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Kultur und Entwicklung. Die kulturellen Bedingungen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Handelns in der Dritten Welt | APuZ 16/1986 | bpb.de

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APuZ 16/1986 Kultur und Entwicklung. Die kulturellen Bedingungen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Handelns in der Dritten Welt Agrarreform in der Dritten Welt Politikdialog -der Weg zu einer wirksameren wirtschaftlichen Zusammenarbeit

Kultur und Entwicklung. Die kulturellen Bedingungen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Handelns in der Dritten Welt

Uwe Simson

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In Wissenschaft, Politik und Verwaltung wird die Bedeutung soziokultureller Faktoren für den Entwicklungsprozeß heute nirgends mehr bestritten. Versteht man unter Kultur die Gesamtheit der für eine gegebene Gesellschaft spezifischen Ausformungen auf allen Lebensgebieten, so ergibt sich daraus eine prinzipiell unendliche Zahl kultureller Faktoren, denen Entwicklüngsbedeutung nicht von vornherein abgesprochen werden kann. Eine Aufnahme dieser Faktoren in die Entwicklungsplanung kann aus zeitlichen, finanziellen und personellen Gründen nur in der Form einer Reduktion auf eine überschaubare Zahl von Schlüsselfaktoren erfolgen. Es wird die Hypothese vertreten, daß für jede Entwicklungsgesellschaft von drei Schlüsselfaktoren auszugehen ist: 1. Legitimität der politischen Herrschaft (bzw. aus der Sicht des Projektplaners: der lokalen Führerschaft); 2. erreichter Entwicklungsstand (technische und organisatorische Arbeitsteilung, „Produktivität“); 3. gegebenenfalls ethnische Heterogenität. Kulturelle Faktoren, die in der entwicklungspolitischen Diskussion eine Rolle spielen, lassen sich diesen drei Schlüsselfaktoren zuordnen. Aufgabe der praktischen Entwicklungszusammenarbeit ist es, aus diesen Schlüsselfaktoren Planungsvorhaben für die Projektfindung und Projektdurchführung abzuleiten.

„Da nun Afrika, wenn nicht alle Anzeichen täuschen, an den Islam verloren ist, so scheint mir die Europäisierung des Islam der Weg zu sein, auf dem sich die Entwicklung Innerafrikas in langen Jahrhunderten vollziehen wird... Benutzen wir also auch den Islam zur Förderung der Zivilisation in Afrika!“ C. H. Becker (1932)

Es wird sich in Wissenschaft, Publizistik und Politik (und neuerdings sogar in der Verwaltung) kaum mehr jemand finden lassen, der die Bedeutung sozio-kultureller Einflüsse auf die Entwicklung der Dritten Welt von vornherein bestreitet; der mangelnde Erfolg von technisch und wirtschaftlich „korrekt“ geplanten Projekten hat die Einbeziehung dieser Einflußfaktoren zumindest in die entwicklungspolitische Diskussion erzwungen. Die einschlägigen Überlegungen bewegen sich aber bisher auf einem Grad von All-gemeinheit, der (noch) keinen Zugang zu konkreten Entwicklungsvorgängen und einer auf sie bezogenen entwicklungspolitischen Praxis eröffnet Der vorliegende Aufsatz will als ein Schritt in dieser Richtung verstanden werden. Er befaßt sich mit der Frage, wie das prinzipiell unendliche Gebiet der entwicklungswirksamen Kulturfaktoren für die Planung erschlossen werden kann, und bietet zur Beantwortung dieser Frage eine Hypothese an, die als erste Handhabe zur Ableitung von Planungskriterien dienen könnte.

I. Bisherige Defizite und das zentrale Problem

Vorab einige Bemerkungen zu den beiden zentralen Begriffen: Wenn „Entwicklung“ mit „Kultur“ zusammen zu diskutieren ist, dann wird meist auf Max Webers „Protestantismus-These“ zurückgegriffen, derzufolge die Entwicklung des modernen Kapitalismus — zum Teil — aus protestanti-schem Geist zu erklären ist. Die in der Anmerkung 1 gegebene Unterscheidung zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes „Entwicklung“ macht klar, warum dieser Ansatz den Erfordernissen unserer Fragestellung nicht entspricht. Bei Max Weber handelt es sich um die Erklärung eines quasi naturwüchsigen historischen Prozesses der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung („intransitiv“); die heutige Problematik der Entwicklung („transitiv“) kann — mit allen Vorbehalten — beschrieben werden als das Bemühen, diesen historischen Prozeß in Gesellschaften, die ihn noch nicht durchlaufen haben, unter Beteiligung externer Akteure nachzuholen. Unter diesem Blickwinkel wird das Problem „Kultur-Entwicklung“ hier behandelt.

Für den Begriff „Kultur“ gibt es bekanntlich Hunderte von verschiedenen Definitionen. Für das, worum es hier geht, genügt vorerst eine recht unscharfe Umschreibung: Kultur ist die Gesamtheit der für eine gegebene Gesellschaft spezifischen Ausformungen auf allen Lebensgebieten. Im Gegensatz zu Daten der Wirtschaft und der sozialen Schichtung sind diese Einflußfaktoren auf zentralen Gebieten einem quantitativen Vergleich nicht zugänglich. Zwar läßt sich beispielsweise die Einkommensverteilung im Land x (wenn ausreichendes statistisches Material vorhanden ist) mit derjenigen des Landes y recht gut vergleichen; dabei schneidet dann etwa x um so und so viel (jedenfalls: meßbar) besser ab als y. Ein ähnlicher quantitativer Vergleich etwa zwischen Islam und Hinduismus oder zwischen einem „islamisch“ und einem „modernistisch“ orientierten Gesellschaftsentwurf oder zwischen afrikanischen und ostasiatischen Methoden der gesellschaftlichen Willensbildung ist nicht möglich. Vielleicht hat diese mangelnde Quantifizierbarkeit eine Einbeziehung sozio-kultureller Faktoren in die entwicklungspolitische Planung bisher verhindert. Die kulturellen Faktoren können von den strukturellen (Wirtschaft, Schichtung) auf der Ebene der Analyse getrennt werden

Da nach unserem heutigen Kenntnisstand häufig die Vernachlässigung sozio-kultureller Gegeben-heiten für mangelnde Projekterfolge verantwortlich ist geht es darum, diese „neue Dimension“ in die entwicklungspolitische Planung einzubringen. Während herkömmliche Projektstudien sich schwerpunktmäßig mit der Frage befassen, was die Zielgruppe tun soll, steht hier im Mittelpunkt, was sie kann, und besonders: was sie will. Der sozio-kulturelle Ansatz geht also von der Überlegung aus, daß jede Aktion nur erfolgreich sein kann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Der Akteur muß 1. das Ziel der Unternehmung (und den Weg zu seiner Erreichung) bejahen („wollen“) und 2. zur Erreichung des Ziels (auf diesem Weg) in der Lage sein („können“).

Für kollektive Unternehmungen gilt eine weitere Erfolgsbedingung: Die Gruppe der Akteure muß 3. hinsichtlich ihres Wollens und ihres Könnens homogen sein.

Wer vermeiden möchte, — daß z. B. unter Einsatz überdimensionierter Erdbewegungsmaschinen, Computer und der unvermeidlichen Geländewagen (früher Landrover, jetzt Mercedes) von schwäbischen Technikern Wasserbauten errichtet werden, die von der Bevölkerung, falls sie wirklich daran interessiert wäre, genauso gut in Handarbeit bewältigt werden könnten;

— daß z. B. neben funktionierende autochthone Institutionen — Schulen Genossenschaften

— unter hohem Mitteleinsatz „moderne“ Parallelinstitutionen gesetzt werden, die sich nach Abzug der Außenhilfe entweder sehr schnell wieder spurlos verflüchtigen oder aber unabsehbare Folgekosten mit sich bringen

— daß die Hauptarbeit eines Projektleiters darin besteht, für sein Projekt Menschen „zusammenzufangen“ der muß dafür sorgen, daß jene drei Erfolgsbedingungen erfüllt sind. Dies gilt besonders für den Fall, daß die Ergebnisse eines Projekts über seine „Zielgruppe“ hinaus einer größeren „Zielbevölkerung“ zugute kommen sollen, daß also über den „Projekterfolg“ hinaus „Entwicklungserfolg“ angestrebt wird

Die Menge der sozio-kulturellen Faktoren, die die wirtschaftliche und/oder gesellschaftliche Entwicklung eines gegebenen Milieus bestimmen, ist, wie gesagt, prinzipiell unendlich; da in jedem kulturellen System von weitgehender gegenseitiger Beeinflussung dieser Faktoren auszu-gehen ist, kann kaum einem kulturellen Faktor von vornherein Bedeutung für den Entwicklungsprozeß abgesprochen werden. Aus vorab praktischen Erwägungen kann aber die Auflistung aller sozio-kulturellen Faktoren und ihre Berücksichtigung bei der Projektplanung für jede Region der Dritten Welt und für jeden einzelnen Subsektor (etwa in der Form, daß jedem feststellbaren Einzelfaktor — sozusagen spiegelbildlich — ein spezielles Planungskriterium entgegengesetzt wird) nicht als gangbarer Weg betrachtet werden. Die dafür nötige Tiefendurchdringung des Projekt-umfeldes würde auch für eine noch so begrenzte Zahl von Projekten jede denkbare Planungskapazität hoffnungslos überfordern.

Den Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet die Erkenntnis, daß die prinzipiell unbegrenzte Zahl von feststellbaren sozio-kulturellen Faktoren, die möglicherweise Bedeutung für die Entwicklung haben, nicht „additiv“, also „jeder für sich“, auf die jeweilige Entwicklungsaufgabe einwirkt, sondern daß in der „kulturellen Landschaft“ jedes Entwicklungslandes für bestimmbare Zeiträume dominante und abhängige Faktoren identifizierbar sind. So hat sich z. B. in der Sahelzone die kulturell verankerte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, wie sie jahrhundertelang bestanden hatte, mit der massenhaften Islamisierung der letzten Jahrzehnte stark gewandelt Dasselbe gilt für andere Kulturelemente (Kleidung, Ernährung, Namengebung usw.), denen unsere Ethnologen gern das ewige Leben wünschten. Die Rolle der abhängigen Faktoren ist nur im Hinblick auf die dominanten zu bestimmen: Diese sind daher erster Gegenstand der Analyse.

II. Die Komplexität des kulturellen Feldes kann reduziert werden

Ich vertrete die Auffassung, daß über die „Schlüsselfaktoren“ sozusagen ein planerischer Abkürzungsweg ermöglicht wird, und stelle dafür die folgende Hypothese zur Diskussion: Es ist für jede Entwicklungsgesellschaft von drei Schlüssel-faktoren auszugehen:

1. Legitimität der politischen Herrschaft (bzw. aus der Sicht des Projektplaners: der lokalen Führerschaft): Welcher Führer bzw. welche Führungselite mit welcher Ideologie wird von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim anerkannt? Mit anderen Worten: Was will die Zielgruppe?

2. Erreichter Entwicklungsstand der „produktiven Kräfte“ (F. List), der „Kompetenz“ (D. Seng-haas), der Produktivität, der technischen und organisatorischen Arbeitsteilung. Mit anderen Worten: Was kann die Zielgruppe?

Diese beiden Schlüsselfaktoren gelten für jede denkbare Entwicklungsgesellschaft.

Für die überwiegende Mehrzahl der Entwicklungsländer gilt außerdem noch die 3. ethnische Heterogenität: Mit welchen verschiedenen Legitimitäten und Entwicklungsniveaus innerhalb des Nehmerlandes hat die Entwicklungszusammenarbeit zu rechnen?

Legitimität der politischen Herrschaft Ethnologen neigen — vielleicht aus Interesse an der Erhaltung ihres Forschungsgegenstands — dazu, den kulturellen Bestand von Entwicklungsgesellschaften als durch moderne Einflüsse bedroht, in jedem Fall aber als erhaltenswert zu betrachten die Koexistenzfähigkeit von Kul-turelementen verschiedener (z. B. traditionaler und modern-westlicher) Herkunft wird von ihnen tendenziell unterschätzt. Unter den Bedingungen des „Entwicklungsimperativs“ kommt es aber darauf an, ob und in welcher Richtung, in welchem Tempo Veränderung als legitim bejaht, also angestrebt bzw. hingenommen wird. Das Bewußtsein von der Notwendigkeit des Wandels kann in der Dritten Welt — und besonders bei denjenigen schon weitgehend in Weltmarkt und Weltkommunikation einbezogenen Gesellschaften, die von Ethnologen als nicht exotisch-interessant genug betrachtet werden, die aber die Masse des Entwicklungsproblems ausmachen — weithin als gegeben angenommen werden: Diese „charismatische Situation“ (D. Goetze) weist besonders qualifizierten einzelnen oder Gruppen die Befugnis zu, mit Hilfe einer „politischen Formel“, die in einem Entwicklungsland immer auch eine entwicklungspolitische ist, den gesellschaftlichen Wandel zu steuern, „Sinn zu stiften“.

Veränderbarkeit wird in dieser Situation nach den (spezifisch gesehenen) Entwicklungserfordernissen bestimmt, wobei im Fall schriftlich fixierter Kulturen Identität durch Kontinuität nicht der Inhalte, sondern zentraler Symbole gewährleistet wird; im Islam sind dies beispielsweise die heiligen Schriften und Speisetabus. Die wesentlichen kulturellen Inhalte werden auf dem Weg der Uminterpretation den neuen „historischen Notwendigkeiten“ angepaßt, z. B. im modernen Ägypten die Rolle des Islam in der Politik und die Stellung der Frau in der Gesellschaft In schriftlosen Gesellschaften, wo kein Widerstand repräsentativer, kodifizierter und über die eigene Gruppe hinaus bekannter Kultur-bestände zu überwinden ist, findet einfacher Wechsel statt: „Une tradition inconsciente, non formulee, ne s’oppose ä rien“, sagt Abdallah Laroui

„Politische Formeln“ im hier gemeinten Sinn sind Verwestlichung (z. B. Kemalismus), Revivalismus (z. B. Reislamisierung) und (eventuell „wissenschaftlicher“) Sozialismus sowie ihre

Mischformen. Weltweite Konjunktur hat heute, nach der Diskreditierung des westlich-assimilatorischen Entwicklungsmodells bekanntlich der Revivalismus; seine Vertreter erheben zur Zeit erfolgreich Anspruch auf Legitimität.

Die legitimen Verwalter und Interpreten politischer Formeln — und darin liegt ihre außerordentliche entwicklungspolitische Bedeutung — sind in der Lage, über die faktische Beherrschung hinaus für eine gewisse Zeit bei der Bevölkerung entwicklungsorientierte Änderungen des Verhaltens (einschließlich Konsumverzicht) durchzusetzen.

Erreichter Entwicklungsstand der „produktiven Kräfte“

Die Beliebigkeit entwicklungsorientierter Innovation durch charismatische Instanzen findet ihre Grenze im Entwicklungsstand der betreffenden Gesellschaft. „Entwicklungsstand“ ist dabei mit „Höhe des Pro-Kopf-Einkommens“, wie es häufig geschieht, nicht zureichend zu bestimmen. Es braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden, daß unter Entwicklungsaspekten die wesentlichen Unterschiede z. B. , zwischen der Volksrepublik China und Uganda nicht im Pro-Kopf-Einkommen (und auch nicht in der Landesgröße oder Bevölkerungszahl) liegen. So lag 1982 die VR China in der Rangfolge nach dem Pro-Kopf-Einkommen kurz hinter der Zentralafrikanischen Republik, kurz vor Somalia und gleichauf mit Niger. Sie gab dabei (qualitativ hochstehende) Entwicklungshilfe an Länder, deren Pro-Kopf-Einkommen erheblich über ihrem eigenen lag, z. B. Nigeria

Die Möglichkeit, den so gut wie allgemein gewünschten „Schritt zur Industriegesellschaft“ (G. Endruweit) zu vollziehen, variiert mit dem Entwicklungsstand; er bestimmt, welche Innovation in der betreffenden Gesellschaft mit Aussicht auf Erfolg eingeführt werden kann Zwar ist der Mechanismus der „Entfaltung der Produktivkräfte“ im einzelnen noch nicht systematisch erforscht, er ist aber im Prinzip erforschbar, was auch den quantifizierenden Vergleich verschie-dener Entwicklungsstufen einschließen könnte Forschungen in der von Norbert Elias vor-gezeichneten Richtung könnten hier weiterführen. Als Meßgrößen mögen in erster Annäherung die von Talcott Parsons so bezeichneten „evolutionären Universalien“ dienen, für Entwicklungsländer also z. B.

— die Ausprägung der gesellschaftlichen Schichtung,

— Schriftlichkeit der kulturellen Tradition, — Bürokratisierung, — Stellung der jeweiligen Gesellschaft auf dem Kontinuum Subsistenz-Markt, — kodifizierte Rechtssysteme, kodifizierte Religion.

Auf der Ebene der handelnden Menschen wäre dann an Kategorien zu denken wie — Abstraktionsvermögen (Umgang mit Zahlen und Symbolen), — Größe des Bezugsrahmens für soziales Handeln (von der Primärgruppe bis zur „Nation“), — soziale Disziplinierung durch Arbeitsteilung, — Grad der Ausschöpfung vorhandener Ressourcen.

Man kann die Masse der Entwicklungsländer einteilen in Länder europäischer Tradition (z. B.

Lateinamerika), alte Schriftkulturen (z. B. Islam, Indien, China) und schriftlose Gesellschaften (z. B. Schwarzafrika). Als Unterscheidungsmerkmal kommt dabei der Schriftlichkeit eine Schlüsselstellung zu: Sie ist wesentliche Voraussetzung der zentralen Hochkulturtechniken „Zählen“ und „Strukturierung der Zeit“ und damit jeder Entwicklung zu komplexeren gesellschaftlichen Formen.

Je nach Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe variieren die Entwicklungsvoraussetzungen;

Klaus-Georg Riegel hat die Unterschiede kürzlich scharf herausgearbeitet

Die Kultur bildet den Fundus, aus dem die das soziale Handeln motivierenden Symbole entnom-men werden, und dieser Fundus ist von Gesellschaft - zu Gesellschaft (und besonders zwischen den Großregionen der Dritten Welt) sehr verschieden.

Die häufig gemachte Beobachtung, daß Angehörige „unterentwickelter“ Gesellschaften, in einen anderen Kontext versetzt, spektakuläre wirtschaftliche Leistungen erbringen, trifft offenbar nur dort zu, wo es sich um Angehörige von Schriftkulturen handelt: Schwarzafrikaner und Inder haben sich im selben Milieu (z. B. London)

sehr verschieden entwickelt. Hier liegen erste Ansätze zu einer regionalen Differenzierung, in deren Rahmen auch endlich ernsthafte Bemühungen um ein Entwicklungskonzept für Afrika einsetzen sollten — ein Konzept, das aus der Tatsache des für Schwarzafrika (und zwar für so gut wie alle Länder, unabhängig von Klima, Größe, Rohstoffausstattung und wirtschaftlich-gesellschaftlicher Orientierung) spezifischen wirtschaftlichen Niedergangs die Folgerungen zieht.

Ethnische Heterogenität Bezugsrahmen der Entwicklungszusammenarbeit ist jeweils nicht eine kulturell geschlossene Gesellschaft (z. B. „die Tuareg“), sondern der meist ethnisch heterogene „Nationalstaat“. Es gibt wirtschaftlich herrschende, politisch herrschende und wirtschaftlich und politisch herrschende Volksgruppen; es gibt schriftlose Minoritäten in Schriftkulturgesellschaften und umgekehrt; manche Minoritäten haben ihren Rückhalt jenseits der Staatsgrenzen und manche sind durch allzu enge Anlehnung an die Kolonialmacht diskreditiert.

Im ethnisch heterogenen Milieu kann fast nie von einheitlicher Legitimität und nicht immer von gleichmäßigem Entwicklungsstand ausgegangen werden. So werden häufig von verschiedenen Teilgruppen verschiedene „politische Formeln“ als legitim anerkannt, z. B. im Libanon Verwestlichung von den Maroniten und Revivalismus von maßgeblichen Teilen der Schiiten.

Auch der Entwicklungsstand differiert häufig und ist Ausgangspunkt von Konflikten wie z. B.

zwischen Chinesen und Malaien in Malaysia. Politische Richtungen ebenso wie verschiedene Zweige der Wirtschaft sind häufig ethnisch polarisiert.

So sind in Syrien „alle“ Kommunisten Kurden oder Griechisch-Orthodoxe „alle“

Automechaniker Armenier Analoge Beispiele lassen sich für die meisten Entwicklungsländer finden.

Die kulturellen Gegebenheiten der einzelnen Teilgruppen sind zweifellos von großer Bedeutung für den Erfolg von solchen Projekten, die sich an die betreffende Gruppe als Zielgruppe wenden. Ausschlaggebend für den Erfolg der Zusammenarbeit auf der Ebene des Gesamtstaates aber ist die Auswirkung auf das nationale „Kräfteparallelogramm“, also auf das Verhältnis der einzelnen Teilgruppen untereinander.

III. Exkurs: Japan — Indien — China

Kann die hier vorgetragene „Drei-Faktoren-Hy-pothese“ zur Erhellung konkreter Fälle von Entwicklung beitragen? Ich möchte unter diesem Blickwinkel zuerst einen „abgeschlossenen“ Fall — Japan — behandeln und dann eine Prognose hinsichtlich des zu erwartenden relativen Entwicklungserfolgs von Indien und China (VR) versuchen.

Japan Das Land ist ethnisch homogen, es hat keine nennenswerten ethnischen Minderheiten. Auf dieser Grundlage konnte sich eine die gesamte Bevölkerung des Landes umfassende Legitimität der politischen Herrschaft entwickeln, die es den zentralen Instanzen ermöglichte, den nötigen (und innerhalb kürzester Zeit höchst erfolgreichen) Entwicklungsprozeß auf der Grundlage traditioneller Werte in Gang zu setzen „The extremely fast and successful Japanese industrial revolution can be seen as being based on two conditions: the import of Western technology and the activation of traditional cultural values", schreibt eine Japan-Kennerin noch schärfer zugespitzt: „Cer-tain traditional values have been a functional prerequisite for modernization and economic growth in Japan.“ „Japan was thus spared the Problems of disentanglement of religion and po-litics and of secularization“ — Probleme, die etwa in den Gesellschaften des nahen Ostens (Türkei!) einer kontinuierlichen Entwicklung im Weg standen und noch stehen. Daß sich die Anleihen Japans beim modernen Westen tatsächlich auf das Gebiet der Technologie beschränken konnten, stellt mit einem gewissen Neid ein nahöstlicher Wirtschaftshistoriker fest; er sieht, gerade beim Vergleich mit seiner Region, „that, except for technology, Japan had become a , modernized" society at an early date. One can mention such aspects as rigid population control, resulting in low growth from around 1700 to 1860; a high degree of urbanization; the publication of books in editions of 10. 000 in the 18th Century; a keen interest in Western science... a male literacy rate of about 50 percent by 1850; a constant urge to increase Output, exemplified by the steady rise in rice yields and by the printing of a book on improved farm methods in an edition of 3. 000 at the end of the 18th Century; a low cost transport System based on Coastal navigation; an active trading dass; and a relatively developed monetary and banking System, with extensive use of paper money and credit.“

Das Land war also auch durch seinen relativ hohen Entwicklungsgrad der „produktiven Kräfte“ gegenüber anderen außereuropäischen Gesellschaften im Vorteil. Zusammenfassend: Japan hatte auf jedem der drei hier diskutierten Gebiete günstige Entwicklungsvoraussetzungen.

Indien „Japanische Dynamik und indische Stagnation?“ heißt ein unlängst erschienenes Buch in dem für Japan das Moment der aktionsfähigen nationalen Einheit herausgearbeitet wird Indien stellt in dieser Hinsicht das andere Extrem dar: „Die Bevölkerung Indiens... ist ethnisch, linguistisch und religiös heterogen wie die wohl keines anderen Landes, es werden über 1. 600 Sprachen gesprochen, und alle großen Religionen der Welt sind zahlreich vertreten. Durch die regionale Konzentration der einzelnen Gruppen gibt es in Indien die verschiedenartigsten Minderhei-tenprobleme, die die staatliche Einheit belasten.“

Eine einheitliche („indische“) Legitimität konnte und kann sich so nicht entwickeln. Keine der Gruppen, aus denen die indische Bevölkerung besteht, hat für sich genommen das Gewicht einer bestimmenden Majorität; jede wirtschaftliche oder gesellschaftliche Unternehmung wird von einer betroffenen Gruppe allein schon deswegen abgelehnt, weil sie einer (potentiellen) Gegen-gruppe nützen könnte. Bei dieser Konstellation stehen die immensen Kräfte, die durch den Kampf der Gruppen untereinander und durch die Kontrolle der „nationalen Einheit“ gebunden sind, für gesamtindische Aktionen nicht mehr zur Verfügung. Eine Betrachtung des indischen Entwicklungspotentials (Infrastruktur, punktuelle technologische Spitzenleistungen) unter Ausblendung des Faktors „ethnische Heterogenität“ muß daher zu falschen Schlußfolgerungen führen, so wenn z. B. (1983) der Planungsstab des Auswärtigen Amtes Indien auch wirtschaftlich „als werdende Großmacht“ sieht: Falls es sich hier um den Versuch einer Prognose handelt — und nicht nur um die Verbesserung der bilateralen Atmosphäre —, dann liegt ein gravierender Kunstfehler vor. Dies ganz besonders dann, wenn derar-tige Überlegungen im Rahmen eines Vergleichs mit China angestellt werden.

China Das Land ist zu ca. 93 % von „Chinesen“ bewohnt; die Minderheiten (u. a. Mongolen, Uiguren, Tibeter) bewohnen zwar weitläufige, aber periphere Gebiete. Nach vergeblichen Modernisierungsversuchen im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte seit 1949 die kommunistische Partei Chinas durch ihre Ausrichtung auf die bäuerliche Majorität der Chinesen massenhafte Legitimität für ihren Entwurf einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mobilisieren. Die seither betriebene Modernisie-rung/Industrialisierung kann sich auf eine jahrtausendealte soziale Disziplinierung durch Arbeitsteilung stützen. Dies unterscheidet China von den Ländern Schwarzafrikas; der grundlegende Unterschied zu Indien liegt in der weitgehenden ethnischen Homogenität. Selbstverständlich spielen daneben auch inhaltliche Fragen der jeweiligen Tradition eine Rolle. Eine umfassende Betrachtung wird also China — bei sonst gleichen Bedingungen — größere Entwicklungschancen einräumen als Indien.

IV. Das Problem ist schon seit einiger Zeit bekannt

Zurück zur praktischen entwicklungspolitischen Diskussion: Kulturelle Einzelfaktoren, denen häufig Entwicklungsbedeutung zugeschrieben wird, lassen sich den drei Schlüsselfaktoren Legitimität, Produktivität und ethnische Heterogenität zuordnen. Ich versuche dies — zugegebenermaßen unvollständig und unsystematisch — an einigen in der sozio-kulturellen Diskussion häufiger angeführten Elementen aufzuzeigen:

— Sprachliche und Erkenntnis-Strukturen: daß manche (z. B. schwarzafrikanische) Kulturen im Umgang mit Zahlen „unterentwickelt“ sind, gehört in die Rubrik „Kompetenzentwicklung“. — „Mentalität“ z. B. Mißtrauen/Obstruktion gegen Maßnahmen der Regierung: Dies kann nur durch erfolgreiche (neue) Legitimierung politischer Herrschaft (und weiter: Entwicklungsplanung) überwunden werden.

— Arbeitsethik: eine Frage der Legitimität. Der große französische Afrikanist Vincent Monteil beschreibt an mehreren Stellen seines Buches „L’Islam noir“ den Mobilisierungserfolg, den die dort als legitim anerkannten islamischen Orden im schwarzafrikanischen Milieu (z. B. im Senegal) verbuchen können.

— Zeitbewußtsein: vielleicht das zentrale Element bei der Entwicklung der Produktivkräfte

— Objektivität, Rationalität: Teilgebiete der Kompetenzentwicklung; ebenso die häufig in der Diskussion verwendeten „pattem variables“ von T. Parsons Der viel strapazierte Begriff der „deferred gratification" gehört ebenfalls hierher. — Geschlechterrollen: das Beispiel Niger/Islam wurde schon gebracht (neue Legitimität).

— Rolle der Religion: eine Frage „legitimer Uminterpretation“, da meist (z. B. im Islam inhaltlich nicht festlegbar ist, welche entwicklungs-politisch relevanten Entscheidungen unter diesem Aspekt zu treffen sind.

— Wirtschaftlich erfolgreiche ethnische Minoritäten: eines der Beispiele für die Bedeutung ethnischer Heterogenität im Entwicklungsprozeß. Die Liste ließe sich natürlich fortsetzen.

V. Konsequenzen für die entwicklungspolitische Planung

Nicht nur aus praktischen Gründen (Zeit/Mittel) ist es, wie oben gesagt, wenig sinnvoll, pro Region und Sektor die mit welchem Recht auch immer als entwicklungsrelevant betrachteten Kulturfaktoren zu summieren und jedem von ihnen (sozusagen spiegelbildlich) das entsprechende Planungskriterium entgegenzusetzen. Auch aus Gründen, die in der Sache selbst liegen, läßt sich — wenn man der hier vorgetragenen Argumentation folgt — die Forderung ableiten, die kulturellen Dominanten der jeweiligen Gesellschaft zu analysieren und daraus handhabbare „Planungselemente“ abzuleiten. Handhabbar sollen sie auch für denjenigen sein, der kein kulturwissenschaftliches Studium durchlaufen hat, da auf absehbare Zeit wohl nicht jedem Projekt ein Kulturanthropologe o. ä. zugeordnet werden kann. Darüber hinaus sollten die angestrebten Planungselemente keiner regionalen oder sektoralen Beschränkung unterliegen. Diese Forderung, gegen die von Seiten der „Praxis“ einiger Widerstand zu erwarten ist kann begründet werden mit dem „soziologischen Apriori von der durchgehenden relativen Einheitlichkeit des Menschengeschlechts“ also der von der empirischen Forschung hinreichend erhärteten Auffassung, daß es für den Gültigkeitsbereich gesellschaftswissenschaftlicher Aussagen keine angebbaren räumlichen Grenzen gibt.

Wir sind damit bei der praktischen Seite des häufig als „zu theoretisch“ diffamierten sozio-kulturellen Ansatzes: Er ermöglicht den wegen der Komplexität der Probleme so dringend nötigen „planerischen Abkürzungsweg“. Die zeit-und kostenintensive „Tiefendurchdringung“ des Projektumfeldes ist nicht mehr nötig bzw. wird sozusagen von der Zielgruppe selbst übernommen.

Dies könnte in die folgende Richtung gehen:

1. Legitimität: Wer ist legitimer Sprecher der Zielgruppe und damit Ansprechpartner für Entwicklungszusammenarbeit? Dies ist die Kernfrage jeder sozio-kulturellfundierten Entwicklungspolitik.

Dabei ist durchaus nicht immer an oppositionelle Ajatollahs zu denken. Partner der Zusammenarbeit sind möglicherweise auch „jene Segmente der Staatsklassen, die aufgrund eigener Interessen an gesellschaftlichem Strukturwandel interessiert sind“ Die zeitraubende Erhellung sämtlicher Werte, Normen, Motivationen, Handlungsorientierungen und Erwartungshaltungen, die bisweilen von „Praktikern“ — wohl zur Diskreditierung des sozio-kulturellen Ansatzes — gefordert wird, erübrigt sich, sobald die Legitimitätsfrage beantwortet ist: Die praktische Entwicklungszusammenarbeit kann sich mit der Feststellung begnügen, daß die Zielgruppe das entwicklungspolitisch Erwünschte etwa unter dem Einfluß ihres Imams tut — z. B. keine Bäume mehr abhackt. Die sozialen, psychologischen, sozialpsychologischen und religionsethnologischen Implikationen dieses Tatbestands sind ein zweifellos hochinteressantes, aber doch ein mehr akademisches Problem.

2. Kompetenzniveau: Wie hat die Zielgruppe organisatorische und technische Probleme, die im Komplexitätsgrad dem aktuell zu lösenden vergleichbar sind, bisher gelöst? Gegebenenfalls: Warum ist der bisherige Weg nicht mehr gang4%) bar? Wie würde die Gruppe diese Probleme ohne Hilfe von außen lösen? Gegebenenfalls: Warum würde sie eine Lösung nicht anstreben? Wie löIsen vergleichbare Gesellschaften diese Probleme?

Warum?

Diese Klasse von Planungselementen ist allerdings bei befriedigender Lösung der Legitimitätsfrage von zweitrangiger Bedeutung. Es ist davon auszugehen, daß legitime Repräsentanten, deren notwendiges Hauptmerkmal „Nähe zur Zielgruppe“ ist, zur Formulierung „angepaßter“ Entwicklungswege in der Lage sind.

3. Ethnische Heterogenität: Welche Folgen für Zusammenhalt und Schichtung einer ethnisch heterogenen „Nation“ sind von unserem entwicklungspolitischen Eingriff zu erwarten? Welche Widerstände werden ihm von einem ethnisch heterogenen Milieu entgegengesetzt? Diese Fragestellung wird von den meisten Nehmerregierungen „entweder tabuisiert oder als Resultat ausländischer 1 Verschwörungsarbeit ausgelegt“

(„Wir sind alle Kenyaner!"), von Vertretern der Industrieländer dagegen bisweilen überpointiert, so wenn z. B. die Franzosen den Unterschied zwischen Arabern und Berbern häufig schärfer sehen als die Betroffenen selbst. Die schwere Hypothek, die ethnische Heterogenität für jede Ent-wicklung bedeutet, muß in jedem Fall realistisch eingeschätzt werden.

„Um mit Segmenten von Staatsklassen zusammenzuarbeiten, die gesellschaftlichen Struktur-wandel durchsetzen können, müssen die westlichen Industrieländer darauf verzichten, in der je konservativsten Gruppe in einem Entwicklungsland den zuverlässigsten Partner zu sehen.“ Damit ist das größte Hindernis einer praktischen Umsetzung des sozio-kulturellen Ansatzes bezeichnet: Er ist politisch nicht neutral. Die Kultur, auf die er Bezug nimmt, ist die Kultur der Mehrheit. Er ist daher in der Tendenz egalitär, und er wird vor denselben Schwierigkeiten stehen wie vor ihm die grundbedürfnisorientierte Entwicklungsplanung: „Sie erscheint kaum durchführbar angesichts der vitalen Interessen weniger, die durch die traditionelle Wirtschaftsplanung und -politik realisiert werden.“ 52)

Versuchen sollten wir es trotzdem. Der in den letzten Jahren diskutierte Gedanke eines „Politikdialogs“ — also eines sondierenden bilateralen Gesprächs zwischen „Geber“ und „Nehmer“ über die beiderseitigen Prämissen bei der Entwicklungszusammenarbeit — eröffnet dazu die konkrete Möglichkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es ist eine Schwäche der deutschen Sprache, daß in dem Wort „Entwicklung“ zwei Bedeutungen zusammenfallen. So spricht man einerseits von der „Entwicklung der höheren aus den niederen Lebewesen“ (grammatisch: intransitiv), andererseits von der „Entwicklung eines neuen Produkts“ (transitiv). In den folgenden Ausführungen steht die zweite Bedeutung im Vordergrund: die nationale Entwicklungspolitik/-planung des Entwicklungslandes und der mögliche Beitrag dazu von selten eines Industrielandes. Die arabische Sprache verfügt übrigens über Wortbildungsstrukturen, mit denen die beiden Bedeutungen ohne weitere Umschreibung auseinandergehalten werden können.

  2. Wenn im folgenden von „Projekten“ die Rede sein wird, so mag dies als unzulässige Verkürzung von „Entwicklung“ empfunden werden. Selbstverständlich ist Entwicklung mehr als eine Abfolge von Projekten, auch in der zweiten der beiden in Anm. 1 gegebenen Bedeutungen. Da aber der Idealfall einer umfassend informierten, für das Wohl der Masse ihrer Bevölkerung rastlos tätigen „Nehmerregierung“ kaum in Sicht ist, wird wohl weiterhin der Beitrag der „Geber“ in Form von abgegrenzten, vorgeprüften und in ihrem Verlauf kontrollierten Einzelmaßnahmen — eben: Projekten — erfolgen.

  3. Ich verweise hierzu auf die interessante Studie von Werner von der Ohe u. a., Die Bedeutung sozio-kultureller Faktoren in der Entwicklungstheorie und -praxis, München 1982.

  4. Im vorliegenden Aufsatz wird unterschiedslos von „kulturellen“ und „sozio-kulturellen“ Faktoren gesprochen.

  5. Um einem möglichen Einwand zu begegnen: Die Erkenntnis, daß die kulturellen Faktoren in der Realität mit den strukturellen immer zusammen (und zwar innigst verzahnt) auftreten, wird niemand ernstlich bestreiten wollen.

  6. Dazu mit unerbittlicher Schärfe Heribert Weiland, Unvorhergesehene Folgekosten durch Vernachlässigung sozio-kultureller Gegebenheiten, in: Kerstin Bernecker u. a. (Hrsg.), Folgekosten von Entwicklungsprojekten - Probleme und Konsequenzen für eine effizientere Entwicklungspolitik, Berlin 1984, S. 129 f.

  7. Während sich in den meisten Sahel-Ländern die Regierungen ohne großen Erfolg bemühen, das öffentliche („moderne“) Schulwesen im ländlichen Raum auszubauen, funktioniert eben dort ein flächendeckendes Koranschulsystem, das von der (dörflichen) Gemeinschaft selbst getragen wird. Vgl. Gerd Splittler, Herrschaft über Bauern. Die Ausbreitung staatlicher Herrschaft und einer islamisch-urbanen Kultur in Gobir (Niger), Frankfurt 1978, S. 110.

  8. Vgl. H. -D. Seibel, Das Entwicklungspotential autochthoner Selbsthilfeorganisationen im ländlichen Bereich. Ein Fallbeispiel aus Nigeria, in: Internationa-les Afrika-Forum, (1984) 1, S. 65 ff., wo der sehr unterschiedliche Erfolg außengeförderter und autochthoner Genossenschaften nachgezeichnet wird.

  9. Vgl. H. Weiland (Anm. 6).

  10. G. Spittler (Anm. 7), S. 60.

  11. Unter „Zielgruppe“ ist diejenige Gruppe zu verstehen, die dem Projekt unmittelbar ausgesetzt ist, also z. B. die Kleinbauern eines Landkreises. „Zielbevölkerung“ ist diejenige Gruppe von Menschen, für die die Projektergebnisse prinzipiell von Interesse sind, also z. B. die Kleinbauern des Landes (oder der Region). Dazu Siegfried Schönherr, Armutsorientierte Entwicklungspolitik. Ansatzpunkte zur Verbindung von Wachstum und Armutsreduzierung durch Förderung klein-bäuerlicher Zielgruppen, Nürnberg 1981 (Habilitationsschrift).

  12. G. Spittler (Anm. 7); vgl. auch Uwe Simson, Islam, Entwicklung und Entwicklungspolitik südlich der Sahara, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/84, S. 28 ff.

  13. Natürlich kann das im Grenzfall auch die nationale Regierung sein, solange sie nicht durch ausbleibenden Entwicklungserfolg diskreditiert ist. Dieser Fall ist aber heute sehr selten. Leichter vorstellbar ist schon, daß Segmente von Führungseliten („Staatsklassen“) dadurch eine gewisse Legitimität erlangen, daß sie fortschrittlicher agieren als andere Segmente. Vgl. dazu Anm. 49.

  14. Es ist interessant, diese Zweiteilung mit der Freud-sehen Definition zu vergleichen: Als Kultur wird „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“ („Das Unbehagen in der Kultur“. Für diesen Hinweis danke ich Max Nagel). Der „Schutz des Menschen gegen die Natur“ ist eine Frage des Entwicklungsniveaus, die „Regelung der Beziehungen ...“ eine Frage der Legitimität. Auch die „Entstehung“ und die „Verteilung“ des Bruttosozialprodukts kann dazu in Parallele gesetzt werden.

  15. Ethnisch homogene Entwicklungsländer wie Tunesien oder Somalia sind Ausnahmen; die meisten Entwicklungsländer werden von religiösen, rassischen oder sprachlichen Minoritäten geprägt.

  16. Auf den ersten Blick liegt nichts näher, als von Ethnologen, den Spezialisten für ferne, fremde Länder, Aufschluß darüber zu erhoffen, was in der Dritten Welt sozio-kulturell zu tun ist. Schaut man näher hin, dann sieht man, daß sie mit der Erforschung des Status quo, also desjenigen Zustands, den Regierungen und Völker der Dritten Welt (hier in seltener Einmütigkeit) möglichst schnell überwinden wollen, so ausgelastet sind, daß das (überall vorhandene) Wandlungspotential leicht aus dem Blickfeld gerät.

  17. „Neuund Uminterpretationen der jeweils traditionellen Ideologie im Licht der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse..., und zwar nicht zuletzt unter dem Einfluß ...der europäischen Kultur entliehenen Zielsetzungen, z. B. . wirtschaftliche Entwicklung'“. Fuad Kandil, Nativismus in der Dritten Welt. Wiederentdek-kung der Tradition als Modell für die Gegenwart, St. Michael 1983, S. 21.

  18. Vgl. Ali Abderraziq, Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft, Kairo 1925 (arab.).

  19. Vgl. Qasim Amin, Die Befreiung der Frau, Kairo 1899 (arab.).

  20. Abdallah Laroui, La crise des intellectuels arabes — traditionalisme ou historicisme?, Paris 1974, S. 50.

  21. Dazu Uwe Simson, Auswärtige Kulturpolitik als Entwicklungspolitik. Probleme der kulturellen Kommunikation mit der Dritten Welt am Beispiel des arabischen Raums, Meisenheim 1975, S. 49ff.

  22. Genauer: bis zur Diskreditierung ihres Entwicklungsmodells wegen Erfolglosigkeit.

  23. Die Angaben sind dem Weltbankatlas 1985 entnommen.

  24. Zur Problematik des Innovationstransfers vgl. Uwe Simson und Siegfried Schönherr, Innovationsfixierung, Kultur und Entwicklungszusammenarbeit, in: Internationales Afrika-Forum, (1985) 1, S. 75 ff.

  25. S. N. Eisenstadt meint, daß im Zusammenhang mit der modernen Entwicklungsländerforschung „die evolutionstheoretische Perspektive allmählich wieder interessant wird“: Sozialer Wandel, Differenzierung und Evolution, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorie des sozialen Wandels, Köln 1971, S. 75.

  26. Talcott Parsons, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: W. Zapf (Anm. 25), S. 55ff.

  27. Vgl. dazu Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln 1962, S. 55 f. und S. 80 ff.

  28. Klaus-Georg Riegel, Tradition und Modernität. Zum Modernisierungspotential traditioneller Kulturen nichtwestlicher Entwicklungsgesellschaften, in: D. Nohlen/F. Nuscheler (Hrsg.), Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Hamburg 1982, S. 73 ff.

  29. Unter „ethnisch“ werden hier alle gegebenen Gruppenunterschiede verstanden, die politische Bedeutung gewinnen können, also sprachliche, religiöse, rassische und solche der Lebensform (z. B. Nomadismus).

  30. Vgl. Michael H. van Dusen, Political Integration and Regionalism in Syria, in: Middle East Journal (MEJ) 26 : 2, 1972, S. 129ff.

  31. Vgl. Eugen Wirth, Syrien. Eine geographische Landeskunde, Darmstadt 1971, S. 178.

  32. Dazu Robert E. Ward und Dankwart A. Rüstow (eds.), Political Modernization in Japan and Turkey, Princeton 1964; s. bes. das Kapitel „The Nature of Traditional Society (Japan) von J. W. Hall. Auf diese hoch entwickelte Legitimität der politischen Herrschaft nahmen 1945 selbst die siegreichen USA Rücksicht, indem sie den obersten Repräsentanten des für den Krieg verantwortlichen Systems unangetastet ließen.

  33. Gisela Trommsdorff, Value Change in Japan, in: International Journal of Intercultural Relations, (1983) 7, S. 338.

  34. Ebenda, S. 339.

  35. R. E. Ward/D. A. Rüstow (Anm. 32), S. 443.

  36. Charles Issawi, An Economic History of the Middle East and North Africa, New York 1982, S. 223.

  37. Ingeborg Y. Wendt, Darmstadt 1978.

  38. Ebenda, S. 129.

  39. Lexikon Dritte Welt, hrsg. v. Dieter Nohlen, Reinbek 1984, S. 279.

  40. So der Untertitel des Artikels „Bonn erwägt engere Beziehungen zu Indien“ in der FAZ vom 5. August 1983.

  41. S. dazu Lexikon Dritte Welt (Anm. 39), S. 118 ff.

  42. Unter „Mentalität“ soll dabei nicht eine quasi durch Vererbung erworbene geistig-seelische Beschaffenheit verstanden werden, sondern die Summe der sozialen Erfahrungen im Kollektivgedächtnis einer Gruppe/Ge-Seilschaft.

  43. Paris 1980, z. B. im Kapitel „Islam et dveloppement“, S. 348 ff.

  44. Vgl. dazu das Kapitel „Zeitbewußtsein in der Dritten Welt“ in dem Buch von Rudolf Wendorff, Dritte Welt und westliche Zivilisation. Grundprobleme der Entwicklungspolitik, Opladen 1984, S. 291 ff.

  45. Vgl. z. B.sein zentrales Werk „The Social System“.

  46. Auf die wirtschaftlich-gesellschaftlich-politischen Grundfragen, vor denen jedes Entwicklungsland steht, wie: „Markt oder Plan“? und „binnenoder außen-orientierte Entwicklung“? gibt es keine verbindliche „islamische“ Antwort; vgl. Uwe Simson, Der Islam: ein Träger politischer Ideen?, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 9 (1983) 3, S. 680.

  47. Das Argument, Kultur sei doch „überall verschieden“, wird bisweilen von „Praktikern“ vorgebracht, die aber der ebenso „überall verschiedenen“ Wirtschaft weltweit sehr unbefangen auf die gleiche Art zu Leibe rücken. Es handelt sich also doch wohl eher um den Versuch, Störfaktoren abzuwehren.

  48. So Gottfried Eisermann in seinem Beitrag „Soziologie und Geschichte“ in dem von Rene König herausgegebenen Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1967, S. 621.

  49. Hartmut Elsenhans, Nord-Süd-Beziehungen, Stuttgart 1984, S. 124. Elsenhans fährt hier fort: „Dies schließt nicht aus, durch Projekt-und Ausbildungshilfe und transnationale Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen im Westen und Unterschichtorganisationen im Süden deren Fähigkeit zu stärken, eigene Interessen zu vertreten.“

  50. Thomas Scheffler, Staat und Kommunalismus im Nahen und Mittleren Osten, in: Peripherie, Nr. 18/19, April 1985, S. 46ff.

  51. H. Elsenhans (Anm. 49), S. 128.

Weitere Inhalte

Uwe Simson, geb. 1936; Studium der klassischen Philologie, Geschichte, Soziologie und Orientalistik; elf Jahre Aufenthalt in Nahost und Nordafrika; seit 1973 im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Veröffentlichungen u. a.: Typische ideologische Reaktionen arabischer Intellektueller auf das Entwicklungsgefälle, in: Rene König u. a. (Hrsg.), Aspekte der Entwicklungssoziologie, Sonderheft 13/1969 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Auswärtige Kulturpolitik als Entwicklungspolitik. Probleme der kulturellen Kommunikation mit der Dritten Welt am Beispiel des arabischen Raums, Meisenheim/Glan 1975; Der Islam: Ein Träger politischer Ideen?, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, (1973) 3.