Die ihrer Konzeption nach weitreichende polnische Wirtschaftsreform von 1980/81 blieb bis 1987 weitgehend in der Einführungsphase stecken. Das am Jahresende 1987 bestehende Wirtschaftssystem muß als ein eigentümliches „Mischsystem“ bezeichnet werden. Verschiedene Regulationsmechanismen (zentrale Interventionen, indirekte monetäre Steuerung, Marktbeziehungen) werden mehr oder weniger willkürlich gemischt. Die im Rahmen dieses Systems durchgeführte Wirtschaftspolitik Jaruzelskis war lediglich insofern erfolgreich, als ein Wachstum der Wirtschaft erreicht werden konnte. Die tiefgreifenden Struktur-und Funktionsprobleme des zentralistischen Wirtschaftssystems konnten hingegen nicht gelöst werden. Es bleiben große binnenwirtschaftliche Ungleichgewichte (Gütermangel, offene und versteckte Inflation), eine zunehmende Alterung des Anlagevermögens und die hohe, weiterhin wachsende außenwirtschaftliche Verschuldung. Die politische Führung unter General Jaruzelski ist gewillt, die Stagnation der Reform und die ungelösten ökonomischen Probleme durch einen erneuten Anlauf zur Umgestaltung der Wirtschaft im Rahmen einer „zweiten Reformetappe“ zu überwinden. Der Aufbruch zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ soll wiederum mit drastischen Preiserhöhungen eingeleitet werden. Die Regierung versucht, der Bevölkerung die polnische Version der „Perestrojka“ mit in Aussicht gestellten gesellschaftspolitischen Zugeständnissen schmackhaft zu machen. In der Bevölkerung überwiegt indes die Skepsis, zumal eine weitere Verschlechterung des ohnehin niedrigen Lebensstandards zu erwarten ist. Die Regierung ist dennoch entschlossen, die Reform fortzuführen, wenn auch mit gedrosseltem Tempo.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte sich Polen mit einer unübersehbaren Regelmäßigkeit von einer sozio-ökonomischen Krise zur nächsten. Dabei ähnelten sich sowohl deren Ursachen und Verlauf als auch die anvisierten Maßnahmen zur „Krisenbewältigung“: Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen entlud sich jeweils zu einem Zeitpunkt, als das Parteiestablishment „politisch verbraucht“ war und die Sanierung der Wirtschaft über Preiserhöhungen, d. h. auf Kosten des Konsums der Bevölkerung, vornehmen wollte. Die dadurch ausgelösten Streiks führten zu einem Wechsel an der politischen Spitze. Die neue Regierung stabilisierte wiederum die gesellschaftspolitische Situation mit einer Verbesserung des Lebensstandards, einer partiellen Liberalisierung des politischen Lebens und der Ankündigung von Wirtschaftsreformen. Nach einigen Jahren der relativen Prosperität kehrte sich diese Situation wieder um: Die Strukturprobleme der Wirtschaft verfestigten sich, Lebensstandard und Wachstumsraten entwickelten sich weit unter den gesteckten Zielen, die Wirtschaftsreformen scheiterten, das politische Klima verhärtete sich — der Boden für eine neue Krise war bereitet.
Diesem Zyklus folgte die Entwicklung nach den politischen Unruhen der Jahre 1956, 1970/71 und 1980. In den achtziger Jahren erreichte das Ausmaß der sozio-ökonomischen Krise nicht gekannte Dimensionen: Erstmals gingen in den Jahren 1980 bis 1982 Nationaleinkommen, Investitionen und Konsum drastisch zurück. Ein Novum für den Sozialismus war gleichfalls die aus einer landesweiten Streikbewegung entstandene unabhängige Gewerkschaft „Solidarität“. Als weitreichender als die vorangegangenen Reformkonzeptionen erwies sich auch das Programm zur Umgestaltung der Wirtschaft: Es zielte auf eine Selbstverwaltung, Selbstfinanzierung und Selbständigkeit der Betriebe (die drei „S“) und eine marktkonforme makroökonomische Planung und Lenkung.
Die „Gegenreformation“ fiel wiederum drastisch aus: Die Militärs unter Jaruzelski verhängten im Dezember 1981 das Kriegsrecht und beendeten die „Illusion“ einer unabhängigen Gewerkschaft im Sozialismus, ohne daß sie allerdings die Wirtschaftsreform fallenließen. Die polnische Wirtschaft bewegte sich zwar seit 1982 langsam aus der Talsohle heraus, doch blieben die ökonomischen Grundprobleme — u. a. die hohe Verschuldung, die einseitige Wirtschaftsstruktur und die geringe ökonomische Effizienz — nicht zuletzt wegen der stagnierenden Wirtschaftsreform ungelöst. Angesichts der tiefgreifenden ökonomischen Probleme ging die politische Führung im Herbst 1987 in die „Offensive“. Eine „zweite Reformetappe“ sollte begonnen werden, um die steckengebliebene Umgestaltung der Wirtschaft aus dem Jahre 1981 fortzusetzen.
Dieser Beitrag bilanziert die wirtschaftspolitischen Ergebnisse und die bisherigen Reformmaßnahmen Polens in den achtziger Jahren. Ferner werden die jüngsten Vorschläge und schon in Angriff genommenen Maßnahmen zur „zweiten Reformetappe“ analysiert.
I. Die Wirtschaftspolitik von 1980 bis 1987
1. Konzeption und Wirklichkeit der Reformpolitik Noch im Jahre 1980 versuchte Edward Gierek die sich seit Mitte der siebziger Jahre abzeichnende ökonomische Krise über die Prozeßpolitik, d. h. durch Beeinflussung der ökonomischen Abläufe mit Hilfe des vorhandenen wirtschaftspolitischen Instrumentariums zu überwinden. Dabei konzentrierte Gierek sich vor allem auf eine Umverteilung zuungunsten der privaten Haushalte und eine Umstrukturierung der Importe (Verminderung der Konsumgütereinfuhr, Erhöhung der Importe von industriellen Vorleistungen).
Diese Sparpolitik stieß indes auf den erbitterten Widerstand der Arbeiter, und die Streikbewegung des Sommers 1980 entzog ihr schließlich die machtpolitischen Voraussetzungen. Die Gründung der Gewerkschaft „Solidarität“ verschob das gesellschaftspolitische Gleichgewicht zugunsten einer Reform-bzw. Ordnungspolitik (Änderung bzw. Ausgestaltung des politisch-institutionellen Rahmens der Volkswirtschaft). Das dann nach öffentlichen Diskussionen von einer Regierungskommission ausgearbeitete Reformkonzept ging über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen hinaus, die bis dahin in Polen und in anderen sozialistischen Ländern üblich waren. Zielmodell und Einführungskonzeption des Reformpaketes von 1981 können wie folgt zusammengefaßt werden Das Zielmodell des Reformkonzeptes verzichtete im Bereich der makroökonomischen Planung und Lenkung auf eine Aufschlüsselung der Planziele in verbindliche Kennziffern und sah eine indirekte marktkonforme Steuerung hauptsächlich über Preise vor. Aus dem Übergang von einer Detail-zu einer gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung folgte, daß der traditionell dominierende Jahresplan an Bedeutung verlieren und der Fünfjahresplan fortan die wichtigste Rolle spielen sollte. Gleichzeitig wollte man die Güterbilanzierung, mit deren Hilfe die Behörden Aufkommen und Verwendung („Angebot und Nachfrage“) von Produkten in Bilanzen aufeinander abstimmten, zurückdrängen und schließlich abschaffen. Zudem beabsichtigten die Reformer, den Planungsprozeß zu demokratisieren, d. h. Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen an ihm zu beteiligen.
Die Organisationsstruktur der Wirtschaft sollte diesem Planungskonzept angepaßt werden: Man wollte die Plankommission in eine Beratungsstelle der Regierung umwandeln, die Zahl der Branchen-ministerien vermindern und die verbindlichen Unternehmensvereinigungen abschaffen. Kernstück der Reform auf der betrieblichen Ebene war die Selbständigkeit (Abschaffung der administrativen Unterordnung), Selbstverwaltung (mittels Arbeiterräten) und Selbstfinanzierung (volle finanzielle Unabhängigkeit und Eigenverantwortung) der Unternehmen. Das anvisierte Wirtschaftssystem kann mit einer sozialistischen Marktwirtschaft verglichen werden, in der die Planungsbehörden zwar noch einen wesentlichen Einfluß auf die strukturbestimmenden Investitionen ausüben, die laufenden Produktionsentscheidungen jedoch von den Betrieben getroffen werden.
Das Einführungskonzept der Reform sah als ersten Schritt eine Reduzierung der Endnachfrage über die Prozeßpolitik (Preiserhöhungen, Begrenzung des Lohnanstiegs) vor. Die dadurch erhoffte Herstellung des Gleichgewichts auf den Märkten betrachtete man als eine entscheidende Voraussetzung für die ordnungspolitischen Änderungen. Das Reformkonzept ging davon aus, daß bei einem Marktgleichgewicht die Nachfrage wieder auf Preisänderungen reagieren könnte. Die eingeschränkte Nachfrage sollte außerdem die Betriebe zwingen, die mikroökonomische Effizienz zu erhöhen, weil die Produzenten dann nur durch eine höhere Wirtschaftlichkeit des Faktoreinsatzes Gewinne realisieren könnten. Man rechnete damit, daß dieser Effizienzdruck an die vorgelagerten Wirtschaftsbereiche weitergegeben würde. Dadurch sollte schließlich die Nachfrage nach Produktionsfaktoren verringert und die gesamtwirtschaftliche Effizienz ge-steigert werden. Schrittweise sollte die Preisbildung liberalisiert und die Allokationsfunktion vom Markt übernommen werden. Während man zu Beginn dieses Prozesses aufgrund der noch bestehenden Nachfrageüberhänge vorübergehend auf direkte Lenkungsformen angewiesen sein würde, sollten mit einer Annäherung an ein Marktgleichgewicht und schließlich mit dessen Realisierung die „Übergangslösungen“ verschwinden. Die Lenkungs-und Organisationsformen der Wirtschaft sollten dann in marktkonforme Instrumente und Strukturen überführt werden
Das Einführungskonzept der Reform beinhaltete eine enge Abstimmung von Prozeß-und Ordnungspolitik, die in einer Periode von ca. zwei bis drei Jahren zu dem gewünschten Zielmodell führen sollte. Wesentlich war ein Ausgleich der ökonomischen (Ordnungs-und Prozeßpolitik) mit der gesellschaftspolitischen Dimension der Reform, die aus den politischen Auseinandersetzungen während der „Solidarität" -Ära resultierte. Eine Schlüssel-rolle spielte dabei das Verhältnis zwischen der Prozeßpolitik und den gesellschaftspolitischen Forderungen der Bevölkerung. Im Laufe der politischen Konflikte zeichnete sich ein unausgesprochenes Abkommen zwischen der Regierung und der durch die „Solidarität“ repräsentierten Arbeiterschaft ab: Zugeständnisse in Hinblick auf eine Demokratisierung des Systems bildeten den „Preis“, den die politische Führung zu zahlen hatte, um ihre Sparpolitik gegenüber der Bevölkerung durchsetzen zu können.
Die Verhängung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 hatte indes für die Reform schwerwiegende Konsequenzen: Zunächst ging durch das Verbot der „Solidarität“ und durch die Einschränkung der Selbstverwaltung die gesellschaftspolitische Dimension der Reform weitgehend verloren. Die Reform wurde de facto vorrangig auf die ökonomische Ebene beschränkt. Zugleich gewann die Regierung gegenüber der Arbeiterschaft eine größere Machtposition. die es ihr ermöglichte, ohne zeitraubende und letztlich im Ergebnis ungewisse Verhandlungen die Sparpolitik durchzusetzen.
Die Wirtschaftspolitik entsprach bis Mitte 1982 in prozeßpolitischer Hinsicht weitgehend den Vorstellungen des Reformkonzeptes: Mittels drastischer Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln (um 140 bis 150 Prozent) und industriellen Konsumgütern (um ca. 95 Prozent) gelang es der Regierung, die Nachfrage drastisch zu reduzieren, ohne allerdings ein Marktgleichgewicht zu erreichen. Auf der Angebotsseite gelang es, den Rückgang der Indu-strieproduktion durch die Verlängerung des Arbeitstages in den Schlüsselbereichen der Volkswirtschaft sowie durch eine Umstrukturierung der Importe zugunsten von industriellen Vorleistungsgütem aufzuhalten. Vorhandene Kapazitäten konnten dadurch besser genutzt und Wachstumsimpulse in Gang gesetzt werden.
Die Fortführung der konsequenten Prozeß-und Reformpolitik setzte politische Stärke der Regierung und ordnungspolitische Konsequenz voraus. Beides war jedoch in der weiteren Entwicklung nicht gegeben. Die nach dem Kriegsrecht durch verschiedene passive und aktive Formen des Widerstands der Bevölkerung gekennzeichnete labile politische Lage veranlaßte die Regierung, vorrangig das Ziel der Machtstabilisierung zu verfolgen. Dies machte sich vor allem in zwei Bereichen bemerkbar: Erstens führte man die Gleichgewichtspolitik nicht konsequent durch, d. h. man war vor allem aus gesellschaftspolitischen Gründen zu Zugeständnissen in der Lohnpolitik bereit. Damit wurde ein Kernstück des Einführungskonzeptes, nämlich die Reduzierung der Endnachfrage, unterlaufen. Zweitens wollte die Regierung nicht auf die eher langfristig wirkenden Reformergebnisse warten, sondern brauchte möglichst rasch ökonomische Erfolge. Deshalb leitete sie eine eher kurzfristig wachstums-orientierte Wirtschaftspolitik ein. die sie weiterhin mit administrativen Lenkungsinstrumenten durchzusetzen versuchte
Von größter Bedeutung war dabei die Lohnpolitik: Um ein rasches Wirtschaftswachstum zu erreichen, änderte die Regierung im August 1982 das betriebliche Finanzsystem. Die Wirtschaftseinheiten wurden jetzt zum Teil von den im Reformentwurf vorgesehenen Abgaben zum „Staatlichen Fonds der beruflichen Aktivierung“ (PFAZ) befreit, der den Anstieg der Durchschnittslöhne über ein allgemein festgelegtes Niveau verhindern sollte. Die Gewährung von Abgabeermäßigungen koppelte man an den Produktionszuwachs
Schon im Sommer 1982 zeigte sich, welche starke Position die Betriebe in den Verhandlungen über die Abgabenbefreiung erhalten hatten: Die durchschnittlichen Löhne stiegen bereits 1982 — vorwiegend in der zweiten Jahreshälfte — um 12, 1 Prozent mehr als vorgesehen. Diese Lohnerhöhungen und der Anstieg der sonstigen Transferzahlungen (Sozialleistungen etc.) wurden von der Einführung einer zentralen Kontrolle der betrieblichen Preisfestset-zung für wichtige Produkte begleitet, die man mit der Monopolstellung vieler Betriebe begründete. Der Geldüberhang konnte deshalb nicht allein in Form einer klassischen Preisinflation abgeschöpft werden. Folglich entstand eine Kassenhaltungsinflation. 1983, d. h. nach der Einleitung des Wirtschaftswachstums, versuchte die Regierung, der Inflation durch verschiedene deflatorische Maßnahmen entgegenzuwirken — vorwiegend durch indirekte finanzpolitische Instrumente der Steuerpolitik, der Abschreibesätze und der Kreditvergabe. Diese im Ansatz restriktive Geldpolitik führte indes zu Geldengpässen, die wiederum das Wirtschaftswachstum gefährdeten. Aus Angst vor einem Produktionsrückgang war die Regierung dann schließlich zu Zugeständnissen bereit und ließ immer mehr Ausnahmen von den allgemein gültigen Regelungen zu.
Im Gegensatz zum Reformkonzept paßten die Behörden die einzelnen ökonomischen Steuerungsinstrumente nun an die konkreten Bedingungen der Betriebe und Branchen an; die „individualisierten“ finanzpolitischen Instrumente wurden zu einem entscheidenden Instrument zentraler Detailsteuerung, d. h. die Planungsinstanzen lenkten die einzelnen Wirtschaftseinheiten wie zuvor nur indirekt
Parallel zu dieser „indirekten Zentralisierung“ über die Finanzpolitik und der damit einhergehenden Schwächung marktkonformer Lenkungsinstrumente blieben verschiedene Bewirtsehaftungsformen von Produktionsmitteln bestehen. Daraus folgte eine direkte Produktionslenkung durch zentrale Auflagen — z. B. durch sogenannte Regierungsaufträge für wichtige Schlüsselprodukte — sowie durch informelle Absprachen, mit denen versucht wurde, Verteilung und Produktion von Gütern aufeinander abzustimmen. Die zentralen Planungsbehörden stellten vorwiegend kurzfristige Güterbilanzen auf, anstatt sich — wie im Reformkonzept vorgesehen — an einer langfristigen Rahmenplanung zu orientieren.
Institutionell hatte dies wiederum zur Folge, daß der Bedarf an vertikaler Koordinierung zunahm. Branchenministerien und Unternehmensvereinigungen übernahmen immer mehr ihre traditionellen Funktionen: Sie gaben Informationen weiter und verteilten Produktionsmittel. Man gründete sogar neue Organisationen solchen Typs. Im deutlichen Gegensatz zum Reformkonzept blieb damit ein Übergewicht der Branchen-gegenüber den funktionellen Strukturen (funktionelle Ministerien, Banken) bestehen. Dies führte dazu, daß auf der betrieblichen Ebene keines der „ 3 S“ realisiert wurde: Die Selbstverwaltung war nach der Aufhe-* bung des Kriegsrechts weitgehend formal; die Selbstfinanzierung wurde durch die Umverteilungspolitik über Subventionen und Abschöpfungen stark eingeschränkt; von einer Selbständigkeit der Betriebe konnte man angesichts der direkten bzw. informellen zentrale Interventionen über Produktionsauflagen und Zuteilungen nicht sprechen. Kurz gefaßt: Die Reform blieb in der Einführungsphase stecken, und letztlich entfernte sich das Wirtschaftssystem immer mehr von den Zielen der Reform
Das polnische Wirtschaftssystem des Jahres 1987 ist dennoch nicht mit der traditionellen Planwirtschaft der sechziger und siebziger Jahre vergleichbar. Es kann vielmehr als ein eigentümliches Mischsystem bezeichnet werden, in dem es weder eine konsistente zentrale Planung noch einen wirklichen Marktmechanismus gibt. Unterschiedliche Regulationsformen werden eher willkürlich gemischt Charakteristisch für dieses System ist, daß die traditionelle Aufstellung und Implementierung des zentralen Planes, d. h. die Aufschlüsselung der Planauflagen über die Branchenstrukturen für sämtliche Betriebe und die obligatorische Weitergabe der Informationen an die Planungsbehörden nicht mehr praktiziert werden. Auch versucht man nicht mehr, über Güterbilanzen dem volkswirtschaftlichen Plan eine möglichst hohe Konsistenz zu verleihen. Vielmehr herrscht eine Art „Schwerpunktplanung“ vor. in der man durch Umverteilung von Geldmitteln, also „indirekte Zentralisierung“, durch Zuteilung von Produktionsmitteln sowie durch direkte und informelle Anweisungen versucht, wesentliche Ziele der Wirtschaftspolitik wie z. B. große Investitionsprojekte durchzusetzen. Demgegenüber existieren marktähnliche Verhältnisse in den konsumnahen Bereichen der Volkswirtschaft, in denen der staatliche Einfluß zurückgeht und Preise sich verhältnismäßig frei bilden. Die einzelnen Teilmärkte bleiben allerdings wegen des nichtexistierenden Kapitalmarktes und des nicht vorhandenen freien Marktzutritts weitgehend voneinander isoliert 2. Ergebnisse und offene Probleme Welche ökonomischen Ergebnisse erzielte die polnische Wirtschaftspolitik im Rahmen dieses Misch-Systems?Auf den ersten Blick war sie im Hinblick auf die Einleitung eines Wirtschaftswachstums erfolgreich: Seit 1983 konnten wieder positive Wachstumsraten erzielt werden. Das Wirtschaftswachstum betrug von 1983 bis 1986 im Jahresdurchschnitt 4. Prozent. Die Wachstumsraten verminderten sich dabei allerdings bis 1985 stetig; erst 1986 stieg die Zunahmerate wieder. An das Niveau der späten siebziger Jahre vermochte man trotz Wachstums nicht anzuknüpfen: Das produzierte Nationaleinkommen war 1986 um rund 7. 2 Prozent geringer als 1978. Pro Kopf gerechnet lag das Nationaleinkommen aufgrund des Bevölkerungswachstums sogar um 13, 3 Prozent unter dem von 1978.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unterschiedliche Einzelentwicklungen: Der Beitrag der Industrie zum erzeugten Nationaleinkommen (vergleichbar mit der Nettoproduktion) lag 1986 noch 6, 8 Prozent unter dem Wert von 1978, obwohl die Bruttoproduktion schon 1984 und die verkaufte Produktion bereits 1985 den Wert des Jahres 1978 überschritten hatten. Das in der Landwirtschaft erzeugte Nationaleinkommen und die Bruttoagrarproduktion erreichten hingegen 1986 den Wert von 1978. Besonders ungünstig schnitt im Vergleich dazu das Bau-wesen ab: Das dort produzierte Nationaleinkommen erreichte 1986 aufgrund der Kürzung vieler Investitionsprojekte im Jahre nur 62, 9 Prozent des Wertes von 1978 9). Nach jüngsten Angaben des Statistischen Hauptamtes zeichnet sich für 1987 nur ein Wirtschaftswachstum von ca. zwei Prozent ab. Es liegt damit nicht nur hinter dem Vorjahresergebnis, sondern fällt auch deutlich hinter die gesteckten Planziele zurück. Hierfür ist vor allem das schlechte Abschneiden der Landwirtschaft verantwortlich: Die Bruttoagrarproduktion lag nicht zuletzt aufgrund ungünstiger Witterungsbedingungen 1987 um drei Prozent unter dem Vorjahreswert. Auch die Bruttoproduktion des Bauwesens erreichte mit nur ein Prozent Wachstum nicht die gesteckten Planziele. Die verkaufte Industrieproduktion erhöhte sich hingegen um 3, 3 Prozent und überstieg damit etwas die Planvorgaben
Vor welchen Problemen steht die polnische Volkswirtschaft zu Beginn der „zweiten Reformetappe“? Wachstums-und Effizienzprobleme: Das Wirtschaftswachstum wurde in den vergangenen Jahren weitgehend auf extensive Weise, d. h. durch vermehrten Ressourceneinsatz erzielt. Mittels höherer Importe von industriellen Zwischenprodukten auf Kosten der Einfuhr von Konsum-und Investitionsgütern konnten vorhandene Kapazitäten genutzt und Wachstumsimpulse eingeleitet werden. Einer weiteren Erhöhung der Importe von Zwischenprodukten sind indes aufgrund der hohen Verschuldung des Landes enge Grenzen gesetzt. Dieses sich „selbsttragende Wachstum“, wie es von polnischen Wirtschaftsexperten bezeichnet wurde, ist daher Weitgehend erschöpft, und stärkere Effizienzsteigerungen sind künftig notwendig.
Das jetzige Mischsystem hat hinsichtlich eines sparsameren Ressourceneinsatzes kaum Erfolge vorzuweisen. Darüber kann auch eine in den letzten Jahren stärker gestiegene Arbeitsproduktivität nicht hinwegtäuschen, die auf eine gewisse Verbesserung der Arbeitsmoral und auf organisatorische Änderungen zurückzuführen ist Der Energie-und Materialverbrauch ist weiterhin extrem hoch, und die Innovationsbereitschaft der Betriebe ist nicht gestiegen. Zudem hat sich die Qualität der Erzeugnisse nicht verbessert; bei vielen Produkten blieb sie vielmehr aufgrund des geringer gewordenen Imports von „Vorleistungen“ aus dem Westen hinter dem Standard der siebziger Jahre zurück Wesentlich für die geringe mikro-und makroökonomische Effizienz der polnischen Wirtschaft ist die Tatsache, daß sich vor allem in den Schlüsselbereichen die Verhaltensweise der einzelnen Unternehmen kaum geändert hat. Die noch immer zu einem wichtigen Teil zentral verteilten Produktionsmittel, fehlende Konkurrenzbeziehungen und mangelnde Restriktionen von Seiten der Nachfrage führen dazu, daß die Betriebe weiterhin kaum an Kosten-senkungen interessiert sind und Risiken scheuen. Sie versuchen statt dessen, im Rahmen von Verhandlungen eine möglichst hohe Zuteilung von Produktionsmitteln bzw. eine für sie vorteilhafte Festlegung der individuellen finanzpolitischen Instrumente (Subventionen. Korrekturkoeffizienten für die Abgaben an den PFAZ, Abschreibungssätze) zu erzielen.
Während sich in den staatlichen Großbetrieben kaum etwas änderte und die ökonomischen Ergebnisse dort eher enttäuschend waren, konnten indes gewisse Reformerfolge in den konsumnahen Mittel-und Kleinbetrieben und im genossenschaftlichen und privaten Sektor (kleinere Industrie-und Handwerksbetriebe, bäuerliche Landwirtschaft) verzeichnet werden. In diesen Bereichen setzte man schon im Jahre 1981 die Reformprinzipien durch, so daß sich hier ansatzweise Marktbeziehungen entwickelten. Größere ökonomische Freiheiten — etliche restriktive Regelungen z. B. in der Steuerpolitik blieben allerdings bestehen — und eine weniger den Privatsektor behindernde Politik führten dazu, daß diese Sektoren sich schneller an die Wirtschaftskrise anzupassen vermochten und in den letzten Jahren die höchsten Wachstumsraten aufwiesen
Versorgungsprobleme und binnenwirtschaftliche Ungleichgewichte: Trotz der positiven Ergebnisse in den Klein-und Mittelbetrieben blieb insgesamt die geplante Umstrukturierung zugunsten der Konsumgütersektoren aus. Von der Angebotsseite konnte deshalb den Ungleichgewichten auf den Konsumgütermärkten nur unzureichend entgegengewirkt werden. Nach dem drastischen Rückgang des Lebensstandards in den Jahren 1980 bis 1982 hat sich die Versorgungslage seit 1983 zwar stetig verbessert, doch konnte im allgemeinen noch nicht das Verbrauchsniveau der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erreicht werden. Es mangelt weiterhin an den einfachsten Waren, vor allem an Kleidung, Schuhwerk und langlebigen Konsumgütern wie Waschmaschinen und Kühlschränken — um nur einige Mangelprodukte zu nennen. Auch bei der Nahrungsmittelversorgung gab es deutliche Engpässe. Der Fleischkonsum — ein für Polen wichtiger Indikator für den Lebensstandard — sank von 1980 bis 1984 von ca. 69 kg auf ca. 53 kg pro Kopf und Jahr. Erst 1985 und 1986 stieg er wieder auf ca. 61 kg. Zwar konnte in den letzten Jahren die Rationierung von Lebensmitteln erheblich eingeschränkt werden, doch blieb sie für Fleisch, Benzin und Schokolade bestehen. 1987 zeichnet sich eine Verschlechterung auf den Konsumgütermärkten ab
Auch über die Nachfrageseite ist es der Regierung mit Hilfe der Lohn-und Preispolitik nicht gelungen, sich einem Marktgleichgewicht anzunähern, da sie, wie schon erwähnt, die auf ein Marktgleichgewicht orientierte Prozeßpolitik nicht konsequent verfolgte. Man muß allerdings berücksichtigen, daß der Spielraum für eine Sparpolitik gering war: Die durchschnittlichen Reallöhne von Arbeitern und Angestellten sanken 1982 drastisch auf etwa 80 Prozent des Niveaus von 1980. Besonders Rentner, ungelernte Arbeiter und Teile der Intelligenz waren von den Einkommensverlusten betroffen. Die Einkommensdifferenzierung vertiefte sich dadurch. Erst 1983 stiegen die Reallöhne wieder langsam. Kennzeichnend für die achtziger Jahre ist zudem eine hohe Inflation, die nicht nur in ihrer offenen Form — die Inflationsrate betrug 1984 sowie 1985 etwa und 1986 ca. 18 Prozent —, sondern verdeckt auch als Kassenhaltungsinflation auftrat. Dieser inflationäre Überhang bedingt eine Art „Zwangssparen“, da das Geld keinen Gegenwert auf dem Markt hat.
Seit 1985 zeichnen sich somit noch größere Un-gleichgewichte auf den Konsumgütermärkten ab: Während das Angebot wichtiger Konsumgüter stagnierte, stiegen Löhne und Gehälter deutlich. Vor allem 1987 war ein starker nicht eingeplanter Anstieg der Geldeinkommen der Bevölkerung zu beobachten 15). Das „Zwangssparen“ hat zusätzliche ungünstige Auswirkungen auf die mikroökonomische Effizienz, da Lohnanreize nicht die Motivation erhöhen und die Betriebe von Seiten der Nachfrage keinen Druck verspüren. Kosten einzusparen und zu exportieren. Ungünstig beeinflußt wird die gesamtwirtschaftliche Allokation zudem auch durch die bestehende Preisstruktur: Noch immer werden wichtige Preise u. a. für Nahrungsmittel subventioniert. Dadurch wird die gesamte Preis-struktur verzerrt, und der Staatshaushalt, von dem man jährlich rund 40 Prozent für Subventionen verwendet, wird erheblich belastet
Investitionsprobleme: Die Investitionen gingen in den achtziger Jahren drastisch zurück und erreichten 1982 mit nur 55 Prozent des Wertes von 1978 einen Tiefstand. Parallel mit der Einleitung des Wirtschaftswachstums stiegen seit 1983 die Investitionen wieder an. Sie entsprachen allerdings 1986 lediglich 74. 8 Prozent der Investitionen von 1978. Das niedrigere Investitionsniveau und die Umstrukturierung der Importe zugunsten der Zwischenprodukte führten zu einer Alterung des Kapitalstocks, die in Polen allgemein als „Dekapitalisierung" bezeichnet wird.
Zudem waren die Investitionen auch weiterhin zu „breit“ angelegt, d. h. man verfolgte zu viele Vorhaben. Auch die Investitionsstruktur änderte sich kaum: Zwar ist ein leichter Anteilsanstieg des gesamten Ernährungssektors zu erkennen, doch verwendete man weiterhin die meisten Geldmittel auf die Schlüsselsektoren. Der Investitionsanteil im Energiesektor stieg sogar. Außerdem blieben die Investitionsausgaben durch eine geringe Wirtschaftlichkeit gekennzeichnet. Die Dauer der Fertigstellung von Investitionsprojekten hat sich in den letzten Jahren sogar verlängert. Wenn nicht in den nächsten Jahren verstärkt Modernisierungsinvestitionen und ein effizienterer Einsatz der Mittel erfolgen, dürften sich die Wachstumsaussichten künftig noch verschlechtern
Außenwirtschaftliche Probleme: Zunächst trug die drastische Verringerung der in den siebziger Jahren enorm gestiegenen Importe vor allem aus dem westlichen Ausland wesentlich zum Rückgang des Nationaleinkommens in den Jahren 1980 bis 1982 bei. Die Betriebe konnten nicht mehr mit wichtigen Vorleistungen versorgt werden. Durch Importbeschränkungen und Erhöhung der Kohleexporte gelang es seit 1983 wieder, eine positive Handelsbilanz gegenüber dem Westen zu erzielen. Zugleich änderte sich die regionale Struktur des Außenhandels zugunsten der RGW-Länder, insbesondere zugunsten der Sowjetunion. Im Wirtschaftsverkehr mit diesen Ländern hat Polen nun eine negative Handelsbilanz.
Trotz der insgesamt positiven Handelsbilanz ist es Polen vor allem wegen der Zinszahlungen nicht gelungen, eine positive Leistungsbilanz zu erzielen. Nicht einmal sämtliche laufenden Zinsen konnten zurückgezahlt werden. Ständige Umschuldungsaktionen waren notwendig. Die letzte fand im Rahmen des Pariser Klubs im Herbst 1987 statt und umfaßte 9 Mrd. US-Dollar. In den vergangenen Jahren sind die Schulden noch gestiegen: Sie beliefen sich im Jahre 1986 in konvertibler Währung auf 33, 5 Mrd. US-Dollar und auf 6, 5 Mrd. Transfer-rubel gegenüber dem RGW 1987 betrug die Schuldenhöhe in konvertibler Währung in etwa 37, 5 Mrd. US-Dollar Verschiedene Prognosen zeigen, daß auch bei einer günstigen Entwicklung des Außenhandels die Verschuldung in den nächsten Jahren voraussichtlich noch steigen dürfte und es frühestens Anfang der neunziger Jahre zu einer Konsolidierung der Schuldensituation kommen könnte
Die Verbesserung der Exportfähigkeit ist für die weitere gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Modernisierung der polnischen Volkswirtschaft entscheidend. Davon hängt nicht nur die laufende Versorgung mit importierten Zwischenprodukten ab. sondern auch der Spielraum für die dringend benötigten Investitionsgüterimporte. Trotz der positiven Handelsbilanz kann man von keinen nennenswerten Fortschritten im Hinblick auf eine größere außenwirtschaftliche Anpassungsfähigkeit der polnischen Volkswirtschaft sprechen.
Dies zeigt sich vor allem darin, daß die Exportstruktur ungünstig blieb und sich erst in den letzten zwei Jahren eine gewisse Verbesserung abzeichnet. Exportsteigerungen erzielte man vorwiegend bei Rohstoffen, insbesondere bei Kohle, kaum jedoch beim Maschinenbau und bei der verarbeitenden Industrie. Dies ist vor allem auf das Außenhandelssystem zurückzuführen: Die Behörden erweiterten zwar die Möglichkeiten der Betriebe, eigenständig Außenhandelsgeschäfte zu betreiben, doch änderte sich zunächst in der Praxis kaum etwas an den traditionellen Mechanismen und Institutionen des zentralistischen Systems Im Jahre 1987 sind eine gewisse Belebung und strukturelle Verbesserung des Außenhandels zu beobachten: Vor allem stiegen die Westausfuhren sowie die Exporte des Maschinen-und Elektrogeräte-baus, der Nahrungsmittel-, Leicht-und Holzverarbeitungsindustrie. Der Export wurde sicherlich durch eine flexiblere Außenhandelspolitik, d. h. durch eine realistischere Festlegung der Wechselkurse, eine liberalere Vergabe von Außenhandels-konzessionen sowie durch einen leichteren Zugang der Betriebe zu Devisen und höhere finanzielle Anreize bei Exporten gefördert
III. Die „zweite Reformetappe“
1. Vorgeschichte und Diskussionen Das Jahr 1984 kann als Beginn der Diskussionen über die Notwendigkeit einer zweiten Reform-etappe datiert werden. Dies geht aus dem ursprünglichen Reformkonzept des Jahres 1981 hervor, das in einer Übergangsphase von zwei bis drei Jahren die Etablierung der neuen ökonomischen Mechanismen und Institutionen vorsah. Die im Mai bzw. November 1984 veröffentlichten Berichte des Bevollmächtigten der Regierung für die Wirtschaftsreform und des die Regierung beratenden Konsultativen Wirtschaftsrates zogen deshalb Bilanz.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen stimmten nicht miteinander überein. Die Kernthese des offiziellen Dokumentes des Regierungsbevollmächtigten kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Ohne Reform hätte es kein Wirtschaftswachstum gegeben, und das Wirtschaftssystem habe sich — mit einigen Einschränkungen — dem Zielmodell der Reform angenähert Der Bericht des relativ unabhängigen Wirtschaftsrates weist dagegen mit Nachdruck darauf hin, daß das Wirtschaftswachstum seit 1983 kaum der Reform, sondern der Prozeßpolitik zuzuschreiben sei. Die Reform habe die Verhaltensweise der Betriebe und die Funktionsweise des Wirtschaftssystems nur wenig geändert. In einer etwas vorsichtigen und verhüllten Sprache fordert das Dokument deshalb einen neuen Anlauf zur Wirtschaftsreform
Die Regierung stand indes im Verlauf des Jahres 1985 der Forderung zur Fortführung der Reform gleichgültig oder sogar ablehnend gegenüber. Sie argumentierte, daß die Reform schon wichtige Ergebnisse erzielt habe und weitere folgen würden. Diese Haltung änderte sich allmählich in der ersten Hälfte von 1986. General Jaruzelski äußerte sich in einem Referat des ZK zum 10. Parteitag der PVAP kritisch über die bisherigen Reformergebnisse und machte sich die Forderung nach einem neuen Anlauf zur Umgestaltung der Wirtschaft zu eigen: „Das Gleichgewicht auf dem Konsumgütermarkt bildet in dem nächsten Jahrfünft die höchste Priorität der Reform. Dies ist der Sinn ihrer zweiten und entscheidenden Etappe. Die Regierung soll alle in dieser Hinsicht notwendigen Maßnahmen einleiten.“
Aus den Beschlüssen des 10. Parteitages folgte der Regierungsauftrag an die Plankommission, ein Konzept für die „zweite Reformetappe“ vorzubereiten. In ihrem zügig ausgearbeiteten Dokument schlug die Plankommission vor, insgesamt elf Reformgesetze aus den Jahren 1981 und 1982 zu ändern. Im Kem war dieses Konzept gegen die Reform gerichtet, da die Kompetenzen der Arbeiterselbstverwaltungen und die Autonomie der Wirtschaftseinheiten — vor allem im Bereich der betrieblichen Finanzierung und der Preisbildung -eingeschränkt werden sollten.
Die Veröffentlichung des Dokuments der Plankommission in der Regierungszeitung „Rzeczpospolita" löste eine öffentliche Diskussion aus. Bedeutende gesellschaftspolitische Organisationen wie die Gewerkschaften. die Polnische Ökonomische Gesellschaft (PTE) und die Patriotische Bewegung für die Nationale Wiedergeburt (PRON) lehnten die Vorschläge der Plankommission ab. Das größte politische Gewicht hatte indessen die Zurückweisung des Dokuments durch die landesweite Tagung der Vertreter der Arbeiterräte. Einige Wochen später zog der Ministerrat offiziell den Vorschlag der Plan-kommission zurück, und im Dezember 1986 bestätigte das ZK-Plenum der PVAP die auf dem 10. Parteitag angekündigte „zweite Reform-etappe“. Die intensiven Diskussionen über die Änderungsvorschläge der Plankommission führten zu einer „Mobilisierung“ der Reformbefürworter. Die Redaktion der in Polen bedeutenden Wirtschaftszeitung „Zycie Gospodarcze“ (Wirtschaftsleben) veröffentlichte im Dezember 1986 42 Thesen, die sich auf die „zweite Reformetappe“ bezogen In den Zeitschriften häuften sich zudem Vorschläge verschiedener Autoren. Flankiert wurde die Diskus-sion durch die Forderung der Weltbank, die polnische Wirtschaft zu reformieren und zu sanieren. Die Reformanhänger in der Regierung benutzten die Argumente und die Forderungen der Weltbank für die innenpolitische Auseinandersetzung
Das Sekretariat der Kommission für Wirtschaftsreform hatte währenddessen ein neues Reformkonzept ausgearbeitet, das in den Grundzügen im April 1987 als „Thesen zur zweiten Reformetappe“ vorgestellt wurde Diese Thesen wurden nicht nur von Ökonomen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sondern auch von gesellschaftlichen Organisationen (Gewerkschaften, PTE, PRON) diskutiert. Nach der Erörterung derThesen erfolgte eine wichtige personelle Änderung, die den Willen der politischen Führung nach Reformen bekräftigen sollte. Zdzislaw Sadowski, ein weithin anerkannter parteiloser Ökonom, wurde Chef der Planungskommission. einem der wichtigsten Zentren der Reformgegner. Auf der Grundlage der „Thesen“ und der darauf folgenden Diskussion bereitete die ebenfalls Sadowski unterstellte Reformkommission das „Realisierungsprogramm für die zweite Reformetappe“ vor. Es wurde im Oktober 1987 veröffentlicht Als Ergänzung zu diesem Dokumentpublizierte man kurz daraufein Programm zur Preis-und Einkommenspolitik, das drastische Preiserhöhungen vorsah.
Als gesellschaftspolitisches Zugeständnis ist die Tatsache zu bewerten, daß zum ersten Mal in der Geschichte des Sozialismus ein Reformpaket in seinem gesamten Umfang Gegenstand einer Volksabstimmung wurde. Zwar ergab sich beim Referendum vom 29. November 1987 für die Regierungsvorschläge eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen, allerdings lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 67 Prozent. Der Regierung gelang es damit nicht, die vom Gesetzgeber vorgeschriebene Mehrheit aller Wahlberechtigten zu erreichen. Nach diesem Mißerfolg gab man zwar die Reform nicht auf, doch ihre Durchführung soll jetzt in einem langsameren Tempo fortgesetzt werden, um die sozialen Härten besser „abfedem“ zu können. 2. Die Konzeption der „zweiten Reformetappe“ Die im April 1987 erschienenen Thesen zur „zweiten Reformetappe“ zielten auf eine Fortsetzung und Erweiterung des Reformkonzepts von 1981 Das ausführliche Dokument befaßt sich umfassender und konkreter als das ursprüngliche Konzept von 1981 mit dem Schlüsselproblem des Übergangs zum Zielmodell der Reform. Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß die Reform vor allem aufgrund ihrer Einführungskonzeption scheiterte. Gestützt wird diese Einschätzung auch durch theoretische Überlegungen, die sich im Rahmen der polnischen Reformdiskussionen immer stärker durchgesetzt haben. Danach müssen Reformen, die beabsichtigen, die konstitutiven Elemente des zentralistischen Wirtschaftssystems zu ändern, komplex und zügig durchgeführt werden. Nur so könne der Weg zurück zum alten System verbaut und ein Durchbruch zu einem neuen Wirtschaftssystem erreicht werden
Die Thesen zur „zweiten Reformetappe“ gehen davon aus, daß die Reform schon in ihrer Anlaufphase (1982/83) aufgrund einer inkonsequenten Prozeßpolitik fehlgeschlagen sei. Deshalb stellt man nun das Gleichgewichtsproblem in das Zentrum des Interesses: „Allen Einschätzungen ist gemeinsam, daß es ohne das Gleichgewicht der Märkte keinen Erfolg und, umgekehrt, ohne Reform kein Gleichgewicht geben wird.“ Umfassend wird in den „Thesen“ die Frage erörtert, wie man sich dem Marktgleichgewicht über die Angebots-und Nachfrageseite annähern könne und welche Maßnahmen im Bereich der Preispolitik unternommen werden müßten. Die Konzentration auf dieses Problem veranlaßte sogar die offiziellen Gewerkschaften, von einer „Gleichgewichtsobsession“ zu sprechen
Im „Realisierungsprogramm für die zweite Reform-etappe“, das sowohl auf Grundlage der „Thesen“ als auch der darauf folgenden Diskussionen vorbereitet wurde und als Basis für konkrete Maßnahmen dienen soll, legte man noch deutlicher den Schwerpunkt auf das „Gleichgewichtsproblem“ Es sieht drei Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen vor, mit dem ein Marktgleichgewicht erreicht werden soll: erstens Förderung des Angebotes; zweitens Stabilisierung des Geldwertes. Änderung der Preis-Einkommensstrukturen und Festlegung „realistischer Parameter“ (vor allem der Preise) für die Wirtschaftstätigkeit; drittens ordnungspolitische Änderungen im Bereich der makroökonomischen Planung und Lenkung. Das Dokument legt bei der Gleichgewichtspolitik für den Zeitraum bis 1990/91 eindeutig den Schwerpunkt auf die Angebotsseite. In den Vordergrund rücken dabei Begriffe wie „Unternehmergeist“ und „Innovationsbereitschaft“. Im Unterschied zum ursprünglichen Reformkonzept aus dem Jahre 1981, das sich noch stark auf den Staatssektor konzentrierte, befaßt sich das „Realisierungsprogramm" auch ausführlich mit den genossenschaftlichen und privaten Eigentumssektoren. Für diese Sektoren werden jetzt eine volle Gleichberechtigung mit dem Staatssektor sowie stabile ökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen verkündet. Allen Wirtschaftssubjekten soll der Zugang zu verschiedenen Wirtschaftstätigkeiten erleichtert werden.
Demnach gilt das Prinzip, daß alles, was nicht verboten, auch zugelassen ist. Bezeichnenderweise soll nun die Gründung von Unternehmen nicht mehr allein von zentralen staatlichen Behörden, sondern auch von anderen gesellschaftlichen Institutionen, Privatpersonen und Banken ausgehen können. Auch bezüglich des Außenhandels soll es wichtige Änderungen geben: Die Außenhandelsrechte der polnischen Unternehmen sollen wesentlich erweitert werden, während ausländische Unternehmen verbesserte Investitionsmöglichkeiten erhalten sollen. Hierzu dient auch die Novellierung des JointVenture-Gesetzes: Künftig sollen in Gemeinschaftsunternehmen mit dem Ausland die ausländischen Unternehmen eine Kapitalmehrheit besitzen können Änderungen im Staatssektor der Wirtschaft bilden einen weiteren Schwerpunkt des „Realisierungsprogramms“. Um dort unternehmerische Verhaltensweisen zu fördern, sollen die Selbstverwaltung der Betriebe gestärkt, ihre Entscheidungskompetenzen erweitert und ihr Leitungspersonal angemessen motiviert werden. Dies soll zusätzlich durch eine Erweiterung der horizontalen, d. h. zwischen-betrieblichen Kapital-und Arbeitskräfteströme flankiert werden. Vorrangiges Ziel ist es. Wettbewerbsstrukturen herzustellen. Schon 1987 wurde ein Gesetz gegen Monopolpraktiken in der Wirtschaft verabschiedet, und größere Unternehmen sollen dekonzentriert werden.
Wesentlich für die Belebung des Marktes ist zudem die Neuordnung des Bankensystems: Das „Realisierungsprogramm“ sieht vor, schon 1988 das Bankensystem von einer einstufigen in eine zweistufige Struktur umzuwandeln. Künftig sollen Geschäftsbanken untereinander konkurrieren. Eine Zentralbank soll über fiskalpolitische Instrumente die Geschäftsbanken steuern und verantwortlich für eine in den nächsten Jahren vorwiegend restriktive Geldpolitik sein. Damit soll eine Art Kapitalmarkt etabliert werden. Längerfristig denkt man daran.
Aktien und Obligationen von Staatsbetrieben an die Beschäftigten auszugeben
Parallel zur Veränderung des Bankwesens wird im Bereich der makroökonomischen Planung und Lenkung ein „starkes staatliches“ Steuerungszentrum anvisiert, dessen Aufgabe es wäre, das gesamtwirtschaftliche Interesse gegen partikulare Belange einzelner Wirtschaftsbranchen, Betriebe und Regionen durchzusetzen. Dieses Zentrum soll von der „Detailsteuerung“ befreit werden und sich mit der langfristigen Entwicklungsstrategie sowie mit der indirekten ökonomischen Lenkung beschäftigen
All diese Maßnahmen können allerdings selbst nach Schätzung von Optimisten das Angebot erst nach zwei bis drei Jahren beleben. Ökonomen weisen zudem darauf hin. daß positive Angebotseffekte eigentlich nur unter den Bedingungen bereits existierender freier Marktpreise und eines Markt-gleichgewichts erreicht werden könnten. Anderenfalls müsse eine „Angebotspolitik“ mit einem Mißerfolg enden Die Notwendigkeit einer kurzfristig orientierten Gleichgewichtspolitik auf der Nachfrageseite sei somit offensichtlich
Das „Realisierungsprogramm“ zeigt drei wesentliche Ziele der künftigen Preis-und Einkommenspolitik: erstens den Abbau der staatlichen Subventionen für Konsumgüter; zweitens die Verbesserung der Preisrelationen für Konsumgüter, die ihren durchschnittlichen Produktionskosten angeglichen werden sollen; drittens die Herstellung eines Marktgleichgewichtes. Die Gewichtung dieser Ziele ist diesem Programm nicht zu entnehmen. Indirekt ist die Abfolge der Prioritäten allerdings in der Rede von Ministerpräsident Messner zu erkennen. mit der er das „Realisierungsprogramm“ dem Sejm am 10. Oktober 1987 vorstellte. Zu den wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftspolitik für das Jahr 1988 zählte er an erster Stelle die Erreichung eines Angebotsüberhangs (Nachfragelücke) auf dem Konsumgütermarkt und eine wesentliche Annäherung an das Gleichgewicht auf den anderen Güter-märkten. Analog zu dem Reformkonzept von 1981 soll damit von Seiten der Endnachfrage der erste große Anstoß für eine Herstellung des Marktgleich-gewichtes kommen. Dies bedeutet, daß die Preis-und Einkommenspolitik zumindest im Jahre 1988 vor allem diesem Ziel dienen soll. Dabei sind sich die Verantwortlichen durchaus im klaren, daß eine solche Politik soziale Härten und gesellschaftspolitische Risiken in sich birgt -
Zusammen mit der Präsentation des „Realisierungsprogramms" am 10. Oktober 1987 im polnischen Parlament wurden erste Schritte zur Durchsetzung der „zweiten Reformetappe“ eingeleitet. Die Regierung legte dem Sejm 15 Gesetzesentwürfe vor, die auf eine umfassende Umstrukturierung der Institutionen des „wirtschaftspolitischen Zentrums“ zielten. Nach Verabschiedung der Entwürfe schaffte man 17 bisherige Ministerien und zentrale Ämter ab und gründete acht neue Ressorts. Damit soll auch eine wesentliche Verringerung der Beschäftigten in diesen Institutionen einhergehen. Entscheidend ist jedoch die Änderung der Aufgaben dieser Regierungsorgane: Sie sollen künftig die Ziele der staatlichen Wirtschaftspolitik für alle Eigentumssektoren durchsetzen. Äuch will man die Behörden von den traditionellen Aufgaben der Ausarbeitung, Weitergabe und Kontrolle der zentralen Planauflagen befreien, d. h. das Branchen-prinzip wird durch das funktionelle Prinzip ersetzt. Grundsätzlich sollte dies zwar schon im ursprünglichen Reformkonzept von 1981 realisiert werden, doch erfolgten nur geringe organisatorische Veränderungen. Nun scheint man allerdings mit diesem für die Umgestaltung des Wirtschaftssystems so wichtigen Schritt ernst zu machen
Die spektakulärste organisatorische Änderung ist sicherlich die Zusammenlegung von vier bisherigen Branchenministerien zu einem Industrieministerium. Damit wurde eine wichtige Forderung aus den Reformdiskussionen der Jahre 1980/81 erfüllt.
Zu den wesentlichen Aufgaben dieses neuen Ressorts soll die Industrie-und Strukturpolitik sowie die Förderung des technischen Fortschritts gehören.
Wichtig ist auch die Stärkung des Finanzministeriums. Seine Kompetenzen hatte man schon im Jahre 1981 erweitert. Vier Jahre später übernahm es auch die Zuständigkeit für die Preispolitik von den 1985 abgeschafften Preisressorts. Im Oktober 1987 wurden dem Finanzministerium zudem noch zusätzliche Befugnisse hinsichtlich der Regulierung des gesamtwirtschaftlichen Lohnaufkommens zugesprochen. Das Finanzressort entwickelt sich allmählich zu einem „Superministerium“, das die für die „zweite Reformetappe“ entscheidende Preis-und Einkommenspolitik kontrollieren und durchsetzen soll.
Beachtenswert ist auch die Gründung eines Ministeriums für Binnenhandel. Neu an diesem Ministerium ist, daß erstmals der Handel mit Konsumgütern mit Produktionsmittelhandel verknüpft werden soll. Man hofft darauf, daß die Verteilung der Produktionsmittel künftig stärker zugunsten der konsumnahen Wirtschaftsbereiche erfolgen und demnach das Angebot von Konsumgütern steigen wird.
Die geschilderten organisatorischen Änderungen haben nicht nur eine ordnungspolitische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Ministerpräsident Messner formulierte dies folgendermaßen: „So sind die Erwartungen der öffentlichen Meinung. Der Umbau des Zentrums wird von ihr so interpretiert, daß die politisch Verantwortlichen den festen Willen haben, die Reform unserer Volkswirtschaft ohne jegliche Täuschungen voranzutreiben “
III. Ausblick: Krise und Reform ohne Ende?
Das Scheitern des ersten Reformanlaufs lenkte das Interesse der Ökonomen auf die verteilungs-und machtpolitischen Dimensionen einer am Markt-gleichgewicht orientierten Prozeßpolitik. In den Diskussionen herrschte die Auffassung vor, daß zur Durchsetzung einer solchen Politik zwei Bedingungen entscheidend seien: Erstens müsse die politische Führung der Prozeßpolitik für den Zeitraum der Reformeinführung die höchste Priorität einräumen. Dies setze politische Stärke und ordnungspolitische Konsequenz der Verantwortlichen voraus. Zweitens sei die Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Wirtschaftspolitik entscheidend, d. h. diese müsse von den wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen akzeptiert bzw. zumindest toleriert werden. Hierzu seien gesellschaftliche Kompromisse bzw. ein Abkommen der Regierung mit der Gesellschaft notwendig, d. h. kurz gefaßt: Mehr wirtschaftliche und politische Freiheiten sollten den Preis für Preiserhöhungen bilden.
Der politische Wille zu einer konsequenten, am Marktgleichgewicht ausgerichteten Prozeßpolitik kommt in den „Thesen“ und im „Realisierungsprogramm“ der „zweiten Reformetappe“ deutlich zum Ausdruck. Auch nach dem mißlungenen Referendum wurde dies in einem Parlamentsbeschluß des Sejm vom 8. Dezember 1987 noch einmal ausdrücklich in fast dramatischen Worten bestätigt: „Von den eingeleiteten Reformen kann es keinen Rückzug geben. Von diesen Reformen hängt die Zukunft Polens und jeder polnischen Familie ab.“ Solche Erklärungen des guten Willens hatte man auch schon hinsichtlich des ursprünglichen Reformkonzeptes von 1981 verkündet, ohne allerdings danach zu handeln. Dennoch scheint man sich über die Konsequenzen einer solchen Politik nun bewußter zu sein. In Punkt 3 der „Thesen“ wird erklärt, daß im Zuge der Verwirklichung einer solchen Wirtschaftspolitik auch Produktionsrückgänge in Kauf zu nehmen seien. In anderen Punkten wird deutlich, daß man sich über die sozialen Folgen dieser Politik im klaren ist
Dies zeigt, daß nunmehr das Marktgleichgewicht den Vorrang vor anderen wirtschaftspolitischen Zielen genießt. Noch bis zum Herbst 1987 gab es allerdings ernsthafte Sorgen, ob die Reformen mit dem Fünfjahresplan für 1986 bis 1990 abgestimmt werden könnten. Der erst im Dezember 1986 vom Parlament verabschiedete Plan beinhaltete nämlich keine Ansätze für eine überzeugende, am Markt-gleichgewicht ausgerichtete Wirtschaftspolitik. Eher das Gegenteil war der Fall: In der bekannten Weise versuchten die Planer, das Produktionswachstum vor allem in den Schlüsselbereichen der Wirtschaft (Kohle, Energie, Hüttenwesen, Maschinenbau) mittels direkter Eingriffe (u. a. zentrale Investitionen. Zuteilungen) voranzutreiben. Die Ziele des Fünfjahresplans waren deshalb Gegenstand einer Kontroverse zwischen den Reformern und den konservativen Kräften im Wirtschaftsapparat, die vor allem in der Planungskommission zu finden waren. Aus dieser Auseinandersetzung gingen die Reformer erfolgreich hervor. Ein sichtbares Zeichen hierfür war. daß man die Planungskommission zugunsten der funktionellen Abteilungen um-strukturierte und Z. Sadowski, einen bekannten Reformökonomen, an die Spitze dieser Organisation stellte. Sadowski kündigte eine Korrektur des Fünfjahresplans an, die den Erfordernissen der „zweiten Reformetappe“ gerecht werden soll
Für den Erfolg der Reform ist indes nicht nur ein konsequenter Reformwille der Regierung, sondern auch die Haltung der Gesellschaft und vor allem der Arbeiterschaft entscheidend. Die in den „Thesen“ und in dem „Realisierungsprogramm“ vorgestellten gesellschaftspolitischen Zugeständnisse beziehen sich vorwiegend auf eine Stärkung der betrieblichen und territorialen Selbstverwaltung, ohne jedoch überregionale Vertretungsformen sowie die Ebene der gesamtwirtschaftlichen Planung und Lenkung anzusprechen. Die „Demokratisierung“ soll vorwiegend auf kleine Einheiten, d. h. auf die betriebliche Ebene beschränkt werden.
Nicht nur Teile der Opposition, sondern auch Ökonomen konstatierten, daß die „Thesen“ und das „Realisierungsprogramm“ vorwiegend „technokratisch“ ausgerichtet seien. Ein solcher Reformansatz drohe nach den Erfahrungen der Vergangenheit zu scheitern In der Reaktion der Öffentlichkeit auf die „Demokratisierungsvorschläge“ zeigte sich zudem, daß eine technokratische Reform auch von der breiten Bevölkerung nicht getragen würde. Ohne gesellschaftspolitische Unterstützung oder zumindest Duldung ist die Reform jedoch nicht durchführbar. Die politische Führung um General Jaruzelski zog daraus entsprechende Konsequenzen. In einer speziellen Beilage zur Parteizeitung Trybuna Ludu veröffentlichte man am 18. November 1987 das Referat des Politbüros zum VI. Plenum des ZK der PVAP, das erst einige Tage später tagen sollte. Diese in der Geschichte der Staatspartei PVAP einmalige Aktion zielte darauf, die technokratische Reform durch Zugeständnisse im Bereich wirtschaftlicher und politischer Freiheiten abzusichem.
Die Zugeständnisse Jaruzelskis reichten indes offensichtlich nicht aus. um die Unterstützung der Bevölkerung für die Reformpolitik zu gewinnen. Das Referendum vom 29. November 1987 war nicht nur eine Niederlage für die politische Führung. sondern auch für das gesamte Reformwerk. Die auf das Marktgleichgewicht gerichtete Prozeßpolitik wird in Zukunft viel vorsichtiger und zeitlich langfristiger angelegt werden müssen. Die Regierung trug dem Ausgang des Referendums Rechnung: Die nunmehr am 1. Februar 1988 eingeleiteten Preiserhöhungen für Verbrauchsgüter betrugen durchschnittlich 40 statt 110 Prozent, wie ursprünglich vorgesehen war. Im April sollen dann weitere Preiserhöhungen für Energieträger folgen. Auch im Hinblick auf die Ausgleichzahlungen zeigte die Regierung Kompromißbereitschaft: Auf Druck der offiziellen Gewerkschaften verwarf sie das urspüngliehe Konzept, demzufolge ein Teuerungszuschlag von 1700 Zloty pro Beschäftigten gewährt und ein Rest von 8 000 Zloty für Leistungslöhne bereit gehalten werden sollte. Jetzt erhalten alle einen Zuschlag von 6 000 Zloty. Der Versuch, über den Teuerungszuschlag die Leistung zu motivieren, ist damit gescheitert Gegenwärtig rechnet man nicht mehr mit einem „Angebotsüberhang“, wie dies Premierminister Messner noch in der Parlamentsrede vom 10. Oktober ankündigte. Ein Gleichgewicht auf den Konsumgütermärkten kann voraussichtlich erst im Jahre 1990/91 erreicht werden. Ohne Gleichgewichtspreise müssen sich die Akzente der Wirtschaftspolitik noch stärker aufeine restriktive Geldpolitik konzentrieren.
Die polnischen Wirtschaftspolitiker haben aufgrund der bislang vorherrschenden Mengenplanung noch keine Erfahrungen mit einer aktiven Geldpolitik gemacht. Schmerzhafte Lernprozesse stehen also auch im Zusammenhang mit der Umstrukturierung des Bankensystems noch bevor. Ob sich die zentralen Instanzen dem Wunsch mächtiger Interessengruppen nach Subventionen widersetzen können, hängt vorrangig von der Stärke der politischen Führung ab. Die Niederlage beim Referendum hat deren Machtposition nicht gestärkt. Die Folgerung liegt deshalb nahe, daß in den nächsten zwei bis drei Jahren ein Erfolg der „zweiten Reformetappe“ im Hinblick auf die Etablierung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ eher zweifelhaft ist. Möglich sind allerdings positive Effekte in den konsumnahen Bereichen, in denen die Privatinitiative größeren Spielraum erhalten soll. Die weitere Entwicklung dürfte sicherlich auch durch fortwährende gesellschaftspolitische Spannungen gekennzeichnet sein, in denen es um die gesellschaftspolitische Dimension der Reform, d. h. um die Anerkennung der bürgerlichen und gewerkschaftlichen Rechte gehen wird. Ein Ende des polnischen Zyklus von Krise und Reform ist demnach kaum in Sicht.
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