hindern.
Offizielle einleitende Maßnahmen zur Verbesserung des Abwehrkonzepts gruppieren sich um das FOFA-Konzept („Follow-on-forces-attack“), auch „Rogers-Plan" genannt, der keineswegs mit der Kampfdoktrin „AirLand Battle“ verwechselt werden darf. Vereinfacht dargestellt wird ange-strebt, den Kampf von Anfang an mit weitreichenden Paktes in einer Tiefe von 30 bis Waffensystemen — etwa mit Lenkraketen km jenseits der Frontlinie bekämpfen. und flächendeckender Munition — gegen die Gleichzeitig müsse man die einleitende Luftoffensive in der Tiefe des Raumes konventionell des Gegners, die mit großer Wucht geführt zu führen, ohne jedoch die Abwehr der frontnah werden dürfte, abwehren und dem Angreifer eingesetzten Kräfte des Angreifers zu schwächen: die Erringung der Luftüberlegenheit verweh-Entgegen früheren Aussagen müsse die Bekämpfung ren. Es wurde hierbei eingeräumt, daß die Verwirklichung der ersten gegnerischen Angriffswellen aller geplanten Maßnahmen von hohen und nicht so sehr die der zweiten strategischen finanziellen Aufwendungen sowie von zahlreichen Staffel im Mittelpunkt der Bemühungen organisatorischen und technischen Voraussetzungen So wolle man vorrangig die Verbände des abhängig wäre
II. Kritische Einwände — Erörterungen
Die Einwände gegen die Zweckmäßigkeit der aktuellen NATO-Doktrin betreffen vor allem drei Problembereiche:
a) Abhängigkeit von einem frühzeitigen Rückgriff auf atomare Waffensysteme (Gefechtsfeldwaffen, eventuell auch Mittelstreckenwaffen);
b) Gefahr eines relativ raschen Durchbruchs des Angreifers durch die Zone der „Vorneverteidigung“; c) hohe Risiken und Kosten im Falle einer Verwirklichung des FOFA-Konzepts. 1. Abhängigkeit von einem frühzeitigen Rückgriff auf atomare Waffensysteme Wie erwähnt, besteht bei den meisten Befürwortern und Gegnern der aktuellen NATO-Doktrin Übereinstimmung darin, daß die Abhängigkeit vom frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen, besonders von taktischen Atomwaffen, abgebaut werden müsse, da dies im Extremfall zur Selbst-abschreckung führen könne. Unklarheit herrscht allerdings darüber, auf welche Weise und in welchem Zeitraum dies zu bewerkstelligen sei. Von NATO-Seite wurde erklärt, daß sich die genannte Abhängigkeit nur in dem Maße verringern lasse, in dem die angestrebte „Konventionalisierung“ von Kampfmitteln und Einsatzdoktrin voranschreite. Jede verfrühte Deklaration, wonach man einen künftigen Krieg ausschließlich konventionell durchkämpfen wolle, schließe die Möglichkeit ein, daß sich die sowjetische Führung eine wesentlich größere Chance ausrechne, einen solchen Krieg nicht nur konventionell zu beginnen, sondern auch konventionell zu beenden
In diesem Sinne würde eine gänzliche „Denuklearisierung" — was immer man darunter verstehen mag — die Wahrscheinlichkeit, d. h. die Kalkulierbarkeit eines rein konventionellen Waffenganges in Europa erhöhen, da der überlegene Angreifer sein militärisches Kalkül nur mehr an den gegenüberstehenden konventionellen Kräften orientieren müsse. Demnach stünden Anstrengungen bei der Verbesserung der konventionellen Kampfmittel nicht im Gegensatz zur Beibehaltung von Kernwaffen, da man hiermit die Glaubwürdigkeit der Abschreckung vor jeder Art von Krieg vergrößere. Allerdings liegt die Aussage vor, daß atomare Gefechtsfeldwaffen, also etwa nuklearfähige Artillerie, nicht das geeignete Mittel für den „Ersteinsatz“ seien
Aber auch die angestrebte „Konventionalisierung“ hat nicht überall Zustimmung gefunden, indem etwa argumentiert wird, daß bei Wegfall der nuklearen Komponente in Europa ein rein konventioneller Waffengang viel an Wahrscheinlichkeit gewinne, da die Gefahr einer nuklearen Eskalation praktisch ausscheide. Da ein solcher Waffengang auf Grund der Wirkung konventio-neller Kampfmittel ebenfalls enorme Schäden bewirke, die dem Ausmaß begrenzter Kernwaffeneinsätze nahekämen, sieht man in der „Konventionalisierung" eine neue Gefahrenquelle.
Dagegen ist folgendes anzuführen: Für die NATO kann „Konventionalisierung“ nur bedeuten, die Glaubwürdigkeit ihrer Abhaltestrategie insgesamt zu erhöhen, da sie schon auf Grund des Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa nur an Verteidigung denken kann. Den 23 bis 24 NATO-Divisionen im Abschnitt Europa-Mitte (entsprechend dem MBFR-Reduzierungsraum) stehen immerhin 59 bis 60 aktive Divisionen des War-schauer Paktes gegenüber, wenn auch in personell geringerem Umfang. Das Verhältnis der wichtigsten Waffensysteme und Kampfflugzeuge beträgt zwischen 1 : 2 und 1 : 3, 4 zuungunsten der NATO
Selbst wenn man unterstellt, daß die im Zuge des Rogers-Planes einzuführenden Waffensysteme und Aufklärungsmittel die Kampfkraft der NATO erheblich steigern werden, reicht diese noch immer nicht aus, um die für einen erfolgreichen Angriff im operativen Ausmaß erforderliche personelle und materielle Überlegenheit sicherzustellen.
Für die sowjetische Seite hingegen bedeutet die wesentliche Verbesserung der konventionellen Kräfte der NATO eine gravierende Beeinträchtigung ihres eigenen Angriffsdenkens, das auf einer raschen Überwindung der gegnerischen Truppen im grenznahen Raum und auf einer Gewinnung der militärstrategischen Ziele noch vor dem Eintreffen namhafter Verstärkungen aus Übersee beruht Längerdauernder zäher Widerstand in der vorderen Verteidigungszone versetze das NATO-Oberkommando in die Lage, zahlreiche Reserven mobilzumachen sowie operative Verstärkungen über den Atlantik heranzuführen. Ein rascher Sieg der Warschauer Pakt-Truppen wäre damit in weite Ferne gerückt. Ergänzend sei auf alle damit zusammenhängenden politischen Nachteile im östlichen Mitteleuropa, etwa auf die Frage der Zuverlässigkeit mancher Verbündeter, verwiesen. 2. Gefahr eines relativ raschen Durchbruchs des Angreifers Das Argument, daß der Warschauer Pakt relativ rasch die Vorneverteidigung der NATO durchbrechen könne, bedarf jedenfalls der Angabe, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Durchbruch möglich wäre. Eine Schwierigkeit liegt darin, solche Optionen des Warschauer Paktes zu erfassen, die sowohl ein hohes Maß an Wirklichkeitsnähe besitzen als auch rechnerisch simuliert werden können. Eine weitere besteht darin, eine Beziehung zwischen den militärischen Kräfteverhältnissen und den beiderseitigen Handlungsmöglichkeiten (d. h.den Optionen) herzustellen
Unter diesen Vorzeichen besitzt die Option eines „Angriffs aus dem Stande“, d. h. eines Angriffs mit einer Vorbereitungszeit von nur wenigen Stunden, geringe Wahrscheinlichkeit, selbst wenn man eine Offensive nur seitens derjenigen Warschauer-Pakt-Verbände annimmt, die sich in der DDR und der westlichen CSSR befinden. Selbst für diese 35 bis 37 Divisionen (samt den Heerestruppen) muß mit einer Mindestvorbereitungzeit gerechnet werden: Die Vorwarnzeit für die NATO läge unter normalen Bedingungen verschiedenen Aussagen zufolge bei ca. 48 Stunden Diese müßte ausreichen, um die wichtigsten Maßnahmen zur Aufnahme des grenznahen Abwehrkampfes und zur Mobilmachung zu treffen. Eine manchmal anzutreffende Aussage, wonach nur die sowjetischen Kräfte in der DDR und die Verbände der Nationalen Volksarmee zum „Angriff aus dem Stande“ antreten könnten besitzt noch weniger Überzeugungskraft.
Größere Erfolgschancen werden hingegen einem Angriff mit kurzer Vorbereitungszeit (ca. 3 bis 5 Tage), der das Überraschungsmoment mit relativer Stärke verbindet, eingeräumt. Eine solche Offensive mit der Masse der ersten strategischen Staffel (ca. 48 bis 50 Divisionen und Heerestruppen) und unter Aufbietung möglichst starker Luftwaffenkräfte könnte diejenige Überlegenheit erzielen, die zum raschen Durchbruch durch die Vorneverteidigung und zur Erringung eines entscheidenden Sieges befähigt. Allerdings würde die NATO in diesem Falle wertvolle Zeit zur Vorbereitung der Verteidigungsräume, für die Ausweitung der Mobilmachung und die Verlegung von Reserven aus Übersee gewinnen. Dennoch scheint die genannte Option mehr als andere Chancen für den Warschauer Pakt zu eröffnen (Die Option eines Angriffs nach längerer Vorbereitungszeit unter Aufbietung der zweiten strategischen Staffel und sonstiger Reserven wird ausgeklammert, da die Erfolgschancen schwer zu klären sind.)
In Ergänzung zum Gesagten haben gerade angelsächsische Autoren die Gefahren hervorgehoben, die sich aus einer denkbaren Kombination von Überraschung mit strategischer Täuschung und Tarnung (auch „maskirovka“ genannt) ergeben würden. Besonders die Täuschung auf operativer Ebene gewinnt an Bedeutung
Im Hinblick auf die Wirksamkeit der Vorneverteidigung interessiert bei den zwei ersten Optionen nicht so sehr das jeweilige Kräfteverhältnis, sondern vielmehr der Zeitbedarf, der zum Beziehen und zum Ausbau der vorgesehenen Verteidigungsräume in Grenznähe erforderlich sein dürfte. In den meisten einschlägigen Studien kreisen die Überlegungen um diesen Zeitbedarf, außerdem um allfällige Behinderungen des Aufmarsches (Flüchtlingsproblematik!) und um die Abwicklung der Mobilmachung. Anders ausgedrückt: Der Wert der Vorneverteidigung hängt mehr vom Faktor „Zeit“ als vom Faktor „Kraft“ ab. Die ungünstige Dislozierung mancher Groß-verbände, etwa von belgischen, niederländischen und britischen Divisionen, macht unter dem Aspekt des Aufmarsches die Bedeutung des Zeit-faktors deutlich. Wenn schon Kritik an der Vorneverteidigung, dann sollte sie dort einsetzen, wo offenkundig Schwachstellen vorliegen!
Ein weiterer Einwand gegen die Wirksamkeit der Vorneverteidigung erscheint ebenfalls gravierend und wird auch von offizieller Seite nicht verniedlicht. Es handelt sich um die geringe Anzahl an Reserven in der Hand der operativen Führung, sei es zur Verhinderung von Durchbrüchen, sei es zum Schutz des Hinterlandes vor Luftlandungen. Wenn auch die aktiven 23 1/3 Divisionen in Europa-Mitte für die Besetzung der vorgesehenen Abwehrräume für ausreichend erachtet werden, so bilden die wenigen noch verfügbaren Reserven auf der Ebene der Korps und Armeegruppen ein zentrales Problem. Die meisten „Modelle“ alternativer Denkrichtungen haken in diesem Punkt ein. Es sei jedoch vorweggenommen, daß auch die NATO-Kommandos diese Schwäche berücksichtigen, z. B. durch solche Maßnahmen, die der Einlagerung der Ausrüstung für die im Bedarfsfall nach Westeuropa zu verlegenden US-Divisionen dienen Diese Frage wird noch Gegenstand der Erörterung sein. 3. Hohe Risiken und Kosten des FOFA-Konzepts Die Einwände gegen das FOFA-Konzept („Follow-on-forces-attack“) liefen zunächst darauf hinaus, der NATO die Begründung einer neuen Strategie vorzuhalten; in weiterer Folge konzentrierte man sich darauf, die technischen und finanziellen Engpässe herauszustellen.
Die Behauptung, FOFA schaffe eine neue Strategie, geht schon deshalb ins Leere, da an der insgesamt defensiven Grundhaltung nichts verändert wird. Die Heeres-und Luftwaffenkräfte der NATO wären selbst nach Verwirklichung sämtlicher Vorhaben keineswegs zur Durchführung einer Offensive auf breiter Front gegen den War-schauer Pakt in der Lage. Was der „Rogers-Plan" anstrebt, besteht lediglich darin, das Heranführen der tiefgestaffelten Verbände und sonstigen Reserven des Gegners auf das Gefechtsfeld zu unterbinden oder zumindest nachhaltig zu verzögern. Hierfür sollen neben Kampfflugzeugen zahlreiche Boden-Boden-Raketen mit verschiedener Reichweite und mit Präzisionsmunition bereitgestellt werden.
Dies bedeutet jedoch nur eine Verfeinerung des bisherigen Kampfverfahrens, da Kampfflugzeuge auch bisher wichtige Aufträge gegen Ziele im Hinterland des Gegners zu erfüllen hatten, nämlich „Abriegelungs" -und „Counter Air“ -Einsätze zu fliegen. Durch das FOFA-Konzept wird lediglich der Kampfraum mittels der 3. Dimension in die Tiefe des gegnerischen Territoriums ausgedehnt
Anlaß zu Kontroversen bilden allerdings Aussagen einiger Autoren, die im Zuge der Eröterung verschiedener Szenarien ausgeführt hatten, daß sich die NATO nicht mit der bloßen Abwehr begnügen, sondern im Rahmen von Gegenangriffen auch auf gegnerisches Territorium vorstoßen solle. Diese Handlungsweise könne sowohl eine starke militärische als auch -politische Wirkung ausüben Solche Äußerungen wurden gelegentlich als Argument für den angeblich aggressiven Inhalt des „Rogers-Planes" und auch der Kampf-doktrin „AirLand Battle“ angeführt, ohne die tatsächlich herrschenden Kräfteverhältnisse und Optionen zu berücksichtigen. Problematischer stellen sich hingegen die waffen-technischen und finanziellen Erfordernisse dar.
Man hat hierbei einerseits auf die technischen und führungsmäßigen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Präzisionswaffen, andererseits auf deren Einschränkung durch Reaktionen des Gegners verwiesen. So wurde etwa betont, daß ohne ausreichende Aufklärungssysteme mit „Echtzeitübertragung“ jede Präzisionswaffe entscheidend an Wert einbüße. Des weiteren müsse man mit verschiedenen elektronischen Täuschungsmaßnahmen des Gegners rechnen
Die finanziellen Mittel dürften aller Voraussicht nach nur langfristig und unter Einschränkungen aufzubringen sein, wobei geschätzte Gesamtkosten von ca. 30 Mrd. Dollar (Berechnungsbasis 1984) auftreten. Allein die Kosten für diejenigen Waffen, die der Abwehr der ersten Angriffswellen dienen, sollen ca. 9 Mrd. Dollar betragen Da aber die NATO die konventionelle Rüstung insgesamt verbessern will, treten zahlreiche Rü-stungsvorhaben in gegenseitiger Konkurrenz zutage, die die Grenzen der Finanzierbarkeit deutlich vor Augen führen. Zur Zeit spricht einiges dafür, daß man sich u. a. in Anbetracht der fi-nanziellen Schwächen einzelner Mitgliedstaaten zunächst auf einige wichtige Beschaffungen beschränkt, etwa auf den Mehrfach-Raketenwerfer MLRS und die FIA-Waffe Patriot.
III. „Defensive Verteidigung“: Eine Lösung im taktisch-operativen Sinn?
1. Verschiedene Ansätze Die bisher dargelegten kritischen Einwände haben nicht nur Vorschläge zur Verbesserung des gültigen Abwehrkonzepts erbracht, sondern in manchen Fällen eine radikale Abkehr von diesem Konzept erkennen lassen, was schließlich zur Forderung nach einer ausschließlich „defensiven“ Verteidigung geführt hat. Unter „defensiver Verteidigung“ können solche Überlegungen zusammengefaßt werden, die im wesentlichen zwei grundlegende Absichten zum Inhalt haben: — Alleinige Abstützung auf eine wesentlich verbesserte konventionelle Verteidigung, um der Abhängigkeit von taktischen und eurostrategischen Kernwaffen zu entgehen;
— Umgliederung und Umrüstung der Streitkräfte auf „defensive Strukturen“.
Es bestehen erhebliche Schwierigkeiten, die Vorschläge der einzelnen Denkrichtungen in ihrer ganzen Vielfalt zu erfassen bzw. das Gemeinsame herauszufiltern. So reichen ihre Inhalte vom Aufbau einer „raumdeckenden Verteidigung“ über die Schaffung einer milizartigen Wehrform und die Umrüstung auf reine „Verteidigungswaffen“
bis hin zum gänzlichen Verzicht auf Kernwaffen und zur „sozialen Verteidigung“ Ihnen allen ist gemeinsam, daß man glaubt, den Mängeln der NATO-Doktrin nur mehr mit einer völligen Umkehr begegnen zu können, am radikalsten formuliert etwa in der Forderung nach Abschaffung aller Atomwaffen oder in der Organisation zivilen Widerstands.
Weitere Gemeinsamkeiten liegen im Zuge zur „Konventionalisierung“ im Verzicht auf den Ersteinsatz („first use“) von Nuklearwaffen und in der Verwendung solcher Gliederungsformen, die vorwiegend „nicht angriffsfähig“ sind. Bei letztgenannter Absicht kommt noch der Gedanke hinzu, die eigene Friedensbereitschaft sichtbar hervorzukehren, um damit im Zuge politischer Verhandlungen auf die eigenen Initiativen verweisen zu können. Gerade diese Absicht ist aber auf vehemente Kritik gestoßen, da die damit verbundenen Vorleistungen auch erhebliche Gefahren in sich bergen, so z. B. die Herbeiführung eines eventuell nicht mehr korrigierbaren Kräfte-verhältnisses zuungunsten der NATO.
Ein weiteres Element betrifft das Konzept der sogenannten „gemeinsamen Sicherheit“, das ebenfalls Anlaß für Kritik gegeben hat. Die Überlegungen gehen davon aus, daß man langfristig die Auflösung der beiden Militärbündnisse und deren Ablösung durch „gemeinsame Sicherheit“ anstreben solle Die Abhaltestrategie beschränke sich auf die Gewährleistung eines hohen „Eintritts-und Aufenthaltspreises“, den der Gegner im Falle einer Offensive zu zahlen hätte.
Jede Vergeltung oder Präemption (mit Kernwaffen) wird hingegen abgelehnt. Hierbei solle man nach „struktureller Nichtangriffsfähigkeit“ streben. Die Rüstungskontrolle solle langfristig auf die Verbesserung der strategischen Stabilität und die genannte „Nichtangriffsfähigkeit“ ausgerichtet sein. „Gemeinsame Sicherheit“ und Neutralität seien jedoch miteinander nicht vereinbar Wenn man sich die einzelnen Versuche vor Augen hält, Neutralität zum sicherheitspolitischen Vorbild schlechthin zu erklären, ist dies eine beachtenswerte Aussage.
Diese Vorschläge müssen jedoch bei aller Anerkennung der zugrunde liegenden Absicht einige Einwände hinnehmen: Die derzeit gültige NATO-Doktrin beschränkt sich erklärtermaßen auf die reine Verteidigung, wobei man immer wieder betont hat, die konventionelle Abwehr-kraft stärken zu wollen, um damit die Abhalte-wirkung zu erhöhen. Vergeltung oder Präemption (mit Kernwaffen) wäre militärisch ein kaum taugliches Mittel, um eine konventionell geführte Offensive zum Stehen zu bringen. Nach den verfügbaren Aussagen und Dokumenten richten sich mögliche Kernwaffeneinsätze der NATO gegen militärische Ziele im Hinterland des Angreifers, um militärische Wirkungen zu erzielen („battle area use“, „theater wide use“). Eine atomare Präemption der NATO wäre obendrein angesichts der Überlegenheit des Warschauer Paktes bei taktisch-operativen Kernwaffen in höchstem Maße selbstschädigend
Der „hohe Eintritts-und Aufenthaltspreis“ müßte erst an seiner Abhaltewirkung auf das Kalkül des Gegners gemessen werden, da sich jedes neue Konzept an seiner Fähigkeit zur Kriegsverhinderung orientieren sollte was noch zu untersuchen sein wird. „Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ würde in letzter Konsequenz solch enorme Einschränkungen erfordern, daß für den Verteidiger selbst Gegenangriffe auf taktischer Ebene oder Abriegelungseinsätze durch Jagdbomber gegenstandslos würden. Außerdem ist offensichtlich, daß selbst Fachleute kaum zwischen Offensiv-und Defensivwaffen zu unterscheiden wagen, da kein Waffensystem für sich allein beurteilt werden darf. Jedenfalls würde eine solche „Nichtangriffsfähigkeit“ seitens der NATO eine Parallelentwicklung auf östlicher Seite erfordern, um das dort bestehende Übergewicht beim Offensivpotential abzubauen und um Vertrauen zu schaffen.
Schließlich sei noch das ungelöste Problem hervorgehoben, daß nämlich der Sicherheitsbegriff in Ost und West von grundsätzlich anderen Vorzeichen ausgeht, so daß sich eine hohe Unvereinbarkeit der Zielvorstellungen beider Lager ergibt 2. „Raumdeckende Verteidigung“, „Verteidigung im Netz“, „Technotaktik“
Die meisten der bisher vorgebrachten Vorschläge münden früher oder später in die Kernfrage, um die kein ernst zu nehmender Fachmann herum-kommt: Kann Europa sich konventionell verteidigen? Man geht hierbei von der erwähnten These aus, daß die NATO in Europa-Mitte angesichts des Kräfteverhältnisses dieses nur kurze Zeit erfolgreich verteidigen könne und daß sie daher nach wenigen Tagen vor der Alternative einer nuklearen Eskalation oder dem Anbieten einer Kapitulation stünde. Um dieser Zwangslage zu entgehen, wurden von nichtoffizieller Seite zahlreiche „Alternativmodelle“ erarbeitet, von denen nur zwei herausgegriffen seien: die „Raumverteidigung“, auch „raumdeckende Verteidigung“ genannt (Generalmajor a. D. Hans-Joachim Löser), und die „Verteidigung im Netz“ (Brigadegeneral a. D. Eckart Afheldt), wobei diese Bezeichnung nur als Arbeitsbegriff angesehen werden möge. Ergänzende Hinweise auf andere „Modelle“ schließen sich an. (Der Verfasser ist sich bewußt, hiermit nicht alle Schattierungen der „defensiven Verteidigung“ zu erfassen.) a) „Raumdeckende Verteidigung“
Das Konzept Lösers unterteilt das Operationsgebiet in der Bundesrepublik in eine „Grenzverteidigung“, in eine „Raumverteidigung“ und in das Gebiet des „Heimatschutzes“. Die „raumdekkende Verteidigung“ strebt eine Verdoppelung der konventionellen Abwehrkraft mittels „Nutzung neuer Abwehrtechnologien mit hoher Präzision“ und der Ausnutzung des Geländes und der „Aufstellung von Reserveverbänden in Anlehnung an die aktive Truppe“ an Jeder aktive Verband solle einen Reserveverband aufstellen, ausbilden und in vorbereiteten Verteidigungssektoren eines „tiefen Netzes“ auf den Einsatz vorbereiten. Das Verhältnis von Kampftruppe und Versorgung solle auf 80: 20 angehoben werden (in späteren Ausführungen Lösers werden andere Angaben gemacht). Der Kräftebedarf für die Bundeswehr wurde für 1990 mit 100 Brigaden, davon 36 aktive, 36 gekaderie und 28 Reservebrigaden, angegeben. Im allgemeinen wird dadurch eine „Entmechanisierung“ angestrebt, wenn auch im Unterschied zu anderen „Modellen“ mechanisierte Verbände als „Schwertkräfte“ für Gegenangriffe vorgesehen sind. Im Gegensatz zu anderen Konzepten solle der Gegner bereits ziemlich grenznah in einem „dichten Abwehrsystem“ so stark abgenutzt werden, daß er die Weser-Lech-Linie nicht überschreiten könne. Die Grenzraumverteidigung soll nach neueren Aussagen eine Tiefe von 40 bis 60 km aufweisen Der letzte Hinweis nähert sich in erstaunlichem Maße dem Konzept der NATO-Vorneverteidigung! b) „Verteidigung im Netz" , Die „Verteidigung im Netz“ geht vom Abwehr-kampf einer neu zu schaffenden Jägertruppe in einem durchgehenden Streifen („Netz“) entlang der Grenze zur DDR und der SSR aus, dem eine Tiefe von 70 bis 100 km beigemessen wird. In diesem Streifen will man den Angreifer in tagelangen Gefechten und unter Einsatz zahlreicher Panzerabwehrraketen, einfacher Artillerie-raketen, von Granatwerfern und von Sperrmaterial in Form des Jagdkampfes zermürben. Der Gegner soll bereits mit Überschreiten der Grenze bekämpft und in der ganzen Tiefe des „Netzes“ so abgenutzt werden, daß die das „Netz“ schließlich durchstoßenden Feindkräfte auf die dahinter stehenden operativen Reserven der NATO treffen, die ihnen die endgültige Niederlage zufügen
Insgesamt soll ein Zeitgewinn von vier bis sieben Tagen erzielt werden. Die Hauptlast des Kampfes trägt die Jägertruppe, die sich in Züge, Kompanien, Bataillone und Brigaden gliedert. Hierbei werden 50 aktive Jägerbrigaden und zwölf Divisionskommandos vorgeschlagen, wobei es die Verringerung der Friedensstärke bei den mechanisierten Divisionen, bei den Korpstruppen und beim Territorialheer erlauben soll, die neue Jägertruppe aufzustellen. Die Jägerkräfte sollen extrem aufgelockert kämpfen, etwa eine Jägerkompanie mit ca. 130 Mann auf 50— 80 km 2. Oberste Regel für den Einsatz müsse sein, „die überwältigende Feuerkraft des Angreifers zu unterlaufen“ c) „Technotaktik"
In Ergänzung des Gesagten sei auf die Vorstellungen zur Einbeziehung der Raketenartillerie in den Kampf der Jägertruppe sowie auf die „Technotaktik“ verwiesen. Dieser Begriff umreißt diejenigen waffentechnischen Konstruktionen, die dem Grundsatz „Wirkung aus der Deckung“ dienen, also etwa Elevationsgeräte zum Abschuß von Flugkörpern oder Mehrzweckraketen mit Fernbedienung. Neben den „Netzkräften“, hauptsächlich im grenznahen Raum, sollen „Stoßkräfte“ im Hinterland aufgestellt werden, die für die Vernichtung durchgebrochener oder luftgelandeter Feindteile vorgesehen sind.
Ein anderes alternatives „Modell“ betrifft die Verteidigung mit „konventionellen Feuersperren“ (Norbert Hannig), wobei man sich fast ausschließlich auf die enorm gesteigerte Wirkung des Abwehrfeuers (vornehmlich mittels Raketenwaffen und Präzisionsmunition) im Bereich sogenannter „Sperr-und Vernichtungszonen“ entlang der Grenze stützen will 3. Einwände und Gegenargumente — Zwischenergebnis Die meisten Stellungnahmen heben übereinstimmend hervor, daß praktisch alle Abarten der „raumdeckenden Verteidigung“ a priori einen viel größeren Geländeverlust einkalkulieren, als er im Rahmen der NATO-Doktrin für annehmbar gehalten wird. Immer wieder betont man, daß die geringe Tiefe des nationalen Territoriums ein weiträumiges Ausweichen, um den Angreifer hinhaltend kämpfend abzunutzen, nicht zulasse
Dies komme schon deswegen nicht in Frage, da der Abwehrkampf, der sich über weite Teile des Staatsgebietes erstrecken wird, über Gebühr hohe Schäden und hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung fordern würde; raumgreifende Gegenangriffe am Ende der Abnutzungsphase, wie sie Löser und Afheldt vorsehen, bedeuten praktisch Schlachten im Landesinneren, auch mit den ent-sprechenden Luftkriegshandlungen! Eine vorgesehene Raumaufgabe bis zu einer Tiefe von 100 km würde z. B. die Ballungsräume Hannover, Frankfurt und Nürnberg dem Kampfgeschehen ausliefern
Bezeichnenderweise spricht Löser in seiner jüngsten Ausarbeitung von einer Grenzraumverteidigung mit 40 km Tiefe, in der man die „ersten und zweiten Staffeln des Gegners“ zerschlagen solle, wobei dieser grenznahen Verteidigung Priorität einzuräumen sei. Auch das FOFA-Konzept besitze eine wichtige Funktion in der Bekämpfung gegnerischer Konzentrationen in der Tiefe km Tiefe, in der man die „ersten und zweiten Staffeln des Gegners“ zerschlagen solle, wobei dieser grenznahen Verteidigung Priorität einzuräumen sei. Auch das FOFA-Konzept besitze eine wichtige Funktion in der Bekämpfung gegnerischer Konzentrationen in der Tiefe 38). Liegen hierbei gravierende Unterschiede zur Abwehrplanung der NATO vor?
Im Falle der „raumdeckenden Verteidigung“ gemäß Löser wurde nachgewiesen, daß allein der Personalbedarf des Heeres den Gesamtumfang der derzeitigen Bundeswehr übersteigt 39) (65 präsente Brigaden der „Schildkräfte“ und 24 präsente Brigaden der „Schwertkräfte“ mit zusammen ca. 272 000 Mann an Kampftruppen, jedoch ohne Unterstützungsund Versorgungstruppen, die unter günstiger Annahme mindestens ebenso viel Personal wie die Kampftruppen erfordern). Die Verteilung der raumdeckenden Kräfte müsse relativ gleichmäßig erfolgen, um nicht durch vorzeitige Schwergewichtsbildung dem Angreifer entgegenzukommen. Wie sollen sich nun die Jägerkräfte in panzergünstigem Gelände behaupten? Wie soll obendrein der errechnete Mehrbedarf des Heeres gedeckt werden, ohne Luftwaffe und Marine wesentlich zu schwächen 40)?
Ein weiterer Einwand lautet: Wie soll das Kampfverfahren der Jägerbrigaden gestaltet werden, um dem Angreifer möglichst hohe Verluste zuzufügen? Da die Masse der Kräfte infanteristisch kämpft — ohne ein tiefgestaffeltes Stellungssystem —, stellt sich die zentrale Frage des Schutzes. Angesichts der bekannten Überlegenheit der Warschauer Pakt-Truppen bei Rohrartillerie, Mehrfachraketenwerfern und Kampfhubschraubern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zusammengefaßtes, vernichtendes, oft flächendeckendes Feuer in den Angriffsschwergewichten, fallweise auch in Nebenabschnitten, zu erwarten. Wie sollen die Jägerkräfte ihre Panzerabwehrwaffen zum Schuß bringen, ohne hierbei untragbare Verluste zu erleiden? Die mehrmals vorgeschlagene starke Auflockerung dient zwar dem Überleben, stellt aber für den Angreifer kaum eine Bedrohung dar
Im Falle des Konzepts von Afheldt wird ein Kampf im „Netz“ vorgeschlagen, das sich ebenfalls über die gesamte Grenzlänge erstreckt und dabei keinen Unterschied zwischen panzergünstigem und panzerungünstigem Gelände trifft. Da die vorgeschlagene leichte Infanterie nicht aus Stellungen und Feldbefestigungen kämpfen soll, bleibt nur die Form des Jagdkampfes übrig. Dieser Jagdkampf will bekanntlich den Gegner an seinen empfindlichen Stellen, etwa an den Bewegungslinien, treffen. Zunächst wird nicht erklärt, wie der Jagdkampf gegen diese empfindlichen Stellen in panzergünstigem Gebiet entgegen allen Kampferfahrungen geführt werden soll. Bevorzugt man etwa, die Abwehr aus zahlreichen vorbereiteten Stellungen aufzunehmen, so laufen die Jägerkräfte Gefahr, frühzeitig aufgeklärt und durch massiertes Feuer niedergekämpft zu werden, wie im Falle der „raumdeckenden Verteidigung“. Obendrein müßten solche Stellungen in großer Tiefe und großer Zahl bereits im Frieden angelegt werden, um als Rückhalt zu dienen.
Beschränkt man sich hingegen auf den Jagd-kampf nur im Infanteriegelände (wobei die Frage der Verteidigung der übrigen Abschnitte offen bleibt!), ist es ebenfalls zweifelhaft, ob die hiermit beabsichtigte Wirkung erzielt werden kann, nämlich so starke Kräfte des Gegners zu absorbieren, daß sich das „Kräfteverhältnis im ganzen“ ändert. Wenn extreme Auflockerung gefordert wird — ca. zwei Soldaten pro km 2 — und die einzelnen Jägerzüge meist auf sich allein gestellt kämpfen sollen, kann der Erfolg der Jäger-kräfte nur in der Behinderung, nicht aber in der Abnutzung der nachrückenden Feindstaffeln liegen. Es entsteht bei der genannten Auflockerung ein entsprechender Zeitbedarf für die Bereitstellung der Jägerzüge, die sich unmittelbar nach ihrem Einsatz wieder zurückziehen müssen. Das geforderte „Untertauchen“ dient zwar dem Überleben, gibt aber Gelände preis. Auch diesem Un-tertauchen sind Grenzen gesetzt, will man nicht die Zivilbevölkerung zusätzlich gefährden. Eine weitgehende Auflockerung kann eben nicht zugleich eine hohe Abnutzung bewirken
Wählt man hingegen eine ausreichende Sättigung des Raumes mit Jägerkräften, setzt man diese der Gefahr aus, in verlustreiche Kampfhandlungen verwickelt zu werden, ehe sie die erhoffte Wirkung erzielen. Man muß mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß der Angreifer mit wuchtigen Stößen, mit „operativen Manöver-gruppen“ und Luftunterstützung das „Netz“ der Jägerzüge rasch durchstößt Der Angreifer, dem das neue Abwehrkonzept nicht verborgen bleiben kann, wird sich auch auf die Taktik des Jagdkampfes einstellen, etwa dergestalt, daß er Überfälle der Jägereinheiten durch verstärkte Sicherung empfindlicher Punkte oder präventive Säuberungsaktionen beantwortet. Auch den Führungsstellen des Warschauer Paktes sind die Schwachstellen des eigenen Staffelungsverfahrens und der Rückwärtigen Dienste bekannt!
Man denke sich somit in die Rolle des Angreifers, dem ein Verteidiger gegenübersteht, der jede Duellsituation möglichst meidet, sich auf keinen nachhaltigen Widerstand einläßt und dessen mechanisierte Verbände nur die Rolle der „Feuerwehr“ bekleiden, falls sie nicht — wie bei einigen „Modellen“ — überhaupt fehlen Auch die Variante, wonach die Jägerkräfte von sicheren Unterständen aus ferngesteuerte Flugkörper bedienen und damit einer geringeren Gefährdung unterliegen, hat neben einigen Vorzügen vor allem den Nachteil, keine nachhaltige Verteidigung entscheidender Geländeabschnitte zu bewirken. Ließe sich mit dem Kampf der Jägereinheiten ein erhoffter Zeitgewinn von vier bis sieben Tagen erzielen?
Auf die hohen Anforderungen in der Ausbildung sowie auf die außergewöhnlichen Belastungen, denen die Jägerkräfte im „Netz“ auf sich allein gestellt ausgesetzt sind, sei nur ergänzend verwiesen. Obendrein liegen die psychologischen Nachteile angesichts des tiefen gegnerischen Vordringens auf der Hand.
Andere Denkrichtungen der „defensiven Verteidigung“ schlagen eine Mischung von statisch kämpfenden Einheiten mit „Feuerwehrkräften“ samt Artillerieraketen vor, so daß ein Verbund einfacher und hochtechnisierter Waffen entsteht. Bei einigen Anhängern dieser Verteidigungsform ist sogar ein „fast euphorisches Bekenntnis zu modernen Waffentechnologien“ zu finden wogegen bei anderen der Hang zu einfacher, robuster Bewaffnung vorherrscht.
Die Vertreter der „defensiven Umrüstung“ können zwar in der Mehrzahl den Vorteil in Anspruch nehmen, durch Vereinfachung der Bewaffnung Einsparungen zu ermöglichen; es müßte aber nachgewiesen werden, daß künftige Streitkräfte ohne die Mittel des Gegenangriffes (etwa Kampfpanzer) und ohne Luftverteidigungskräfte (FIA-Raketen, Abfangjäger) wirkungsvoller als die derzeitigen NATO-Kräfte operieren könnten.
Die Vertreter von „Modellen“ mit hochtechnisierten Waffensystemen müssen hingegen der Frage nachgehen, wie die Mehrkosten dieser Entwicklungen zu decken wären und ob sie nicht einer ähnlichen Problematik wie die Beschaffungspläne des FOFA-Konzepts unterliegen.
Bei allen diesen Umrüstungsvorschlägen, aber auch bei den taktisch-operativen Überlegungen wird meist übersehen, daß die Bundeswehr keinen Sonderweg einschlagen kann. Auch in der operativen Planung ist ein Sonderweg undenkbar, da dieser die Gesamtplanung der NATO entscheidend berühren würde Alle „Modelle“, die einen längerdauernden Abnutzungskampf um Zeitgewinn, um die Heranführung und Bereitstellung von Reserven vorsehen, müssen eines berücksichtigen: Dieser Zeitgewinn dient auch’ dem Gegner zur Verlegung seiner zweiten strategischen Staffel und sonstiger Reserven zu Lande und in der Luft, womit die Entscheidungsschlacht im Landesinneren mit allen Konsequenzen erst bevorstünde Die Einwände gegen die beiden vorrangig erörterten Konzepte lassen sich wie folgt zusammenfassen: — Gefahr einer großflächigen Raumaufgabe; — unbefriedigende Verlangsamung des gegnerischen Vordringens, besonders in Schwergewichtsabschnitten ;
— mangelnde Berücksichtigung der unterschiedlichen Kampfbedingungen im panzergünstigen bzw. panzerungünstigen Gelände; — hohe Anforderungen an Kampfmoral und Ausbildungsstand der Jägerkräfte in der Abnutzungszone; — Gefahr großer Zerstörungen im Zuge des Verzögerungskampfes und von Gegenangriffen aus der Tiefe des Raumes;
— Erfordernis der Übereinstimmung mit den Bündnispartnern vor Einführung taktisch-operativer sowie rüstungsmäßiger Neuerungen;
— psychologische und politische Nachteile infolge des Verzichts auf die „Vorneverteidigung“. Bei denjenigen alternativen Konzepten, die sich mit gemischten Formen (statisch, beweglich) und mit einer Waffenmischung unter Beschränkung auf rein defensive Optionen — ohne gepanzerte Gegenschlagskräfte — begnügen, lautet das Kernproblem: Wie kann ein durchgebrochener Gegner nicht nur abgeriegelt, sondern auch zurückgeworfen werden
IV. Suche nach Auswegen
Wenn man davon ausgeht, daß es vorteilhafter wäre, der Taktik vor der Technik den Vorzug zu geben, und daß die meisten Fragen um die entscheidende Verbesserung der konventionellen Abwehrkraft kreisen, stößt man auf einige Vorschläge, die in der bisherigen Diskussion offenbar zu kurz gekommen sind. In erster Linie handelt es sich um die Überlegung, ein wohldurchdachtes, tiefgestaffeltes Stellungssystem im grenznahen Bereich bereits in Friedenszeiten anzulegen, worauf z. B. Experten wie Fritz Birnstiel und Hans-Heinrich Winckler hingewiesen haben Aber auch amerikanische und britische Autoren haben seit geraumer Zeit den Wert ständiger Befestigungen und befestigter Zonen im grenznahen Raum hervorgehoben und deren Bedeutung als „Kräftemultiplikator“ unterstrichen
Man ist sich hierbei durchaus bewußt, daß damit — wie die Kriegsgeschichte zeigt — keine Garantie für die Verhinderung von Durchbrüchen verbunden ist, sondern ein wichtiger Zuwachs an Kampfkraft und Zeitgewinn erreicht werden kann. Es geht im Prinzip darum, eine verschieden tiefe Zone an Feldbefestigungen (Stützpunkte, Panzergräben, Geländestufen, sonstigen Hindernissen und Sperren, Stellungen für schwere Waffen) anzulegen, die sich einigen Autoren zufolge entlang der gesamten Grenze, anderen zufolge nur auf wichtige Abschnitte erstrecken. Die Tiefe wird je nach Gelände mit ca. 15 bis 40 km angegeben.
Im Falle des Vorschlags von Birnstiel soll an die Stelle der heutigen Verzögerungszone eine „Grenzsperrzone“ treten, die unmittelbar hinter der Grenzlinie beginnt, womit der Raumverlust sehr gering gehalten würde. Für den Kampf in dieser Sperrzone sind eigens dafür ausgerüstete und gegliederte „Grenzsperrbrigaden“ vorgesehen, hinter denen mechanisierte oder infanteristische Großverbände (je nach Gelände) zur Bildung von Abwehrschwergewichten in ihren Verteidigungsräumen bereitstünden. Falls der Angreifer die „Grenzsperrzone“ durchbräche, solle die nachhaltige Abwehr in den Verteidigungsräumen unter Mitwirkung sonstiger operativer Reserven geführt werden.
In Abänderung der Überlegung, Sperrbrigaden überwiegend aus Milizsoldaten zu bilden, haben andere Autoren die hohen Anforderungen, die an diese Verbände gestellt werden, betont und daher eine andere Zusammensetzung der Sperrbrigaden vorgeschlagen In der Frage, ob die nationalen Korpsabschnitte und deren Führungsbefugnisse beibehalten werden sollen oder nicht, gehen die Ansichten auseinander. Entscheidend bleibt aber der Ansatz, die Verteidigung möglichst grenznah aufzunehmen und dafür die Vorteile von Geländehindernissen und eines tiefgestaffelten Stellungssystems zu nutzen.
In einem Punkt sind sich viele Autoren einig, daß man nämlich den Mangel an Infanterie im allgemeinen beheben solle und daß die derzeitigen Panzergrenadierbataillone nur beschränkte Wirkung in der Panzerabwehr erzielen können
Ein oft vorgebrachter Ausweg betrifft den Rückgriff auf Reservistenbestände, sei es durch deren Eingliederung in aktive Divisionen, sei es durch Aufstellung zusätzlicher Verbände des Territorialheeres. Des weiteren könnte eine Vorverlegung von Teilen einzelner Divisionen in grenznahe Räume Erleichterungen für den Aufmarsch schaffen, ein Gedanke, der auch dem „Master Restationing Plan“ des US-Heeres zugrunde liegt.
Schließlich haben einige Experten in der rechtzeitigen Verlegung „leichter“ Infanteriedivisionen aus den USA nach Westeuropa im Frieden oder in Krisenzeiten eine wesentliche Verstärkung der NATO gesehen. Diese Divisionen könnten — etwa im Rahmen der Vorneverteidi-gung — eingesetzt werden, um gepanzerte Verbände als Reserven freizumachen; sie könnten auch zum Schutze des Hinterlandes oder als operative Reserven des NATO-Oberbefehlshabers Verwendung finden. Der Vorteil „leichter“ Infanterieverbände läge nicht zuletzt darin, dem War-schauer Pakt den defensiven Charakter, der mit dieser Verstärkung verbunden wäre, vor Augen zu führen
Die vorgebrachten Vorschläge laufen somit auf die Anlage befestigter Sperrzonen in Grenznähe, auf die Gewinnung von infanteristischen Reserven und auf die Zuführung von „leichten“ Infanteriedivisionen aus Übersee hinaus. Sie bewegen sich mithin im Rahmen des Konzepts der „Vorneverteidigung", wenn auch dieses in mancher Hinsicht verbesserungsbedürftig erscheint
Die Verfechter „alternativer“ Konzepte können zwar auf die friedenspolitischen Aspekte ihrer Vorschläge verweisen, z. B. auf die Glaubhaftigkeit der reinen Verteidigungsabsicht durch Beschränkung auf „defensive Strukturen“ unter Verzicht auf Kernwaffen. Der Prüfstein aller dieser Konzepte liegt aber darin, inwiefern sie die Abhaltewirkung verbessern und das strategische Kalkül eines potentiellen Angreifers im Sinne der Abhaltung beeinflussen.
Heinz Magenheimer, Dr. phil., geb. 1943; Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien; seit 1972 Angehöriger des Instituts für strategische Grundlagenforschung an der Landesverteidigungsakademie in Wien; seit 1977 Redaktionsmitglied der Österreichischen Militärischen Zeitschrift. Veröffentlichungen u. a.: Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, Freiburg i. Br. 1976; Die Verteidigung Westeuropas. Doktrin, Kräftestand, Einsatzplanung, Koblenz 1986; zahlreiche Beiträge zum Thema Streitkräfte, Einsatzdoktrin, Sicherheitspolitik und Kriegsgeschichte.