Die Massenarbeitslosigkeit der achtziger Jahre trifft nicht nur die Erwerbslosen. Auch die meisten Erwerbstätigen finden verschlechterte Berufschancen vor, können viele ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht verwerten und fühlen sich mangels eines aufnahmefähigen Arbeitsmarktes an ihren gegenwärtigen Arbeitgeber gefesselt. Die Auseinandersetzung der Deutschen mit der prekären Beschäftigungslage wird auf drei Ebenen nachgezeichnet: erstens die persönliche Bedürfnisbefriedigung, zweitens die kollektive Toleranz oder Ressentiments gegenüber Arbeitslosen und Ausländern sowie drittens die Zusammenarbeit am Arbeitsplatz. Auf der ersten Ebene hat die Stagnation der Reallöhne nur teilweise auf das Problembewußtsein des Durchschnittsbürgers durchgeschlagen. Die Deutschen haben die Stabilisierung der Einkommenssituation auf hohem Plateau ohne Murren akzeptiert. Statt dessen wirkt sich die Beschäftigungskrise in einer Fehlanpassung zwischen den Menschen und ihrer Arbeit aus, etwa in Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen oder in der Einsicht, eigene Interessen gegenüber Arbeitgeber und Vorgesetztem auch bei guter Leistung nur schwer durchsetzen zu können. Diese Unzufriedenheit schlägt sich in konkreten Beanstandungen, in Resignation, in Gleichgültigkeit gegenüber der beschäftigenden Organisation und in Wünschen nach gradueller Verminderung der Arbeitszeit selbst ohne Lohnausgleich nieder. Was zweitens die Einstellungen zu Randgruppen anbelangt, so ist die Toleranz gegenüber Arbeitslosen durch die Beschäftigungskrise gestärkt worden. Entgegen manchen Vermutungen und Einzelbeobachtungen neigen die von der Beschäftigungskrise Betroffenen offenbar nicht besonders dazu, die Ausländer zu Sündenböcken stempeln oder auch nur, sich die Konkurrenz der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt durch Abschiebestrategien vom Halse halten zu wollen. Drittens: Die Hauptquelle der Irritation durch den prekären Arbeitsmarkt ist der Arbeitsplatz. Hier, wo die Macht-und Verhandlungspositionen sich massiv zuungunsten des Arbeitsnehmers verändert haben, wird die Bedrohung im Verhalten der Vorgesetzten und Kollegen konkret erlebt. Aggression und Einzelkämpfertum wird zur, wenn auch nur widerwillig eingestanden, Verteidigungsstrategie der in die Ecke Gedrängten. Die ausführliche Darstellung der Lebens-und Weltanschauungen eines jungen Speditionsarbeiters und seiner Berufserfahrungen rundet die Analyse ab.
I. Dimensionen der Betroffenheit
Die Autoren sind Leiter bzw. Mitarbeiter der Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit der Freien Universität Berlin und des Projekts „Solidaritätspotential und Verteilungskonflikt", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Sie sind ihren Kollegen Gabriele Maischein, Michael Peter und Wolfgang Prenzelfür viele Hilfen und Anregungen zu Dank verpflichtet.
Noch ist Friede zwischen den Hütten und Palästen. Noch wird eher für höhere Löhne oder Arbeitszeitverkürzung als gegen Entlassungen gestreikt. Die Radikalisierung der Parteienlandschaft ist bisher ausgeblieben. Es gibt keine großen, schlagkräftigen Organisationen, die wie die Rechts-und Linksextremisten in der Spät-phase der Weimarer Republik die „Schuldigen“ präsentieren und systemverändernde Patentlösungen verkünden. Die Parteien überbieten sich eher in Differenzierung, weiser Vorsicht, Reverenz vor dem Rat der Experten und den Funktionsgesetzen des Systems Wirtschaft.
Es ist vor allem die Statistik, die alarmiert. Dabei wird dem fernsehenden Durchschnittsbürger die Notlage von 2, 3 Millionen Menschen kaum gegenwärtiger als die Leistungsbilanz, das Zinsniveau in den USA oder der Verfall des Ölpreisniveaus. Das ausgebaute soziale Netz, so heißt es, erkläre die Ruhe an der politischen Front. Die Arbeitslosen hungern und frieren nicht. Sie seien nicht hart genug betroffen, um laut aufzumucken. Arbeitslosigkeit, die länger andauert, ist jedoch ein bitteres Schicksal selbst dann, wenn ein auskömmliches Konsumniveau zunächst beibehalten werden kann. Aber die Statistik läßt nur die Spitze des Eisbergs sichtbar werden. Verborgen bleiben die Vielen, die aus Gründen der schlechten Wirtschaftslage nur geringe Berufschancen vorfinden, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht recht einsetzen können, d. h. „qualitativ“ arbeitslos sind Auch diese Last fällt ganz überwiegend auf Gruppen, die noch wenig oder keinen „Besitzstand“ vorzuweisen haben: keinen Dauerarbeits-oder Ausbildungsplatz, wenig Dienstalter, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die erst noch am Arbeitsplatz zu Berufserfahrungen werden sollen. Warum halten sie still?
Die Erfahrungen von Protestbewegungen zeigen, daß Betroffenheit allein nicht ausreicht, um im gesellschaftlichen Konzert Gehör zu finden oder gar etwas auszurichten. Die Leidtragenden müssen organisiert, für eine gemeinsame Sache politisch mobilisierbar sein, um in der Arena des gesellschaftlichen Interessenausgleichs mithalten zu können. Die Dauerarbeitslosen und die qualitativ Arbeitslosen der siebziger und achtziger Jahre sind aber bisher überwiegend Randgruppen des Arbeitsmarktes: Ältere, Behinderte, Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Jugendliche ohne Berufsausbildung, Universitätsabsolventen mancher Fachrichtungen, Frauen in ungelernten Beschäftigungen. Sie sind ohne schlagkräftige Lobby, so etwa typischerweise nicht gewerkschaftlich repräsentiert.
Hieraus läßt sich bereits folgern, daß Militanz und Ressentiment, Toleranz und Solidarität nicht mechanistische Konsequenzen quantifizierbarer wirtschaftlicher Situationen sind. Vielmehr sind sie das Ergebnis komplexer Bedingungskonstellationen. So kann eine der letzten großen Wellen politischen Protests in den westlichen Industriege-Seilschaften — die Studentenunruhen der späten sechziger Jahre — nicht leicht auf ökonomische Ursachen zurückgeführt werden; sie fand zu einer Zeit statt, als die Prosperität der Nachkriegszeit noch grundsätzlich intakt war.
In diesem Beitrag geht es um drei Problemkreise.
Erstens: die Beeinträchtigungen der persönlichen Bedürfnisbefriedigung. Sind die Menschen in Zeiten der Arbeitslosigkeit und der — aus der Perspektive der Arbeitnehmer — „angespannten“ Ärbeitsmarktsituation unzufriedener und kritischer geworden, und zwar in bezug auf ihre wirtschaftliche Lage, ihre Position auf dem Arbeitsmarkt, die Befriedigung an ihrem Arbeitsplatz?
Zweitens: Toleranz und Ressentiment im Umgang zwischen einzelnen Gruppen. Wie verändert sich das Verhältnis der Bevölkerungsmehrheit zu den Betroffenen, zu den Randgruppen, etwa den Arbeitslosen und Ausländern? Werden die Schwachen von der Mehrheit stärker ausgegrenzt, an den Rand gedrückt, zu Sündenböcken gestempelt? Oder stärkt die Verunsicherung das Mitgefühl, vielleicht sogar die Solidarität oder die Bereitschaft zum Interessenausgleich?
Und drittens: die Konkurrenz oder Kooperation der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Wie wird die Bedrohung der Arbeitslosigkeit vor Ort erlebt? Stehen die Kollegen eher zusammen oder begünstigt die Bedrohung Egoismus und Einzelkämpfermentalität, vielleicht sogar Liebedienerei und Duckmäusertum?
Um diese wichtigen Fragen zu beantworten, brauchen wir sowohl quantitativ analysierbare empirische Daten, die „kollektive“ Erfahrungen abbilden können, wie auch illustrativ-charakteristische Äußerungen von einzelnen. Die im folgenden referierten Daten entstammen zwei Quellen: Einer „standardisierten“ Umfrage aus dem Jahre 1985 bei einem repräsentativen Querschnitt von etwa zweitausend deutschen Erwachsenen (Bundesgebiet und Berlin-West) und mehrstündigen Interviews mit über hundert Berufstätigen aller Schichten. Aus diesen Intensivinterviews präsentieren wir gegen Ende des Aufsatzes einen charakteristischen Einzelfall. Zurückgehend auf die klassischen Studien von Adorno u. a. zur „autoritären Persönlichkeit“ kann hier nachvollzogen werden, inwieweit neben den Zufällen und Brüchen der Berufsbiographie auch dauerhafte Persönlichkeitsmerkmale und Bewußtseinsformen die Anpassung an ungünstige Arbeitsmarktsituationen prägen.
II. Wird Unterbeschäftigung als Notlage erlebt?
Abbildung 11
Abb. 2= Ressentiments
Quelle; Repräsentativbefragung berufstätiger Deutscher, Juni 1985. n = 1187. Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit, FU Berlin.
•) Genaue Frageformulierung siehe Abb. 1!
Abb. 2= Ressentiments
Quelle; Repräsentativbefragung berufstätiger Deutscher, Juni 1985. n = 1187. Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit, FU Berlin.
•) Genaue Frageformulierung siehe Abb. 1!
Wie wird die Kombination hoher, aber eher stagnierender Einkommen mit verschlechterten Beschäftigungschancen erlebt? Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland läßt in den letzten Jahrzehnten ein gehöriges Maß an Saturierung im Hinblick auf ihren Lebensstandard erkennen. In internationalen Vergleichen ist der Anteil derjenigen Befragten am höchsten, die ihr Einkommen als mindestens ausreichend für die Befriedigung ihrer Wünsche bezeichnen. Die Sparquote der Privathaushalte ist seit den frühen fünfziger Jahren beständig angestiegen, besonders bei den unteren Einkommensschichten Abb. 1 zeigt eine bemerkenswert günstige, in den letzten fünfzehn Jahren wenig veränderte subjektive Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Situation. Auch die Ansprüche an die Erhöhung der Löhne bleiben bei der Mehrheit hinter einer angemessenen Beteiligung am Produktivitätsfortschritt zurück: Nur der Ausgleich für die Geldentwertung wird eingefordert. Nichts spricht dafür, daß die Veränderungen der siebziger und achtziger Jahre — verminderte oder sogar ausbleibende Einkommenszuwächse — Veränderungen der Einschätzungen hervorgerufen hätten. Allerdings ist ein größerer Anteil jüngerer Menschen unter dreißig mit ihrer Einkommenssituation unzufriedener geworden.
Diese Anzeichen der Unzufriedenheit bei jüngeren Menschen müssen im Zusammenhang mit den Veränderungen der Situation gesehen werden. In den sechziger und frühen siebziger Jahren kam der Ausbau des Wohlfahrtsstaates hauptsächlich den älteren Bürgern zugute. Die Rentenzahlungen erhöhten sich stärker als die Nettolöhne oder Gehälter. Umgekehrt ging die verschlechterte Arbeitsmarktsituation hauptsächlich auf Kosten der Jüngeren. Während zumindest männliche Erwerbspersonen mittleren Alters in ihren Arbeitsverhältnissen relativ gut etabliert sind, sind die Berufsanfänger die Hauptopfer von Einstellungsstopps und stagnierender Beschäftigung. Die Beförderungschancen werden empfindlich beeinträchtigt, der Arbeitsplatzwechsel erschwert. Einen ersten Hinweis darauf, wie die Verdoppelung der Arbeitslosenzahlen in der ersten Hälfte dieses Jahrzehntes wahrgenommen wird, gibt die Zeit-reihe „Arbeitsmarktpotenz“ (Abb. 1). Die meisten Arbeitnehmer waren noch 1980 überzeugt, es würde ihnen leichtfallen, bei Verlust ihres Arbeitsplatzes wieder eine geeignete Stelle zu finden. 1985 war nur noch eine Minderheit von 21 % dieser Meinung, während sich die eher skeptisch-resignierenden Antworten „schwierig“ und „praktisch unmöglich“ von 45 % auf 76 % vermehrt hatten.
Abb. 1 läßt auch die in den letzten zwanzig Jahren drastisch verminderte Arbeitszufriedenheit erkennen und ortet die Veränderungen wiederum hauptsächlich in den jüngeren Altersgruppen. Ähnliches gilt für die Bewertung der Arbeit im Verhältnis zur Freizeit; besonders bei den Jüngeren hat Arbeit an relativer Popularität verloren. Aus vielen Umfragen geht außerdem hervor, daß immer mehr Arbeitnehmer es vorziehen würden, statt Lohnerhöhungen lieber Arbeitszeitverkürzungen gewährt zu bekommen
Viele dieser Tendenzen sind auch in anderen hochentwickelten Industriegesellschaften sichtbar; sie sind aber in der Bundesrepublik Deutschland am ausgeprägtesten. Dies geht aus der unter Mitwirkung der Autoren durchgeführten international vergleichenden Untersuchung „Jobs in the 80s“ hervor. So ist die Arbeitszufriedenheit hierzulande niedriger als in den in den Vergleich einbezogenen anderen Ländern Schweden, Großbritannien und den USA Mit der Firma bzw. Dienststelle sehr verbunden fühlen sich in Deutschland 32 % der Arbeitnehmer, in Schweden jedoch 40 % und in den USA 44 %. Nur 54 % dr deutschen Arbeitnehmer haben den Eindruck, daß man sich an ihrem Arbeitsplatz wirklich um sie kümmert, während diese Ansicht von 75 % der schwedischen und 55 % der britischen Arbeitnehmer vertreten wird (in den USA ist diese Frage nicht gestellt worden). Die Frage: „Wenn in Ihrem Betrieb, in Ihrer Dienststelle eine Entscheidung getroffen wird, die Ihre eigene Arbeit, Ihren eigenen Arbeitsplatz betrifft, werden Sie dann gefragt?“ bejahten nur 58 % der deutschen Arbeitnehmer; in Großbritannien waren es 70%, in Schweden 76% der Arbeitnehmer (keine Daten aus den USA)
Nun wäre es sicher zu einfach, die Anzeichen für die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Mensch und Arbeit ausschließlich durch die Veränderungen der Arbeitsmarktlage zu begründen, die ja in den verglichenen Gesellschaften recht parallel verlaufen. Andere Ursachen, wie die Veränderungen der Ansprüche an die Arbeit zugunsten „intrinsischer“ Befriedigungen — interessante Arbeit, sympathische Kollegen und Vorgesetzte, „sinnvolle“ Arbeit —, haben gerade zur Skepsis der jüngeren Arbeitnehmer beigetragen. Allerdings läßt der überraschende jüngste Anstieg der Arbeitszufriedenheit in dieser Altersgruppe auf der Basis eines sehr niedrigen Niveaus eine resignative Anspruchsreduktion erkennen (Abb. 1 ) Man ist froh, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben.
Fassen wir zusammen: Das Lebensgefühl und die Bedürfnisbefriedigung der Menschen ist durch die Beschäftigungskrise der letzten Jahre in der Tat in Mitleidenschaft gezogen worden. Der neuralgische Punkt ist nicht so sehr die Sorge um die materielle Existenz, als vielmehr die Stellung des einzelnen am Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz. Zwar bleibt die Erwartung, selber arbeitslos zu werden, auf eine Minderheit beschränkt: Zusätzlich zu den bereits Arbeitslosen (etwa 10%) befürchteten 1985 9 % der Beschäftigten, sie könnten in Zukunft arbeitslos werden. Die Arbeitsmarkt-lage reduziert aber drastisch die Chancen und die Häufigkeit eines arbeitnehmerseitig veranlaßten Arbeitsplatzwechsels; sie hat in der Vergangenheit auch die Arbeitszufriedenheit empfindlich beeinträchtigt. Die deutschen Arbeitnehmer fühlen sich am Arbeitsplatz besonders häufig schlecht behandelt und in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. Wir werden den Auswirkungen der Arbeitsmarktlage auf das Betriebsklima im vierten Abschnitt dieses Beitrages nachgehen.
III. Toleranz und Ressentiment in der Gesellschaft
Abbildung 12
Abb. 3: ” Einzelkämpfertum bei unterschiedlicher Wahrnehmung des Beschäftigungsrisikos
Quelle-Vgl. Abb. 2. Basis hier; Abhängig Beschäftigte ohne Beamte und Auszubildende, -n« 862
Abb. 3: ” Einzelkämpfertum bei unterschiedlicher Wahrnehmung des Beschäftigungsrisikos
Quelle-Vgl. Abb. 2. Basis hier; Abhängig Beschäftigte ohne Beamte und Auszubildende, -n« 862
Die Massenarbeitslosigkeit könnte die Einstellungen zu Randgruppen wie den Arbeitslosen und Ausländern in verschiedener Weise prägen. Erstens: Je schlechter die objektive Situation, je mehr Betroffene, um so unverschuldeter die Notlage. Hieraus folgt Sympathie aus ethischen Erwä-gungen; die Nichtbetroffenen empfinden Mitleid mit den Betroffenen. Zweitens: Je mehr die Betroffenheit um sich greift, um so eher könnte ein vorher gesichert Beschäftigter das Risiko der Arbeitslosigkeit am eigenen Leibe verspüren. Hier könnte ein verändertes Interessenkalkül eine freundlichere Gesinnung gegenüber den Betroffenen herbeiführen. Und drittens: Je mehr Betroffene Ansprüche auf wohlfahrtsstaatliche Absicherung erheben und/oder die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verstärken, um so mehr wird die Gemeinschaft der Steuerzahler oder Versicherten zur Kasse gebeten oder der Arbeitsplatz des bis dato gesicherten Durchschnittsbürgers gefährdet. Hier resultierte Ressentiment aus dem Interesse indirekter Betroffenheit. Viertens: Eine ethisch-ästheB tisch begründete indirekte Betroffenheit kann Ressentiment erzeugen. Massenarbeitslosigkeit paßt nicht in die gesonderte soziale Landschaft der Verfechter der Arbeitswelt und stört die bürgerliche Vorstellung der Wohlstandsgesellschaft als einer heilen, berechenbaren Welt (Dahrendorf). Schließlich kann die aggressive Abgrenzung gegen betroffene Minderheiten (wie Ausländer oder Arbeitslose) auch Ausfluß eines „Sündenbock-Denkens“ der scheinbar Abgesicherten sein: Prekär Beschäftigte verdrängen ihre Entlassungssorgen, indem sie den Ausländern oder Arbeitslosen selbst die Schuld für ihre schlechte Lage zuschieben.
Die Deutschen scheinen entsprechend den ersten beiden Hypothesen zu reagieren. Abb. 1 faßt die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber den Arbeitslosen im Zeitablauf zusammen. 1975, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, äußerte sich jeder zweite Befragte abweisend-kritisch. Die Ausgrenzung der Arbeitslosen nahm bis zum Ende des Jahrzehnts noch zu. 1982 war der Wendepunkt. Die Arbeitslosigkeit überstieg zwei Millionen. Zur Zeit gibt es in jeder dritten deutschen Familie wenigstens einen Erwachsenen, der entweder arbeitslos ist oder war.
Während die Personen mit höherem beruflichen Status sich etwas toleranter äußern und ihre Einstellung weniger schwankt, haben die Ereignisse bei den Arbeitern zu besonders deutlichen Meinungsveränderungen zugunsten der Arbeitslosen geführt. Die Arbeiter sehen sich hier in einem Konflikt. Erstens sind sie unter den tatsächlichen oder potentiellen Opfern der Arbeitsmarktlage überrepräsentiert. Zweitens aber vergleichen sie ihre Lage besonders intensiv mit der der Arbeitslosen. Sie arbeiten hart und sind sich darüber im klaren. Die Versuchung liegt für sie nahe, die Arbeitslosen als privilegiert zu betrachten, als Menschen, die ohne Leistung auf Kosten der arbeitenden Mehrheit ihr Auskommen finden
Ebenso wie die freundlichere Einstellung zu Arbeitslosen läßt die Verschärfung der Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit in den letzten Jahren auf eine verstärkte Sympathie mit den Benachteiligten in unserer Gesellschaft schließen. Schließlich hat sich auch die Ausländerfeindlichkeit in den letzten Jahren offensichtlich abgeschwächt. Hier kann ja die potentielle Betroffenheit, das Eigeninteresse, kaum eine Rolle spielen, denn die Befragungsergebnisse stützen sich auf eine Stichprobe von Deutschen. Der Verkaufserfolg des Erfahrungsberichtes eines deutschen Schriftstellers, der, als Türke posierend, die katastrophalen Arbeitsbedingungen vieler ausländischer Arbeiter erlebt, läßt diese Ergebnisse plausibel erscheinen. Gehen wir nun den skizzierten Hypothesen weiter nach. Wie unterscheiden sich die Reaktionen verschiedener Gruppen in der Bevölkerung voneinander, die der Abiturienten von denen der Mittel-und Hauptschüler, die der Arbeiter von denen der Angestellten, die der Betroffenen oder Bedrohten von denen der Nichtbetroffenen? Die Daten erscheinen zunächst widersprüchlich. Die Schichten, in denen die Betroffenen kumuliert sind — weniger formale Bildung, Arbeiter und einfache Angestellte —, neigen zu weniger Toleranz und mehr Ressentiment als die höheren Statusgruppen. Das Blatt wendet sich jedoch, wenn Betroffenheit gemessen wird, nämlich durch die Erfahrung der Arbeitslosigkeit. Obgleich diese Erfahrung in den Schichten konzentriert ist, die zu Intoleranz neigen, hat sie einen moderierenden Effekt. Die Betroffenen springen sozusagen „über ihren eigenen Schatten“, sie entfernen sich von der Gruppenmeinung. Diese Anzeichen der Solidarisierung lassen sich am deutlichsten in der Einstellung zu Arbeitslosen orten — hier schlägt das Interessenkalkül der Betroffenen zu Buche —, aber nicht nur dort: Auch die Einstellung der Betroffenen zu Ausländern wird eher freundlicher, obgleich den Betroffenen immer wieder zunehmende Ressentiments aus Konkurrenzfurcht zugeschrieben werden (Abb. 2).
Nun ist freilich zu fragen, ob dieses eher freundliche Bild der Konsequenzen der Unterbeschäftigung für die gegenseitige Toleranz zwischen verschiedenen Gruppen auf das Segment der höher gebildeten, meist jüngeren Befragten zurückzuführen ist, die ja von der Arbeitsmarktlage durchaus auch stark betroffen sind. In der Tat ist der Einfluß der Betroffenheit auf die Sympathien gegenüber Ausländern in den höheren Bildungsschichten stärker als in den niedrigeren (Abb. 2). Vielleicht befördert ein höherer Bildungsstand die Lernfähigkeit in dem Sinne, daß Betroffenheit hier eher zum Umdenken führt als dort, wo der Bildungsstand relativ niedrig und die Aufnahme von Informationen über gesellschaftliche Zusammenhänge schwieriger ist. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil der Anteil der Erwachsenen, die relativ lange — zehn und mehr Jahre — im Bildungssystem verblieben sind, gestiegen ist und mit dem Generationswechsel noch weiter steigen wird. Auf jeden Fall erweist sich Bildung durch die starke Korrelation mit Toleranz gegenüber Arbeitslosen und Ausländern als friedensstiftende Ressource.
Unsere Wirtschaftsverfassung steht vor einem Dilemma. Auf der einen Seite erhebt die „soziale co Marktwirtschaft“ den Anspruch, zur Chancen-gleichheit, zur Befriedigung von materiellen und Statusbedürfnissen und zu einem menschenwürdigen, materiell gesicherten Dasein des Durchschnittsbürgers beizutragen — hierzu gehört für arbeitsfähige Erwachsene die Chance zur Erwerbsarbeit. Auf der anderen Seite überläßt sie dem Markt die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse. Sie respektiert die sich am Markt ergebenden Preise, Einkommen und Verteilungsrelationen, unbeschadet dessen, daß sich die Eigendynamik der Produktion und des wirtschaftlichen Wachstums von den Bedürfnissen und Prioritäten einer materiell saturierten Bevölkerung mehr und mehr entfernt hat.
In der Nachkriegsperiode entsprach die hohe Priorität, die unsere Gesellschaft wirtschaftlichen Zielen eingeräumt hat, den Wünschen einer Bevölkerung, die gerade die schlimmsten Auswirkungen von Krieg und Entbehrung überwunden hatte. In den siebziger und achtziger Jahren dagegen wurde einer ohne solche Erlebnisse in materieller Sicherheit aufgewachsenen jungen Generation der Konflikt zwischen Produktionssteigerung und Umweltbelangen, zwischen marktgesteuerter Einkommens-und Machtverteilung und sozialer Gerechtigkeit gegenwärtig. Ronald Inglehart hat auf die „postmaterialistische“ Ausrichtung der politischen Überzeugungen, aber auch der Lebensziele und -stile der jüngeren Zeitgenossen hingewiesen. Diese sind weniger als die älteren an Werten wie Sicherheit, Wohlstand, Ruhe und Ordnung orientiert, bringen weniger Respekt für die vermeintlichen Sachzwänge des Marktes, des Wettbewerbs und des Wirtschaftswachstums auf und streben mehr eine persönliche „Selbstverwirklichung“ im Einklang mit ihren Anlagen, einen schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen und sozialen Zusammenhängen an. Seit Adam Smith ist das „Laissez-faire — Laissez-al-ler“ in mannigfachen Formen und Ausprägungen zum Schlachtruf des besitzenden, sozialen Problemen gegenüber eher indifferenten Bürgertums und allgemein der auf der Arena der Einkommensverteilung Erfolgreichen oder Erfolgsuchenden geworden. Wenn nun der Anteil derer, die sich auf den für die marktwirtschaftlichen Normen legitimen Egoismus berufen, im Generationenwandel zurückgeht und die andere Fraktion, die Wachstumsskeptiker, die Postmateriaiisten und Umweltschützer sich durch die offizielle Wirtschaftsideologie und die daraus resultierende Einkommensverteilung eher abgestoßen fühlen, so könnte dies Konsequenzen für den sozialen Frieden haben.
Die Daten lassen in der Tat den Schluß zu, daß die Ausbildung eines „postmaterialistischen“ ideologischen Pols innerhalb der Gesellschaft die friedliche Koexistenz mit den Randgruppen zu befördern scheint. Die Werthaltungen der Freizeit-orientierung, die Skepsis gegen die hohe Priorität materiellen Erfolgs im Leben gehen einher mit der Toleranz gegenüber wirtschaftlich benachteiligten Minderheiten, wohingegen besitzorientierte Prioritäten der Lebensziele eher die Vorbehalte gegenüber den Betroffenen und die Verteidigung der bestehenden Einkommensverteilung zu befördern scheinen (Abb. 2).
Die ideologisch in die bestehende Wirtschaftsverfassung Integrierten stehen also eher auf der Seite des Ressentiments und ausgerechnet die, die sich weniger mit dieser Wirtschaft und ihren Normen und Verhaltensregeln identifizieren, die abwinken, wenn von materiellen Verlockungen die Rede ist, sind bereiter zum Interessenausgleich mit den Benachteiligten. Die dem Wirtschaftssystem gegenüber'Loyalen konkurrieren, schaffen soziale Unruhe; die Skeptiker, Zweifler und Ungläubigen hingegen stecken zurück, kooperieren und befördern den sozialen Frieden.
IV. Kooperation und Konkurrenz am Arbeitsplatz
Abbildung 13
Abb. 4; Kooperatives oder konkurrenzbezogenes Betriebsklima bei unterschiedlicher Wahrnehmung des Beschäftigungsrisikos
Quelle: Vgl. Abb. 3
Abb. 4; Kooperatives oder konkurrenzbezogenes Betriebsklima bei unterschiedlicher Wahrnehmung des Beschäftigungsrisikos
Quelle: Vgl. Abb. 3
Unter den Bedingungen der frühen achtziger Jahre hat sich die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (noch) nicht in den Teufelskreis Beschäftigungskrise — sich aufheizende Ressentiments zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen bzw. anderweitig Betroffenen, Verschärfung der Ressentiments, Anzeichen politischer und wirtschaftlicher Instabilität — ziehen lassen. Die verfügbaren Umfragedaten deuten eher darauf hin, daß eine erweiterte subjektive Betroffenheit zu einer breiteren Solidarisierung oder zumindest Tolerierung der von der Verschlechterung des Arbeitsmarktes Betroffenen geführt hat. Eine Frontstellung zeichnet sich am ehesten gegen das Produktionssystem im weiteren Sinne ab. Kritik wird geübt an der Qualität des Arbeitsplatzes, an unzureichender Entscheidungsfreiheit, an zu langen Arbeitszeiten, an der Ungleichheit der Einkommenverteilung, wobei auch hier radikale Töne kaum vernehmbar sind. Wir haben hierzulande keinen ausgeprägten mili-tanten „backlash" wie in den USA, keinen Trotz-effekt der Besitzenden gegen die Randgruppen. Die politischen Voraussetzungen für konsensuale Reformstrategien erscheinen günstig.
Gehen wir nun von der staatsbürgerlichen Arena auf die Ebene der täglichen Erfahrung über und fragen, wie sich die Verschlechterung der Arbeitsmarktposition auf dem „externen“ Arbeitsmarkt der Neueinstellungen und des Stellenwechsels indirekt auf dem „internen“ Arbeitsmarkt der Arbeitsplatzsicherheit, der Beförderungschancen niederschlägt. Hier, am Arbeitsplatz, geht es ums „Eingemachte“. „Ideologische“ Orientierungen, gesellschaftliche Werte und Überzeugungen dürften hinter den viel rigideren Rollenerwartungen und Interessen zurücktreten, also hinter dem Versuch des Arbeitnehmers, seine durch die Arbeitsmarktlage bedrohte Position zu verteidigen. Wird diese Interessenwahrnehmung eher kooperativ-solidarisch oder individuell-isoliert oder gar in gegenseitiger Konkurrenz der Betroffenen angegangen — im Miteinander also oder im Gegeneinander? Lassen sich die mannigfaltig betroffenen und bedrohten Arbeitnehmer eines Betriebes oder einer Dienststelle nunmehr eher auseinanderdividieren, oder wirkt das Erlebnis gemeinsamen Schicksals eher verbindend?
In standardisierten Interviews, in denen die meisten Fragen mit Hilfe vorgefertigter Antwortkategorien gestellt werden, versichern jeweils robuste Mehrheiten, sie seien mit ihrem Verhältnis zu ihren Kollegen sehr zufrieden, — eine Antwort, die vermutlich von sozialer Erwünschtheit mitgeprägt ist Die Lektüre der Intensivinterviews läßt dagegen erkennen, daß das Verhältnis zu den Kollegen in der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation eher als Konkurrenz denn als Kooperation erlebt wird. Man gesteht eher resignierend, daß die Umstände und das Verhalten der anderen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit verhindern, obwohl man selber diese durchaus wünsche und sie unter anderen Umständen gern mobilisieren würde. Aufschlußreich ist, daß sich erst bei sorgfältiger Exploration die Klagen über unkooperatives Verhalten der Vorgesetzten und Kollegen häufen. Wir fragten: „Was fällt Ihnen, wenn Sie heute an Ihre Berufsarbeit denken, zu den Stichworten , Miteinander-Gegeneinander* ein?“
Ein Fotograf antwortete: „Also ich kann nicht erwarten von Berufskollegen ..., daß die mir also Tips geben, wie ich an den nächsten Auftrag herankomme, weil ich genau weiß, daß die den selber gerne haben würden. Also da gibt’s sehr schnell Konkurrenzprobleme, und mit Sicherheit ist es da schwieriger, überhaupt so eine sagen wir mal gewerkschaftliche Orientierung zu bekommen wie unter Leuten, die zum Beispiel fest eingestellt sind und eigentlich nichts zu befürchten haben.“
Eine vierzigjährige Kontoristin meinte: „Ach, ganz spontan, tja, ich weiß nicht..., daß jeder eigentlich an sich denkt, wo er einem auch was auswischen kann. Wann er einen verpetzen könnte beim Chef oder ich weiß nicht genau, was ich da sagen soll, naja, jeder kämpft eben an seiner Front... Ich habe erlebt, wie jetzt bei meiner anstehenden Entlassung (die Leute gesagt haben), ach, das mach ich schon und ich helf dir da, aber dann hab ich gemerkt, das stimmt ja alles nicht. Die haben nie etwas weitergegeben oder gut für einen gesprochen, man mußte sich da schon selber helfen. Das habe ich gemerkt. Wenn du dich auf andere verläßt, dann biste verlassen.“
An anderer Stelle erfahren wir, ebenso wie im ersten Beispiel, daß die Befragte für das unkooperative Verhalten der Kollegen Verständnis hat: „Und in der Abteilung, in der ich vorher Kontoristin war, die aufgelöst werden sollte, also wo ich rationalisiert wurde, die haben mich ganz einfach im Stich gelassen, aber mein Gott, wenn man bedenkt, da war nur ein Meister, ein Abteilungsleiter, ein Disponent und ich, na wer bleibt denn da übrig, wen sollten sie denn da rationalisieren, daß die sich selbst nicht die Köppe abgeschlagen haben, ist klar, also mußte ich dran glauben, wir waren ja keine große Abteilung.“
Weitaus am häufigsten wird das unkooperative Betriebsklima auf die Bedrohung der Arbeitsplätze zurückgeführt. Ein etwa fünfzigjähriger Arbeiter in einem Kaufhaus äußerte sich hierzu: „Ich würde sagen, damals war es ein Miteinander noch, ja und heute ein Gegeneinander..., weil jeder jetzt Angst hat um seinen Arbeitsplatz und in dem anderen ja praktisch den Konkurrenten sieht, weil er nicht weiß, ob er morgen auch noch da ist.“
Eine dreißigjährige Köchin und Serviererin antwortete auf die gleiche Frage: „Bei meiner Arbeit gibt’s kein Miteinander. Bei meiner früheren Arbeit gab’s das, jetzt nicht mehr ... Die Konkurrenz hat eben zugenommen, du hast jetzt momentan, kannste sagen, mehr oder weniger Angst, arbeitslos zu werden.“
Eine dreißigjährige Sozialarbeiterin brachte ihre Befürchtungen auf den Punkt: „Ein Miteinander geht wahrscheinlich nur, wenn man nicht Angst hat, daß der andere irgendwie genauso viel weiß und man Angst kriegt um seinen Arbeitsplatz.“ CO Aufgrund unserer Repräsentativumfrage von 1985 läßt sich diese in den Intensivinterviews so stark fühlbare Bedrohung beziffern: Obwohl sich nur knapp % der abhängig Beschäftigten (ohne Beamte) direkt bedroht fühlen (erwartete Arbeitslosigkeit in den nächsten zwölf Monaten), zeigt sich, daß viele Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz ein Klima der Beschäftigungsunsicherheit erleben. Für immerhin 16% der abhängig Beschäftigten deckt sich die Beschreibung „Dort, wo ich arbeite, machen sich manche Kollegen Sorgen um den Arbeitsplatz“ „voll und ganz“ mit ihren Erfahrungen, und 44% stimmen diesem Sachverhalt „teilweise“ zu. Eine Abnahme der Krankmeldungen aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes in ihrem Betrieb glauben 29% der abhängig Beschäftigten (ohne Beamte) „voll und ganz“ und 49% „teilweise“ zu erkennen. Und die Aussage, daß aus Angst um den Arbeitsplatz die Bereitschaft zu freiwilligen Überstunden gestiegen sei, ist nach Meinung der Hälfte der Befragten entweder voll und ganz oder teilweise zutreffend. Bestätigen sich die Zusammenhänge aus den Intensivinterviews zwischen Arbeitsplatzbedrohung und Einzelkämpfertum? Drei vorformulierte Aussagen beschreiben in unserer Umfrage unkooperative Verhaltensregeln: „Man muß in seinem Verhalten gegenüber Kollegen von vornherein deutlich machen, wer der Stärkere ist“ (40% stimmen dieser Aussage voll und ganz oder teilweise zu); „die gegenwärtigen Verhältnisse machen es erforderlich, daß man im Beruf mit härteren Bandagen kämpft“ (Zustimmung: 72%) und „im Beruf sollte man zusehen, daß man sich durchsetzt, auch wenn das hier und dort auf Kosten anderer geht“ (Zustimmung: 44%). Wie Abb. 3 zeigt, sind diese Positionen häufiger unter denjenigen Befragten verbreitet, die in den letzten fünf Jahren arbeitslos waren oder die befürchten, während der nächsten zwölf Monate arbeitslos zu werden, aber auch unter denen, die in ihrem Betrieb ein Klima der Arbeitsplatzunsicherheit erleben, etwa weniger Krankmeldungen aus Angst um den Arbeitsplatz Sowohl die unmittelbare Bedrohung des eigenen Arbeitsplatzes als auch die latente betriebliche Arbeitsplatzbedrohung gehen also mit unkooperativen, vordergründig-egoistischen Verhaltensregeln am Arbeitsplatz einher. Dieser Zusammenhang besteht auch, wenn wir Betroffene und Nichtbetroffene innerhalb von Gruppen mit gleichem beruflichen Status vergleichen, d. h.den Einfluß der beruflichen Stellung statistisch ausschalten.
Die Betroffenen oder Bedrohten sind offensichtlich unkooperativ und denken in hohem Maße (zuerst) an sich selbst, weil sie an sich selbst denken müssen, da sich die Vorgesetzten nicht genug um sie kümmern, da sie aufpassen müssen, kein falsches Wort zu sagen und da sie in ihrer relativ prekären Beschäftigungslage ihre Aufmerksamkeit aufs Überleben richten müssen. Und nicht nur die persönlichen Verhaltensregeln, auch die Qualität des Betriebsklimas steht unter dem Einfluß des wahrgenommenen Beschäftigungsrisikos. Abb. 4 läßt erkennen, daß die Angst um den Arbeitsplatz heutzutage ein schlechter Nährboden für Zusammenarbeit, für gegenseitige Sympathie oder auch für ein Zusammenrücken zur Wahrnehmung bedrohter gemeinsamer Interessen ist.
Die Befunde verdeutlichen aber auch: Das Problem der Arbeitsplatzbedrohung bleibt nicht auf die Randgruppen des Arbeitsmarktes beschränkt. Auch im Kern der Arbeitnehmerschaft ist eine weitverbreitete latente Verunsicherung anzutreffen, die ebenso wie die unmittelbare Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes einhergeht mit unkooperativen Orientierungen und Einzelkämpfertum.
V. Zur Psychopathologie der Einzelkämpfermentalität
Im folgenden sollen am Fall des jungen Arbeiters P. das Zusammenwirken von objektiven Lebens-umständen, persönlichen Lebensorientierungen und individuellen Bewußtseinsformen sowie ihr Einfluß auf soziale Einstellungen veranschaulicht werden 10). Bei der Betrachtung von P. stehen seine mit autoritären Verhaltensneigungen verbundene Einzelkämpfermentalität und ihre materiellen und ideologischen Grundlagen im Vordergrund. Die in der Betrachtung enthaltene Fragestellung, inwieweit (neben objektiven Bedingungen) die Merkmale der Persönlichkeit einem freien, toleranten und egalitären Umgang der Menschen untereinander im Wege stehen, entspringt einer langjährigen Forschungstradition. Ihre Wurzeln reichen bis auf Adorno u. a. zurück, die in der Nachkriegszeit das Schreckensphänomen des Faschismus mit ihren „Studien zum autoritären Charakter“ aufarbeiteten Während in der Autoritarismusdebatte Einstellungen wie Vorurteile, Dogmatismus, Antisemitismus oder Demokratie-feindlichkeit im Mittelpunkt des Interesses standen, befassen sich neuere sozialpsychologische Untersuchungen häufig mit den Bestimmungsfaktoren sozial erwünschter Verhaltensweisen wie etwa (des „Lernziels“) Solidarität
Bevor wir den Befragten P. hier selber zu Wort kommen lassen, seien einige Stichpunkte zur Person aufgeführt: P. war zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre alt und seit etwa anderthalb Jahren als Speditionsarbeiter in einem Berliner Arbeitseinsatzbetrieb (Zeit-oder Leiharbeitsfirma) mit über 100 Arbeitnehmern (allesamt männliche Deutsche) beschäftigt. Dieser Tätigkeit gingen eine abgebrochene Fleischerlehre, eine Arbeit als Kraftfahrer sowie eine instabile Lebensphase, die von Arbeitslosigkeit und kleinen Jobs gekennzeichnet war, voraus. P. wuchs als einziges Kind einer Verkäuferin und eines Heizungsmonteurs auf.
Wie geht nun P. in seinen verschiedenen Lebensbereichen mit anderen Menschen um? Dokumentiert sich die behauptete Einzelkämpfermentalität in der (mangelnden) Bereitschaft, etwas für andere Menschen zu tun, was über einen unmittelbaren Austausch von Ressourcen hinausgeht? Für die Privatsphäre lehnt P. nahezu alle Arten von freiwilligen unentgeltlichen Leistungen (Nachbarschaftshilfe, Spenden, ehrenamtliche Betätigung) ab. Allein seine Kontakte zu Arbeitskollegen sind von Momenten gegenseitiger Hilfe gekennzeichnet.
Aus seiner Arbeit als Speditionsarbeiter berichtet P., daß er sich mit den Kollegen bei der Arbeitsorganisation genau abspricht: „Und det klappt irgendwie, wa, wir verstehen uns alle sehr gut, wa, wir legen frühmorgens schon fest, wann wir Pausen machen oder so, wa. Und kann ooch mal bißchen länger werden, wa, det wird also ooch schon gleich allet geregelt so zwischendurch, wa, wenn wir sehen, det dauert länger, wa, denn setzen wir uns alle zusammen und warten bis alle oben sind.
Und denn sprechen wir miteinander, also wat is heute, det und det haben wir zu tun, det müssen wir schaffen, wie sieht’s aus, machen wir länger, und denn sagen sie automatisch, naja nun, klar, machen wir den Mist fertig und denn haben wir det hinter uns, wa.“
Er betont auch die Hilfsbereitschaft gegenüber Neulingen im Betrieb oder gegenüber denjenigen Kollegen, die mal „’n schlechten Tag erwischt“
haben und nicht so gut „anpacken“ können. Mit seiner Kooperation trägt P. hier zu einem ausgesprochenen Teamgeist bei. Dieser Teamgeist ist freilich angesichts der Anforderungen, des Tragens von Möbeln, unbedingt erforderlich.
• Die Kooperation ist jedoch inhaltlich auf die Arbeitsorganisation und personal auf die fünf-bis sechsköpfige Stammgruppe, in der er gerade bei einer Speditionsfirma arbeitet, beschränkt. Jenseits davon tobt der Konkurrenzkampf, in dem sich P. nach seinen Aussagen bestens behaupten kann: „Ick würde sagen, bei uns uff de Firma sieht det so aus, daß viele gegeneinander arbeiten tun.
Jeder denkt... jeder ist sich der Nächste bei uns ... Also bei uns ist det so, wa: Wir haben also ooch viele dabei, die so Alkis sind und allet, wa, und die probieren sich natürlich gegeneinander auszukämpfen, also ick meine, ick mach’ det ooch, wenn mir da irgendwat nicht passen tut.
Weil ick ooch Glück habe, daß ick da ’n bißchen großen Einfluß habe und allet, wa. Wenn mir da wat nicht paßt, schick ich einfach eenen nach Hause, ja. Det is also, det is normal bei uns, wa, und wir kämpfen uns gegeneinander een aus, wa ... Wenn der eene mal nicht kommt, na ja, dafür sind tausend andere Leute da, die einspringen können, dat is bei so’m Arbeitseinsatzbetrieb, aber jeder probiert, den anderen wegzudrücken.
Probiert det meiste aus sich zu machen.“
Der hier deutlich werdenden Einzelkämpfermentalität, die P.selbst auf die Konkurrenzzwänge zurückführt, entspricht auch die massive Ablehnung des Vorschlags, im Falle drohender Entlassungen diese durch einen kollektiven kombinierten Einkommens-und Arbeitszeitverzicht zu verhindern.
Spiegelt sich diese Mentalität auch auf der gesellschaftlichen Ebene wider? Es mag zunächst überraschen, daß P. gewisse Abstriche beim Konsum bzw. Einkommen machen würde, wenn er mit diesem gesamtwirtschaftlichen Solidaritätsopfer zur Überwindung der Arbeitslosigkeit beitragen könnte: „Wenn det, wenn es uns helfen würde, würde ick daraufhin ooch verzichten, ja, würde ich ooch sagen, wenn die sich da oben einschränken, kann ick det ooch.“
* Der Verzicht ist freilich daran gebunden, daß die übrigen Gesellschaftsmitglieder, „die da oben“, aber auch die „kleenen Arbeiter“ sich ebenfalls bescheiden. Kann sich P. einen bedingten Solidaritätsbeitrag zugunsten einer (unspezifischen) Gesamtheit noch vorstellen, so bringt er für die soziale Situation von konkreten Bevölkerungsgruppen nur wenig oder gar kein Verständnis auf. Recht deutlich wird seine Abgrenzungshaltung bei der Antwort auf die Frage, welchen Gruppen in der Bundesrepublik es besonders schlecht gehe: „Ja, ick wüßte eigentlich nicht, wem es hier bei uns schlecht geht. Wem es bei uns schlecht geht, der is selber schuld, würde ick sagen, ja ... Wenn die Leute sich ’n bißchen uffraffen tun, bin ick der Meinung, daß die also quasi ... daß den Leuten ooch geholfen werden kann, ja. Bloß die meisten Leute sind wahrscheinlich schätzungsweise zu faul irgendwie dazu oder zu feige, sich helfen zu lassen.“
Die Betroffenen sollen also erst von selbst wieder erstarkt sein, bevor ihnen geholfen werden darf. Mit dieser Betrachtungsweise macht P. das Ergebnis des Helfens zu seiner Voraussetzung; die zirkuläre Argumentation legitimiert die Zurückhaltung der Träger von Hilfe. Hier und an anderer Stelle wehrt sich P. anscheinend dagegen, daß der Sozialstaat auf die Betroffenen zugeht und nicht umgekehrt. Das hängt sicherlich mit seiner Einschätzung zusammen, daß das soziale Netz stark ausgenützt werde (Verweis auf „die Punker und sowat alles“) und viele Arbeitslose freiwillig erwerbslos seien.
Während seine Meinung zu Arbeitslosen noch differenziert ist, sieht er die Ausländer nur negativ: „Man sollte die ganzen Ausländer rausschikken. Weil dadurch ... gibt es mehr Arbeitsplätze, gibt es mehr Wohnungen und wir hätten ooch mehr Ruhe und Frieden, wa. Man hätte nicht mehr diese Differenzen zwischen Deutschen und Ausländern, man könnte wieder in Ruhe und Frieden leben. Weil det gibt doch unheimliche Komplikationen mit Ausländern. Weil die, sagen wir mal so, det is von vornherein schon ne Feindlichkeit schon immer gewesen zwischen Deutschen und Ausländern. Weil die sich unserm Lebensstil gar nicht anpassen können ...“
An anderer Stelle sieht P. „ne gewisse Linkheit bei den Ausländern ...“ und befürwortet gar eine Art Lynchjustiz angesichts einer zu laschen Ausländerpolitik: „Ick gebe also unsern Staat noch zwee Jahre, und denn is es soweit, daß wir selber, wir kleene Arbeiter und weeß ick wat allet, na daß wir zusammenrotten und Jagd uff die Ausländer machen.“ Woher kommen nun P. s Einzelkämpfermentalität, seine geringe Hilfsbereitschaft und teilweise extremen Ressentiments gegenüber anderen Gruppen? Welche Rolle spielen sein Gesellschaftsbild, sein Lebenskonzept und sein soziales Milieu? Werfen wir zunächst einen Blick auf P. s Lebensgeschichte und hier zuerst auf die Kindheit, da doch in Anlehnung an Adorno der Frage der Erziehung ein hoher Stellenwert bei der Erklärung autoritärer Neigungen einzuräumen ist.
Obwohl P.sein Elternhaus positiv darstellen will, erscheint die Kindheit nicht in günstigem Lichte: „Ick hab also von meinen Eltern quasi allet gekriegt, wat ick wollte, bloß det waren Sachen, die mir mißfallen haben ... Wenn ick mich meinen Eltern gegenüber korrekt verhalten habe, haben sich meine Eltern mir gegenüber auch korrekt verhalten und haben mir also sehr viel Freiheiten gelassen.“
Um Liebe und Anerkennung zu bekommen, mußte P. also offensichtlich Vorleistungen erbringen. Dies galt auch für den Freundeskreis: „Und da haben die Leute mit mir rumgetan. Die haben ooch gesagt, ja, paß uff, wenn du bei uns mit uffgenommen werden willst, denn mach, ansonsten lassen wir dich fallen wie ’ne hohle Kartoffel, ja. Und ick mußte erst tierische Dämpfer erleiden und tierisch eine mitkriegen, um daß ick erstmal wach werde.“
P. s Erziehung orientierte sich an den „traditionellen Tugenden“, insbesondere am Wert Anstand/Ehrlichkeit. Aus den Interviews mit den Eltern geht hervor, daß diese Werte schon in ihrer Kindheit maßgeblich waren, daß die klassische Arbeitsethik (Leistungsprinzip, Fleiß, Disziplin) ihr ganzes Leben bestimmte. Der Vater erweist sich darüber hinaus auf der staatsbürgerlichen Ebene als Nationalist und Vertreter einer kompromißlosen „law and order“ -Philosophie, in deren Rahmen er z. B. für ein härteres Durchgreifen des Staates gegen faule Arbeitslose, respektlose Jugendliche oder den Drogenhandel eintritt. Die Mutter ergänzt die „Hausideologie“ durch handfeste Vorurteile gegenüber Minderheiten und ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken.
P. konnte letztlich die Familienatmosphäre nur als „frei“ erleben, weil er bestimmte Zwänge und Normen im Laufe der Zeit verinnerlichte.
Außerhalb des Elternhauses begleiteten und gestalteten eine Vielzahl von Härten P. s Lebensweg. War er schon als Einzelkind aufgewachsen, so erlebte er auch den Einstieg in den Fleischerberuf als Einzelgänger: „Naja, geholfen hat mir eigentlich keener weiter bei. Ick mußte von Anfang an, hab ick alleene auf meinen eigenen Beenen gestanden.“ Diese Zeit empfand er als „tierisch hart“. Unter der anstrengenden Arbeit litt seine Gesundheit. Nachdem er auch noch ausbildungsfremde Arbei-ten verrichten mußte und in der Auseinandersetzung darüber vom Meister Schläge bekam, brach er die Lehre ein halbes Jahr vor seiner Prüfung ab.
Der Lehrabbruch bedeutete nur einen einzigen in einer ganzen Reihe von Brüchen in P. s Lebenslinie. Der Lehre ging zunächst ein Bruch in den Berufsvorstellungen voraus, da P.seinen Traum vom Kfz-Schlosser nicht realisieren konnte. Nach seinem vorzeitigen Ausstieg aus der Lehre hätte er diese zwar in einem anderen Betrieb beenden können, doch zog er es aus finanziellen Gründen vor, als Kraftfahrer zu arbeiten. Der nächste Bruch bestand im (beruflich bedingten) Führerscheinentzug: „Ick hab meinen Führerschein für die Firmen uffs Spiel gesetzt und hab ooch den Dank erhalten, daß ick mein’ Führerschein los bin. Die ganzen Punkte habe ick mir mehr oder weniger ooch beruflich eingehandelt. Ja.“
Mit dem Führerscheinentzug ging der Arbeitsplatzverlust einher. Es folgte eine Periode der Arbeitslosigkeit, in der P. von Sozialhilfe lebte; für ihn hing das Andauern der Erwerbslosigkeit teils mit der Arbeitsmarktsituation, teils mit seiner Lustlosigkeit zusammen. Während der Arbeitslosigkeit, die durch kleine Jobs unterbrochen wurde, hatte er Kontakte zur Drogenszene und geriet in ein paar „krumme Sachen“ hinein.
Es fällt auf, daß dieser Lebensverlauf mehrfach genau gegen die Normen verstößt, die der Vater so vehement vertritt: „Aber so ab zwanzig, einundzwanzig habe ick also ’n Absturz erlitten. Da habe ick also det gemacht, wat ick also gar nicht machen sollte, und die Konsequenzen, , Kosten'hab ick heute noch zu tragen, wa. Hab ick also bitter dran zu kämpfen.“ „... ick hab also ’n loddriges Leben geführt, würde ick sagen, und da war der Abstieg also nich weit gewesen.“
In beiden Zitaten wirkt die Autorität der elterlichen Erziehungsnormen noch nach. Doch auch unabhängig von der Verarbeitung in Gewissenskonflikten war diese Phase in der Erwerbsbiographie für P. die relativ härteste Zeit.
P. überwand dieses „Tief" nach seinem Absturz erst mit seiner Anstellung bei der erwähnten Zeitarbeitsfirma. Im Rahmen dieses Leiharbeitsverhältnisses verbindet sich eine stabile Beschäftigung mit einer Instabilität der Arbeitsplätze. Das Erlebnis von Diskontinuitäten setzt sich also auf einer anderen Ebene fort. Damit läßt sich, insgesamt gesehen, P. s bisheriger Berufsverlauf als eine Lebensphase beschreiben, in der er sich in den Randbereich des Arbeitsmarktes bzw. am unteren Ende der Arbeitsmarkthierarchie ohne Aussicht auf eine Verbesserung seiner ökonomischen Position „durchwurstelte“.
Da für P. das „Durchwursteln“ angesichts der verschärften Beschäftigungsproblematik nur unter immer größeren Opfern möglich erscheint: „Aber heutzutage kann man sich det nich mehr erlauben, da kann man sich seine Sachen nich mehr aussuchen, da kann man zufrieden sein, wenn man ’n Job hat. Ick meine, heutzutage ’n Job ohne Führerschein zu finden, ist unheimlich schwer. Du wirst ooch echt unterbezahlt, wenn du nich echt irgendwie Leistung bringen tust, und wenn du nich für dein Geld irgendwie wat tust, du mußt da also echt original deine Knochen lassen. Dat is nich mehr so einfach wie früher, daß man sagt, ick gehe, morgen früh hab ick ’n neuen Job oder so. So is det nich mehr. Man muß schon sich ganz schön uff die Hinterbeene stellen und ganz schön rumrennen, um überhaupt zu überleben ...“, entwickelt er eine neue Zukunftsperspektive: „Ick hab also früher nie mit dem Gedanken gespielt, mich irgendwo selbständig zu machen. Und ick hab also irgendwie jetzt ooch ’n festen Drang danach, mich selbständig zu machen. Ick möchte einfach ooch so leben können, wie die andern leben, ja ... Irgendwann in den nächsten vier, fünfJahren werde ick bestimmt det Ziel mal erreichen. Det Ziel habe ick mir ooch gesetzt. Und da werde ick ooch hart dran arbeiten, dat ick det ooch irgendwie erreichen tu, wa. Weil, ick hab einfach det alte Leben satt, wa, also det hake ick total ab, wa, ick will eigentlich im Prinzip davon nix mehr wissen, wa.“
Die Aufstiegsperspektive ist tief in P. s persönlichen Ideologien und Leitideen verankert; sein Wirtschafts-und Gesellschaftsbild sowie sein Arbeits-und Lebenskonzept können hier aber nur skizzenhaft nachgezeichnet werden. Für P. zerfällt die Gesellschaft, in der „sich jeder selbst der Nächste“ ist, in die „kleenen Arbeiter“ und „die da oben“, zu denen P. voller Verlangen und Neid um ihre materiellen Privilegien und zugleich voller Aufstiegshoffnung aufschaut: „Ick möcht einfach ooch sowat werden. Dicket Auto vor die Türe haben, eigenes Haus besitzen, ’n dicket Bankkonto, warum nicht?... Und die sitzen da mit ihre dicken Ärsche in die Bürosessel und halten een Telefonat nach dem anderen, fahren dreimal im Jahr in Urlaub, und den kratzt det alles gar nicht, wat mit dem kleenen Arbeiter ist, ja ... Ick hab zwar eben det nicht gelernt, wat die gelernt haben, aber man kann uff normalem Weg ooch dahin kommen. Und det is eigentlich gar nicht schwer. Und die Voraussetzungen sind jedem gegeben, jeder Mensch kann sowat machen. Man muß sich bloß nicht doof anstellen. Und det gibt immer Mittel und Wege, irgendwie so’n Ziel zu erreichen.“ Im letzten Zitat präsentiert sich P. als typischer Vertreter der amerikanischen „Tellerwäscherideologie“, die ihre Wurzeln in einer individualistischen Leistungsethik (siehe das Zitat zu den benachteiligten Gruppen) und in einer spezifischen Arbeitseinstellung hat; in dieser geht die materielle Orientierung eine enge Verbindung mit der Bereitschaft ein, die Hemdsärmel hochzukrempeln und damit auch die Ellenbogen freizulegen, die er gegenüber seinen Mitmenschen einsetzt: „Mir ist det ooch egal im Prinzip, wat ick mache ... Und wenn ich uff gut Deutsch, weeß ick, Scheiße geschippt hätte oder weiß ick, ja, gefegt hätte, ja, oder irgendsowat, ja, hätt ick ooch gemacht ... weil ick da unheimlich viel Geld machen kann und sehr gut Geld verdienen kann (kämpfe ich gegen die anderen, d. Verf.).“
Angesichts der Tellerwäscherideologie verwundert es nicht weiter, wenn P. — bezeichnenderweise von der Ausweisung der Ausländer und einem Arbeitsdienst abgesehen — keine (wirtschafts^politische Lösungsmöglichkeit für das Arbeitslosenproblem sieht und nur darauf verweisen kann, „daß sich jeder selber helfen muß“.
Im Zuge seiner vom Arbeitsmarkt beförderten Wende vom „Lotterleben“ zur Disziplinethik ordnet P. nicht nur persönliche Bedürfnisse, die er früher auslebte („lieber Weggehen Und anständig mal een trinken“; „keene Lust mehr für meine Arbeit“; „ick bin von Natur aus ’n quasi fauler Mensch“), dem Aufstiegsziel unter. Angesichts der Arbeitsmarktzwänge und betrieblichen Machtverhältnisse sieht er auch die Notwendigkeit zur Unterordnung der gesamten Person: „Na, ick würd sagen, man muß sich sehr viel gefallen lassen, man muß also schon eher ’n Arschkriecher sein auf gut Deutsch, ja, also wenn man sich dagegen widersetzen tut, wa. Kommt also immer uff det Gleiche drauf raus, wenn man det nicht macht, wat der Chef will, kriegste ne Kante.“
Die auf den verschiedenen Artikulationsebenen (des Sozialverhaltens, des gesellschaftlichen Bewußtseins und des Arbeits-und Lebenskonzepts) vorgebrachten Äußerungen von P. lassen ein grobes Bild seiner Persönlichkeit erkennen. Zwar durchziehen Erfahrungen von Härte wie ein roter Faden P. s Lebensweg bis zur aktuellen Arbeitssituation. Doch geht die Härte keineswegs nur von der sozialen Umwelt aus. Auch P.selber tritt schon früh als ein „knallharter Typ“ auf, der nicht nur hart gegen sich selbst ist („.. . man muß probieren, mit seinen Problemen fertig zu werden, denn dat Leben geht weiter“), sondern auch gegenüber anderen zur Härte neigt („Und wenn mir da eener irgendwie dazwischenfunken würde... würde ick probieren, ihn ooch zu unterdrücken“).
Mit der Härte nach außen dürfte P. eine Unsicherheit überspielen, die in so widersprüchlichen Charakterzügen wie Selbstüberschätzung (die auch seinen Aufstiegsoptimismus begründet) und Schuldgefühlen (wegen der „loddrigen" Lebens-phase), wie Selbstdisziplinierung und Konsum-orientierung zum Ausdruck kommt. Überraschend paart sich seine Neigung zum „Uffbokken“ und zur Unterdrückung der Gegenspieler in der Arbeitsmarktkonkurrenz mit einer Bereitschaft zum „Arschkriechen“ gegenüber den Vorgesetzten. Hierin, wie auch in seiner begrenzten und bedingten Bereitschaft zu geben, zeigt sich ein ausgeprägtes Nutzendenken. Die aufs Eigeninteresse fixierte Nutzenorientierung, die extrem individualistische Handlungsperspektive, die unpolitische und antistaatliche Haltung lassen in ihrem Zusammenhang P. als den Prototyp einer privat-egoistischen Persönlichkeit erscheinen. Ironischer-weise befinden sich viele von P. s Charaktermerkmalen in geradezu völliger Übereinstimmung mit dem Menschenbild der herrschenden (neoklassischen) Wirtschaftstheorie.
Diese Grundstruktur von P. bildet offensichtlich einenNährboden für eine Reihe von stabilen Denk-und Verhaltensmustern wie Vorurteile, Sündenbockdenken, Aggressionen gegenüber Schwächeren, Unterwürfigkeit gegenüber Stärkeren oder Ethnozentrismus — alles Persönlichkeitsäußerungen, die Adorno zu den Manifestationen der autoritären Persönlichkeit zählte Fassen wir zusammen:
Trotz einzelner Widersprüchlichkeiten innerhalb der genannten Artikulationsebenen besteht eine geradezu verblüffende Konsistenz zwischen diesen Ebenen. P. legt genau jenes Sozialverhalten an den Tag, das er mit seinem Wirtschafts-und Gesellschaftsbild (Tellerwäscher-Ideologie; Schuldzuweisungen an Ausländer, Arbeitslose; Arbeitsdienst) ideologisch legitimieren kann, das er mit seinem Arbeits-und Lebenskonzept (Geld-, Konsum- und Aufstiegsorientierung; Arbeitsdisziplin) motivational vorwegnimmt und das seinen zentralen Persönlichkeitsmerkmalen entspricht (Lust-prinzip; Selbstdisziplinierung; Egoismus; Härte). Die Ausbildung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale läßt sich zum Teil auf die verschiedenen Umwelteinflüsse zurückführen. Der Zusammenhang zwischen den Orientierungen der Eltern und P. s autoritären Neigungen und zentralen Grund-haltungen ist offensichtlich. Neben (inhaltlichen) Erziehungswerten haben auch die elterlichen Erziehungspraktiken ihre Spuren bei P. hinterlassen. P. s Schuldgefühle und widersprüchliche Darstel-lung des Verhältnisses zu den Eltern geben Hinweise darauf, daß die Erziehung keineswegs auf Einfühlsamkeit gegenüber dem Kind ausgerichtet war. So mußte er schon früh das Tauschkalkül „Gehorsam gegen (partielle) Freiheiten“ lernen, das in verallgemeinerter Form zu einem konstitutiven Moment seiner Persönlichkeit wurde.
Nach dem Psychoanalytiker H. E. Richter liegt gerade in dem kindlichen Erleben von einseitiger Abhängigkeit ein Hemmfaktor für solidarisches Verhalten. Zu solchen Hemmfaktoren gehört auch ein labiles Selbstwertgefühl, das zu Gruppenmißtrauen führt. Es erwächst aus Schuldgefühlen oder gar Selbsthaß, deren Ursache in einer (leistungsorientierten) strengen Erziehung gesehen wird. Das rigide Leistungsprinzip steht den kindlichen Trieben und den solidarischen Verhaltensnormen gleichermaßen entgegen. Richter verweist schließlich auch auf übertriebene „Männlichkeit“ und den bürgerlichen Individualismus als Solidaritätshemmnisse Mit seinem familiären Hintergrund und seinen persönlichen Merkmalen erfüllt P. geradezu sämtliche Bedingungen, die in Richters Ansatz selbstlose Kooperation und Hilfsbereitschaft verhindern. Legt man Erziehungswerte und -stil zugrunde, dann leistete das Elternhaus also schon einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung von P. s Verhaltensneigungen.
Sehr zum Mißfallen des Vaters, der wohl die Selbstdisziplinierung in allen Lebensbereichen vermitteln wollte, weicht P. allerdings mit seiner Konsumorientierung (wie sie im Gesellschaftsbild deutlich wird) von den Normen des Elternhauses ab. Damit personifizieren die Familienmitglieder auch ein Stück sozialen Wandels, den Übergang von der „Aufbaugeneration“ (mit ihren Entbehrungserfahrungen) zur Generation der Kinder des „Wirtschaftswunders“ mit ihren konsumtiven Verlockungen. Von den in dieser Generation so verbreiteten postmaterialistischen Wertorientierungen hat P.freilich nichts mitbekommen.
Andererseits hat P. in der Berufswelt Bedingungen vorgefunden und Erfahrungen gemacht (die Notwendigkeit, sich zu behaupten, um die relativ besten Jobs zu konkurrieren, sich abzugrenzen), die mit den Zwangserlebnissen der Kindheit korrespondieren und seine Kämpfermentalität fördern. Die verstärkende Wirkung der beruflichen Sozialisation mag auch daran deutlich werden, daß beim ehemaligen Arbeitslosen P. u. a. Einstellungen festzustellen sind, die in der Erwerbslosen-forschung als typisch für die subjektive Verarbeitung von Arbeitslosigkeit gelten: die „Wendung gegen die eigene Person“ (z. B. Selbstvorwürfe wegen des Lotterlebens) und den „Aufbau neuer Selbstschutzmaßnahmen“ (z. B. überzogener Aufstiegsoptimismus). Diese Dispositionen sind nach Wacker oft mit Minderwertigkeitsgefühlen, Angst, Selbsthaß oder auch Ressentiments gegenüber anderen verbunden
Wie unsere Repräsentativdaten zeigen, teilt P. mit den übrigen Angehörigen seiner Altersgruppe die mit der drastischen Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation verbundenen Erfahrungen. Insbesondere die verschärfte Konkurrenz um Ausbildungs-und Arbeitsplätze sowie die Verringerung von Aufstiegschancen verdüstern die Lebensperspektiven eines Teils der jungen Generation; der Einfluß dieser Entwicklung kann in der Biographie und dem Denken von P. unmittelbar abgelesen werden.
VI. Frostiges Betriebsklima — Tauwetter in der Gesellschaft
Wir haben die Auseinandersetzung der Menschen mit der prekären Beschäftigungslage auf verschiedenen Ebenen nachgezeichnet: persönliche Bedürfnisbefriedigung, kollektive Toleranz oder Ressentiments gegenüber den besonders betroffenen gesellschaftlichen Gruppen und Zusammenarbeit am Arbeitsplatz. Auf der ersten Ebene hat die Stagnation der Reallöhne nur teilweise auf das Problembewußtsein des Durchschnittsbürgers durchgeschlagen. Die Deutschen sind nicht auf die Erhöhung ihres Konsumniveaus fixiert. Sie haben die Stabilisierung der Einkommenssituation auf hohem Plateau ohne Murren akzeptiert.
Statt dessen wirkt sich die Beschäftigungskrise in einer zunehmenden Fehlanpassung zwischen den Menschen und ihrer Arbeit aus. Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, Angst um den Arbeitsplatz, verstärkt durch die Befürchtung, im Falle des Arbeitsplatzverlustes keine vergleichbare Beschäftigung zu bekommen, die Einsicht, eigene Interessen gegenüber Arbeitgebern und Vorgesetzten auch bei guter Leistung nur schwer durchsetzen zu können, schaffen Unbehagen. Dieses Unbehagen schlägt sich in konkreten Beanstandungen, in Resignation, in Gleichgültigkeit gegenüber der beschäftigenden Organisation und in Wünschen nach gradueller Verminderung der Arbeitszeit auch ohne Lohnausgleich nieder. Kurz, viele Beschäftigte reagieren auf die Fehlanpassung zwischen Mensch und Arbeit mit „Tendenzen zur ökonomischen Abrüstung“, wenigstens in Gedanken und Worten. Sie würden eine Einschränkung ihrer Teilnahme an der arbeitsteiligen Wirtschaft präferieren, sowohl auf der In-put-Seite der Arbeitsleistung wie auf der Output-Seite des Konsums, dessen Steigerung nicht im Vordergrund der Wünsche und Bedürfnisse steht. Was die Ebene des „sozialen Friedens“, des Verhältnisses verschieden betroffener Teile der Bevölkerung zueinander anbelangt, so lassen sich unsere Daten aus den Repräsentativbefragungen am ehesten mit der Hypothese vereinbaren, die Drohung oder Erfahrung der Arbeitslosigkeit habe Mitgefühl für die Betroffenen und Gefährdeten erzeugt. Wir verzeichnen deutlich mehr Sympathie mit Arbeitslosen als in den späten siebziger Jahren, besonders in den Berufsgruppen mit niedrigem sozialen Status, aber nicht nur dort. Nachweisbar ist auch eine verschärfte Kritik an der herrschenden Einkommensverteilung, die wiederum auf— vielleicht nicht ganz selbstlose — Symphatie mit den finanziell Benachteiligten zurückzuführen sein dürfte. Vielleicht spielt hier auch die starke Gewinnausweitung der letzten Jahre angesichts stagnierender Arbeitnehmereinkommen eine Rolle.
Entgegen manchen Vermutungen und Einzel-beobachtungen neigen die von der Beschäftigungskrise Betroffenen offenbar nicht in besonderem Maße dazu, die Ausländer zu Sündenböcken zu stempeln oder auch nur, sich die Konkurrenz der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt durch Abschiebestrategien vom Halse halten zu wollen. „Neue Werte“ — so etwa „postmaterialistische“ Lebensstile und Gesellschaftsziele der stärker durch Schulen und Hochschulen geprägten jüngeren Generation —, aber auch der Wunsch nach einer Verkürzung der Arbeitszeit, fördern die Toleranz mit Randgruppen. Derjenige, dessen Lebensperspektive auf Besitz und Einkommen fixiert ist, neigt demgegenüber eher zu Ressentiments. Zu dieser Gruppe gehört auch der befragte P..
Wenn, wie die bisher erörterten Ergebnisse zeigen, das durch Massenarbeitslosigkeit erzeugte horizontale Unruhepotential, d. h. die Frontstellung von Teilen der Bevölkerung gegeneinander, sich in Grenzen hält, so ist die vertikale Stoßkraft der Unzufriedenheit, d. h. zunehmende Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit und an „denen da oben“ spürbar. Die Zurechnung der Verantwortung für die Beschäftigungskrise bei den für Wirtschaft und Wirtschaftspolitik offiziell Verantwortlichen ist die Kehrseite der zart aufkeimenden Solidarität.
Die Hauptquelle der Irritation durch den prekären Arbeitsmarkt ist jedoch der Arbeitsplatz. Hier, wo die Macht-und Verhandlungspositionen sich massiv zuungunsten des Arbeitnehmers verändert haben, wird die Bedrohung durch das Verhalten der Vorgesetzten und Kollegen konkretisiert. Aggression und Einzelkämpfertum wird zur — wenn auch nur widerwillig eingestandenen — Verteidigungsstrategie der in die Ecke Gedrängten. In einem Klima der Arbeitsbedrohung verdirbt Konkurrenz die Sitten und verschlechtert die Stimmung.
Belebt sie wenigstens das Geschäft? Eben dies ist zu bezweifeln. Kooperation ist ein Grundpfeiler der arbeitsteiligen Wirtschaft. Man unterscheidet zwischen einer Form der Kooperation, die über Verhaltensnormen wie Arbeitsanweisungen und Dienstvorschriften erzwingbar ist, und einer anderen, die von den Arbeitnehmern selbst ausgeht. Diese freiwillige Form der Kooperation hängt vom gegenseitigen Vertrauen der Arbeitnehmer ab. Die heute vorherrschenden Produktionsprozesse sind in hohem Maße auf dieses freiwillige Element vertrauensvoller Zusammenarbeit angewiesen. Die Komplexität von wirtschaftlichen Abläufen verhindert eine wirksame hierarchische Kontrolle Erst der freimütige informelle Austausch von Informationen bringt eine wirksame Kooperation zuwege. Dieser hängt wiederum ab von sozialen Kompetenzen und gegenseitigem Vertrauen. Der deutschen Wirtschaft ist es nicht gelungen, die prekäre Beschäftigungslage ohne empfindliche Beeinträchtigung des Betriebsklimas und des Wohlergehens der Mitarbeiter zu bewältigen.
Der systematischen, mit Daten der Gesamtbevölkerung untermauerten Argumentation haben wir die ausführliche Darstellung eines Einzelfalls beigefügt. Es handelt sich um einen jungen Mann, der offenbar nicht in den finanziell gesicherten und eher permissiven Verhältnissen der postmaterialistisch geprägten Jugend aufgewachsen ist. Er ist vom Arbeitsmarkt an die Peripherie abgedrängt worden, findet jedoch in der Folklore der Lebensregeln und popularisierten Wirtschaftstheorien genügend Elemente vor, mit denen die von ihm befürwortete Ausgrenzung, die ungezügelte Machtausübung gegenüber noch Schwächeren gerechtfertigt werden kann. Es ist insbesondere das von ihm ethisch verbrämte „Einzelkämp-fertum“, das die Aufmerksamkeit auf kulturelle Widersprüche unserer Wirtschaftsverfassung lenkt: Sei egoistisch und setz’ dich voll ein. Konkurriere und kooperiere.
Die Lizenz für Konkurrenzverhalten und Egoismus wird von der Marktideologie erteilt, ihre Ausübung freilich durch eine neue Ethik des Postmaterialismus in Schach gehalten. Es sieht so aus, als ob beide ideologischen Pole durch die Beschäftigungskrise gestärkt würden: Die Angst vor Arbeitslosigkeit akzentuiert das Machtgefälle zwischen den Stärkeren und den Schwächeren. Sie verführt zur einseitigen Interessendurchsetzung einerseits und zur Resignation des sozial isolierten Einzelkämpfers andererseits. Die anschwellende Welle der Betroffenheit erleichtert jedoch die Identifikation mit den Benachteiligten und schwächt die Loyalität gegenüber einem Wirtschaftssystem, das zwar in einem engeren Sinne einzigartig effizient ist, die Produktivität steigert und die Konsumbedürfnisse weitgehend befriedigt, aber dabei doch die Chance der Menschen empfindlich beeinträchtigt, sich in ihrer Berufsarbeit zu verwirklichen.
Burkhard Strümpei, Dr. rer. pol., geb. 1935; Leiter der Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit (FSA) an der Freien Universität Berlin, zusammen mit Prof. Dr. M. Bolle; Forschungsschwerpunkte: Ökonomische Verhaltensforschung, Verbraucherpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Umwelt und Energie. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit M. v. Klipstein) Der Überdruß am Überfluß. Die Deutschen nach dem Wirtschaftswunder, München 1984; (zus. mit E. Noelle-Neumann) Macht Arbeit krank? — Macht Arbeit glücklich? Eine aktuelle Kontroverse, München 1984; (zus. mit M. v. Klipstein) Gewandelte Werte — Erstarrte Strukturen. Wie die Bürger Arbeit und Wirtschaft erleben, Bonn 1985. Christoph Nitschke, Dipl. -Volkswirt, geb. 1957; wiss. Mitarbeiter der FSA; Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarkttheorie, Konjunkturtheorie; „informeller“ Sektor. Veröffentlichung: Anatomie und Rekonstruktion eines autoritären Charakters, FSA print 15/85, Berlin 1985. Peter Pawlowsky, Dr. rer. pol, geb. 1954; Leiter des Projekts „Verteilungskonflikte und Solidaritätspotential“ zusammen mit Prof. Strümpei; Forschungsschwerpunkte: Organisations-und Arbeitspsychologie, Einstellungsforschung. Veröffentlichungen u. a.: Arbeitseinstellungen im Wandel, München 1986; Arbeitsorientierungen zwischen neuen Ansprüchen und alten Strukturen, in: Gewandelte Werte — Erstarrte Strukturen (s. o.)
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