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Sind 200 Jahre genug? Zur Debatte um eine Reform der amerikanischen Verfassung | APuZ 30-31/1987 | bpb.de

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APuZ 30-31/1987 Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika Sind 200 Jahre genug? Zur Debatte um eine Reform der amerikanischen Verfassung Die Verfassungsentwicklung in Frankreich seit 1789 Die Verfassung vom 3. Mai 1791 — das erste polnische Grundgesetz

Sind 200 Jahre genug? Zur Debatte um eine Reform der amerikanischen Verfassung

Andreas Falke

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Aufsatz nimmt das 200jährige Verfassungsjubiläum zum Anlaß, die Frage zu stellen, ob die amerikanische Bundesverfassung und das Regierungssystem, das sie begründet, noch einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft am Ausgang des 20. Jahrhunderts angemessen ist. Im Vordergrund stehen dabei die Thesen des „Committee on the Constitutional System“, einer Kommission von hochrangigen Regierungsbeamten, Kongreßmitgliedern und Wissenschaftlern aus beiden Parteien, die die in der Verfassung verankerte Form der Gewaltenteilung für die zunehmende Tendenz zur Handlungsunfähigkeit und zu Pattsituationen im amerikanischen Regierungssystem verantwortlich machen. Die Grundstrukturen des amerikanischen Regierungssystems, so die Schlußfolgerung der Kritiker, seien immer noch an Vorstellungen des 18. Jahrhunderts orientiert, aber nicht mehr einem innenpolitisch aktiven und international engagierten Staat angemessen. Unter Verfassungsreform werden hier nicht die einzelnen Vorschläge für Verfassungszusätze (amendments) behandelt, die primär aus politisch-ideologischen Gründen gemacht werden (school prayer, abortion, balanced budget), sondern Vorschläge, die die Struktur des Regierungssystems betreffen. Die Gründe und die Vorschläge für eine Regierungsreform, die auf eine Milderung des Gewaltenteilungsgegensatzes hinauslaufen, werden einer eingehenden Analyse unterzogen. Dabei wird herausgearbeitet, daß eine derartige Regierungsreform nur als eine Gesamtkonzeption aufeinander abgestimmter Maßnahmen erfolgen kann, mithin auf eine Totalrevision der amerikanischen Verfassung hinausläuft. Als Problem stellt sich hier jedoch, daß damit systemfremde, häufig dem europäischen Parlamentarismus entlehnte Elemente in die amerikanische Verfassung eingeführt würden, die eine delikate Balance zerstören müßten. Die Aussichten für eine solche Reform werden deshalb als äußerst gering eingestuft. Dieses Urteil wird zusätzlich dadurch bestärkt, daß die prozeduralen Barrieren für eine Verfassungsreform äußerst hoch sind und daß die amerikanische Verfassung und das Grundprinzip der „checks and balances" die politischen Abläufe in den USA so stark geprägt haben, daß sie zu zentralen, identitätsstiftenden Elementen der amerikanischen Gesellschaft geworden sind, die die Amerikaner schwerlich zugunsten einer reibungsloseren Funktionsweise ihres Regierungssystems aufgeben würden.

L Einleitung

Die amerikanische Nation feiert in diesem Jahr den 200. Jahrestag ihrer Bundesverfassung. Dies ist in der Tat ein außerordentliches Ereignis. Die USA können auf 200 Jahre politischer Tradition unter einer rechtsstaatlichen Verfassung zurückblicken. Hervorstechendes Merkmal der Verfassungsentwicklung ist die Flexibilität und die Anpassungsfähigkeit der Bundesverfassung von 1787. Die Anpassung an sich wandelnde gesellschaftliche Umstände erfolgte durch Uminterpretation wichtiger Verfassungsmaximen durch den obersten Gerichtshof, aber auch durch die Entwicklung zentraler Momente des politischen Prozesses (z. B. Parteien, Wahlrecht, Verwaltungsstrukturen, parlamentarische Verfahrensregeln) zu einer „ungeschriebenen Verfassung“ -Unter dem Dach der Verfassung haben sich gewohnheitsmäßige Verfahren ohne Verfassungsrang etabliert, die das Regierungssy-. stem immer wieder an neue Anforderungen anpassen konnte. Aus dieser Flexibilität und Innovationsfähigkeit erklärt sich wohl die Stabilität der amerikanischen Demokratie und die Kontinuität der politischen Kultur. Die USA sind nie anfällig gewesen für die totalitäre Versuchung, und vielleicht ist dieses Faktum auf die Anpassungsfähigkeit der Verfassung zurückzuführen. Man kann also mit gutem Grund behaupten, daß sich die amerikanische Verfassung gerade deshalb bewährt hat, weil sie dynamisch und entwicklungsfähig war.

Gleichwohl läßt sich auch ein erstaunliches Beharrungsvermögen, ja Konservatismus verfassungsmäßiger Strukturen, feststellen, insbesondere der Bestimmungen, die die Grundstrukturen des politischen Systems festlegen. Hier haben sich in den letzten 200 Jahren fast keine Veränderungen ergeben. Von der an sich schon geringen Zahl von Verfassungsänderungen (amendments) hatten lediglich zwei wirkliche Auswirkungen auf die institutionelle Struktur des amerikanischen Regierungssystems Die Grundstrukturen des Regierungssystems der Gewaltenteilung (checks and balances) bestimmen heute noch die Abläufe der amerikanischen Politik. Dies bedeutet, daß wir es mit einem Regierungssystem des 18. Jahrhunderts zu tun haben. Es kann deshalb nicht verwundern, daß dieser Umstand Anlaß zur Frage gegeben hat, ob das Regierungssystem noch heutigen Umständen angemessen ist, genauer, ob es nach 200 Jahren nicht an der Zeit ist, eine umfassende Revision vorzunehmen und die verfassungsmäßigen Grundlagen des Regierungssystems den gewandelten Verhältnissen anzupassen.

II. Die Gewaltenteilung als Gründlage des amerikanischen Regierungssystems

Die Form der Gewaltenteilung, die in der amerikanischen Verfassung verankert ist, beinhaltet nicht eine bloß personelle oder institutionelle Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative. Die Gewaltenteilung im amerikanischen Regierungssy-stem bedeutet nach dem berühmten Diktum von Richard Neustadt „separate institutions, sharing powers“ Ganz im Geiste Montesquieus wollten die Verfassungsväter keine Aufteilung der drei staatlichen Grundfunktionen aufje ein Staatsorgan, sondern eine Integration durch Ineinanderwirken und Verschränkung. „Separation of powers“ bedeutet also nicht nur Trennung im institutionellen Sinne, sondern auch Teilhabe aller Instanzen an den Staatsfunktionen. Diesem Zwecke sollte ein„biending of powers“, eine Mischung der funktionalen Gewalten und Zuständigkeiten dienen.

Entscheidend aber ist, daß die integrative Gewaltenverschränkung in Form einer gegenseitigen Kontrolle, der berühmten „checks and balances", wirkt. Die Teilhabe an den staatlichen Grundfunktionen besteht in Vetopositionen, das heißt in einem Kontrollrecht gegenüber der anderen Gewalt Der Kongreß ist z. B. in der Gesetzgebung nicht souverän, sondern muß seine Rolle mit dem Präsidenten teilen, der gegen Gesetze ein Vetorecht hat, das nur mit Zweidrittelmehrheit beider Häuser überstimmt werden kann. In die Sphäre der Exekutivvollmachten dringt umgekehrt die Legislative insofern ein, als der Senat die Berufungen des Präsidenten (Minister, Botschafter und andere hohe Exekutivbeamte) bestätigen muß. Das gleiche gilt für Verträge, die der Präsident abschließt, wobei hier eine Zweidrittelmehrheit zur Ratifizierung erforderlich ist. Der Präsident ist der oberste Befehlshaber der Streitkräfte, aber die Kriegserklärung bleibt dem Kongreß vorbehalten. Der Vizepräsident fungiert als Präsident des Senats und hat bei Stimmengleichheit die entscheidende Stimme. Die Verschränkung der staatlichen Funktionen wird innerhalb des Kontrollkonzeptes soweit getrieben, daß die Legislative im Amtsenthebungsverfahren (impeachment) gegenüber dem Präsidenten judikative Funktionen übernimmt: Das Repräsentantenhaus ist für die Anklageerhebung zuständig, der Senat für die Urteilsfindung.

Die Interdependenz, die die Gewaltenverschränkung erzeugen soll, wird jedoch konterkariert durch die strikte institutioneile Unabhängigkeit von Legislative und Exekutive: Der Präsident und die beiden Häuser des Kongresses haben jeweils eine völlig unabhängige elektorale Legitimitätsbasis. Sie werden in getrennten Wahlverfahren gewählt, und wenn man den Ursprungstext der Verfassung zugrundelegt, auch nicht von denselben Wahlinstanzen Die auf verschiedenen Wahlverfahren beruhende Isolierung der Instanzen des Regierungssystems wird zudem noch verstärkt durch das Verbot jeder personellen Verschränkung von Exekutive und Legislative. Die Unvereinbarkeitsklausel der Verfassung in Art. I, 6 verfügt, daß kein Mitglied der Exekutive während seiner Amtszeit gleichzeitig Mitglied des Kongresses sein darf Gewaltenteilung bedeutet also strikte institutioneile Isolierung von Legislative und Exekutive.

Die gegenseitigen Kontroll-oder Vetofunktionen der „checks and balances“ begründen die Unabhängigkeit von Legislative und Exekutive im amerikanischen Regierungssystem. Sie bezwecken, Über-griffe der einen Instanz auf die andere zu verhindern und so die Integrität jeder Instanz zu sichern. Jede Instanz soll in der Ausübung ihrer Zuständigkeiten und in ihrer institutioneilen Unabhängigkeit nicht bedroht werden können und für ihre politisch-institutionelle Existenz nicht auf die andere Gewalt angewiesen sein. Deshalb soll die Legislative nicht den Präsidenten wählen — dies würde ein Abhängigkeitsverhältnis bedeuten —, und deshalb soll der Präsident kein Mitglied des Kongresses in die Exekutive berufen, da eine derartige Berufung als Bestechung und Kompromittierung der Unabhängigkeit des Kongreßmitgliedes verstanden werden müßte So begründet sich ein Dualismus von Legislative und Exekutive statt eines Dualismus von Mehrheit und Opposition wie im parlamentarischen System. Dieser Dualismus wird noch verstärkt durch den Bikameralismus, das Zweikammersystem, das die Legislative in Repräsentanten-haus und Kongreß aufteilt und somit eine Trennung und gegenseitige Kontrolle der beiden Kammern beinhaltet.

Diese Form der Gewaltenteilung war nie umstritten. James Madison nannte sie in den Federalist Papers „the sacred maxim of free government“. Da die Gründungsväter sowohl die Furcht vor dem Despotismus der Monarchie als auch die Furcht vor den Exzessen der Demokratie in der Legislative beherrschte, waren sie bestrebt, jegliche Machtkonzentration zu verhindern Die „Separation of powers“ zielt also primär auf die Verhinderung von Machtmißbrauch und Machtkonzentration. Mit der Ausbalancierung der Instanzen schufen die Gründungsväter ein Regierungssystem, das die politische Konsens-und Entscheidungsfindung dem Veto und den Sanktionsvollmachten der anderen Instanzen unterwirft. Im normalen politischen Prozeß müssen drei Instanzen, die in ihrer politischen Existenznicht aufeinander angewiesen sind, zur Überein-stimmung kommen. Damit steht aber jegliche politische Initiative und die praktische Durchsetzung von Entscheidungen vor großen Hürden.

Diese Lage wird auch nicht durch das einigende Band gleicher Parteizugehörigkeit kompensiert. Das politische System mit seinen vielen gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten und getrennten Wahl-verfahren ist vielmehr so konstruiert, daß es die Vorherrschaft einer Partei oder politischen Gruppierung geradezu verhindern soll Deshalb werden die Sitze im Kongreß von einzelnen Distrikten oder im Falle des Senats auf der Basis der Einzelstaaten gewählt. Zudem wurden die Wahltermine auseinandergerissen, so daß nie alle Ämter zur gleichen Zeit zur Wahl stehen. Nur die Präsidentschaft ist als ein nationales Wahlamt konzipiert, das jedoch in der Ursprungskonzeption nicht über eine direkte Wahl, sondern von Wahlmännern besetzt wird, die von den einzelstaatlichen Legislativen gewählt werden. Aufgrund dieser isolierten Wahl-verfahren ist die Möglichkeit gegeben, daß Exekutive und Legislative von verschiedenen Parteien beherrscht werden, was den Gegensatz zwischen den Instanzen weiter festschreibt. Aus Sicht parlamentarischer Systeme besteht im amerikanischen Regierungssystem die scheinbar paradoxe Möglichkeit, daß die Opposition im Parlament die Mehrheit hat. Mit der parteipolitischen Überlagerung des amerikanischen Regierungssystems gewinnt der Gewaltenteilungsgegensatz erst seine eigentliche Brisanz. Dies gilt auch dann, wenn Kongreß und Präsident von einer Partei mehrheitlich beherrscht werden, denn Parteien sind als nationale Organisationen schwach und allein am Präsidentschaftswahl-verfahren orientiert. Alle anderen Wahlämter im Kongreß bedürfen keiner nationalen Parteiorganisation und neigen daher auch eher dazu, regionale oder lokale Interessen zu artikulieren, die Parteidisziplin aber kleinzuschreiben. Es ist ein Charakteristikum amerikanischer Parteien, daß sie einerseits stark genug sind, um bei unterschiedlicher Parteikontrolle den Gewaltenteilungsgegensatz zu verschärfen, andererseits aber zu schwach sind, um ihn bei einheitlicher Parteikontrolle zu überwinden.

Die Gewaltenteilung bedeutet zwar ein Mehr an Freiheit, aber auch einen Verlust an Regierungseffizienz. Das System der Gewaltenteilung kann daher zu einer gegenseitigen Lähmung der Politik führen. So ist es keine Überraschung, daß die an einem effizienteren und durchsetzungskräftigeren Entscheidungsprozeß interessierten Befürworter von Verfassungsreformen die Gewaltenteilung zum Ausgangspunkt ihrer Kritik machen und für eine Milderung oder Überwindung des Gewaltenteilungsgegensatzes plädieren.

III. Argumente für eine Revision der Gewaltenteilung durch Verfassungsreform

Vorschläge für eine Reform der Bundesverfassung sind in letzter Zeit vor allem vom Committee on the Constitutional System gemacht worden, einem privaten Zusammenschluß von prominenten Wissenschaftlern, Publizisten und Politikern beider Parteien. Die Gruppe ist ein eher loser pluralistischer Zusammenschluß, der keinem einheitlichen Reformkonzept verpflichtet ist. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, Denkanstöße zu geben; ihre Verlautbarungen benennen ungefähr die Richtung, in welche sich Verfassungsreformen bewegen müßten

Die Reformer gehen davon aus, daß die heutige politische Situation der Vereinigten Staaten nicht mehr mit jener vergleichbar ist, aus der die Verfas-sung vor 200 Jahren entstand. Aus innenpolitischer Sicht sind die Vereinigten Staaten keine agrarische Gesellschaft mehr, in der nur ein geringer Entscheidungs-und Regelungsbedarf vorliegt. Die USA sind eine entwickelte Industriegesellschaft, deren Konfliktlinien sich vielfältig überlagern und die mit erheblichen sozialen Problemen wie Armut, der Krise der Städte, fortgesetzter Einwanderung, Disparitäten im Bildungswesen und einem hohen Haushaltsdefizit fertig werden muß. Deshalb ist staatliche Konfliktlösung notwendig, da staatliche Politik unter dem Druck vielfältiger Interessen notwendigerweise allokative Politik ist, die einen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen herbeiführen muß.

Außenpolitisch sind die Vereinigten Staaten ökonomisch und militärstrategisch nicht mehr isoliert, sondern sie sind eine Weltmacht, die internationaler Verflechtung unterworfen ist und angesichts der atomaren Bedrohung besondere Verantwortung für den Weltfrieden trägt. Ferner ist die Weltwirtschaft heute durch eine viel größere Interdepen-denz gekennzeichnet. Nicht nur hat die wirtschaftliche Entwicklung in den USA Auswirkungen auf die gesamte Welt, sondern auch Entwicklungen in anderen Regionen der Welt haben entscheidende Auswirkungen auf die USA, wie das Auftreten von neuen Konkurrenten auf dem Weltmarkt zeigt. Insgesamt wachsen Innen-und Außenpolitik enger zusammen, so daß viele Politikbereiche viel stärker politisiert werden, weil innen-wie außenpolitische Subsysteme Zusammenwirken müssen, um Entscheidungen herbeizuführen.

Daraus folgt, daß sowohl im innen-wie im außen-politischen Bereich ein hoher Bedarf an staatlichen Entscheidungen besteht. Das politische System ist jedoch häufig nicht entscheidungs-und handlungsfähig, weil drei verschiedene Machtzentren (Präsident, Senat und Repräsentantenhaus), die zu verschiedenen Zeiten gewählt worden sind und verschiedenen Wählergruppen verantwortlich sind, sich einigen müssen. Da eine Einigung in einem System, in dem die Entscheidungsinstanzen nur sehr schwache Bindungen zueinander haben, nur schwer, ja fast nur unter dem Druck von Krisenbedingungen möglich ist, kommt es in der Regel eher zur Handlungsunfähigkeit und zu Politikstillstand. Die Einigung wird zudem durch unterschiedliche Parteikontrolle von Präsident und Kongreß erschwert — eine Situation, die in letzten 32 Jahren für insgesamt 20 Jahre bestanden hat und die auf Stimmensplitting bei Präsidentschafts-und Kongreßwahlen zurückzuführen ist -Die Tendenz zu unterschiedlicher Parteikontrolle führt nach Meinung der Kritiker zu einer vorprogrammierten und institutionalisierten Konfrontationssituation zwischen Präsident und Kongreß. Pattsituationen zwischen Kongreß und Präsident werden zur Dauererscheinung im amerikanischen Regierungssystem „Das Gesamtbild zeigt eine Gesellschaft“, befand das Komittee, „die nicht in der Lage ist, mit den gegenwärtigen Problemen fertig zu werden. Die , checks and balances’, die aus der Erfahrung des 18. Jahrhunderts entwickelt worden sind, haben im 20. Jahrhundert wiederholt zu Politikstillstand und Handlungsunfähigkeit angesichts dringender Probleme geführt.“

Als Beispiele führen die Kritiker die Unfähigkeit von Präsident und Kongreß an, sich auf Strategien zur Reduzierung des astronomisch hohen Haushaltsdefizit zu einigen. Historisch gesehen sind ferner wegen der Begünstigung von Vetogruppen wichtige Politikinitiativen wie der Ausbau des Wohlfahrtstaates und der Bürgerrechte verzögert worden. Die Verfassungsstruktur hat den Aufbau eines modernen Staatswesens lange Zeit verhindert

Ein weiteres Problem verdeutlicht die Frage, wem im System der Gewaltenteilung die Verantwortung für Pattsituationen zuzuschreiben ist. Kongreß und Administration können sich gegenseitig die Verantwortung dafür zuschieben ohne daß eine Instanz deswegen Sanktionen befürchten müßte, weil sie ihre verfassungsmäßige Rolle nicht erfüllt. In der Praxis, so bemängeln die Kritiker, fällt die Verantwortung jedoch auf den Präsidenten zurück, denn er tritt mit einem Programm an, und es wird von ihm erwartet, daß er es durchsetzt. Da der Kongreß nicht verpflichtet ist, ihn zu unterstützen, kann er jedoch nicht mit der Durchsetzung seines Programmes rechnen. Die Gegner des Präsidenten im Kongreß haben die Macht zur Obstruktion, müssen aber nicht mit einem eigenen Programm antreten. Gravierend wirkt sich Obstruktion vor allem im Bereich der Außenpolitik aus, wo der Präsident besondere Verantwortung und ein herausgehobenes Verfassungsmandat hat, führende Kongreßabgeordnete aber eine eigene Außenpolitik vertreten können, so daß die USA in der Außenpolitik mit vielen verschiedenen Stimmen sprechen. Aktivistische Präsidenten beider Parteien von Woodrow Wilson bis zu Ronald Reagan sind immer wieder vom Kongreß gebremst worden. Aufgrund der Zwei-Drittel-Zustimmungspflicht des Senats nach Art. II, 2 hat der Präsident kein souveränes Mandat bei Verhandlungen mit anderen Nationen. Das Verhandlungsergebnis kann von einer Minderheit im Senat zu Fall gebracht werden, wie die Nichtratifizierung des Versailler Friedensvertrags und des Salt-II-Vertrags gezeigt hat. Die Kritiker des Systems sind in dieser Hinsicht kongreßkritisch und setzen auf eine Stärkung der Exekutivvollmachten Allerdings machen die Kritiker nicht allein die formale Verfassungsstruktur für die Probleme des amerikanischen Regierungssystems verantwortlich. Für die eingeschränkte Regierungsfähigkeit werden genauso die Desintegration des Parteiensystems, die Zunahme von Interessengruppen und die Fragmentierung im Kongreß verantwortlich gemacht. Ansätze zur Regierungsunfähigkeit sehen die Kritiker des bestehenden Systems auch dann, wenn eine Regierung bzw. ein Präsident gescheitert ist, ohne daß Gründe (schwere Amtsvergehen oder Verbrechen) vorliegen, die die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens nach Art. II, 4 rechtfertigen, wie der Vertrauensverlust Hoovers in der Weltwirtschaftskrise, die Handlungsunfähigkeit der Präsidenten Truman und Johnson in ihren letzten beiden Amtsjahren und auch die Watergatekrise zeigten Die Kritiker suchen deshalb nach Wegen, einen gescheiterten Präsidenten vor Ablauf seiner Amtszeit abzulösen, z. B. durch ein Mißtrauensvotum des Kongresses gegen den Präsidenten, gefolgt von Neuwahlen

In der Sympathie für ein Mißtrauensvotum kommt unverkennbar eine Sympathie für das parlamentarische Regierungssystem zum Ausdruck. Dies wird besonders deutlich in Lloyd Cutlers paradigmatischem Aufsatz „To Form a Government“ der zum Auslöser der Debatte um eine Verfassungsreform wurde. „Ein besonderer Mangel, gegen den Abhilfe geschaffen werden muß, ist die strukturelle Unfähigkeit unseres Regierungssystems, ein ausgewogenes Regierungsprogramm vorzuschlagen, durch den Gesetzgebungsprozeß zu bringen und durchzuführen. Man könnte sagen, daß es unter der amerikanischen Verfassung gegenwärtig nicht möglich ist, eine Regierung zu bilden.“ Das parlamentarische System, insbesondere das britische Regierungssystem, übt große Anziehungskraft auf die Reformer aus — eine Neigung, die sie mit Woodrow Wilson teilen

Die Debatte um eine Verfassungsreform ist nicht zufällig Ende der siebziger Jahre ausgelöst worden; sie war Reflex der Frustrationen während der Carter-Regierung. Obwohl der Präsident im Kongreß eine Mehrheit hatte, scheiterten wichtige innen-und außenpolitische Vorhaben der Administration (z. B. Energiepolitik, SALT II). Kongreß und Präsident waren in eine Daueropposition geraten das amerikanische Regierungssystem schien unfähig, Politik rational und kohärent zu gestalten. Die Frage nach „governance“, der Regierungsfähigkeit, stellte sich nach den Carter-Jahren unvermeidlich. Im Mittelpunkt der Diagnose stand eine geschwächte Präsidentschaft und die zunehmende Unfähigkeit des Präsidenten, sein Programm durchzusetzen

Mit der Wahl Ronald Reagans schien jedoch das Gefühl der Krise mit einem Mal wie weggeblasen. Ein aktiver, konservativer Präsident schien zu beweisen, daß eine völlige Umorientierung der amerikanischen Innen-und Außenpolitik möglich und daß das Regierungssystem veränderungs-und reaktionsfähig sei Reagans Revitalisierung der Präsidentschaft und sein Erfolg in der Durchsetzung seines Programms im ersten Regierungsjahr schien Kritiker wie Lloyd Cutler Lügen zu strafen und die These zu widerlegen, daß die Patt-und Blockadesituationen dem amerikanischen Regierungssystem inhärent seien. Die These der strukturellen Regierungsunfähigkeit erschien jetzt vielmehr als eine schlechte Rationalisierung der mangelnden Führungskraft und taktischen Fehler der Carter-Regierung. Handlungsunfähigkeit war scheinbar nicht den Institutionen anzulasten, sondern den politischen Führungspersönlichkeiten. Doch die Dynamik der Reagan-Administration kam im innenpolitischen Bereich schon im zweiten Regierungsjahr zum Stillstand. Vertraute Policy-Engpässe und Pattsituationen traten wieder auf

Die Erfahrung mit einem widerspenstigen Kongreß änderte nun die Konfliktlinien der Debatte um eine Verfassungsfeform. Diese Debatte war im gewissen Sinne immer eine Debatte zwischen Progressiv-Liberalen und Konservativen gewesen. Die Liberalen sahen die Gewaltenteilung als Hindernis für den Wohlfahrts-und Eingriffsstaat an und plädierten für deren Reform die Konservativen dagegen sahen sie als Schutz gegen einen zu aktiven Staat und lehnten jede Reform ab. Doch nach den einschlägigen Erfahrungen der Reagan-Regierung begann das Projekt einer Verfassungsreform auch bei den Konservativen Anklang zu finden. Ein Perspektivenwechsel hat stattgefunden und es ist möglich, daß die Verfassungsreform das Anliegen beider politischer Parteien werden könnte, was sich auch in der Zusammensetzung des Committee on the Constitutional System widerspiegelt. Denkbar ist aber auch, daß der Perspektivenwandel symmetrisch verläuft und die Liberalen unter dem Eindruck der Attacke der Reagan-Regierung auf liberale Programme und Institutionen Gefallen an einem System finden, das einer radikalen Umstrukturierung der Politik durch Gewaltenteilung und -Verschränkung Grenzen setzt

IV. Vorschläge für eine Reform der Verfassung

Sämtliche Reformvorschläge laufen auf eine Milderung des Gewaltenteilungsgegensatzes hinaus. Die Maßnahmen bezwecken, Handlungsfähigkeit herzustellen, ohne die Machtbalance zwischen den Instanzen des amerikanischen Regierungssystems zu verändern. Das Committee on the Constitutional System hat keine umfassenden Reformvorschläge gemacht, sondern nur einen begrenzten Reformkatalog verabschiedet Im folgenden wird jedoch ein Gesamtpaket von Maßnahmen vorgestellt, das von dem Politologen James S. Sundquist von der Brookings Institution entwickelt worden ist und die Basis für das Minderheitenvotum abgegeben hat. 1. Zur Verhinderung unterschiedlicher Parteikontrolle von Kongreß und Präsidentschaft (Forestalling Divided Government)

Um unterschiedliche Parteikontrolle von Exekutive und Legislative zu verhindern, empfiehlt der Sundquist-Plan, das Stimmensplitting durch die Einführung einer Parteilistenwahl von Präsident und Kongreß unmöglich zu machen, so daß der Wähler gezwungen wäre, für den Präsidenten und den Kongreßkandidaten der gleichen Partei zu stimmen (The Presidential-Congressional Team Ticket). Diese Reform würde automatisch zu gleicher Parteikontrolle von Präsidentschaft und Kongreß führen und dafür sorgen, daß Kongreßabgeordnete und Präsident enger an einander gebunden würden

Eine weitere Möglichkeit, die gleichzeitige Dominanz einer Partei im Kongreß und in der Präsidentschaft zu erreichen, sieht Sundquist darin, der siegreichen Partei bei den Präsidentschaftswahlen so viele Bonussitze im Kongreß zu geben, daß sie in beiden Kammern die Mehrheit hat. Dies würde dem Präsidenten die Durchsetzung seines Programms erleichtern.

Beide Reformvorschläge sind radikale Eingriffe in das Wahlsystem der USA, die die Kongreßwahlen den Präsidentschaftswahlen unterordnen und deshalb auf den erbitterten Widerstand der Kongreßmitglieder stoßen würden. Derartig radikale Eingriffe lösen zwangsläufig auch andere Eingriffe aus, so z. B. die Synchronisierung der Amtszeiten von Präsident und Kongreß. 2. Verlängerung und Synchronisierung der Amtszeiten (Lenthening Terms of Office)

Der Rhythmus der amerikanischen Politik wird durch zweijährige Wahlzyklen bestimmt. Die bundesstaatliche Politik steht deshalb permanent unter dem Druck von Wahlen, was dazu führt, daß politische Entscheidungen selten ohne Rücksicht auf den Terminkalender der Wahlkämpfe gefällt werden können.

Die häufigen Wahlen im amerikanischen Regierungssystem begrenzen den Zeitraum, in dem effektive politische Weichenstellungen vorgenommen werden können, auf nur etwa zehn bis zwölf Monate. Dann wirkt sich schon der nächste Zwischenwahltermin aus -Erschwerend kommt hinzu, daß eine Administration, wenn sie kurz nach der Regierungsübernahme die größten Erfolgsaussichten für die Durchsetzung ihres Programms hat, zumeist noch damit beschäftigt ist, die Spielregeln der Washingtoner und der Weltpolitik zu lernen. Die Qualität des „policy Outputs“ in der ersten Phase ist deshalb gering. Wenn die Regierung sich etabliert hat, stehen schon die Zwischenwahlen vor der Tür. Und hier drohen der Partei des Präsidenten in der Regel Verluste und damit schlechtere Aussichten in den noch verbleibenden zwei Jahren seiner Amtszeit, Erfolge zu erzielen

Die Anpassung der Amtszeiten läßt sich als Versuch begründen, den Zeithorizont der Akteure des politischen Systems zu verlängern. Die Kongreßabgeordneten würden weniger unter dem Dauerdruck von Wahlen stehen und der Präsident erreichte eine längere Öffnung des „window of opportunity“, so daß er mehr Zeit hätte, sein Team effektiv zu organisieren und sein Programm ohne den Einfluß von Wahlterminen durchzusetzen. Sundquist plädiert für das 4-8-4-Schema (achtjährige Amtszeit für die Senatoren, vierjährige für Präsident und Repräsentantenhaus), da das naheliegende 4-4-4-Schema, d. h. vierjährige Amtszeiten für alle Beteiligten, mit Sicherheit auf den Widerstand der Senatoren stieße, die zwei Jahre ihrer Amtszeit opfern müßten. Ein 6-6-3-Schema, das die Idee einer sechsjährigen Amtszeit für den Präsidenten ohne Wiederwahl (von Carter befürwortet) aufgreift, scheint weniger geeignet, weil es das Problem der Zwischenwahlen nicht aus der Welt schafft und eine mögliche Pattsituation nach den Zwischenwahlen auf drei Jahre verlängert. Eine sechsjährige Amtszeit des Präsidenten ohne Wiederwahlmöglichkeit würde die Handlungsmöglichkeiten eines Präsidenten nicht erhöhen, weil sie ihn einer seiner besten Waffen, der Wiederwahlchance, berauben würde, ihn also theoretisch vom ersten Tage an zur „lame duck“ machen würde. Die besten Durchsetzungschancen hätte das 4-8-4-Schema, das möglicher-weise auch unterschiedliche Parteikontrolle verhindern könnte, die sich häufig erst nach den Zwischenwahlen einstellt. 3. Ablösung einer gescheiterten Regierung (Reconstituting a Failed Government)

Da der Prozeß der Amtsenthebung nach Artikel II, 4 (Impeachment) nur in Sonderfällen wie Verrat, Bestechung oder schwerer Vergehen greift, gibt es gegen die Regierungsschwäche oder -Unfähigkeit eines Präsidenten kein anderes Mittel als Abwarten. Das gleiche gilt in einer Situation, in der sich Kongreß und Regierung in eine Sackgasse manövriert haben. Man kann sich eine Reihe von Situationen vorstellen, in denen ein Präsident nicht mehr in der Lage wäre, seine Führungsrolle wahrzunehmen und in denen für eine Ablösungsmöglichkeit gesorgt werden sollte: kriminelle Verhaltensweisen, die sich auf das Präsidialamt, aber nicht eindeutig auf den Präsidenten zurückführen lassen; eindeutiger Machtmißbrauch, der nicht als kriminelles Verhalten unter die Amtsenthebungsklausel fällt (wie etwa der Befehl Nixons zur Bombardierung von Kambodscha); ein geistiger oder körperlicher Zusammenbruch, der jedoch noch nicht ausreicht, den Präsidenten für amtsunfähig nach dem 25. Verfassungszusatz zu erklären (vgl. die letzten beiden Amtszeiten von Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt); ein Vertrauensverlust (wie ihn Herbert Hoover nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise erlitt, der seine Regierung völlig handlungsunfähig und unglaubwürdig machte).

Da eine Abwahl durch den Kongreß die Entscheidung der Wähler revidieren würde, sollten sowohl Kongreß wie Präsidentschaft bei der Auflösung zur Disposition stehen und durch Neuwahlen ersetzt werden können. Sundquist plädiert dafür, daß alle drei Instanzen das Recht der Initiierung haben sollten, daß die Schwellen für Auflösung und Neuwahlen im Kongreß niedrig anzusetzen seien und schließlich jede Kammer die Möglichkeit haben müsse, den Auflösungs-und Neuwahlprozeß mit absoluter Mehrheit in Gang zu setzen Eine Zweidrittelmehrheit oder die Zustimmung von zwei Instanzen (Präsident und eine Kammer) dagegen würde die Auflösung zu einer Sache einer Allparteienkoalition machen bzw.dem Präsidenten ein Veto gegen Ablösungsbestrebungen in die Hand geben. Ein Verfahren mit niedriger Zustimmungsquote nur einer Kammer würde auch zur Auflösung von Pattsituationen beitragen bzw. die Ablösung eines Präsidenten möglich machen, wenn eine Partei nur die Mehrheit in einer Instanz hat.

Sundquist sieht Auflösungs-und Neuwahlmöglichkeiten als ein politisches Sicherheitsventil an, das Zwischenwahlen nicht bieten, da sie weder den Präsidenten zur Disposition stellen noch Pattsituationen beseitigen können. Ein Mißbrauch scheint durch die hohen Risiken fürjeden, der sie einleitet, ausgeschlossen. Vielmehr könne man annehmen, daß die bloße Möglichkeit von Neuwahlen dazu dient, Pattsituationen zu verhindern bzw. zu einer freiwilligen Auflösung von Pattsituationen beizutragen. Es ist klar, daß eine derartige Verfassungsänderung ebenfalls eine Angleichung der Amtsperioden erforderlich machen würde. 4. Milderung des Gewaltenteilungsgegensatzes durch systematische Zusammenarbeit (Fostering Interbranch Collaboration)

Zur Überwindung des Gewaltenteilungsgegensatzes sieht der Sundquist-Plan die Streichung der Unvereinbarkeitsklausel in der Verfassung vor, so daß die personelle Verflechtung von Kongreß und Exekutive möglich wird Mitglieder des Kongresses könnten dann Posten in der Exekutive übernehmen und Regierungsmitglieder könnten im Kongreß mitarbeiten. Obwohl sich eine ganze Reihe von Fragen hinsichtlich der Auswahl stellt, wäre es im ersten Falle am einfachsten, die Berufungen dem Präsidenten zu überlassen und zuzulassen, daß nur Mitglieder der eigenen Partei ausgewählt werden. Dies hieße natürlich, daß die Verschränkung von Exekutive und Legislative auf die präsidiale Mehrheitspartei beschränkt und im Falle unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in Legislative und Exekutive ziemlich wirkungslos wäre. Der umgekehrte Vorgang, der Mitgliedschaft von Exekutiv-oder Kabinettsmitgliedem im Kongreß, wirft dann große Probleme auf, wenn sie als volle Mitglieder des Kongresses zählen und Stimmrecht haben würden, da damit die Mehrheitsverhältnisse im Kongreß verändert werden könnten und zwei Klassen von Abgeordneten geschaffen würden — solche, die durch Wahl und solche, die kraft Amt Angehörige des Kongresses sind. Deshalb plädiert Sundquist nur dafür, die Unvereinbarkeitsklausel zu streichen, um Raum für Experimente zu schaffen, die möglicherweise zu einer praktikableren personellen Verflechtung von Kongreß und Exekutive — insbesondere zur Mitarbeitvon Kongreßmitgliedern der präsidialen Partei in der Exekutive — führen könnten. 5. Veränderung der gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten (Altering the checks and balances)

Die gegenseitige Gewaltenkontrolle besteht in einer Reihe reziproker Vetos. Deshalb beschäftigte das Komitee die Frage, ob ein effizienterer Entscheidungsprozeß durch eine Veränderung der Vetovollmachten erreicht werden könnte. Die verfassungsmäßige Verankerung neuer bzw. die Veränderung folgender bestehender Vetovollmachten kommt dabei in Frage: das Haushaltspostenveto (item veto), das legislative Veto, die War-Power-Entschließung sowie die Zustimmungspflicht des Senats zu Verträgen

Die Einführung eines Haushaltspostenvetos (item veto) für den Präsidenten wird vor allem von Konservativen gefordert, um das angeblich unverantwortliche Haushaltsgebaren des (demokratischen) Kongresses zu bremsen. Obwohl die Notwendigkeit eines derartigen Vetos nicht zwingend erscheint, da der Kongreß in der Regel den Haushaltsansätzen des Präsidenten folgt und es nur auf kontrollierbare Haushaltstitel (= 20 % des Gesamtvolumens), nicht aber auf die gesetzlichen Ausgabeermächtigungen (authorisations) Anwendung fände, könnte ein Haushaltspostenveto den Kongreß zu größerer Ausgabendisziplin zwingen. Da ein Haushaltspostenveto einen Eingriff in die ureigenste Domäne des Kongresses darstellt, sieht der Sundquist-Plan ein Haushaltspostenveto vor, das mit der absoluten Mehrheit beider Häuser überstimmt werden kann. Dieser Vorschlag bedient sich des Modells des legislativen Vetos, das 1983 vom obersten Gerichtshof als Verstoß gegen die Gewaltenteilung für verfassungswidrig erklärt worden ist

Das legislative Veto ist eine Innovation, die sich im gewohnheitsmäßigen Gesetzgebungsprozeß seit den dreißiger Jahren im Zusammenhang mit Reorganisationsvorhaben der Verwaltung entwickelt hat. Dem Präsidenten und den Behörden wird hierbei auf gesetzlicher Grundlage ein erheblicher Ermessensspielraum bei der Durchführung von administrativen Reorganisationen eingeräumt, doch werden die Maßnahmen dem Einspruch einer oder beider Kammern des Kongresses, also einem legislativen Veto, unterworfen. Das Verfahren ist praktisch eine Ermächtigung zur konditionalen Gesetzgebung durch den Präsidenten und damit eine Umkehrung des normalen Gesetzgebungsprozesses. Als Ausdruck des Mißtrauens des Kongres- ses gegenüber der Nixon-Regierung fand das legislative Veto Eingang in so wichtige Gesetze wie die War Powers Resolution, den Budget and Impoundment Control Act sowie Energie-, Handels-, Entwicklungshilfe-und Waffenhandelsgesetze; es wurde vornehmlich als Veto zur Kontrolle von Verwaltungsverordnungen genutzt Da der Spruch des obersten Gerichtshof dem amerikanischen Regierungssystem ein pragmatisches Arrangement eines Quid pro Quo verwehrt, das ganz im Geist der Verfassung die Handlungsfähigkeit einer Instanz aufgrund einer Handlungsermächtigung unter Vorbehalt der anderen erreicht, fordert Sundquist die Verankerung des legislativen Vetos in der Verfassung, allerdings unter Ausschluß des Einkammerund des Ausschußvetos.

Der umstrittene Status des legislativen Vetos berührt auch die Diskussion um den verfassungsmäßigen Status der 1973 verabschiedeten War Powers Resolution, mit der der Kongreß nach den trauma-tischen Erfahrungen von Vietnam den Einsatz von Truppen durch den Präsidenten zu regeln suchte Da nach der Resolution der Präsident aufgrund eines legislativen Vetos die Truppen zurückziehen muß, ist ein zentrales Element des Verfahrens gegenwärtig verfassungswidrig. Alle Präsidenten seit Nixon haben die Resolution für verfassungswidrig gehalten und ihre Pflichten unter der Resolution (Konsultationen mit dem Kongreß, Berichterstattung über die Feindseligkeiten, die die 60-Tage-Frist für den Rückzug der Truppen auslöst) entweder verletzt oder sie sind ihnen nicht unter Berufung auf die War Powers Resolution, sondern nur in Übereinstimmung mit ihr oder aufgrund ihrer verfassungsmäßigen Rolle als oberste Befehlshalter nachgekommen Der Sundquist-Vorschlag zielt deshalb ab auf eine verfassungsmäßige Kodifizierung der Rechte und Pflichten entsprechend der War Powers Resolution.

Eine weitere Änderung betrifft die Zustimmungspflicht zu den vom Präsidenten geschlossenen Verträgen mit einer Mehrheit von mindestens Zweidritteln der Stimmen des Senats, die Sundquist in der Konsequenz als die Veto-Möglichkeit einer Minderheit interpretiert. Sie räumt Minderheiten entscheidenden Einfluß auf die Außenpolitik ein und erlaubt ihnen zu diktieren, was an einem Vertragswerk akzeptabel ist, wie seinerzeit im Falle des Versailler Vertrages, als eine Minderheit von Senatoren (42 %) die Haltung der USA zur Nachkriegs-ordnung festlegte Um nicht die Verhandlungsführung und Ratifizierung unter das Diktat einer Minderheit zu stellen, empfiehlt der Sundquist-Plan, für die Ratifizierung von Verträgen die absolute Mehrheit in beiden Häusern für ausreichend zu erklären.

V. Bewertung und Kritik der Vorschläge

Die von Sundquist gemachten Reformvorschläge fanden im Abschlußbericht des Komitees zwar keine Mehrheit, sie waren aber die Basis für das Minderheitenvotum. Die Mehrheit befürwortete nur erstens eine Anpassung der Amtszeiten und Wahlzyklen nach dem 4-8-4-Plah, zweitens eine Streichung der Unvereinbarkeitsklausel, um die Berufung von Kongreßmitgliedern in Regierungs-Positionen zu ermöglichen, und drittens die Reduzierung der Zustimmungspflicht bei der Ratifizierung von Verträgen auf 60 % bzw. durch die Mehrheit beider Kammern.

Dennoch sollte man sich bei einer Bewertung der Reformvorschläge am Sundquist-Plan orientieren, weil er eine aufeinander abgestimmte Konzeption darstellt und im Gegensatz zum mehrheitlich verabschiedeten Minimalkatalog einen wirklichen Eingriff in die Gewaltenteilung vornimmt. Es lohnt sich deshalb zu untersuchen, wie der Vorschlag im Hinblick auf das Machtverhältnis Präsident und Kongreß einzuschätzen ist. Auf den ersten Blick scheint auch Sundquist von bestimmten Gleichgewichts-vorstellungen auszugehen. Die Listenwahl stärkt ohne Zweifel den Präsidenten, garantiert sie ihm doch in beiden Häusern eine automatische Mehrheit. Ein Gegengewicht bildet die Ablösung eines Präsidenten durch Einleitung von Neuwahlen, die als ein Instrument des Kongresses dienen könnte, einen Präsidenten enger an die vorherrschende Stimmung im Kongreß zu binden. Die Anpassung der Amtszeiten, die Aufhebung der Unvereinbarkeitsklausel und Veränderung der Vetopositionen sind Reformen, die in ihren Auswirkungen insgesamt neutral sind. So scheint das Ziel der Reformer — eine handlungs-und durchsetzungsfähigere Regierung — nicht auf Kosten einer Veränderung der Machtbalance zwischen beiden Gewalten erreicht zu werden. Der Kongreß und der Präsident würden über die gemeinsame Parteizugehörigkeit enger aneinander gebunden, ohne daß die Ausgewogenheit zwischen den Gewalten verloren geht

Das ist jedoch eine Illusion, denn das Reformpaket muß unter der Auswirkung der ersten Änderung — der Listenwahl von Präsident und Kongreßabgeordneten — beurteilt werden, die sich als entscheidende Machtverschiebung zugunsten des Präsidenten auswirken würde. Alle anderen Reformvorschläge müßten im Lichte dieses Vorschlages gesehen werden. Sonderwahlen zur Ablösung des Präsidenten und Auflösung des Kongresses, die Wiederherstellung des legislativen Vetos und der War-Powers-Vollmachten des Kongresses sind dann keine so entscheidende Machtzuwächse für den Kongreß, weil sie einer Mehrheit gegeben werden, die aufgrund gemeinsamer Wahl an den Präsidenten gebunden ist. Die personelle Verflechtung von Kongreß und Regierung wäre durchaus systemkonform, weil sie an den Mehrheitsverhältnissen nichts mehr ändern, sondern die Identität von Legislative und Exekutive auch personell institutionalisieren würde. Die gegenseitigen Bindungen von Regierung und Kongreß müßten sich auch auf die Bereitschaft des Kongresses auswirken, seine Untersuchungs-und Kontrollfunktion so rigoros wahrzunehmen, wie es aus dem Watergate-Skandal und dem Iran-Contra-Waffenhandelsskandal bekannt ist. Unterschiedliche Parteikontrolle scheint zu allererst für den strengen Kontrollhabitus des Kongresses gegenüber der Regierung verantwortlich zu sein.

Dreh-und Angelpunkt ist also der Vorschlag der Listenwahl von Präsident und Kongreß, der revolutionäre Auswirkungen auf die amerikanische Politik hätte: Die Kongreßwahlen würden an Gewicht verlieren und ganz im Schatten der Präsidentschaftswahlen stehen. Die Kongreßmitglieder würden praktisch nur noch als Anhängsel des Präsidenten gewählt. Lokale und regionale Aspekte würden bei der Stimmabgabe für den Kongreß zwangsläufig zurücktreten. Die Listenwahl würde zu einer Nationalisierung des amerikanischen Wahlsystems führen. Jede Veränderung in Richtung auf eine Listenwahl würde von den Wählern als eine Beschneidung ihrer Wahlfreiheit verstanden werden müssen; sie würde ihnen die Möglichkeit nehmen, das Stimmensplitting taktisch einzusetzen. Die Wahlergebnisse und Umfragen zeigen, daß eine große Zahl von Wählern besonders Wähler im Süden, das Stimmensplitting und die unterschiedliche Parteikontrolle von Exekutive und Legislative als einen Vorteil ansehen, der die gegenseitige Kontrolle von Kongreß und Präsident aufgrund unterschiedlicher Parteizugehörigkeit ermöglicht.

Zwangsläufig würden auch die Parteien einer starken Tendenz zur nationalen Zentralisierung unterliegen. Insgesamt müßte es für sie schwerer werden, ihren Charakter als lose Koalitionen aus heterogenen ideologischen und regionalen Elementen zu behalten. Die Parteien müßten neue nationale Profile entwickeln, was erhebliche Risiken mit sich brächte. Die Wirkung einer derartigen Verfassungsänderung bestünde in einer verstärkten Ausrichtung der amerikanischen Politik am Präsidentenamt und in einem Machtzuwachs dieses Amtes. Daher ist der Vorschlag nicht neutral im Hinblick auf das Gleichgewicht zwischen Legislative und Exekutive. Eine derartige Reform liefe in Verbindung mit den anderen vorgeschlagenen Maßnahmen auf eine Totalrevision der amerikanischen Verfassung und des Regierungssystems hinaus. Im Falle ihrer Realisierung könnte man von einem wirklichen präsidentiellen Regierungssystem sprechen, da die gesamte Bundespolitik am Präsidenten ausgerichtet wäre Insofern ist auch die Anlehnung an das parlamentarische System eher vordergründig, da sie im Grunde eine Umkehrung der Verhältnisse darstellt: Die Mehrheit der Legislative wählt hier nicht die Regierung (wie im parlamentarischen System), sondern, überspitzt formuliert, die Regierung „wählt“ sich eine Mehrheit im Kongreß. Man kann nur darüber spekulieren, ob Sundquist die Listenwahl als ein Surrogat für eine Parlamentarisierung ansieht, die, wenn sie unter ihrem eigentlichen Etikett durchgeführt würde, wahrscheinlich als „unamerikanisch“ gebrandmarkt würde, oder ob die Listenwahl nicht unmittelbar dem Ziel einer Stärkung der Präsidentschaft dienen soll. So problematisch der Listenvorschlag ist, er stellt eine interessante Variante dar, die der Exekutive, deren Stärke bisher in ihrer Einheitlichkeit und ihrem formal-institutionell unangreifbaren Charakter liegt, bessere Möglichkeiten zur Politik-formulierung und -durchsetzung („policy-making“) einräumt — ein Bereich, in dem sie bisher schwach war

Liefe die Listenwahl auf einen Systemwandel hinaus, so würden andere Maßnahmen — wie die personelle Verflechtung von Exekutive und Legislative, wenn sie isoliert in das gegenwärtige System integriert würden — systemwidrige Elemente einführen. So würden z. B. zwei Klassen von Abgeordneten geschaffen — gewählte und solche, die als Vertreter des Präsidenten in den Kongreß gekommen sind —, mit unklaren Konsequenzen für die parlamentarischen Verfahren im Kongreß wie z. B. die Ausschußpostenbesetzung. Bei der Besetzung von Regierungsämtem mit Abgeordneten würden diese einer Doppelbelastung ausgesetzt, und es bliebe ihnen wenig Zeit für ihre vom bestehenden System diktierten Hauptaufgaben — nämlich die Arbeit in den Ausschüssen und die Bedienung ihrer Interessenklientel im Wahlkreis (constituency Service), die ihre Wiederwahl sichern. In der Praxis könnten solche. Abgeordneten mit erheblichen Loyalitätskonflikten zu kämpfen haben und unter den Einfluß sehr widersprüchlicher Handlungsimperative geraten. Derartige Reformvorschläge führen systemfremde Elemente in die Verfassung ein. Sie zeigen, daß Kongreß und Exekutive als unterschiedliche politische Handlungssysteme begriffen werden müssen, die sehr unterschiedlichen Wahl-und Verfahrensimperativen gehorchen Eine Änderung würde in eine in zwei Jahrhunderten von getrennten Institutionen geprägte politische Praxis eingreifen, die von ganz anderen Handlungsmustern bestimmt ist.

Man müßte aber auch die Grundthese des Komitees einer kritischen Prüfung unterziehen. Mit gutem Grund kann bestritten werden, daß das amerikanische Regierungssystem wirklich zu permanentem Politikstillstand und zu Pattsituationen neigt und daß die Verzögerungen, mit denen sich der moderne Sozial-und Rechtsstaat in den Vereinigten Staaten durchgesetzt hat, wirklich auf die Gewaltenteilung zurückzuführen sind. Die soge-nannten Pattsituationen sind nicht auf die strukturellen Mängel im Regierungssystem, sondern vielmehr auf den Mangel an gesellschaftlichem Konsens über bestimmte Politiken zurückzuführen. Vor der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren bestand z. B. in den Vereinigten Staaten kein weitreichender gesellschaftlicher Konsens über eine sozialpolitische Rolle des Staates. Angesichts der Krisensituation der dreißiger Jahre gelang es jedoch einem populären Präsidenten, einen Grundkonsens zu schaffen und die Grundlagen für den amerikanischen Sozialstaat zu legen. „Kritischen“ Wahlen folgte ferner stets ein Politikwechsel, so 1966 mit dem Great Society Programm unter Johnson und 1980 nach Ronald Reagans Wahlsieg. Präsident Reagan gelang es 1981, eine nie erwartete Kehrtwende der Wirtschafts-und Sozialpolitik einzuleiten. Was den Mangel an Handlungsfähigkeit betrifft, so kann man eine Reihe von Gegenbeispielen gerade aus jüngster Zeit nennen — etwa die Steuerreform von 1986, die das gesamte Steuersystem der Vereinigten Staaten auf eine neue Grundlage stellte, oder die Deregulierungspolitik zentraler Wirtschaftsbereiche wie des Zivilluftverkehrs, des Transportwesens, der elektronischen Medien und der Telekommunikation Ganz gleich, wie man zu den hier genannten Politikinitiativen steht — sie beweisen, daß das amerikanische Regierungssystem handlungs-und reaktionsfähig ist. Die Gegenbeispiele SALT II und das hohe Haushaltsdefizit können nicht primär auf den Verfassungsimmobilismus zurückgeführt werden. SALT II scheiterte zuallererst an der sowjetischen Invasion in Afghanistan und möglicherweise auch an Schwächen in der Carterschen Abrüstungskonzeption. Das Haushaltsdefizit ist nicht Folge der Gewaltenteilung, sondern das Ergebnis gemeinsamer Entscheidungen von Exekutive und Kongreß, die auf falschen ökonomischen Annahmen und auf Nichtberücksichtigung der Politik der Bundesbank beruhten

Blickt man auf die deutsche Politik und die anderer europäischer Länder, so lehrt gerade das Beispiel der Steuerreform und der Deregulierung, daß das amerikanische System durchaus handlungsfähiger und innovativer sein kann als parlamentarische Systeme. Daß die Mitglieder des Komitees so neidvoll auf parlamentarische Systeme schauen, mag daran liegen, daß sie vor allem das britische Regierungssystem vor Augen haben und dabei übersehen, wie häufig Pattsituationen und Handlungsunfähigkeit in parlamentarischen Regierungssystemen vorkommen, die föderal verfaßt sind und in denen die Regierungsbildung auf Koalitionsbildung beruht. Diese Überlegungen werfen die Frage auf, ob die Pattsituationen in den USA wirklich auf die formalen Strukturen des amerikanischen Regierungssystems zurückzuführen sind und nicht auf den enormen politischen Pluralismus und die Interessenfragmentierung der amerikanischen Gesellschaft. Die Konfliktlinien in der amerikanischen Gesellschaft sind in viel stärkerem Maße als in europäischen Gesellschaften ethnisch, rassisch, ideologisch und regional differenziert. Dieser Pluralismus findet seinen Ausdruck in einem sehr umständlichen und beschwerlichen politischen Konsensfindungsprozeß, der aber letztlich von den Strukturen des amerikanischen Regierungssystems gedeckt wird. Das heißt, daß die sehr individualistische und heterogene politische Kultur und das Regierungssystem eine (wenn auch nicht unbedingt beabsichtigte) Kongruenz aufweisen. Änderte man das politische System nun in Richtung auf eine größere Reibungslosigkeit und Durchschlagskraft des Entscheidungsprozesses, so liefe man Gefahr, einer höchst pluralistischen politischen Kultur ein ihr fremdes formales Entscheidungssystem überzustülpen, was möglicherweise nicht zu mehr Integration, sondern zu mehr Zersplitterung (z. B.der Parteien unter dem Druck der Listenwahl) führen würde

Aus diesen Gründen scheint der Weg der Ausweitung der ungeschriebenen Verfassung ein viel gangbarerer zu sein, wie selbst die Befürworter von Verfassungsreformen implizit zugeben, wenn sie Alternativen zu einer Verfassungsreform — wie die Stärkung der Parteien durch die Änderung des Nominierungsprozesses für Präsidentschaftskandidaten (Reduzierung der Vorwahlen, größerer Einfluß von Parteieliten) und eine Übertragung der Wahlkampffinanzierung an Parteigremien — diskutieren Das legt den Schluß nahe, daß die Probleme, die die Reformer auf die Verfassungsstruktur zurückführen, in der ungeschriebenen Verfassung zu suchen sind, bzw. daß die Probleme genausogut durch eine Veränderung der ungeschriebenen Verfassung zu lösen sind. Die Dringlichkeit von Verfassungsänderungen ist deshalb nicht einsichtig-

Einzelne Vorschläge, wie die Reduzierung der Zustimmungsquote zu Verträgen und die Synchronisierung der Wahlperioden sind sicherlich überlegenswert. Das eigentliche Verdienst der Reformer besteht darin, gezeigt zu haben, wie die Gewaltenteilung aus dem 18. Jahrhundert immer noch die Handlungsoptionen der Akteure des amerikanischen Regierungssystems bestimmen und welche Strukturprobleme aus der institutioneilen Unabhängigkeit der drei wichtigsten Instanzen bei gleichzeitigem Zwang zum Zusammenwirken erwachsen. Nur bleibt die Frage offen, ob Unstimmigkeiten zwischen den Anforderungen der Politik im 20. und 21. Jahrhundert und den politischen Entscheidungsstrukturen durch Verfassungsänderungen beseitigt werden können. Da Verfassung, politische Kultur und politischer Prozeß durch die Entwicklung einer ungeschriebenen Verfassung eng zusammengewachsen sind, muß die Anpassung mit Ausnahme der weniger radikalen Reformen (z. B.der Anpassung der Amtszeiten) aus dem normalen politischen Prozeß erwachsen. Dies wird schon deshalb nötig sein, weil die Barrieren für eine Verfassungsreform außerordentlich hoch sind.

VI. Aussichten und Möglichkeiten einer Verfassungsreform

Jede Verfassungsreform muß zwei Bedingungen erfüllen: Sie müßte erstens die Unterstützung der Hauptakteure des politischen Systems und der Öffentlichkeit finden und zweitens in ihren Auswirkungen neutral sein. Beide Bedingungen sind nicht erfüllt. Institutioneller Wandel findet zumeist nur wenig Rückhalt in der Öffentlichkeit und ist niemals neutral, wie gerade das Reformpaket zeigt, das eine Machtverschiebung zum Präsidenten zur Folge hat und deshalb den entschiedenen Widerstand des Kongresses — der Instanz, die ja Verfassungszusätze verabschieden muß — herausfordem müßte. Die Interessenkonstellationen stehen also ungünstig für eine formelle Verfassungsreform. So müssen auch die Reformer zugeben, daß einschneidender Wandel wohl nur als Folge einer schweren Krise möglich wäre -

Noch schwerer als die negativen Interessenkonstellationen wiegen jedoch die Barrieren, dje die Verfassungsväter selbst gegen eine Reform aufgerichtet haben: Eine Verfassungsänderung muß nach Artikel V mit Zweidrittelmehrheit der Stimmen beider Kammern des Kongresses verabschiedet werden und anschließend von den Legislativen von drei Viertel der Einzelstaaten ratifiziert werden. Das heißt, daß bereits 34 Prozent der Mitglieder des Kongresses und 13 der 99 einzelstaatlichen gesetzgebenden Körperschaften eine Verfassungsänderung blockieren könnten. Eine zweite Möglichkeit besteht in der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung auf Antrag von zwei Drittel der Einzelstaaten. Dieses Verfahren würde den Kongreß als opponierende Instanz umgehen, weshalb es von den Reformern favorisiert wird. Allerdings besitzt man mit dieser Form der Verfassungsänderung überhaupt keine praktische Erfahrung, und die Hürden sind letztlich nicht weniger hoch Eine Verfassungsreform besitzt also angesichts negativer Interessenkonstellationen und unüberwindbarer prozeduraler Hürden augenblicklich keine Chancen.

Die Debatte um eine Verfassungsreform macht allerdings deutlich, daß die Verfassung ein ausgeklügeltes System des Gleichgewichtes ist, das durch Reformen leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Reformen würden entweder ein völlig neues System schaffen, das zu nachhaltigen Machtverschiebungen führt, oder aber system-fremde Elemente einführen, die mit den eingeschliffenen Handlungsimperativen der politischen Praxis in Konflikt gerieten. Angesichts dieser Sachlage drängt sich unweigerlich das Diktum William Gladstones auf: „The American Constitution is the most wonderful work ever Struck off at a given time by the brain and purposes of man.“ So kann man auch die Titelfrage dieses Aufsatzes beantworten. Die Antwort lautet: Nein. 200 Jahre sind nicht genug, denn die politische Kultur wird im praktischen politischen Prozeß immer neue Anpassungen der Verfassung an geänderte Zeitumstände hervorbringen, ohne daß man den Weg einer entscheidenden Reform der Verfassung beschreiten muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Don K. Price, America’s Unwritten Constitution. Science, Religion and Political Responsibility, Cambridge, Mass., 1985, bes. S. 129-152.

  2. Diese Zusätze sind der 17. Verfassungszusatz, der die Direktwahl der Senatoren (die bis dahin von den einzelstaatlichen Legislativen gewählt wurden) einführte, und der 22. Verfassungszusatz, der die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtsperioden begrenzte.

  3. Richard Neustadt. Presidential Power, New York 19783. S. XX.

  4. Louis Fisher, Constitutional Conflicts between President and Congress, Princeton 1985, S. 12; John A. Rohr, To Run a Constitution, Lawrence 1986, S. 16— 19; Ann Stuart Anderson, A 1787 Perspective on Separation of Powers, in: Robert A. Goldwin/Art Kaufman (Eds.), Separation of Powers — Does it still Work?, Washington 1986, S. 155.

  5. Nur das Repräsentantenhaus wurde ursprünglich direkt vom Volk gewählt, die Senatoren bis 1913 von den einzelstaatlichen Legislativen, der Präsident theoretisch bis heute noch vom Wahlmännergremium, über dessen Auswahl die Einzelstaaten zu entscheiden haben.

  6. Vgl. L. Fischer (Anin. 4), S. 30; William B. Gwyn, The Separation of Powers and Modem Forms of Democratic Government, in: R. A. Goldwin/A. Kaufman (Anm. 4), S. 74-76.

  7. L. Fisher (Anm. 4), S. 14; Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, Chapel Hill 1969, S. 435, 452, 551.

  8. Siehe Federalist No. 47, in: The Federalist Papers, hrsg. von Roy P. Fairfield. New York 19662, S. 145. Vgl. auch Willi Paul Adams. Republikanische Verfassung und Bürgerliche Freiheit. Darmstadt-Neuwied 1973, S. 262 f.

  9. Siehe Federalist No. 10. in: The Federalist Papers (Anm. 8). S. 17.

  10. Vgl. Committee on the Constitutional System. Statement of the Problem, in: Donald L. Robinson (Eds.), Reforming American Government. The Bicentennial Papers of the Committee on the Constitutional System. Boulder 1985, S. 68-71.

  11. Die Neigung der Wähler zur unterschiedlichen Stimmabgabe ist im Anwachsen begriffen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen praktizierten mehr als ein Viertel der Wähler Stimmensplitting. Vgl. John E. Ferejohn/Morris P. Fiorina. Incumbency and Realignment in Congressional Elections, in: John E. Chubb/Paul E. Peterson (Eds.), New Directions in American Politics, Washington 1985, S. 99f.

  12. Lloyd Cutler. To Form a Government, in: Foreign Affairs, Herbst 1980, S. 131. und ders., Party Government under the Constitution, in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 95.

  13. Committee on the Constitutional System. Statement of the Problem, in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 69; und

  14. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 6.

  15. Vgl. Douglas Dillon. The Challenge of Modem Government, in: D. L. Robinson (Anm. 10). S. 26.

  16. Committee on the Constitutional System, in: D. L. Robinson (Anm. 10), S> 71; andere Mitglieder des Komitees sehen allerdings das Hauptproblem in einer zu starken Präsidentschaft. Vgl. z. B. Charles Hardin. The Crisis and its Cure, in: ebd., S. 3 — 10.

  17. Im Falle von Watergate wird darauf hingewiesen, daß das Impeachment-Verfahren nicht hätte funktionieren müssen, da nur ein zufälliger Tonbandfund die eindeutige Mitwisserschaft von Nixon bewies. Schwer angeschlagen war die Regierung jedoch schon vorher.

  18. Vgl. Henry Reuss, A Congressional Vote of No Confi-dence. in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 206— 08; James L. Sundquist, The Case for an Easier Method to Remove the President, in: ebd., S. 227— 235.

  19. Vgl. Anm. 12.

  20. Ebd., S. 126f.

  21. Vgl. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 69; W. B. Gwyn (Anm. 6), S. 78. Wilsons Haltung wird von J. A. Rohr (Anm. 4), S. 59— 75, diskutiert.

  22. Vgl. James L. Sundquist, The Decline and Resurgence of Congress, Washington 1981. Kap. IX und XIV; Michael J. Malbin, Rhetoric and Leadership: A Look Backward at the Carter National Energy Plan, in: Anthony King (Eds.), Both Ends of the Avenue. The Presidency, the Executive Branch, and Congress in the 1980s, Washington 1983, S. 212— 45.

  23. Vgl. Lester M. Salomon/Alan J. Abramson. Governance: The Politics of Retrenchment, in: John L. Palmer/Isabel Sawhill (Eds.). The Reagan Record. Washington 1984. S. 31— 36. Hugh Heclo/Lester L. Salamon, The Illusion of Presidential Government, Boulder 1981; James L. Sundquist. The Crisis of Competence in Our National Government, in: Political Science Quarterly, 95 (1980), S. 183-208.

  24. Vgl. Richard P. Nathan, Institutional Change under Reagan, in: John L. Palmer (Eds.), Perspectives on the Reagan Years, Washington 1986. S. 125— 34; Charles O. Jones, A New President, A Different Congress, A Maturing Agenda, in: Lester M. Salomon/Michael S. Lund (Eds.), The Presidency and the Goveming of America. Washington 1985. S. 271-87.

  25. Vgl. John L. Palmer. Philosophy. Policy, and Politics: Integrating Themes, in: ders. (Anm. 24), S. 197— 201; L. M. Salomon/A. J. Abramson (Anm. 23), S. 53— 55.

  26. Die klassische Formulierung der liberalen Position ist James McGregor Bums, The Deadlock of Democracy, New York 1963.

  27. Vgl. James Ceaser, In Defense of Separations of Powers, in: R. A. Goldwin/A. Kaufman (Anm. 4), S. 183.

  28. Vgl. Arthur Schlesinger, Leave the Constitution Alone, in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 50— 54; J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 12.

  29. Vgl. New York Times vom 11. 1. 1987, Citing Chronic Deadlock, Panel Urges Altering Political Structure.

  30. Vgl. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 75-104.

  31. Ebd., S. 105-134.

  32. Vgl. Paul C. Light, The President’s Agenda. Domestic Policy Choice from Kennedy to Reagan, Baltimore 1983, S. 36— 38; William B. Quandt, The Electoral Cycle and the Conduct of Foreign Policy, in: Political Science Quarterly, 101 (1986), S. 825-37.

  33. Vgl. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 135-164.

  34. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 165— 205.

  35. Ebd.. S. 206-38.

  36. Vgl. Paul E. Peterson, The New Politics of the Deficit, in: Political Science Quarterly, 100 (1985— 86), S. 575— 601.

  37. Vgl. Immigration and Naturalisation Service vs. Chadah, 103 S., Ct. 2764 (1983).

  38. J. L. Sundquist. Decline (Anm. 22). S. 344— 66; L. Fisher (Anm. 4). S. 162— 78.

  39. Die War Powers Resolution umfaßt drei Elemente: Sie fordert Konsultationen zwischen Präsident und Kongreß und fordert der Präsidenten auf, dem Kongreß 48 Stunden nach Beginn der Feindseligkeiten Bericht zu erstatten, woraufhin der Präsident nach 60 (in Sonderfällen 90) Tagen die Truppen zurückziehen muß, es sei denn, der Kongreß ermächtigt den Präsidenten zum weiteren Truppeneinsatz. Der Kongreß kann aber den Präsidenten jederzeit durch eine concurrent resolution, d. h. durch ein legislatives Veto, zum Rückzug der Truppen auffordern. Vgl. 87 Stat. 555 (1973).

  40. L. Fisher (Anm. 4), S. 315— 18. Zur möglichen Verfassungswidrigkeit der War Powers Resolution siehe L. Peter Schultz. The Separation of Powers and Foreign Affairs, in: R. A. Goldwin/A. Kaufman (Anm. 4), S. 131 ff.

  41. J. L. Sundquist (Anm. 13). S. 230.

  42. Vgl. New York Times vom 11. 2. 1987.

  43. Austin Ranney, What Constitutional Changes Do Americans Want, in: This Constitution, Winter 1984, S. 18.

  44. In der deutschen Regierungslehre wird das parlamentarische Regierungssystem gern dem präsidentiellen gegenübergestellt, wobei geflissentlich die unabhängige Rolle des Kongresses übersehen wird. Nur wenige Autoren sprechen vom „präsidentiell-congressionalen" Regierungssystem. Vgl. Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, München 1986, S.49—51.

  45. Vgl. James A. Ceaser (Anm. 27), S. 173, 180.

  46. So Louis Fisher, The Politics of Shared Powers, Washington 1981, S. XI.

  47. Vgl. Martha Derthick/Paul Quirk, The Politics of Deregulation, Washington 1985, S. 1— 28.

  48. Vgl. Alice Rivlin, Economics and the Political Process, in: American Economic Review, 77 (1987), S. 4; siehe auch James Q. Wilson, Does the Separation of Powers still Work?, in: The Public Interest. Spring 1987, S. 46— 49.

  49. James Q. Wilson, Political Parties and the Separation of Powers, in: R. A. Goldwin/A. Kaufman (Anm. 4). S. 35.

  50. Zur Parteireform als Alternative zur Verfassungsreform vgl. J. L. Sundquist (Anm. 13). S. 177— 203, und J. A. Cutler, Party Government, in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 93-109.

  51. J. L. Sundquist (Anm. 13), S. 248-51.

  52. Vgl. C. Herrman Pritchett, Why risk a constitutional Convention?. in: D. L. Robinson (Anm. 10), S. 267— 79.

  53. Zitiert in J. A. Rohr (Anm. 4), S. 73.

Weitere Inhalte

Andreas Falke, Dr. disc. pol., geb. 1952; Studium der Sozialwissenschaften und Amerikanistik in Göttingen, Miami und St. Louis; 1980— 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Politikwissenschaft der Universität Göttingen; seit 1983 Referent für Innenpolitik und Gesellschaft beim United States Information Service an der amerikanischen Botschaft in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: (mit Peter Lösche und Ulrich Andersch) Stadtteilinitiativen in amerikanischen Großstädten, Berlin 1982; Inner-city Revitalisation through Community Mobilisation, in: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumforschung (Hrsg.), Towards Applied Urban Research, Bd. 2, Bonn 1982; Stadtförderungspolitik in den USA: Das Community Development Block Grant Program, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, (1984) 1; Der , New Federalism’: Reorganisation der Politikverflechtung oder konservative Strukturveränderung, in: Amerikastudien, Bd. 29; Großstadtpolitik und Stadtteilbewegung in den USA. Zur Wirksamkeit politischer Strategien gegen den Verfall, Basel-Stuttgart-Boston 1987 (im Erscheinen).