Armut, Hunger, Verschuldung, Entwicklungsprobleme und gewaltsam ausgetragene inner-wie zwischenstaatliche Konflikte prägen zur Zeit das Bild der Dritten Welt. Während für die Ursachen der Armut, des Hungers etc. inzwischen dank der Entwicklungsforschung der letzten dreißig Jahre eine kaum überschaubare Fülle an Erklärungsansätzen und Therapievorschlägen vorliegt, gibt es für das Phänomen der inner-und zwischenstaatlichen Konflikte bislang kaum brauchbare Analyseansätze, die die Ursachen der 151 Kriege in der Dritten Welt — von insgesamt 160 Kriegen seit 1945 — erklären könnten. Allenfalls gibt es erste Versuche, durch eine „Kriegsbuchhaltung“ diese für die wissenschaftliche und politische Arbeit operationalisierbar zu machen. Obwohl die Wissenschaft, insbesondere die der internationalen Beziehungen, im Rahmen der Beschäftigung mit den „Krisenherden“ der Welt zahlreiche Erklärungsversuche unternommen hat, ist doch problematisch an diesen Erklärungsversuchen, daß sie zu singulär und reduktionistisch sind, um die Ursachen der zunehmenden gewaltsamen Austragung von Konflikten erklären zu können. Es überrascht nicht, wenn nach wie vor Erklärungsansätze, die als Ursache die Verlagerung des Ost-West-Konfliktes in den Süden sehen oder auf die Hegemoniekrise der Supermächte zurückführen, neben Erklärungen stehen, die als Ursache der Kriege die steigende Zahl der Staaten in der Weltgemeinschaft oder die sozio-ökonomischen Disparitäten in diesen Staaten diagnostizieren. Hinzu kommen Ansätze, die die epidemische Ausweitung kriegerischer Auseinandersetzungen auf die historischen Nachwirkungen des Kolonialismus infolge der Konservierung vorkolonialer Konfliktsituationen zurückführen oder den Tatbestand der Zerstückelung in ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten in den neu entstandenen Nationalstaaten als Ursache der Konflikte diagnostizieren; schließlich ist auch jene Sicht verbreitet, die in Analogie zur europäischen Entwicklung der letzten 200— 300 Jahre in diesen Kriegen einen Nachholprozeß zur Konsolidierung der Nationalstaatlichkeit sieht
Dimensionen — Ursachen — Perspektiven
Würde man anhand der Medienberichterstattung der letzten Jahre über die Dritte Welt eine „Hitliste“ der Probleme dieser Region erstellen, so würden zweifellos die inner-und zwischenstaatlichen gewaltsamen Konfliktaustragungen den ersten Rang einnehmen. Die Probleme des Massen-elends, der Verschuldung, der Bevölkerungsexplosion und Menschenrechtsverletzungen würden dagegen jedoch weit hinten rangieren. Dieses Phänomen hat sicherlich mit der Neigung zum „Katastrophen-Journalismus" zu tun; größtenteils entspricht es jedoch der Wirklichkeit. Allerdings würde die Rangordnung anders aussehen, wollte man die Probleme in Hinblick auf die Quantität der vorhandenen Informationen und Publikationen ordnen. Die Entwicklungsforschung ist angesichts des inzwischen um sich greifenden Unbehagens darüber, daß „die überkommenen inhaltlichen Leitlinien ... allenthalben in eine Sackgasse geführt“ hätten bei ihrem inzwischen auf der Tagesordnung stehenden Versuch der Bestandsaufnahme oder bei der Suche nach Neuorientierung in der „glücklichen“ Lage, auf einen Fundus an Material und Erkenntnissen zurückzugreifen, der sich seit drei Jahrzehnten angehäuft hat und inzwischen nur noch für Entwicklungspolitologen, -Ökonomen und -soziologen bedingt überschaubar ist. Die Informationen hinsichtlich der Dimensionen und Ursachen der gewaltsamen Konflikte in der Dritten Welt bilden hingegen einen , weißen Fleck'auf der Karte der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft Trotz der bis heute regi-strierten 160 Kriege seit 1945 gibt es kaum Ansätze, die in der Lage wären, die Entwicklung von kleineren wie größeren Konflikten bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen hinreichend zu beschreiben oder gar zu erklären. Die Erforschung der Kriegsursachen fristet eine kümmerliche Existenz — allerdings nicht nur hierzulande, sondern weltweit—, wie selbstkritisch im Einladungsschreiben zum XII. wissenschaftlichen Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens-und Konfliktforschung über „Kriege in der Dritten Welt“ im Oktober 1984 vermerkt wurde. Auch die friedens-und sicherheitspolitische Diskussion der achtziger Jahre hat —einerseits vielleicht wegen ihrer deutschland-bzw. eurozentrischen Beschränkung auf Parolen wie „Kampf dem Atomtod“, „Kampf der NATO-Nachrüstung“ und „Kampf dem , Krieg der Sterne* (SDI)“ und andererseits wegen der Herausstellung des Umstands, daß Europa dank der NATO und ihrer Strategie der Abschreckung die längste Friedensperiode ihrer Geschichte erlebt— kaum neue Initiativen hervorgerufen. Vielmehr hat die Friedensbewegung mit ihrem „Atomwaffen-Pazifismus" und der Angst vor einem Krieg in Europa die Tatsache verschleiert, daß „das zentrale Ziel aller Friedensbewegungen die Verhinderung jeglichen Krieges sein muß, nicht eines spezifisch europäischen, mitteleuropäischen oder atomaren Krieges innerhalb eines konventionellen Ost-West-Konfliktes“, wie ein kritischer Beobachter zu Recht vermerkt hat So betrachtet, verwundert es kaum, daß, wenn die Aufmerksamkeit auf die Kriege in der Dritten Welt gerichtet wurde, dies eher aus eurozentrischen Motiven denn aus Fürsorge für die Betroffenen in der Dritten Welt geschah; nämlich aus der Sorge, die Konflikte könnten zu einer „Neuauflage“ der Juli-Krise 1914 und zum „Sarajewo-Effekt“ führen Sol-ehe Befürchtungen kommen in den Ausführungen des ehemaligen Verteidigungsministers Hans Apel zum Ausdruck, der folgendes zu bedenken gab: „Konnten wir in den vergangenen Jahrzehnten mit Gelassenheit oder moralischer Empörung diesen Kriegen... zusehen, ... so müssen wir zunehmend befürchten, daß der Funke des Krieges nach Europa überspringt... Konflikte scheinen weniger als früher auf Regionen begrenzbar zu sein. Sie bergen die Gefahr in sich, über lebenswichtige Interessen der Supermächte zur Konfrontation... zu führen“
Sieht man ab von den ersten Ansätzen eines Versuchs, durch eine „Kriegsbuchhaltung“ die Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg für die wissenschaftliche Beschäftigung operationalisierbar zu machen so entsteht der Eindruck, daß die Sicht der Welt immer noch geprägt ist von dem Weltverständnis eines deutschen Bürgers, wie es Goethe 1808 im Faust beschrieben hat: „ ... wenn hinten, weit in der Türkei Die Völker aufeinanderschlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus Und segnet Fried und Friedenszeiten“ Diese Haltung scheint sich trotz des „epidemischen Ausmaßes“, das die Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg angenommen haben, nicht verändert zu haben.
I. Die Dimensionen der Kriege seit 1945
Abbildung 4
Tabelle 2: Militante Konflikte seit 1945
Tabelle 2: Militante Konflikte seit 1945
Zweifellos ist das größte Problem bei der Vermittlung eines relativ zuverlässigen Bildes über die Zahl und Art der gewaltsamen Konfliktaustragungen seit dem Zweiten Weltkrieg die Tatsache, daß die bislang vorliegenden Untersuchungen im Hinblick auf die Untersuchungszeiträume differieren (s. Tabelle 1). Aber auch hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden quantitativen und qualitativen Merkmale (wie etwa die Zahl der Opfer, die Art und der Charakter der Gruppen, die Intensität und die Dauer der Auseinandersetzungen u. s. w.) und der Definition dessen, was als Krieg zu bezeichnen ist, bestehen erhebliche Differenzen.
Als relativ zuverlässig hat sich inzwischen eine Auflistung der bisher geführten Kriege durch den ungarischen Sozialwissenschaftler Istvän Kende erwiesen; sie hat sich seit ihrer Publikation 1982 als solide Grundlage für weiterführende empirische Arbeiten gut geeignet. Diese Auflistung wurde inzwischen durch die „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ an der Universität Hamburg fortgeführt und in einigen Punkten modifiziert Sie basiert auf der Definition des Krieges als bewaffneten Massenkonflikt, der folgende Merkmale aufweist:
a) Zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte sind an den Kämpfen beteiligt, wobei es sich mindestens in einem Fall um eine reguläre Armee oder anderweitige Regierungstruppen handelt.
b) Das Vorgehen beider Teilnehmer entfaltet sich in zentral gelenkter, organisierter Form, auch wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder strategisch planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg). c) Die bewaffnete Auseinandersetzung besteht nicht aus spontanen, sporadischen Zusammenstößen. Beide Teilnehmer arbeiten nach einer planmäßigen, systematischen Strategie, unabhängig davon, ob der Krieg auf dem Gebiet eines einzigen Landes oder auf dem mehrerer Länder, ob er kürzer oder länger geführt wird Zweifellos hat diese Definition gegenüber der eher enggefaßten völkerrechtlichen Definition des Krieges als „denjenigen Zustand der Beziehungen zwischen zwei Staaten — oder zwischen zwei Staatengruppen oder zwischen einem Staat und einer Staatengruppe —, unter dem die Geltung des normalen Völkerrechts — des sogenannten allgemeinen Friedensrechts — zwischen ihnen suspendiert ist“ den Vorteil, daß ihre Offenheit es ermöglicht, Phänomene wie innerstaatliche Kriege oder Autonomiebestrebungen zu erfassen.
Allerdings ermöglicht es die Beschränkung auf organisierte bewaffnete Auseinandersetzungen nicht, beispielsweise die internen Elitekonflikte in Form von Staatsstreichversuchen zu erfassen, von denen es bislang 350 — davon 159 erfolgreiche — gegeben hat
Tabelle 2 gibt einen Überblick über die auf der Grundlage dieser Definition bislang „registrierten“ 160 Kriege, aufgelistet in vier Kriegstypen In der Tabelle wird eine regionale Aufteilung (Europa/Dritte Welt) vorgenommen und die Unterscheidung getroffen, ob Interventionen mit oder ohne ausländische Beteiligung erfolgt sind.
Sowohl hinsichtlich der Typenbildung als auch der Zuordnung von ausländischen Interventionen weist die Liste jedoch die Symptome einiger „Kinderkrankheiten“ auf, die noch zu therapie-ren wären. So ist es zum Beispiel unmöglich, den internationalen Terrorismus zu erfassen oder das neue Phänomen der „Geiselnahme“ als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ bzw. „mit Einmischung anderer Mittel“ (Clausewitz) aufzuzeigen. Noch problematischer erscheint die Zuordnung von Sezessionskriegen zu „innerstaatlichen“ Kriegen, da vor allem ethnische Konflikte aus völkerrechtlicher Perspektive zwar interne Kriege, aus ethnischer Sicht aber externe Kriege sein können, wie G. Braun zu Recht feststellt Ein verzerrtes Bild der Realität gibt aber insbesondere das Merkmal der „ausländischen Intervention“, da hier nur die unmittelbare Teilnahme an den Kämpfen als eine solche verstanden wird, nicht jedoch Waffenlieferungen, subtilere Interventionsformen wie „Counterinsurgency“ oder „Low-Intensity Warfare“ Auch indirekte Formen der Intervention wie der Einsatz personeller oder tele-kommunikativer Instrumentarien, z. B. Rundfunksender, von denen Henry Kissinger meinte, sie könnten „in den Beziehungen zu vielen innenpolitisch nicht besonders stabilen Ländern eine wirksamere Form des Druckes sein als ein Geschwader strategischer Bomber vom Typ B 52“ werden nicht erfaßt.
Trotz dieser Schwächen, über die sich die Autoren selbst im klaren sind, war und ist es das Verdienst der Auflistung der Kriege, die Dimensionen der Kriege zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit bewußt gemacht und zur weiteren Beschäftigung mit diesen Problemen angeregt zu haben.
Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, wenn man hier über die Daten in Tabelle 2 hinaus noch weitere statistische Auswertungen hinsichtlich der Charaktereigenschaften und Merk-18) male der Kriege vornehmen wollte Gleichwohl soll auf einige der markantesten Aspekte der Kriege hingewiesen werden. Die bisherige „Kriegsbuchhaltung“ offenbart, daß 1.seit dem Zweiten Weltkrieg die Welt nur einige wenige Tage ohne Kriege war, nämlich 26 Tage im September 1945;
2. neben den sehr „publizitätsträchtigen“ Kriegen im Libanon, in Afghanistan und am Golf, und dies am Ende des „Jahres des Friedens“, noch weitere 27 „vergessene“ Kriege fortdauern, wie zum Beispiel in Eritrea (seit 1961), im Tschad (seit 1966), auf den Philippinen (seit 1970), in Nordirland. (seit 1969) und in Kambodscha (seit 1978);
3. diese Kriege, je nach Berechnung, bislang zwischen 25 bis 35 Millionen Tote gefordert haben, was in einem Vergleich zu den Verlusten des Ersten und Zweiten Weltkrieges von insgesamt 12 bzw. 56 Millionen Toten die These rechtfertigt, daß der viel befürchtete Dritte Weltkrieg in Form von Dritte-Welt-Kriegen bereits begonnen hat; 4. von den gegenwärtig 172 Staaten der Weltgemeinschaft 54% mindestens einmal Krieg geführt haben, mit insgesamt 335 Kriegsbeteiligungen; an 80 dieser Auseinandersetzungen waren jeweils dritte Staaten beteiligt; 5. Südasien und Südostasien, Schwarzafrika und der Vordere und Mittlere Orient regional am meisten betroffen waren; 6. 90 der bis Dezember 1984 beendeten Kriege durch einen militärischen Erfolg, hingegen nur 39 durch erfolgreiche Verhandlungen beendet wurden 7. bei nur einem knappen Viertel aller Kriege die Initiatoren gewinnen konnten und nur bei einem knappen Drittel ein militärisches Unentschieden erreicht wurde;
8. die Zahl der jährlich geführten Kriege kontinuierlich zunimmt: 1945: 3; 1955: 15; 1965: 1975: 21; 1985: 33;
9. die Zahl der nicht klar zu identifizierenden Kriege überproportional gestiegen ist, wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist. Zweifelsohne ist dies ein Indiz dafür, daß neben methodischen Problemen bei der Zuordnung auch eine zunehmende „Verquickung“ von Konfliktanlässen zu beobachten ist;
10. schließlich der Schauplatz fast aller Kriege — 151 von 160— die Dritte Welt ist, dabei drei Viertel (140) der Fallbeobachtungen reine Dritte-Welt-Kriege sind, seien es nun Bürgerkriege oder Kriege in Form von Interventionen in anderen Staaten (31 Fälle).
Insbesondere die Neigung der Dritte-Welt-Länder, auch ohne Mitwirkung oder Beteiligung der Industriestaaten ihre Konflikte untereinander auszutragen, wird sicherlich bei der Suche nach den Ursachen der Kriegshäufigkeiten zum Umdenken führen müssen; wenngleich die Verabsolutierung der These, daß „die Dritte Welt... mit sich selbst im Krieg“ liege, während „die Industriegesellschaften der Hort des Friedens seien, falsch ist“ 24). Eine offene und direkte Beteiligung von Industriestaaten — allein oder mit Hilfe anderer Dritte-Welt-Staaten — erfolgte immerhin in 57 Fällen, einschließlich der Entkolonisierungskriege.
II. Ursachen der Kriege in der Dritten Welt — Versuch einer Bestandsaufnahme
Da es, wie bereits angedeutet wurde, bislang kaum systematische Erkenntnisse über die „objektiven“ Ursachen und die „subjektiven“ Gründe gibt, die schlüssig offenlegen, warum Staaten bzw. Gruppen in Staaten ihre Konflikte gewaltsam austragen — sieht man ab von Thesen über die „Aggressivitäts-Determiniertheit“ der Menschen oder „die Torheit der Regierenden“, wie Barbara Tuchman ihr Buch betitelt hat —, bedarf es keines besonderen Hinweises darauf, daß die Forschung heute noch weit davon entfernt ist, eine überzeugende Theorie der Ursachen aller Kriege und Kriegstypen zu geben oder zumindest Gesetzmäßigkeiten festzustellen. Daher kann bezweifelt werden, ob dies angesichts der Singularität und Vielfalt der Kriege überhaupt jemals möglich sein wird. Der Versuch der Kriegsursachen-Erforschung bzw. -Erklärung wirft deshalb zunächst mehr Fragen auf als er Antworten gibt
Schon bei dem Versuch einer systematisch-methodischen Unterscheidung der Konfliktursachen in „endogene“ oder „exogene“ erweist sich, daß bei näherer Betrachtung die scheinbar endogenen Ursachen wie soziale, politische, kulturelle und ökonomische Faktoren in der Regel exogen verursacht worden sind. Vor dem Versuch der „Ursachen-Beschreibung“ sollen jeweils in Form einer „Negativ-Auslese“ auch jene Erklärungsmuster kurz skizziert werden, die — trotz ihrer Publizität und Popularität — kaum oder nur bedingt zur „Horizonterweiterung“ beigetragen haben. 1. Dritte-Welt-Kriege — die „Süddimension des Ost-West-Konfliktes“?
Die These, daß Kriege in der Dritten Welt die Süddimension des Ost-West-Konfliktes sind, wird inzwischen in einer kaum überschaubaren Fülle von „Strategie-Studien“ vertreten. Doch die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind infolge der Orientierung an kurzfristigem „Krisenmanagement“ bzw. an den Konsequenzen der Konflikte für die internationale oder nationale Sicherheit wenig aufschlußreich für die Erforschung der Ursachen der Konflikte. Dies insbesondere deshalb, weil bei diesem Ansatz zwangsläufig die Interessen und Hintergründe der Kriege in der Regel nicht systematisch in die Untersuchung einbezogen werden Die Kriege werden im Kontext des Ost-West-Konfliktes gesehen, nämlich als „Ventile“ für den globalen Konkurrenzkampf der beiden Supermächte. Nach dieser These sind die Kriege in der Dritten Welt nur „Stellvertreterkriege“ der Supermächte, die aus strategischen Überlegungen heraus jede direkte Konfrontation vermeiden wollen. Sicherlich ist diese Sicht auf die Bemühungen der Supermächte zu Beginn der siebziger Jahre zurückzuführen durch den Aufbau von „regionalen Vormächten“ Spannungen verringern zu wollen, um nicht in regionale Krisen hineingezogen zu werden. Der Mangel dieser Interpretation liegt zweifellos in der Verabsolutierung des internationalen Faktors, was dazu führt, daß lokale und regionale Konfliktpotentiale und die Eigendynamik von Konflikten aus dem Blickfeld geraten. Gerade weil die wenigsten Kriege durch die Supermächte direkt entfacht worden sind, bleiben bei diesem Ansatz die Herrschaftsinteressen der nachkolonialen Eliten völlig unbeachtet
Wenn auch konzediert werden muß, daß bei einer sich zuspitzenden internationalen Lage bzw. bei einem verschärften weltpolitischen Konflikt zwischen den beiden Supermächten eine „Internationalisierung solcher Konflikte weit über die Bedeutung ihres Anlasses hinaus“ zu befürchten wäre — vielleicht weil eine Großmacht es sich nicht leisten kann, irgendwo desinteressiert zu sein, wie Otto von Bismarck einmal formuliert hatte—, so scheint es dennoch verfehlt, durch eine zu kausale sicherheitspolitische Betrachtung die Dritte Welt als reines Objekt der Interessen der Supermächte anzusehen und ihr allenfalls eine Sekundärfunktion im Ost-West-Konflikt zuzuweisen. Sicherlich gibt es eine Reihe von Staaten, die sich aktiv in den Ost-West-Konflikt einordnen, weil sie auf die Hilfe der Supermächte gegen interne oder externe Kontrahenten angewiesen sind. Doch gibt es auch eine nicht minder große Zahl von Staaten, für die der Ost-West-Konflikt eher eine Quelle des Ärgernisses darstellt, da sie ohne Einschaltung der Supermächte ihre Region dominieren würden
Diese aus europäischer Sicht sicherlich verständliche Überbewertung des Ost-West-Konfliktes verkennt, daß für Staaten der Dritten Welt dieser Konflikt bestenfalls einen gewissen Handlungsspielraum einräumt, der genutzt wird, um die Supermächte für die eigenen Zwecke gegeneinander „auszuspielen“, was durch eine große Anzahl von „Bäumchen-wechsele-Dich“ -Spielen der Staaten der Dritten Welt hinlänglich bestätigt wurde. 2. Je mehr Staaten, desto mehr Kriege?
Wenig hilfreich für die weitere Forschungsarbeit sind auch jene Annahmen, die zwischen der steigenden Zahl der Staaten als Folge der Entkolonisierung und der Kriegshäufigkeit einen direkten Zusammenhang herstellen So plausibel sicherlich die Feststellung ist, daß die internationale Gemeinschaft zwischen 1945 und 1965 von 66 auf 125 Staaten angestiegen ist und sich so die Zahl der Grenzen von 404 auf 778 und die der internationalen Nachbarschaften von 166 auf 412 erhöht hat, so weist sie allenfalls auf die Potentialität der Steigerung zwischenstaatlicher Konflikte hin. Diese Feststellung erbringt jedoch kein Indiz für eine im Sinne von Clausewitz verstandene „Funktionalität“ des Krieges, da Nachbarschaften allein keinen Konflikt verursachen. 3. Kriege als Folge der Hegemoniekrise der Supermächte?
Gleichwohl hat aber die Zunahme der Zahl der Staaten für die Entwicklung der Weltgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sichtbare Veränderungen eingeleitet, deren Auswirkungen nicht nur im Rahmen der Vereinten Nationen sondern auch für den Machtverfall der Supermächte zu beobachten sind. Ob diese Entwicklung — in Analogie zum Untergang der Weltreiche — Folge der Ausscheidungskämpfe für eine weltpolitische Vormachtstellung ist, wie es D. Senghaas andeutet oder eine vorübergehende Erscheinung im Sinne der „Kondratieffschen“ Theorie der Langen Wellen, wie es W. L. Bühl interpretiert kann nicht eindeutig beantwortet werden. Gleichwohl aber scheint diese Beobachtung eine plausiblere Erklärung für die Häufung von Kriegen zu liefern; wenn auch sicherlich nicht als deren Ursache, sondern als einer von mehreren auslösenden Faktoren. Indizien hierfür liefert eine Betrachtung des internationalen „Krisenmanagement“ der Supermächte im letzten Jahrzehnt. Konnten diese bis weit in die siebziger Jahre durch ein erfolgreiches Eingreifen viele Konfliktparteien zum Einlenken zwingen — im Falle der Türkei, die 1964 eine Invasion Zyperns androhte, im indisch-pakistanischen Krieg 1965 oder im vierten Nahostkrieg 1973—, so haben sich ihre Einflußmöglichkeiten seit dieser Zeit erheblich vermindert. Weder die Sowjetunion hat es 1976 vermocht, Syrien von einer Intervention im Libanon abzuhalten, noch haben die USA gegenüber Israel durchsetzen können, daß die israelische Regierung die klar zu erkennenden amerikanischen Wünsche hinsichtlich des Libanons, des Palästinenser-Problems, des Jerusalem-Status oder der Siedlungspolitik beachtete — von der Rolle der Supermächte im iranisch-irakischen Krieg, wohl ein Wendepunkt in Richtung auf eine größere Verselbständigung von Konflikten, einmal ganz zu schweigen
Diese hier nur ansatzweise skizzierten Entwicklungen lassen sich auf folgende Faktoren zurückführen, die zudem auch Rückschlüsse auf die Bereitschaft und die Fähigkeiten der Staaten in der Dritten Welt erlauben, ihre Kriege selbst zu entfachen und zu führen:
1. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß die beiden Supermächte durch eine Reihe von Umständen an der vollen Entfaltung ihrer Macht gehindert sind, besonders durch das Risiko einer direkten Konfrontation sowie durch die Unmöglichkeit, sich über die Lösung akuter Konflikte zu einigen, und dies auch gegenüber ihrer Klientel durchzusetzen Von Bedeutung ist aber auch angesichts ihrer „nuklearen Monomanie“ die Nichtangemessenheit dieser Macht im Rahmen der örtlichen Gegebenheiten. Gegen soziale Bewegungen und Strömungen wie die Revitalisie36) rung des Islams nutzen militärische Instrumente nichts, die Atomwaffen am wenigsten. Als Ergebnis kann festgehalten werden die schwindende Fähigkeit der Supermächte, ihre Partner in der Dritten Welt zu beeinflussen. 2. Die Möglichkeiten der Supermächte werden aufgrund der „Über-Verpflichtung“ (overcommitment) weiter eingeschränkt Keine Super-macht verfügt über die Mittel und den Willen, um überall in der Welt die Verpflichtungen zu erfüllen, die sie eingegangen ist Es ist offensichtlich geworden, daß, wer alle Regionen der Welt gleichermaßen für lebenswichtig hält, auch als Supermacht vor dem Problem der Machtverzettelung steht. Dies hat zur Folge, daß sie ihre Rolle nur noch eingeschränkt wahrnehmen kann. Daß dabei die Fähigkeit, Verpflichtungen einzulösen, zweifellos notleiden wird — und mit ihr die Glaubwürdigkeit der Garantie—, braucht nicht sonderlich betont zu werden Gerade weil die Möglichkeiten und Glaubwürdigkeit der Supermächte — als Garantiemächte — heute weit mehr begrenzt sind als je zuvor, wird es für sie immer schwieriger, ihre jeweilige Klientel-macht unter Kontrolle zu bringen und somit auch von der Auslösung von Kriegen abzuhalten. Sie haben allenfalls eine „reaktive“ Eingreifmöglichkeit: immer dann, wenn die Balance vorübergehend gestört ist und wenn sie zur Wiederherstellung des Status quo gerufen werden. 3. Der entscheidendste Faktor in bezug auf die Zunahme von militärischen Konflikten in der Dritten Welt ist der schwindende Einfluß der Supermächte auf die quantitative und qualitative Expansion des Rüstungsexportes in der Dritten Welt und die Diversifizierung der Rüstungsim- portquellen — in vielen Fällen auf andere Entwicklungs-und Schwellenländer. Hinzu kommt sicherlich der Aufbau einer eigenen Rüstungsproduktion in vielen Staaten der Dritten Welt Historisch betrachtet, besaßen die Supermächte bzw. die Großmächte nur dort die Fähigkeit, ihre Klientel zur Unterlassung krisenverschärfender Handlungen zu veranlassen, wo sie auch über das Monopol der Waffenlieferungen verfügten. Doch diese Bedingungen scheinen inzwischen nur noch in relativ wenigen Regionen der Erde gegeben zu sein. Ob allerdings diese Entwicklung lange anhalten wird, um schlechthin das Monopol westlicher und östlicher Industriegesellschaften zu brechen und in Analogie zur Nachrüstung der Sowjetunion zwischen 1945 und 1965 — die das Nuklearmonopol der USA gebrochen hat — auch hier zur Grundlage von „Gegenmachtbildungen“ zu werden, wie es D. Senghaas diagnostiziert wird sich erst noch erweisen müssen; zumal zur Zeit die Rüstungsproduktion in den Staaten der Dritten Welt begrenzt ist und nur 2% bis 2, 5% der Weltproduktion von Großwaffen beträgt. Dennoch scheint einiges für die Aufforderung St. Hoffmanns zu sprechen, das anachronistische Bild zu korrigieren, demzufolge die „Unverschämtheit der Pygmäen das Ergebnis amerikanischen Machtverfalls“ sei, und statt dessen zu prüfen, ob — und hierfür sprechen einige der skizzierten Entwicklungen — „nicht der Verfall das Ergebnis des Pygmäenwachstums“ sei
Die oben ausgeführten Entwicklungen stellen noch keine überzeugenden Erklärungen der Kriegsursachen dar. Gerade weil Kriege nicht von heute auf morgen und unvermittelt ausbrechen, muß die Kriegsursachenforschung — wenn sie sich nicht allein damit begnügen will, Ex-post-Feststellungen zu machen, sondern als eine Art „wissenschaftlicher Wetterdienst zur Warnung vor Kriegsausbrüchen“ zu fungieren — sich in erster Linie mit jenen Faktoren näher beschäftigen, die D. Ruloff mit „kriegsträchtige Situationen“ umschrieben hat 4. Kriege als Folge der Unterentwicklung?
Insbesondere hinsichtlich der innerstaatlichen Konflikte (s. Typ A und B in Tabelle 2) ist es inzwischen zu einem unumstößlichen Glaubenssatz der Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik geworden, diese auf rein sozio-ökonomische Instabilitäten, Not, Armut und Hunger zurückzuführen. So wird nicht erst jetzt die Entwicklungspolitik als Teil der weltweiten Friedenspolitik verstanden, wie es im sechsten Jahresbericht der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik vom März 1985 heißt, sondern die Entwicklungspolitik wurde stets aufgefaßt als „langfristige Friedenssicherung durch Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts der Entwicklungsländer“ In diesem Zusammenhang kann jedoch angemerkt werden, daß die gesamte Welt in Flammen stehen würde, wenn „allein das Ausmaß wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung und Entsprechung über die politische Stabilität oder die Geneigtheit der Bevölkerung zur Revolte entscheiden“ würde
Der Zusammenhang zwischen ökonomischen Krisen und militärischen Konflikten scheint dennoch an Plausibilität durch die Beobachtung zu gewinnen, daß einerseits die Eliten der Dritten Welt bei zunehmenden internen Konflikten und Instabilitäten versucht sind, diese zu externalisieren. Es ist ihr Ziel, durch Gruppenkohäsion integrative Auswirkungen im Inneren zu erlangen und möglicherweise zur Auflösung des inneren Aggressionsstaus gegenüber der eigenen Herrschaft beizutragen. Das Entscheidende dabei ist, daß in der Regel Konflikte verschärft werden — etwa mit Nachbarstaaten —, die schon seit längerem Gegenstand von Interessengegensätzen und -konflikten sind, und die Regierungen davon ausgehen können, daß ihre Politik auf eine breite Zustimmung stößt. Andererseits gilt: Je größer die politische Instabilität aufgrund sozio-ökonomischer Disparitäten ist, desto verwundbarer sind die Staaten für Eingriffe von außen und desto häufiger und intensiver sind die verbalen und nicht-verbalen Angriffe von Nachbarländern gegen das innenpolitisch geschwächte Regime, was die Wahrscheinlichkeit von gewaltsamen Zusammenstößen erhöht -5. Kriege als Ergebnis kolonialer Vergangenheit?
Insbesondere hinsichtlich der Neigung der Herrschaftseliten der Dritten Welt, Konflikte nach außen zu verlagern, könnte sich die sogenannte Kolonialismus-Hypothese als relativ nützlich erweisen; sie besagt, daß gegenwärtigen Konflikten ältere Konflikte zugrunde liegen, deren historische Wurzeln bis tief in die vor-koloniale Zeit zurückreichen. In der Tat scheint für eine überraschend große Zahl der Kriegstypen B und C (s. Tabelle 2) das „Faktum einer Eroberung irgendwann in der Vergangenheit“ eine Rolle gespielt zu haben Als elementare Voraussetzung für das Entstehen zahlreicher Konflikte wird dabei, wenn auch sicherlich in mannigfacher Variation, die politische „Nachwirkung des historischen Prinzips der Eroberung“ angesehen Sowohl eine retrospektive Betrachtung des Verlaufs des Kolonialismus als auch die Begründungen und Rechtfertigungen der Konflikte durch die involvierten Parteien und auch die Beobachtungen, daß Staaten mit vielen kolonialen Grenzen besonders häufig in Kriege verwickelt sind — während der Zusammenhang zwischen nichtkolonialen Grenzen und Kriegsteilnahme nicht signifikant zu sein scheint —, liefern eine Reihe von Indizien für den wirksam werdenden Mechanismus der kolonialen Vergangenheit beim Auslösen von Konflikten. Dieser Mechanismus läßt sich auf zwei Beobachtungen zurückführen:
Erstens die Neigung der Kolonialmächte bei der Errichtung ihrer Kolonialherrschaft, schon vorhandene Konflikte auszunutzen und als von außen kommende Schiedsrichter sich in die Position von Vermittlern zu lavieren. Dies erlaubte ihnen in der Regel, durch eine auch ihren imperialen Interessen dienliche Friedensordnung — „pax colonialica" — die Konflikte vorübergehend beizulegen
Zweitens und noch gravierender ist, daß die Kolonialmächte— wegen ihrer mangelnden Kenntnisse der genauen Verhältnisse und der historischen Voraussetzungen dieser Grenzkonflikte — keine in die Zukunft weisenden Kriterien hatten, um zu entscheiden, zu wessen Gunsten sie die zahlreichen Konflikte lösen sollten. So begnügten sie sich mit der für die spätere Entwicklung verheerenden Taktik, jene einheimischen Kräfte zu stützen, die aus Eigeninteresse bereit waren, den inneren Frieden in Zusammenarbeit mit den Kolonialherren aufrechtzuerhalten oder sich ohne größere gewaltsame Konflikte den neuen Kolonialmächten zu unterstellen 6. Kriege als Folge des internen Kolonialismus?
Angesichts des Mechanismus der „Konfliktkonservierung“ verwundert es kaum, wenn viele dieser Konflikte sogleich in der nachkolonialen Phase wieder ausbrechen, insbesondere dort, wo deren politische und soziale Konsequenzen noch nicht soweit bewältigt sind, daß die durch sie entstandenen Herrschaftsverhältnisse legitimiert worden wären.
Diese Interpretation scheint insbesondere auf den Kriegstypus B zuzutreffen. Diesem Kriegstyp sind Sezessionskriege zuzurechnen, die von religiös, sprachlich oder rassisch definierten Gruppen geführt wurden. Dabei spielt auch die empfundene Unterprivilegierung dieser Gruppen gegenüber der einer anderen Gruppe angehörenden Herrschaftselite eine nicht zu unterschätzende Rolle, da sie als eine Art Fremdbestimmung wahrgenommen wird. Diese Perzeption der Ursachen bedarf aber sicher noch weiterer Differenzierungen da neben der Unterscheidung äußerlicher Merkmale wie ethnische, rassische, religiöse und sprachliche Charakteristika erst eine Differenzierung nach gesellschaftlichen Merkmalen schlüssige Auskünfte über die Brauchbarkeit dieser Interpretation zu geben in der Lage sein wird — etwa hinsichtlich der Zahl und Größe der Minderheiten in der jeweiligen Gesellschaft, des Grades der Diskriminierung, der Art der sozialen Interaktion zwischen den Minderheiten und den dominanten Gruppen und schließlich der verschiedenen Ziele, um die die Minderheiten kämpfen und die die dominanten Gruppen verfolgen Insbesondere bei der Betrachtung der letztgenannten Merkmale ist es unabdingbar, die Ziele der beteiligten Gruppen näher zu bestimmen, will man nicht so unterschiedliche Minderheiten wie die „pluralistische“, die „integrierende“, die „sezessionistische“ und schließlich die „militante“ mit ihren jeweils unterschiedlichen bis konträren Zielsetzungen in einen Topf werfen. 7. Kriege als Nachholprozeß?
Eine nähere Differenzierung der Zielsetzungen von unterschiedlichen Minderheiten würde auch nähere Auskünfte über die Hypothese geben, die die Territorialkonflikte letztlich auf einen Nachholprozeß im Wege der Konsolidierung des von den Kolonialmächten hinterlassenen künstlichen Nationalstaates zurückführt Zweifellos lassen sich viele der zwischen-und innerstaatlichen Kriege darauf zurückführen, daß der Kolonialismus in vielen Regionen der Welt nicht nur unterentwickelte Wirtschaftsstrukturen hinterlassen hat, sondern auch ein „balkanisiertes", in eine große Anzahl von vielfach kaum lebensfähigen Einheiten aufgesplittertes Mikro-Staatensystem. Entscheidend an diesem Phänomen scheint jedoch der Umstand zu sein, daß der Begriff „Nation“ bzw. „Nationalstaatlichkeit“, den die Kolonialmächte oder kleine Führungseliten in die Diskussion der nachkolonialen Zeit einführten, in seiner praktischen Auswirkung vielfach den territorialen, ethnischen, religiösen und geographischen Traditionen entgegensteht. Eine nationale Struktur gehört in der Regel ja nicht zum politischen oder kulturellen Erbe der „alten Großreiche der tributären Produktionsweise“ Denn außer Korea, China (mit Minderheiten im Süden und Osten), Vietnam (mit den Minderheiten der Bergvölker), Persien (mit nationalen Minderheiten), der Türkei (mit nationalen Minderheiten) und Somalia war kein Staat des Südens in der Alten Welt durch ein einziges Staatsvolk getragen Dieser Umstand scheint die Vermutung zu bestätigen, daß die Staaten der Dritten Welt durch die Sezessions-und Grenzkriege jenen Prozeß nationaler Konsolidierung nachzuvollzie-hen im Begriff sind, den Europa in den letzten zwei-bis dreihundert Jahren durchlaufen hat. Denn auch in Europa ist erst infolge der territorialen Konsolidierung der Nationalstaat zur Ausdrucksform nationaler Ansprüche geworden, was seinerseits zur inneren Konsolidierung der Staaten beitrug (bei Beibehaltung ethnisch-religiöser Unterschiede).
Diese kurz skizzierten Tatbestände scheinen insgesamt die Vermutung zu bestätigen, daß —jenseits der aktuellen weltpolitischen Einflußfaktoren — die eigentlichen „kriegsträchtigen“ Situationen als Ursache kriegerischer Konflikte erst durch eine genaue Analyse der geschichtlichen Entwicklung erfaßt werden können. Doch nicht nur die bisherige Kriegsursachenforschung, sondern auch die Entwicklungsforschung scheinen bislang die Tatsache verdrängt zu haben, daß, wie Th. Hanf treffend formuliert hat, „so wenig wie die Vereinten Nationen vereint sind, so wenig sind die meisten ihrer Mitglieder Nationen“
Es stellt sich die Frage, ob das zu Beginn diagnostizierte „Unbehagen“ über die Diskrepanz zwischen den Entwicklungszielen und -modellen und den tatsächlich erreichten Ergebnissen sich auch darauf zurückführen läßt, daß die Entwicklungsexperten bislang —einseitig auf Ökonomie konzentriert — viel über die „strukturelle Heterogenität“, die „Rolle des Staates“ und der „Staatseliten im peripheren Kapitalismus“ reflektiert und Bibliotheken mit Veröffentlichungen über die Unmöglichkeit der „Übertragung westlicher Modernisierungskonzepte“ auf die Staaten der Dritten Welt gefüllt haben, aber andererseits das tiefergehende Problem vieler Staaten — die notwendige „Verdauung“ der Übertragung des europäischen Staatsgedankens in Gestalt des Prinzips Nationalstaatlichkeit— nicht hinreichend thematisiert haben. Es könnte sich herausstellen, daß das Scheitern der entwicklungspolitischen Bemühungen in der Dritten Welt letztlich die logische Konsequenz jener trügerischen Hoffnungen der nachkolonialen Ära war, durch die Schaffung von Nationen —Nation Building — ließe sich analog zu europäischen und US-amerikanischen Erfahrungen eine heterogene Gesellschaft homogenisieren, um somit bessere Voraussetzungen für Demokratie und Entwicklung auch in diesen Regionen zu erreichen.
III. Perspektiven
Perspektiven aufzuzeigen kann letztlich nichts anderes sein als die Projektion der vergangenen und gegenwärtigen Situationen und Trends auf die Zukunft. Sie sind immer mit dem Mangel behaftet, durch künftige Entwicklungen ad absurdum geführt zu werden. Dies gilt sicherlich insbesondere für Voraussagen über die weitere Entwicklung von zu prognostizierenden Konflikten in der Dritten Welt. Folgende Faktoren deuten dennoch darauf hin, daß eine kurz-bis mittelfristige Stabilisierung der Dritten Welt in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist:
1. Die unterschiedliche Ressourcenausstattung der einzelnen Länder und eine stärkere Differenzierung innerhalb der Dritten Welt fördern das Konfliktpotential der gesellschaftlichen Strukturen und der territorialen Grenzen eher als daß sie es eindämmen würden. 2. Angesichts der sozio-kulturellen und sozioökonomischen Dimensionen vieler Konflikte ist zu befürchten, daß sich die Ursachen und die Anlässe militanter Konflikte vervielfachen werden, da die dramatische wirtschaftliche Situation in den meisten Staaten der Dritten Welt — Hunger, Verschuldung u. v. m. — innere Unruhen intensiviert und umstürzlerische Tendenzen sowie Versuche der Eliten zur Externalisierung von Konflikten neue zwischenstaatliche Spannungen und Konflikte vorprogrammiert.
3. Schließlich ist aufgrund der Komplexität des Ursachenproblems und als Folge der begrenzten Möglichkeiten, von außen auf diese politischen und gesellschaftlichen Prozesse einzuwirken, nicht damit zu rechnen, daß in naher Zukunft weniger Kriege, welchen Typs auch immer, stattfinden werden. Ganz im Gegenteil!
Mir A. Ferdowsi, Dr. phil., Dipl. sc. pol., geb. 1946 im Iran; seit 1965 in der Bundesrepublik Deutschland; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Dritte Welt am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften der Universität München; Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik in München. Veröffentlichungen u. a.: Der positive Frieden, München 1981; (zus. mit R. Bockhorni, Peter J. Opitz u. a.) Ausländerstudium in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von der Otto Benecke-Stiftung, Baden-Baden 19872; (Herausgeber) Johan Galtung: Self-Reliance. Beiträge zu einer alternativen Entwicklungsstrategie, München 19852; (Herausgeber) Die Verträge von Lome zwischen Modell und Mythos. Zur Entwicklungspolitik der EG in der Dritten Welt, München 1983; Die Ursprünge und der Verlauf des iranisch-irakischen Krieges, hrsg. vom Forschungsinstitut für Friedenspolitik, Starnberg 1985, sowie diverse Beiträge über Iran, Re-Islamisierung, Nord-Süd-Konflikt und Fragen der internationalen Politik in Zeitschriften, Handbüchern und Lexika.
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