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Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte | APuZ 18/1988 | bpb.de

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APuZ 18/1988 Artikel 1 Aufgaben und Perspektiven der Sicherheitspolitik Westeuropas in den neunziger Jahren Konventionelle Abrüstung in Europa Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte Der europäische Pfeiler der westlichen Allianz

Konventionelle Stabilisierung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit Ein systematischer Vergleich verschiedener Konzepte

Karsten D. Voigt

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ein Vergleich verschiedener Alternativkonzepte zeigt, daß der Begriff „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ inhaltlich bisher nicht genügend ausgeführt ist. Eine Streitkräftestruktur, die unter völliger Absehung der geostrategischen Asymmetrien sowie der Potentiale und Fähigkeiten der anderen Seite „eindeutig defensiv“ wäre, gibt es nicht. Würde die Warschauer Vertragsorganisation (WVO) vollständig einseitig abrüsten, dann wäre der W'esten selbst mit einer dem Afheldtschen Konzept entsprechenden Verteidigungsstruktur zu einer raumgreifenden Offensive in der Lage. Umgekehrt gilt, daß die NATO schon heute unter den Bedingungen der „flexible response" nicht angriffsfähig ist, solange die WVO an ihrem jetzigen Konzept festhält. Der Vergleich macht deutlich, daß sich sehr wohl die konventionelle Stabilität in Europa durch Umrüstung grundlegend verbessern läßt. Schwer gepanzerte Verbände mit hoher Beweglichkeit sind eher offensivfähig als die Jägerkommandos und Raketenartillerietrupps in den Vorschlägen Afheldts und der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik. Allerdings gibt es einerseits keine vollkommen nichtbedrohliche Militärkonzepte, und andererseits meint Stabilität mehr als die Konzentration auf den Faktor Beweglichkeit qua Offensivität. Auch diejenigen, die den Zielkonflikt zwischen Stabilität und militärischer Wirksamkeit für weniger bedeutsam halten, müssen sich dem Problem stellen, wie mit der Übergangsphase umzugehen ist, wenn eher reaktive und eher offensivfähige Strukturen nebeneinander stehen. Dieser Zielkonflikt läßt sich bei einseitiger Umrüstung wohl nicht vermeiden. Wem es wirklich um die Verbesserung konventioneller Stabilität in Europa geht, ohne daß die westliche Abwehrfähigkeit gravierend leidet, der kommt um kooperative Rüstungssteuerung im Zusammenhang mit der Umrüstung nicht herum. Die Forderung nach verhandelter Rüstungskontrolle ergibt sich aus der Struktur der militärischen und stabilitätspolitischen Probleme, die bei der Umrüstung auf alternative Verteidigungskonzepte entstehen. Ohne die Kooperation mit dem potentiellen Gegner, ohne die Einbindung der Veränderung der militärischen Strukturen in ein entspannungspolitisches Gesamtkonzept ist konventionelle Stabilität in Europa nicht zu erreichen. Verhandelte Rüstungskontrolle und einseitige Stabilisierung durch Umrüstung können sich gegenseitig ergänzen und befördern. Aufgabe der Rüstungskontrollvereinbarungen mit der WVO wäre es, die besonders zur Offensive geeigneten Verbände auf beiden Seiten zu reduzieren. Darüber hinaus dienen Gespräche mit der WVO dem Zweck, einvernehmlich Kriterien der Stabilisierung zu definieren, sich über die jeweiligen Bedrohtheitsvorstellungen zu verständigen, sie gegebenenfalls zu verändern sowie gemeinsam festzulegen, was hinlängliche Verteidigungsfähigkeit bedeutet. Verteidigungspolitik dagegen hätte die Aufgabe, die Umrüstung auf eher defensive Strukturen zu bewerkstelligen. Mit dieser Stabilisierung kann zunächst unabhängig von Rüstungskontrollergebnissen begonnen werden, soweit hierdurch eine hinlängUche Verteidigungsfähigkeit nicht gefährdet wird.

I. Einleitung: Konventionelle Stabilisierung als Lernprozeß

Die doppelte Null-Lösung bei den Mittelstrecken-waffen kann den Weg öffnen zu einer grundlegenden Veränderung der militärischen Beziehungen in Europa in Richtung auf die Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes. Die nächste große Aufgabe wird dabei die Herstellung konventionellerStabilität in Europa sein. Dabei geht es darum, die Streitkräfte von NATO und Warschauer Vertrag so umzustrukturieren, daß sie zwar der militärischen Ab-haltung dienen, aber nach Organisation, Struktur, Bewaffnung und Strategie erkennbar zu einer militärischen Aggression unfähig sind. Eine solche „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ auf beiden Seiten würde auch die politischen Beziehungen in Europa auf eine neue Grundlage stellen.

Konventionelle Stabilisierung in Europa stößt auf folgenden Widerspruch: Beide Seiten haben inzwischen gelernt, sich nicht mehr gegenseitig Angriffs-absichten zu unterstellen. Dies dürfte die wichtigste Veränderung im Vergleich zu den fünfziger und wohl auch noch den sechziger Jahren im militärischen Denken in Ost und West sein. Wenn aber die Kriegsgefahr aufgrund von Aggressions-und Gewinnabsichten heute beiderseitig als gering eingestuft wird, dann muß die Aufmerksamkeit zwangsläufig der Reduzierung des Kriegsrisikos aufgrund von (ungewollten) Eskalationsprozessen gelten. Das Paradoxe der heutigen Situation liegt darin, daß dieser Lernprozeß zwar in der deklaratorischen Politik von NATO und Warschauer Vertragsorganisation (WVO) zum Ausdruck kommt, die Organisation ihrer jeweiligen Militärpotentiale davon aber praktisch unberührt geblieben ist. Nach wie vor stehen sich in Europa zwei konventionell (und — trotz doppelter Null-Lösung — nuklear) hochgerüstete Blöcke gegenüber, deren Militärpotentiale auf die Abwehr eines Angriffs aus Gewinnabsicht hin optimiert sind. Beide Seiten — die NATO weniger, die WVO mehr — unterhalten darüber hinaus Verbände, die zu (gegen-) offensiven Operationen geeignet sind. Die Folge ist ein Teufelskreis: Man versichert sich gegenseitig, keinen Angriff zu beabsichtigen, rüstet aber so, daß Bedrohtheitsvorstellungen entstehen können.

An dieser Stelle setzt die Diskussion um konventionelle Stabilisierung und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ politisch an. Ginge es lediglich um eine Effizienzsteigerung der Verteidigung, dann könnte man diese Debatte getrost den Panzerzählern unter den Militärs, Strategieexperten und Friedensforschern überlassen. Denn wichtiger als alle Details militärischer Planung ist allemal die Veränderung des politischen Ost-West-Verhältnisses. Damit der militärische Faktor aber nicht weiter dominiert, muß er eingehegt werden. Entmilitarisierung der Beziehungen in Europa und Repolitisierung des Ost-West-Konfliktes sind deshalb zwei Seiten der gleichen Medaille. Christian Potyka hat in diesem Zusammenhang eine Rüstungskontrolle als Zivilisationsprozeß beschrieben, in dem beide Seiten gewaltfreie Konfliktaustragung allmählich lernen. Um einen solchen Lernprozeß handelt es sich auch bei der Diskussion um „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“. Schon die Debatte selbst verändert Einstellungen und Perzeptionen, sie zivilisiert. Dabei geht es um folgende Probleme: — Entwicklung gemeinsamer Kriterien für die Streitkräfteplanung;

— Kommunikation und Veränderung von Bedrohtheitsvorstellungen;

— Orientierung des militärischen Bedarfs am Prinzip der Hinlänglichkeit statt am schlimmsten Fall; — schließlich Veränderung dessen, was Hinlänglichkeit meint, wenn sich beide Seiten an diesem Prinzip orientieren.

Der folgende Vergleich verschiedener Konzepte und Modelle, die unter dem Stichwort „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ gehandelt werden, steht in diesem Kontext der Organisation konventioneller Stabilisierung als politischem Lernprozeß zwischen Ost und West. Dazu werden nach einer Kurzcharakterisierung der Modelle Kriterien konventioneller Stabilisierung entwickelt, anhand derer die einzelnen Konzepte anschließend miteinander verglichen werden können.

II. Alternative Verteidigungskonzepte

Im Gegensatz zur geltenden NATO-Strategie ist den Alternativ-Konzepten ein Charakteristikum gemeinsam: Alle hier vorgestellten Modelle verzichten auf landgestützte Nuklearwaffen. Die atomare Komponente wird auf eine seegestützte Minimalabschreckung reduziert. Die militärische Rolle von Nuklearwaffen wird drastisch vermindert und auf eine gesicherte Vergeltungsfähigkeit gegen Nuklearwaffeneinsätze des Gegners beschränkt. Gleichzeitig soll auf die Drohung mit dem nuklearen Ersteinsatz verzichtet werden, wobei diese Politik im Hinblick auf den Gefechtsfeldeinsatz implementiert wird. Lediglich Horst Afheldt will den Einsatz von Nuklearwaffen als letztes, verzweifeltes Signal nicht völlig ausschließen.

Was die Struktur und Zusammensetzung der konventionellen Komponente angeht, so unterscheiden sich die einzelnen Konzepte allerdings zum Teil drastisch. 1. „Raumdeckende Verteidigung“ (Jochen Löser) Das Grundprinzip des Modells von Jochen Löser besteht in einer Kombination aus eher statischen infanteristischen und Sperrverbänden mit hoher Feuerkraft („Schildkräfte“) und herkömmlichen beweglichen und schwer gepanzerten Verbänden („Schwertkräfte“). Das Verhältnis der infanteristischen zu den gepanzerten Verbänden beträgt 1: 1. An der Grenze wird in einem 40 bis 60 km breiten Streifen mittels vorbereiteter Sperren und feuer-starker Jagdbrigaden eher statisch verteidigt, um den Gegner abzunutzen und Konzentrationen zu verhindern. Dazwischen und dahinter (in der „Raumverteidigungs-Zone“) führen herkömmliche mechanisierte Verbände Gegenangriffe zur Wiedergewinnung verlorengegangenen Territoriums durch. Der rückwärtige Raum soll durch milizähnliche Heimatschutzverbände in Verbindung mit umfangreichen Zivilschutz-Einrichtungen gesichert werden. Löser sieht ausdrücklich Gegenangriffe auf gegnerisches Territorium vor, und zwar sowohl durch Waffenwirkung (100 km) als auch durch Landstreitkräfte (40 km). 2. „Integrierte Vorne-Verteidigung“

(Albrecht C. von Müller)

Auch dieses Konzept beruht auf der Kombination von leichter Infanterie und schweren gepanzerten Verbänden, allerdings ist der Anteil der letzteren im Vergleich zu den Vorstellungen von Löser erheblich reduziert. An der Grenze befindet sich ein 5 km breiter „Feuer-und Sperrgürtel“ mit einem Sensometz, Minen und intelligenter (zielgenauer) Passivmunition. Dahinter kämpft leichte Infanterie mit Panzer-und Fliegerabwehrwaffen in einem 25 km breiten „Fangnetz“. Die in einem daran anschließenden 60km-Streifen stationierten gepanzerten Verbände haben die Funktion, durchgebrochene Einheiten des Gegners zu bekämpfen und an den Hauptangriffsachsen zu verteidigen. Sollte der Angriff des Gegners im „Fangnetz“ zum Stillstand gekommen sein, schließt von Müller Gegenangriffe auf WVO-Territorium auch mit Heeresverbänden nicht aus. Außerdem wirken die Waffen des „Feuergürtels“ ca. 40 bis 60 km in gegnerisches Territorium hinein. 3. „Bundeswehrstruktur der 90er Jahre“

(Andreas von Bülow)

Ein weiteres Mischkonzept wurde von Andreas von Bülow vorgelegt. Allerdings ist das Verhältnis von infanteristischen zu gepanzerten Verbänden gegenüber Lösers Vorschlag erheblich reduziert (ungefähr 1 : 2. 3 nach dem Personalumfang). Auch von Bülows Modell enthält eine vordere Verteidigungszone (40 bis 60 km), in der leichte Infanterie, ins Gelände eingegraben, mit Panzer-und Luftabwehr-waffen kämpft. Sie wird ergänzt durch bewegliche und gepanzerte Verbände herkömmlichen Typs, die zu einem geringeren Teil vor, in der Mehrheit hinter der vorderen Verteidigungszone stationiert sind. Ihnen kommen die gleichen Funktionen wie in den Konzepten Lösers und von Müllers zu. Auch von Bülow schließt Gegenangriffe auf WVO-Territorium nicht aus. Waffenwirkung jenseits der Landesgrenze durch Luftwaffe und Heeresartillerie ist auf 50 bis 100 km Tiefe vorgesehen. Von Bülow bezeichnet sein Konzept als Übergangsmodell. Die beweglichen Verbände könnten um so eher verhindert werden, je mehr auch die WVO ihre Streitkräftestrukturen verändere. 4. „Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik“

(SAS)

Das Modell der „Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik“ ist dasjenige Mischkonzept, das am meisten auf bewegliche und insbesondere schwer-gepanzerte Einheiten verzichtet (Verhältnis bewegliche zu reaktiven Verbänden 1 : 3, 9, bezogen auf den Personalumfang). Das Hauptgewicht der Verteidigung liegt auf eher statischen Verbänden der leichten Infanterie („Fangnetz“), die mittels Sperren und aus vorbereiteten Kampfständen heraus einem Angreifer die Initiative rauben und ihn verzögern sollen. Dabei haben „Module“ von je 28 Soldaten auf jeweils 60 km 2 (vorderer Teil des 80 km breiten „Fangnetzes“) bzw. acht km (im rückB wärtigen Teil) zu decken. Das „Fangnetz“ wird ergänzt und überlagert durch teils leichte, teils schwer gepanzerte und bewegliche Verbände („Feuerwehr“). Die leicht gepanzerten Einheiten sollen vor allem in bedecktem Gelände kämpfen, die schwer-gepanzerten in offenem Gelände und zugleich verlorengegangenes Territorium zurückerobern. Die beweglichen Einheiten sind logistisch und informationell so stark auf die statischen „Module“ angewiesen, daß sie zu Operationen außerhalb des „Fangnetzes“ kaum in der Lage wären. Ergänzt wird das Verteidigungskonzept der SAS durch leichte Infanterie und bewegliche Jagdverbände zum Objekt-und Raumschutz in den hinteren Verteidigungszonen. Das SAS-Modell verzichtet auf jede Waffenwirkung gegen gegnerisches Territorium, die Aufgaben der Luftverteidigung sind auf die Bekämpfung eingedrungener Flugzeuge und Raketen mittels bodengestützter Luftabwehr und leichter Jagdflugzeuge reduziert. 5. „Verteidigungswall“ (Norbert Hannig)

Dieses Konzept verzichtet völlig auf bewegliche Elemente der Verteidigung. Es handelt sich um ein rein reaktives, statisches Modell konventioneller Feuersperren, die mit passiver und aktiver Munition ausgerüstet sind. Bewegung soll durch Feuer-kraft ersetzt werden. Das Grenzgelände wird in einer 4km-Zone durch passive Munition (Minen u. a.) gesperrt. In diese Zone wirken zusätzlich aktive Lenkwaffen hinein, die von im Gelände eingegrabenen Infanterie-Kampfwagen und von Artillerie-Raketenwerfern aus abgeschossen werden. Die Artillerie-Raketen haben 20, 5 und 200 km Reichweite. die Lenkwaffen der Infanterie zwischen 50 und 6000 m. Die Raketenwerfer sind entsprechend ihrer Reichweite von der Grenze entfernt disloziert. Sie decken nicht nur die Grenzzone mit Feuer ab. sondern sie sollen auch den dahinterliegenden Raum verteidigen (Prinzip sich überlappender Kreise). Im Mobilmachungsfall graben sich die Infanterie-Kampfwagen an vorgeplanten Stellen ein, so daß ein tiefgestaffeltes System von Feldunterständen und Bunkern entsteht. Laut Hannig soll die Zivilbevölkerung zur gleichen Zeit aus den grenznahen Gefechtsgebieten evakuiert werden.

Hannigs Konzept zeichnet sich durch den völligen Verzicht auf Kampfpanzer, Jagdbomber und Bomber aus; die Luftverteidigung ist reduziert auf Boden-Luft-Abwehr, leichte Jagdflugzeuge sowie Aufklärung. In den neuesten Versionen des Konzeptes scheint Hannig auch aufjede Waffenwirkung in das gegnerische Hinterland hinein verzichten zu wollen, hierzu liegen allerdings widersprüchliche Aussagen vor. 6. „Technokommandos“ (Horst Afheldt)

Dieses in der öffentlichen Debatte wohl am häufigsten zitierte Konzept einer reaktiven und statischen Raumverteidigung beruht auf drei sich überlappenden Netzen von leichter Infanterie (Jägerkommando), Raketenartillerie kurzer und mittlerer Reichweite sowie von Informations-und Führungssystemen. Sie sind gleichmäßig über die gesamte Bundesrepublik verteilt, auf bewegliche und gepanzerte Verbände wird im Zielmodell Afheldts verzichtet. Das Netz der Jägerkommandos verfügt über Panzerabwehr-und einfache Artillerieraketen zum Verschießen von Minen, Sprenggeschossen, Mörsern, Sperrmaterial u. ä.. Die Jägerzüge (ca. 25 Mann) bewegen sich in einem Operationsgebiet von 10 bis 15 km 2 mit einer Verdichtung im grenznahen Raum. Sie sollen die angreifenden Verbände abnutzen. Das Netz der Raketenartillerie verfügt über Kurzstreckenraketen zum Verschießen von Minen und anderer Munition sowie über Präzisionsartillerieraketen mittlerer Reichweite (20 bis 80 km). Dieses Netz beginnt 20 km hinter der Grenze und soll vor allem gegnerische Kräftekonzentrationen bekämpfen.

Horst Afheldt verzichtet in seinem Konzept auf Luftstreitkräfte; deren Aufgaben werden von dem Netz der Raketenartillerie und dem Informationsund Führungsnetz übernommen. Neben diesem Zielmodell hat Afheldt ein „Übergangskonzept“ entwickelt, das demjenigen der SAS ähnelt.

III. Kriterien für konventionelle Stabilität

Die folgenden Kriterien stehen unter dem Primat der Kriegsverhütung und darüber hinaus der Entmilitarisierung des Ost-West-Konfliktes. Militärische Alternativstrategien — wie die zuvor kurz dargestellten — sind in erster Linie daraufhin zu beurteilen, inwieweit sie diesen Zielen entsprechen. Bemühungen, das militärische Ost-West-Verhältnis durch Umrüstung zu entspannen, müssen deshalb von vornherein eingebettet werden in eine politisch-ökonomisch-militärische Gesamtstrategie zur Transformation des Ost-West-Konfliktes.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es heute in Europa primär den Krieg zu verhindern gilt, der aufgrund von Fehleinschätzungen und Eskalationsprozessen in der Krise entstehen könnte, obwohl alle Beteiligten aufgrund eher defensiver Motive handeln. Die Juli-Krise 1914 ist ein Beispiel für solche Prozesse, die ihre eigene Dynamik entwickeln und politisch außer Kontrolle geraten. Heute wird in diesem Zusammenhang häufig auf die Möglichkeit katalytischer Eskalation verwiesen, daß z. B. eine amerikanisch-sowjetische Konfrontation im Nahen und Mittleren Osten auf Europa übergreifen könnte. Wenn solche möglichen Entwicklungen aber das primäre Risiko einer Kriegsursache in Europa heute sind, dann gebührt den Stabilitätskriterien der Rüstungskontrolle — strategische und Krisenstabilität — der Vorrang vor Kriterien der Abhaltefähigkeit und Abschreckung. Streitkräfte-strukturen sind also zunächst darauf hin zu beurteilen, ob sie eskalationshemmend wirken und erst in zweiter Linie danach, ob sie in der Lage sind, einen Angriff aus Gewinnabsicht abzuwehren. Wenn sich diese Umorientierung gegenüber den heute üblichen Bewertungskriterien in der NATO und WVO durchsetzen würde, bedeutete dies bereits einen Fortschritt in Richtung auf konventionelle Stabilisierung.

Im einzelnen lassen sich folgende Kriterien für die konventionelle Stabilität unterscheiden 1. Strategische Stabilität Eine militärische Situation ist strategisch stabil, wenn keine Seite in der Lage ist, einen politischen oder militärischen Nutzen aus ihren militärischen Potentialen zu ziehen. Bei den konventionellen Streitkräften bedeutet dies, Strukturen zu schaffen, die die Verteidigung begünstigen und den Angriff erschweren. Es geht also um „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ in dem Sinne, daß keine Seite über Motiv und Fähigkeit zur Aggression verfügt, und zwar für den Gegner erkennbar. Strategische Stabilität bedeutet auch, daß die militärischen Potentiale für die andere Seite so wenig bedrohlich wie möglich strukturiert sein dürfen. 2. Krisenstabilität Keine Seite darf sich ihre Position dadurch wesentlich verbessern können, daß sie in der Krise zuerst losschlägt. Es muß sich lohnen abzuwarten, ohne daß von den militärischen Mitteln her ein Druck auf ihren schnellen oder präemptiven Einsatz ausgeht. Die Streitkräftestruktur muß so beschaffen sein, daß Mobilisierungswettläufe in der Krise unterblei-ben können. Auf der Seite des Verteidigers sollten darüber hinaus keine militärisch attraktiven Ziele vorhanden sein, die vom Gegner schnell und gegebenenfalls präemptiv ausgeschaltet werden können. 3. Stabilisierung der Rüstungsdynamik Konventionelle Verteidigungsstrukturen sind dann einigermaßen stabil im Hinblick auf die Rüstungsdynamik, wenn die Kosten zusätzlicher Rüstung auf der an einer offensiven Strategie orientierten Seite deutlich höher sind als die entsprechenden Kompensationskosten bei der defensiv strukturierten Seite (Kosteneffektivitäts-Hypothese der Verteidigung). Darüber hinaus müssen die Streitkräfte-strukturen rüstungskontrollverträglich sein im Sinne beiderseitiger militärischer Entspannung. 4. Abhaltefähigkeit Ebenso wie der Krieg aufgrund von außer Kontrolle geratenden Eskalationsprozessen muß der Angriff aus Gewinnabsicht verhindert werden. Eine solche Aggression muß kalkuliert untragbar bleiben. Dabei müssen die konventionellen Streitkräfte in der Lage sein, die Erfolgsaussichten einer Aggression glaubwürdig zu verwehren. Dagegen ist die im engeren Sinne militärische Rolle von Nuklearwaffen zu reduzieren. Sie dürfen keine Funktion mehr in der Direktverteidigung haben. Ihre Aufgabe sollte es in Zukunft im wesentlichen sein, einen Nuklearwaffen-Einsatz des Gegners abzuschrecken (Kriterium: gesicherte Vergeltungsfähigkeit). 5. Bündnisverträglichkeit An der multinationalen Struktur der vorne stationierten Verbände ist aufbeiden Seiten festzuhalten.

Alternativmodelle, die verbunden werden mit politischen Neutralisierungskonzepten — z. B. blockfreies Mitteleuropa —, bringen sich damit von vornherein umjede Realisierungschance. Das Kriterium der Bündnisverträglichkeit ergibt sich zuvorderst aus friedenspolitischen Überlegungen. Die Einbindung der beiden deutschen Staaten in multilaterale sicherheitspolitische Strukturen bedeutet angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts einen Sicherheitsgewinn für alle europäischen Staaten und trägt somit zur politischen Stabilität in Europa bei. Die Forderung, die konventionelle Streitkräfte-struktur müsse bündnisverträglich sein, ergibt sich auch aus Gründen der strategischen Stabilität — kein Staat kann allein angreifen — und der Abhaltefähigkeit — ein Angreifer hätte es von vornherein mit dem gesamten Bündnis zu tun. Daraus ergibt sich auch, daß die amerikanischen Truppen in Westeuropa erst dann drastisch reduziert werden können, wenn sich die sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa zurückziehen. 6. Schadensbegrenzung Sollte ein Krieg trotz aller Anstrengungen nicht zu verhindern sein, muß das geschützt werden können, was verteidigt werden soll. Es darf weder einen Zwang zur schnellen Eskalation geben noch einen langen konventionellen Abnutzungskrieg. Da die beste Schadensbegrenzung die Verhinderung des Krieges ist. kommt der Schadensminimierung im Krieg eine nachrangige Bedeutung zu. Andererseits kann die Möglichkeit nicht völlig ausgeschlossen werden, daß die Kriegsverhütung scheitert. 7. Gesellschaftliche Verträglichkeit Die Verteidigungsstruktur muß sich im Einklang mit den Normen einer demokratischen Gesellschaft befinden, weil nur das legitimerweise verteidigt werden kann, was auch schützenswert ist. Darüber hinaus ist daraufzu achten, daß die personellen und finanziellen Ressourcen nicht überproportional belastet werden, so daß die Durchführung weiterer Staatsaufgaben, die ebenfalls zur Sicherheit im weiteren Sinne beitragen, gewährleistet bleibt (Sozial-, Umwelt-und Bildungspolitik).

IV. Vergleich der Modelle alternativer Verteidigungskonzepte

Es werden nun die sechs Modelle, die für sich eine „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ reklamieren, anhand der genannten Kriterien miteinander verglichen:

-„raumgreifende Verteidigung“ (Jochen Löser);

-„integrierte Vorne-Verteidigung“ (Albrecht C. von Müller);

— „Bundeswehrstruktur der 90er Jahre“ (Andreas von Bülow);

— „Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik“ (SAS);

— „Verteidigungswall" (Norbert Hannig);

-„Technokommandos" (Horst Afheldt). 1. Strategische Stabilität Das schwierigste Problem in diesem Zusammenhang ist die Bestimmung dessen, was eigentlich den defensiven Charakter eines Verteidigungskonzeptes ausmacht. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß Defensivität oder Offensivität natürlich nicht Eigenschaften einzelner Waffensysteme sind, sondern sich aus der Gesamtstruktur eines Verteidigungskonzeptes ergeben, d. h. aus dem Zusammenwirken taktisch-operativer Grundsätze mit Optionen und vorhandenen Potentialen. Weiterhin ist so etwas wie „reine“ Defensivität kaum vorstellbar: Auch mit leichter Infanterie kann man notfalls bis Bonn bzw. auch bis Moskau vordringen, wenn der Gegner sich nur unzureichend verteidigt. Deshalb sollte besser von „eher defensiven“ oder „eher offensiven“ Verteidigungskonzepten gesprochen werden.

Damit sind die Schwierigkeiten aber noch nicht aus dem Weg geräumt. Zwar ist der Begriff „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ inzwischen fast in aller Munde, aber es wird kaum deutlich, was er eigentlich meint. Faßt man ihn sehr eng und versteht ihn als die Unfähigkeit zu jeder Form militärischer Aggression unabhängig von den Potentialen und Optionen des Gegners, dann ist keines der hier vorgestellten Modelle strukturell nichtangriffsfähig. Selbst die (eingegrabenen) Infanterie-Kampfwagen Hannigs könnten gegebenenfalls vorrücken (hätten u. U. allerdings logistische Probleme). Faßt man den Begriff dagegen sehr weit und versteht ihn als die Unfähigkeit zur dauerhaften Besetzung gegnerischen Territoriums, dann wären unter den gegenwärtigen Bedingungen beide Seiten dazu nicht in der Lage, da weder NATO noch WVO sich heute einen schnellen militärischen Erfolg ausrechnen können.

Nun ist diese Art der extremen Begriffsbestimmung absurd. Denn natürlich unterscheidet sich eine Streitkräftestruktur, die auf schnelle Angriffe gegen das Territorium des Gegners hin optimiert ist, drastisch von einem Konzept, bei dem die Waffen und/oder die Soldaten ortsfest bzw. nahezu unbeweglich disloziert sind und das Territorium der anderen Seite nicht erreichen können. Aber auch eine seriöse Debatte um „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ muß eine Reihe von Fragen klären: Heißt eindeutige Defensivität Verzicht auf bewegliche Verbände? Verzicht auf schwer gepanzerte Verbände? Verzicht auf Waffenwirkung in das gegnerische Hinterland? Diese Fragen können nicht abstrakt beantwortet werden. Ob ein Verteidigungskonzept als defensiv und nicht-bedrohlich gelten kann, hängt auch von der Wahrnehmung des Gegners ab. Was „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ bedeutet, kann daher nicht einseitig, sondern nur im Einvernehmen mit der WVO festgelegt werden. Kriterien für Defensivität müssen deshalb gemeinsam im Ost-West-Dialog erarbeitet werden.

Statt eine abstrakte Debatte um „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ zu führen, wird hier ein anderer Weg beschritten und zunächst gefragt, unter welchen Bedingungen strategische Stabilität in Europa gewährleistet ist. Die strategische Lage kann dann als besonders instabil gelten, wenn beide Seiten über eine an raumgreifender Offensive orientierten Strategie und über die entsprechenden Optionen und Potentiale verfügen würden. Die defensiven Absichten hinter den offensiven Optionen wären nicht glaubwürdig zu erkennen. Beide Seiten hätten erhebliche Präemptionsanreize in der Krise. Ein permanenter Rüstungswettlauf wäre die Folge, um den Gegner die offensiven Optionen zu nehmen und die eigenen Angriffsfähigkeiten zu erhalten.

Diese Situation ist zum Glück z. Z. in Europa nicht gegeben. Nur die WVO verfügt über eine solche Offensivstrategie. Allerdings ist auch die NATO dabei, ihre gegen-offensiven Fähigkeiten im Rahmen von „Follow-On Forces Attack“ (FOFA) und anderen Plänen zu erweitern und ihre Optionen zur Bekämpfung militärischer Ziele im Hinterland der WVO zu konventionalisieren. Dieser Trend zur „Sowjetisierung“ der westlichen Militärstrategie entspricht nicht den Anforderungen an strategische Stabilität.

Aufder anderen Seite wäre strategische Stabilität in Europa am ehesten gewährleistet, wenn beide Seiten über rein reaktive Verteidigungsstrukturen verfügten. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, daß ein Gegenmittel gegen leichte Infanterie z. B. im Sinne der Afheldtschen Jägerkommandos ebenfalls leichte Infanterie ist. Das heißt: Wenn beide Seiten lediglich noch über sogenannte „defensive“ Verbände und nicht mehr über Panzer verfügten, veränderten sich zugleich auch die Anforderungen an die Offensive. Diese Einschränkung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß der weitgehende Verzicht auf Bewegung und gepanzerte Verbände auf beiden Seiten in der Tat strategischer Stabilität förderlich wäre. Es geht nur darum, vor der Illusion zu warnen, daß sich politische Probleme rein militärisch lösen ließen.

Würde ein einseitiger Verzicht der NATO auf bewegliche und gepanzerte Verbände und eine einseitige Umrüstung in Richtung auf eher reaktive Strukturen die gesamtstrategische Stabilität in Europa erhöhen, auch wenn die östliche Seite ihre Vorwärtsstrategie beibehielte? Die Frage ist nur schwer zu beantworten. Einerseits würde ein solcher Schritt eine Zunahme politischer Stabilität bedeuten, weil der nicht-bedrohliche Charakter der NATO deutlicher zum Ausdruck käme. Außerdem kann man plausibel argumentieren, daß strategische Stabilität im Sinne von „struktureller Nichtangriffsfähigkeit“ umso eher erreicht wird, je mehr aufbewegliche und gepanzerte Verbände verzichtet wird, die zum Einsatz auf gegnerischem Territorium besonders gut geeignet sind. Hier schneiden die Vorschläge Afheldts und Hannigs noch am besten ab.

Andererseits wäre die gesamtstrategische Lage in Europa nur dann stabilisiert, wenn die „EffizienzHypothese der Verteidigung“ in vollem Umfang zuträfe. Sie besagt, daß reaktive und eher statische Einheiten beweglichen Verbänden gegenüber im Vorteil sind. Es müßte also gezeigt werden, daß reaktive Konzepte wie diejenigen Afheldts und Hannigs auf der konventionellen Ebene der jetzigen NATO-Struktur an militärischer Wirksamkeit überlegen sind. Darin bestehen aber selbst bei den Befürwortern von Altemativ-Modellen Zweifel. Das zeigt sich schon daran, daß die meisten der hier untersuchten Konzepte Mischformen aus statischen und beweglichen Elementen darstellen.

Aber diese Mischkonzepte haben ihre eigenen Probleme im Hinblick auf strategische Stabilität. Denn es ist sehr fraglich, ob Mischkonzepte mit einem hohen Anteil beweglicher und gepanzerter Verbände überhaupt zur Vertrauensbildung beitragen können. Zumindest Jochen Lösers Konzept kann wohl kaum besondere Defensivität zugesprochen werden. Diese ReformVorschläge orientieren sich nicht vorrangig am Ziel der strategischen Stabilität. Aber auch die Konzepte von Bülows und von Müllers lassen Zweifel an ihrem nicht-bedrohlichen Charakter aufkommen, und zwar gerade dann, wenn sie ihre eigenen Effizienzpostulate erfüllen. Unter Umständen könnte der Gegner sie sogar als besonders bedrohlich wahmehmen: Die Einheiten der leichten Infanterie mit hoher Feuerkraft bringen einen WVO-Angriff zum Stehen, die dahinter stationierten schweren Verbände holen dann zum Gegenangriff gegen einen geschwächten Aggressor und sein Territorium aus. Von Bülow und von Müller sehen diese Möglichkeit aus Abschreckungsgründen ausdrücklich vor. Sie argumentieren aber, daß die WVO solche Gegenangriffe nur nach erfolgter Aggression zu fürchten habe. Ein NATO-Angriff sei dagegen mit diesen Einheiten nicht durchzuführen.

Damit aber wird das Kriterium „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ auf die Unfähigkeit zur Aggression gegen einen vollgerüsteten Gegner reduziert. Gilt dies aber nicht schon heute für NATO und WVO gleichermaßen? Und wie sieht es mit der Nicht-Bedrohlichkeit solcher Mischkonzepte aus, wenn ein Angriff nicht aus Gewinnabsichten erfolgt, sondern als Resultat außer Kontrolle geratener politischer Eskalationsprozesse? Als Fazit muß zumindest festgehalten werden, daß der defensive Charakter von Mischkonzepten, die sowohl aus eher statischen als auch aus herkömmlichen Verbänden bestehen (bei von Bülow sind immerhin noch 56 mechanisierte Brigaden vorhanden, wenn auch personell verkleinert), für den Gegner undeutlich werden kann. Ob diese Konzepte deshalb das Kriterium strategischer Stabilität erfüllen, erscheint fraglich. Lediglich das SAS-Modell, bei dem der „Feuerwehr“ -Charakter der gepanzerten Verbände deutlicher zum Ausdruck kommt, scheint diesem Kriterium besser zu genügen.

Das Problem, daß eine Mischung aus eher offensiven und eher defensiven Elementen Zweifel am nicht-bedrohlichen Charakter der Verteidigungsstruktur weckt, stellt sich aber auch bei rein reaktiven Modellen wie demjenigen Horst Afheldts, und zwar hier während der Phase des Übergangs von der herkömmlichen zur alternativen Verteidigung. Wenn einseitig umgerüstet werden soll, dann steht man in der Übergangsperiode vor folgendem Dilemma: Entweder nimmt man einen starken Verlust an Abhaltefähigkeit gegenüber dem jetzigen Zustand in Kauf, weil man aus Stabilitätsgründen die beweglichen und gepanzerten Verbände abbaut, ohne daß die reaktiven Verbände der Infanterie und der Raketenartillerie bereits voll funktionsfähigwären. Führt man letztere dagegen zusätzlich zu den herkömmlichen Panzerbrigaden ein, dann erhöht man u. U. vorübergehend die eigene Offensiv-fähigkeit, statt sie abzubauen. Strategische Stabilität bliebe auf der Strecke. Auch die sektorale Einführung eher defensiv strukturierter Verbände in einzelnen Verteidigungsabschnitten der NATO löst das Dilemma nur teilweise. Als Mindestbedingung für strategische Stabilität ergibt sich die Forderung, in der Übergangsphase schwer gepanzerte Verbände in den rückwärtigen Raum zu verlagern. Aber auch dann ergeben sich Zweifel am nicht-bedrohlichen Charakter der Verteidigungsstruktur, wie sie etwa bezogen auf die Konzepte von Bülows und von Müllers bestehen.

Hier zeigt sich, daß der Versuch, die gesamtstrategische Lage einseitig zu stabilisieren. Grenzen hat. Einmal abgesehen davon, daß das Kriterium selbst wechselseitig operationalisiert werden muß, würden nur die Modelle Afheldts, Hannigs und wohl auch der SAS die strategische Stabilität erhöhen. Der nicht-bedrohliche Charakter läßt sich eindeutig erkennen. Aber auch sie können nicht von heute auf morgen verwirklicht werden. In der Übergangsphase aber tragen alle Alternativstrategien den Charakter von offensiv-defensiven Mischkonzepten, die u. U. gerade dann als besonders bedrohlich wahrgenommen werden können, wenn ihre militärische Effizienz außer Frage steht. Um kooperative Lösungen in der Übergangsphase wird man daher kaum herumkommen, wenn man die strategische Stabilität wirklich erhöhen will. Dann aber kann man auch gleich auf beiden Seiten defensiv umrüsten. 2. Krisenstabilität Einer der wichtigsten Ausgangspunkte der meisten Alternativ-Konzepte ist die Kritik am kriseninstabilen Charakter der „flexible response“. Die gegenwärtige Verteidigungsstruktur erfordere eine schnelle Mobilmachung, um einen Angriff nach kurzer militärischer Vorwarnzeit abwehren zu können. Darüber hinaus biete die NATO attraktive Ziele für den Gegner, die schnell ausgeschaltet werden müßten, um militärische Vorteile zu erzielen. Schließlich müßten viele Waffensysteme der NATO ebenfalls schnell und möglicherweise sogar präemptiv eingesetzt werden, weil sie sonst Gefahr liefen, überrollt oder frühzeitig zerstört zu werden.

Alle hier diskutierten Konzepte beanspruchen — durch den Verzicht auf landgestützte Nuklearwaffen, auf eine große Zahl schwerer Panzerverbände und auf zentralisierte Kommando-und Führungseinrichtungen — dem Gegner weniger . attraktive* Ziele zu bieten und damit die Präemptionsrisiken in der Krise zu vermindern. In der Tat dürften sie das Kriterium Krisenstabilität insgesamt besser erfüllen als die gegenwärtige „flexible response“. Dabei kommt das Modell Horst Afheldts einer auf Krisen-stabilität optimierten Struktur noch am nächsten, während in den Konzepten, wie sie von Bülow und von Müller vorgelegt haben (ganz zu schweigen von Jochen Löser) nach wie vor . attraktive* Ziele dadurch vorhanden sind, daß stark gepanzerte Verbände und eine umfangreiche Luftwaffe beibehalten werden. Norbert Hannigs „Verteidigungswall" dagegen dürfte nur dann die Krisenstabilität erhöhen, wenn sichergestellt ist, daß die eingegrabenen Kampfwagen, die Artillerie-bzw. Raketenstellungen sowie die Aufklärungs-und Führungssysteme nicht frühzeitig vom Gegner aufgeklärt werden können (z. B. anhand der notwendigerweise ortsfesten Radars, sobald diese angeschaltet sind). 3. Abrüstungsverträglichkeit Neben der Verbesserung der Krisenstabilität beanspruchen die Altemativkonzepte, den (zumeist einseitigen) Ausstieg aus der konventionellen Rüstungsdynamik in Europa zu ermöglichen. Dagegen sei die „flexible response" in einen Rüstungswettlauf ohne Ende eingebunden, da die eigene Verteidigung sich an den gegnerischen Optionen orientiere und auf diese reagieren müsse, um sie verwehren zu können. Zudem wird die Rüstungskontroll-Verträglichkeit der geltenden NATO-Strategie bezweifelt, weil in Folge der unterstellten konventionellen Überlegenheit der WVO in Europa der Spielraum für westliche Reduzierungen als äußerst gering angesehen wird.

Wenn man Abrüstungsverträglichkeit im konventionellen Bereich so definiert, daß eine Umrüstung aufeher defensive Strukturen begünstigt wird, dann sind alle hier analysierten Konzepte rüstungskontrollfreundlicher als die geltende NATO-Strategie. Die meisten beanspruchen sogar, die Stabilisierung der konventionellen Lage einseitig und ohne detaillierte Vereinbarungen mit der WVO zu ermöglichen. Allenfalls seien Informationsgespräche mit der östlichen Seite notwendig, um Mißverständnisse auszuräumen.

Die Annahme, einseitig aus der konventionellen Rüstungsdynamik in Europa aussteigen zu können, gilt allerdings nur dann, wenn die „Kosteneffektivitäts-Hypothese“ der Verteidigung gilt, die wiederum eng mit der „Effizienz-Hypothese“ zusammenhängt: Zusätzliche Rüstungsmaßnahmen auf Seiten des sich eher reaktiv Verteidigenden müssen billiger durchführbar sein als die entsprechenden Maßnahmen der offensiv orientierten Seite. Der Verteidiger hätte es leichter, mit Gegenmaßnahmen der Offensive fertig zu werden; deren Versuche, das reaktive Konzept zu überwinden, liefen ins Leere.

Ob diese Hypothese gilt, ist bisher nur unzureichend geklärt. Die Beurteilung ähnelt einer Glaubensfrage. Die Befürworter der Alternativkonzepte neigen dazu, die Kosten ihrer Verwirklichung und ihre Immunität gegen Reaktionen der offensiv rüstenden Seite zu unter-, die militärische Leistungsfähigkeit „statischer“ Verteidigung aber zu überschätzen. Dies ist besonders eklatant bei Hannig, der einseitig auf die Feuerkraft von Raketen und Artillerie setzt. Selbst wenn die „Kosteneffektivitäts-Hypothese“ gilt, ist ein völliger Ausstieg aus der konventionellen Rüstungsdynamik einseitig allianzpolitisch und innenpolitisch nicht durchsetzbar und sicherheitspolitisch nicht verantwortbar. Sollte die WVO an ihrer offensiven Strategie auch nach einer Umrüstung der NATO festhalten, so wird sie versuchen, gegen die neue Struktur der westlichen Verteidigung anzurüsten. Die NATO wird dann mithalten müssen, wenn auch zu geringeren Kosten.

Sollte die Effizienz-Hypothese der Verteidigung aber nicht stichhaltig sein, dann wäre der Ausstieg aus dem Wettrüsten nur dann möglich, wenn die östliche Seite ausschließlich deshalb rüstet, weil sie sich vom Westen bedroht fühlt. Eine westliche Umrüstung auf reaktive Verteidigung würde den nicht-bedrohlichen Charakter der NATO deutlich machen und könnte im Sinne einer gradualistischen Strategie an die WVO appellieren, auf ihre Offensivstrategie zu verzichten. In diesem Fall käme es darauf an, den nicht-bedrohlichen Charakter der Struktur zu maximieren, d. h. z. B. in Richtung auf die Afheldtschen Vorschläge umzurüsten. Nun ist es aber fraglich, ob die östliche Vorwärtsstrategie tatsächlich allein auf die Bedrohung der WVO durch die NATO zurückgeführt werden kann. Man braucht der östlichen Seite keine aggressiven Motive zu unterstellen, um zu dem Schluß zu gelangen, daß ihre Offensivstrategie auch auf historischen Erfahrungen, bündnispolitischen Erwägungen sowie traditionellem militärische Denken beruht — also auf Faktoren, die mit der westlichen Rüstung nur am Rande zu tun haben. Eine gradualistische Strategie einseitiger Initiativen kann auf diese Gründe östlicher Rüstung kaum einwirken.

Zusammengefaßt bedeutet dies, daß die dargestellten Alternativ-Konzepte einerseits um so rüstungskontrollfreundlicher sind, je eindeutiger sie auf die östliche Seite defensiv wirken. Ob ihre einseitige Realisierung darüber hinaus den konventionellen Rüstungswettlauf beenden kann, hängt davon ab. ob reaktive, auf Feuerkraft statt auf Bewegung setzende Verteidigungsstrukturen herkömmlichen gepanzerten Verbänden tatsächlich an Kosten und Wirksamkeit überlegen sind. Die Gültigkeit dieser Hypothese kann bisher mangels eingehender, vergleichender Untersuchungen nicht als gesichert gelten. Noch ungesicherter und zumindest für die Vergangenheit unzutreffend ist die Hypothese, daß die WVO auf eine einseitige defensive Umrüstung der NATO entsprechend reagiert. Schon deshalb bleibt man auf kooperative Rüstungssteuerung angewiesen, wenn man den konventionellen Rüstungswettlauf in Europa zähmen will. 4. Abhaltefähigkeit Die Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern der „flexible response“ bzw.der Alternativ-konzepte ist teilweise in geradezu grotesker Weise auf die Frage konzentriert, wie militärisch effizient die einzelnen Strukturen gegenüber einer Aggression sind. Viele Anhänger der eher defensiven Modelle preisen ihre Vorschläge oft lediglich als Beitrag zu einer wirksameren NATO-Verteidigung an, so daß stabilitätspolitische Vorzüge manchmal unterschlagen werden. Die Auseinandersetzung hat Züge eines Glaubenskrieges an sich, bei der mit Verve vorgetragene Überzeugungen den Mangel an Wissen über die militärische Leistungsfähigkeit der Konzepte verdecken. Die Ehrlichkeit gebietet es zuzugeben, daß die militärische Effizienz der Alternativ-Modelle im Vergleich zur „flexible response" noch weitgehend ungeprüft ist. Dies ist weniger deren Befürwortern als vielmehr den offiziellen Stellen in der NATO und im Bundesverteidigungsministerium anzulasten, die sich bisher kaum ernsthaft mit den Defensivkonzepten auseinandergesetzt haben. Die folgenden Überlegungen haben daher allenfalls vorläufigen Charakter.

Zunächst ist festzuhalten, daß die Abschreckungswirkung der „flexible response“ vergleichsweise hoch ist, was in erster Linie mit denjenigen Komponenten der geltenden NATO-Struktur zusammenhängt, die unter Stabilitätsgesichtspunkten bedenklich stimmen. Selbst wenn man annimmt, daß der nukleare Ersteinsatz der NATO nur geringe Glaubwürdigkeit besitzt, so ist die Abschreckungswirkung der Drohung mit nuklearer Eskalation gegenüber einem Angreifer, der allein aus Gewinn-motiven handelt, als hoch anzusetzen. Hinzu kommen das Risiko schneller konventioneller und nuklearer Eskalation infolge der Integration der NATO-Nuklearwaffen in das Gefechtsfeld, die konventionelle und nukleare Schadensandrohung gegen das Hinterland der WVO sowie schließlich die Fähigkeit der schwer gepanzerten NATO-Verbände, verlorengegangenes Territorium zurückzuerobem.

Demgegenüber ist festzuhalten, daß das nukleare Eskalationsrisiko bei allen hier vorgestellten Konzepten gegenüber der „flexible response“ reduziert, wenn auch nicht beseitigt ist. Eine solch geringere Abschreckungswirkung wäre dann zu verschmerzen, wenn die konventionelle Abhaltefähigkeit im Vergleich zur geltenden NATO-Strategie verbessert oder wenigstens nicht vermindert würde. Wie viel Abhaltefähigkeit aber notwendig ist, hängt ab von Vermutungen über die Intentionen des Gegners sowie über seine Optionen und Potentiale.

In diesem Zusammenhang fällt auf. daß die meisten Alternativkonzepte auf ein Szenario hin optimiert sind, nämlich den mit Großverbänden durchgeführten Angriff nach kurzer militärischer Vorbereitungszeit mit dem Versuch, die Abwehrstellungen des Verteidigers schnell zu durchbrechen. Es mag durchaus sein, daß die Alternativkonzepte die konventionelle Abhaltefähigkeit der NATO gegenüber diesem Szenario erhöhen würden. Denn heute bliebe dem Westen nur die nukleare Eskalation, wenn die Vomeverteidigung einmal durchbrochen worden ist. Dagegen setzen vor allem Afheldt und Hannig auf einen länger dauernden konventionellen Abnutzungskrieg und hoffen darauf, daß sich ein Angreifer mit der Zeit in den Netzen der Verteidigung verfängt. Nach John Mearsheimer ist die Aussicht auf einen langdauemden Abnutzungskrieg besonders wirksam zur Abschreckung eines konventionellen Angriffs geeignet. Afheldts Konzept der raumdeckenden Verteidigungsnetze, bei denen ein schneller Durchbruch nicht möglich zu sein scheint, könnte unter dem Aspekt der Abhaltewirkung besonders leistungsfähig sein. Wie sieht es aber mit anderen Szenarien aus, z. B. bei Angriffen mit eng begrenzter Zielsetzung, wie sie etwa dann wahrscheinlich werden, wenn es nicht um einen Krieg aus Gewinnabsicht geht? Je stärker die Strukturen auf eine statische Verteidigung hin optimiert sind, desto weniger Flexibilität haben sie, um sich auf veränderte Lagen einzustellen.

Aber auch im Fall eines Großangriffs steht und fällt die Abhaltefähigkeit der alternativen Modelle mit der Gültigkeit der „Effizienz-Hypothese“ der Verteidigung. Der Vorteil des Verteidigers, in bekanntem und vorbereitetem Gelände kämpfen zu können, soll eher reaktiv orientierten Verbänden, die auf Feuerkraft optimiert sind, stärker zugute kommen als beweglichen Einheiten, die für alle Gefechtsarten einschließlich des Angriffs gerüstet sind. Wie erwähnt, ist ein gültiges Urteil über diese Hypothese derzeit nicht möglich. Erste, allerdings unzureichende Untersuchungen bezweifeln, daß eine reaktive Struktur wie die von Afheldt vorgeschlagene „flexible response“ in der frühen Vorne-Verteidigung angesichts der gegenwärtigen WVO-Strategie gleichwertig ist. Nicht umsonst verzichten nur Afheldt und Hannig auf bewegliche Elemente; alle anderen Alternativvertreter setzen dagegen auf Mischkonzepte.

Mit der Effizienz-Frage hängt die „Feuer-versusBewegung“ -Kontroverse eng zusammen. Die Befürworter von eher statischen Verteidigungsstrukturen argumentieren, daß die Entwicklung moderner Technik (Sensoren, Optronik, Informationstechnologie, Munitions-und Zündertechnologie) zu einer enormen Steigerung der Feuerkraft geführt habe. Demgegenüber könnten Verbesserungen bei der Panzerung nicht mithalten. Auch diejenigen, die nicht (z. B. Hannig und Löser) einem Technik-Fetischismus anhängen, argumentieren daher, Feuer könne Bewegung insofern ersetzen, als ortsfest installierte Raketen-und Artilleriestellungen in der Lage seien, Feuer auch über weite Entfernungen hinweg auf Ziele zu konzentrieren bzw. die Gebiete der Feuerabdeckung zu wechseln. Daß das Element Feuerkraft an Bedeutung zugenommen hat, ist nicht zu bestreiten. Schließlich argumentieren ja auch diejenigen damit, die die offensiven Komponenten der NATO-Strategie konventionell ausbauen wollen (FOFA).

Es ist aber keineswegs ausgemacht, daß Verbesserungen der Feuerkraft allein der sich eher defensiv orientierenden Seite zugute kommen. Genauso gut kann eine offensiv operierende Strategie sich diese technologischen Errungenschaften zunutze machen. Schließlich lassen sich ins Gelände eingegrabene Raketen-und Artilleriestellungen auch mit Feuerkraft bekämpfen, so bald sie ausgemacht worden sind. Sobald der erste Schuß gefallen ist, dürfte dies einem Gegner, der über moderne Aufklärungsmittel verfügt, nicht allzu schwer fallen. Obwohl dieser Einwand zuallererst gegen die Abhaltefähigkeit des Hannigschen Verteidigungswalls spricht, gilt er zum Teil auch für andere Konzepte.

Ein weiteres Argument gegen eher statische Modelle lautet, daß der Verzicht auf bewegliche und gepanzerte Verbände dazu führe, daß einmal verlorengegangenes Territorium nicht zurückgewonnen werden kann. Ein Angreifer hätte zwar einen hohen Eintrittspreis zu zahlen und müßte mit einer starken Abnutzungsrate rechnen. Das Risiko, zurückgeschlagen zu werden, ginge er aber nicht ein. Diese Debatte hat ebenfalls dazu geführt, daß SAS, von Bülow, von Müller und Löser gepanzerte Verbände — mindestens als „Feuerwehr“ — in ihre Konzepte aufgenommen haben. Der Mehrheitskonsens auch unter den Anhängern von Alternativ-Modellen lautet heute, daß auf bewegliche und gepanzerte Verbände bei einer einseitigen Umrüstung nicht völlig verzichtet werden kann.

Schließlich sehen sich die Defensiv-Konzepte der Kritik ausgesetzt, daß sie auf Schadenswirkung gegen das gegnerische Hinterland verzichten. Die Abhaltefähigkeit reduziere sich, wenn das Territorium des Angreifers zum Sanktuarium werde. Er gehe allenfalls das Risiko ein, im Netz der Verteidigung steckenzubleiben, d. h.seine offensiven Ziele nicht realisieren zu können. Dagegen brauche er keine Vergeltung zu befürchten, Zerstörungen gebe es nur auf dem Gebiet des Verteidigers. Außerdem könne ein Angreifer in aller Ruhe Verstärkungsverbände aufmarschieren lassen und Kräfte konzentrieren.

Nun trifft diese Kritik nicht die Vorschläge Lösers, von Müllers und von Bülows, die alle beschränkte „deep strike" -Optionen ins Hinterland der WVO vorsehen (in Hannigs Konzept wären solche Fähigkeiten ohne weiteres denkbar; die schweren Raketenwerfer müßten nur nicht, wie vorgesehen, 200 km hinter der Grenze, sondern etwas weiter vorne disloziert werden). Lediglich Afheldt und die SAS verzichten aus Gründen der Defensivität völlig auf Schadensandrohung des östlichen Territoriums.

Hier deutet sich ein Zielkonflikt zwischen Stabilität und Abhaltefähigkeit an. Zu berücksichtigen ist aber, daß alle Konzepte nach wie vor auf seegestützte Nuklearwaffen zurückgreifen. Ein Angreifer könnte nicht ausschließen, daß diese im Falle einer drohenden konventionellen Niederlage der NATO gegen sein eigenes Land eingesetzt würden.

Festzuhalten bleibt, daß ein gesichertes Urteil über die Abhaltefähigkeit der Alternativ-Konzepte nicht möglich ist. Eine vorsichtige und vorläufige Bewertung ergibt jedoch, daß alle Modelle einen Abschreckungsverlust gegenüber der „flexible response“ bedeuten würden. Dies könnte einseitig dann hingenommen werden, wenn auf bewegliche und gepanzerte Verbände nicht völlig verzichtet und nach wie vor Schaden für das gegnerische Territorium in beschränktem Maße angedroht wird, um gegnerische Kräftekonzentrationen zu verhindern. Unter dem Kriterium der Abhaltefähigkeit wären dann die Konzepte von Bülows und von Müllers denjenigen Afheldts und der SAS vorzuziehen, obwohl jene bei den Stabilitätskriterien schlechter abschneiden als diese. (Das Konzept Hannigs scheint wegen der einseitigen Optimierung auf Raketen weder Stabilitäts-noch Abschreckungskriterien zu genügen). Damit aber entsteht bei einseitiger Umrüstung ein echter Zielkonflikt zwischen Stabilität und Abhaltefähigkeit. Es ist unwahrscheinlich. daß beide Kriterien gleichzeitig und zufriedenstellend erfüllt werden können. 5.

Bündnisverträglichkeit Viele Befürworter von Alternativkonzepten argumentieren, eine Umrüstung könne unilateral auf westlicher Seite vollzogen werden und erfordere zunächst auch nicht, daß alle Bündnispartner sofort mitziehen. Diese Argumentation übersieht, daß „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ nur dann ihren nicht-bedrohlichen Charakter entfalten kann, wenn sie nicht nur taktisch-operatives Konzept der Bundeswehr, sondern Militärstrategie des gesamten Bündnisses wird. Das gebietet schon das „Schichttorten-Prinzip" der westlichen Verteidigung. Man stelle sich z. B. vor, die Bundeswehr rüste auf eher defensive Verbände um, während die USA, die das zweitgrößte Kontingent konventioneller Einheiten in Westeuropa stellen, nicht nur an ihren bisherigen Konzept festhielten, sondern im Sinne der „Air-Land-Battle“ -Doktrin sogar noch ihre offensiven Fähigkeiten verstärken würden. Im Ergebnis könnte die WVO dies als Verbesserung der Angriffsfähigkeit der NATO wahmehmen, insofern die Verteidigungsfähigkeit optimiert und gleichzeitig offensiv fähige Verbände ausgebaut würden. Es entstünde tendenziell das gleiche Pro-B blem, daß oben im Zusammenhang mit Mischkonzepten und der Übergangsphase diskutiert wurde, wenn auch in geringerem Ausmaß.

Wenn man mehr Stabilität in Europa erreichen will, muß die Umrüstung im gesamten Bündnis abgesprochen und durchgesetzt werden. Zumindest müssen sich diejenigen NATO-Partner, die das Gros der konventionellen Landstreitkräfte in Zentraleuropa stellen, von vornherein an der Umrüstung beteiligen. Das betrifft auch die USA. Ohne den Konsens mit der wichtigsten Macht im Bündnis sind die Alternativkonzepte kaum umzusetzen; dies ist zugleich auch das größte praktische Problem bei der Durchsetzbarkeit. Denn im Prinzip sind alle hier vorgestellten Modelle bündnisverträglich, insofern sie auf der taktisch-operativen Ebene von allen Streitkräften der Bündnispartner übernommen werden können. Das politisch-praktische Problem besteht aber darin, daß das operative Konzept etwa der US-Armee z. Z. in die entgegengesetzte Richtung entwickelt wird. Obwohl „Air-LandBattle“ aus technischen und finanziellen Gründen in vollem Umfang nicht durchführbar ist, geht der Trend eindeutig in Richtung höhere Beweglichkeit. Stärkung offensiver Fähigkeiten usw., also weg von der gewünschten Richtung.

Nun könnte man eine Umwegstrategie beschreiten und zunächst die operativen Konzepte der Bundeswehr und der Armeen der kleineren Bündnispartner wie Belgien, Niederlande und Dänemark angleichen in Richtung auf größere Defensivität. Dies kann aber eine deutsch-amerikanische Einigung nicht ersetzen. Kontraproduktiv sind auch Argumentationen, im Zuge der Durchsetzung von Defensivmodellen könne auf die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Westeuropa langfristig verzichtet werden. Aus übergeordneten friedens-wie sicherheitspolitischen Gründen bleibt Westeuropa auf die Präsenz der USA angewiesen, solange auch die Sowjetunion Truppen in Osteuropa stationiert hält. Mehr als jede in Europa stationierte Nuklear-waffe sorgen ca. 300 000 US-Soldaten dafür, daß jede militärische Auseinandersetzung zwischen Ost und West in Europa unmittelbar Krieg zwischen den Supermächten bedeutet — mit allen damit verbundenen Eskalationsrisiken.

Problematisch sind auch Vorschläge, im Bündnis arbeitsteilig vorzugehen, z. B.der Bundeswehr die Verteidigung zu Lande zu überlassen, während andere, wie z. B. die Niederlande und Dänemark, sich auf maritime Aufgaben konzentrieren. Dies ist sicherlich in Grenzen möglich, sollte aber nicht das Prinzip gefährden, an der multinationalen Struktur der in der Vorneverteidigung engagierten Verbände festzuhalten.

Als Fazit ergibt sich, daß die Durchsetzung alternativer Konzepte in der NATO vor erheblichen praktischen Problemen steht. Vor allem müßten die USA davon überzeugt werden, daß eine Umrüstung auf eher reaktive Verteidigungsstrukturen keine Risikoverlagerung zu ihren Ungunsten bedeutet. Insgesamt dürften unter dem Kriterium der Bündnisverträglichkeit Modelle, wie z. B. von Bülows „Bundeswehrstruktur“, besser abschneiden als die Konzepte, die sich allzuweit von der „flexible response“ entfernen. 6. Schadensbegrenzung Die geltende NATO-Strategie bezahlt ihre hohe Abschreckungswirkung mit einem weitgehenden Verzicht auf die Möglichkeit zur Schadensbegrenzung im Kriegsfall. Sollte die Abschreckung scheitern, wird die Zerstörung dessen wahrscheinlich, was verteidigt werden soll (Verteidigungsdilemma). Auch dieses Risiko der „flexible response“ war eines der Ausgangspunkte bei der Entwicklung von Alternativkonzepten. Was die Schadensbegrenzung im Kriegsfall angeht, so dürften die hier diskutierten Alternativkonzepte tatsächlich allesamt besser abschneiden als die „flexible response“, da die eher defensiven Verteidigungsstrukturen weniger attraktive konventionelle und nukleare Ziele bieten. Allerdings gibt es bei einigen Konzepten auch hier Probleme. So wird das Kriterium, keine attraktiven Ziele zu bieten, von den Modellen Lösers, von Bülows und von Müllers nur unzureichend erfüllt. Dazu ist bei ihnen die Zahl der weiter hinten dislozierten, schwer gepanzerten Verbände zu groß. Bei Hannigs Konzept steht und fällt die Möglichkeit zur Schadensminimierung schließlich damit, daß es einem Gegner nicht gelingt, die ortsfest verbunkerten Raketenstellungen aufzuklären. Sobald sie ihren ersten Schuß abgefeuert haben, ist es jedoch spätestens damit vorbei. Mit konzentriertem Gegenfeuer wäre dann zu rechnen.

Eine rein reaktive Verteidigungsstruktur — wie die von Afheldt vorgeschlagene — steht schließlich vor dem Problem, daß ihr die Möglichkeit zur schnellen Kriegsbeendigung fehlt. Wahrscheinlich käme es zu einem lang dauernden konventionellen Abnutzungskrieg. Die Aussicht darauf mag zwar unter dem Gesichtspunkt der Abhaltefähigkeit erwünscht sein. Ob dies aber der Schadensbegrenzung förderlich ist, bleibt zweifelhaft. Hier deutet sich auch im konventionellen Bereich ein Zielkonflikt zwischen Abhaltefähigkeit und Schadensbegrenzung an. Wer die konventionelle Abschreckung stärken will, muß den Erfolg von Blitzkrieg-Operationen und schnellen Durchbrüchen des Gegners verwehren. Wenn die Abschreckung aber scheitert, wird ein Abnut31 zungskrieg wahrscheinlich, der fast zwangsläufig auf Kosten der Schadensbegrenzung geht.

Diese Überlegungen machen noch einmal deutlich, daß die beste Schadensminimierung die Kriegsverhütung ist. Für die Kriegsverhinderung aber sind politische Strategien wie Entspannung und Vertrauensbildung, die Strukturen gemeinsamer Sicherheit in Europa schaffen, allemal bedeutsamer als militärische Umrüstungsmaßnahmen. 7. Gesellschaftliche Verträglichkeit Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, daß der Status quo der „flexible response" mit den heute und in Zukunft zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen nicht aufrechtzuerhalten ist. Die Bundeswehr-Planung der neunziger Jahre steht mehr oder weniger vor dem Bankrott. Demgegenüber beanspruchen alle Alternativ-Konzepte, sowohl kostengünstiger zu sein als auch mit einem geringeren Personalumfang auskommen zu können als die gegenwärtige Bundeswehrstruktur. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, daß auf teure Großwaffensysteme verzichtet werden kann. Nun liegen vergleichende Kostenberechnungen für die einzelnen Modelle außer den Angaben der Autoren nicht vor. Eine Beurteilung ist also nur schwer möglich. Es scheint aber, daß die Kosten moderner Raketen-und Aufklärungstechnologie z. T. erheblich unterschätzt werden. Das wirkt sich vor allem aufModelle aus, die besonders stark von High Tech abhängig sind (z. B. Hannig). Sollten sich die optimistischen Prognosen der Befürworter von Defensivkonzepten bestätigen lassen, wären diese Modelle allerdings in der Tat gesellschaftlich verträglicher als die „flexible response“.

Ein häufiger Vorwurf gegen die Defensiv-Modelle lautet, sie würden zu einer Militarisierung der Gesellschaft führen wegen ihrer Ähnlichkeit mit einer Milizstruktur und wegen des hohen Reservistenanteils. Dagegen argumentieren die Befürworter, es handele sich nicht um die Militarisierung der Gesellschaft, sondern um eine Zivilisierung der Armee. Auf diesem Polemik-Niveau ist die Frage nicht zu beantworten. Auch die empirischen Beispiele von Ländern mit milizähnlicher Wehrstruktur helfen nicht viel weiter. Sicherlich ist die Schweiz eine militarisierte Gesellschaft im Vergleich zur Bundesrepublik. Ein Gegenbeispiel wäre Österreich.

Klar ist, daß alle Konzepte, die auf milizähnliche Strukturen hinauslaufen, eine größere Durchdringung des zivilen und militärischen Sektors bedeuten würden, als dies heute der Fall ist. In welche Richtung sich dies auswirken würde, kann allerdings theoretisch nicht vorentschieden werden, sondern hängt von politischen Rahmenbedingungen ab. Wenn die Umrüstung z. B. in Entspannungspolitik und die Schaffung blockübergreifender Sicherheitsstrukturen eingebettet ist. dürfte die Militarisierungsgefahr gering zu veranschlagen sein. Zu berücksichtigen ist aber, daß die meisten auf infanteristische Strukturen setzenden Konzepte vorsehen, die einzelnen Verbände bereits in Friedenszeiten in den Gebieten zu stationieren, die sie später verteidigen sollen. Auf diese Weise soll die Kenntnis des Geländes erhöht und somit der Verteidiger-Vorteil besser genutzt werden. Damit würde sich aber die militärische Belastung der Bundesrepublik, die bisher vor allem in grenznahen Gebiet besonders spürbar ist. auf das gesamte Bundesgebiet gleichmäßig verteilen. Sie könnte insgesamt sogar zunehmen.

V. Zusammenfassende Bewertung

Der Vergleich der verschiedenen Alternativkonzepte hat zunächst gezeigt, daß der Begriff „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ inhaltlich bisher nicht genügend ausgeführt ist. Eine Streitkräfte-struktur, die unter völliger Absehung der geostrategischen Asymmetrien sowie der Potentiale und Fähigkeiten der anderen Seite „eindeutig defensiv“ wäre, gibt es nicht. Würde die WVO vollständig einseitig abrüsten, dann wäre der Westen selbst mit einer dem Afheldtschen Konzept entsprechenden Verteidigungsstruktur zur raumgreifenden Offensive in der Lage. Umgekehrt gilt, daß die NATO schon heute unter den Bedingungen der „flexible response“ nicht angriffsfähig ist, solange die WVO an ihrem jetzigen Konzept festhält. Nun sollte man allerdings nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Vergleich hat nämlich auch deutlich gemacht, daß sich sehr wohl die konventionelle Stabilität in Europa durch Umrüstung grundlegend verbessern läßt. Ceteris paribus sind schwer gepanzerte Verbände mit hoher Beweglichkeit eher offensivfähig als die Jägerkommandos und Raketenartillerietrupps in den Vorschlägen Afheldts und der SAS. Nur sollte man bedenken, daß es einerseits vollkommen nicht-bedrohliche Militärkonzepte nicht gibt und andererseits Stabilität mehr meint als die Konzentration auf den Faktor Beweglichkeit qua Offensivität.

Unter stabilitätspolitischem Gesichtspunkt schneiden die Vorschläge Horst Afheldts von allen hier untersuchten Konzepten am besten ab. Sein Konzept ist auf strategische und Krisenstabilität hin optimiert. Ob es auch rüstungswettlaufstabil ist, muß offenbleiben. Dagegen bestehen infolge der Rigidität des Afheldtschen Modells erhebliche Zweifel an dessen Abhaltefähigkeit. Die „Technokommandos“ sind nicht zur Wiedergewinnung verlorengegangenen Territoriums in der Lage; das Konzept verzichtet außerdem aufjede Schadensandrohung gegen das Territorium des Gegners. Zwar mag der einem Angreifer in Aussicht gestellte Abnutzungskrieg die Abhaltefähigkeit erhöhen. Ob dies aber mit dem Kriterium der Schadensbegrenzung vereinbar ist, erscheint zweifelhaft. Das ändert nichts daran, daß Afheldts Vorschläge das anzustrebende Zielmodell darstellen, wenn beide Seiten auf stabilitätsorientierte Strukturen umrüsten sollten.

Norbert Hannigs eingegrabene Artilleriestellungen dagegen dürften nicht einmal stabilitätspolitisch zufriedenstellend abschneiden, ganz abgesehen von ihrer Abhaltefähigkeit. Das Modell ist derart einseitig auf eine Form des Abwehrkampfes hin optimiert, daß es für einen Gegner leicht kalkulierbar sein dürfte. Da die Raketenstellungen wahrscheinlich leicht aufklärbar sind, dürfte das Konzept auch alles andere als krisenstabil sein.

Aufgrund der genannten Überlegungen ebenfalls auszuschließen sind Jochen Lösers Vorstellungen. Es handelt sich um ein Modell, daß völlig gegensätzliche Konzepte von FOFA bis zur Raumverteidigung zu integrieren versucht. Was daran „strukturell nichtangriffsfähig“ sein soll, bleibt unerfindlich.

Ernster zu nehmen sind hingegen die Vorschläge Andreas von Bülows und Albrecht von Müllers. Gemessen an den herkömmlichen Kriterien von Abhaltefähigkeit dürfte ihre militärische Effizienz außer Frage stehen. Wahrscheinlich schneiden sie hier sogar besser ab als der Status quo, da beide Konzepte stärker auf Schadensbegrenzung hin ausgerichtet sind als die „flexible response". Andererseits bestehen erhebliche Zweifel, ob die Modelle von Bülows und von Müllers stabilitätspolitischen Anforderungen genügen. Es handelt sich um Mischkonzepte aus herkömmlichen gepanzerten Verbänden und leichter Infanterie mit hoher Feuerkraft. Solche Strukturen könnten u. U. sogar vom Gegner als besonders angriffsfähig wahrgenommen werden, und zwar gerade dann, wenn sie das Kriterium der Abhaltefähigkeit optimal erfüllen. Die WVO könnte von Bülows und von Müllers Modelle als Versuche perzipieren, mit den auf Abwehr spezialisierten Verbänden den Angriff des Gegners aufzuhalten, während die schwer gepanzerten Einheiten zur Gegenoffensive ansetzen. Insofern dürfte der stabilitätspolitische Gewinn dieser Konzepte gegenüber dem Status quo gering sein.

Zwischen den Konzepten Afheldts einerseits und von Bülows bzw. von Müllers andererseits ist der Vorschlag der „Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitk“ anzusiedeln. Das Modell dürfte im wesentlichen die stabilitätspolitischen Anforderungen erfüllen, da es nur wenige hochbewegliche und schwer gepanzerte Verbände enthält („Feuerwehr“), die zudem logistisch in das eher statische Netz der „Module“ eingebunden sind. Die Abhaltefähigkeit des Konzepts dürfte größer sein als die der Afheldtschen Vorschläge. Sie ist allerdings wohl geringer als in den Konzepten von Bülows und von Müllers, da die SAS auf jede Schadensandrohung gegen das Territorium der WVO verzichtet und damit auf die Möglichkeit, gegnerische Kräftekonzentrationen zu verhindern. Ein Modell „SAS Plus“ im Sinne von begrenzter Feuerwirkung in das gegnerische Hinterland würde dieses Problem vermeiden. Allerdings müßten dann wieder Abstriche am nicht-bedrohlichen Charakter des Modells gemacht werden.

Wie man es auch dreht und wendet: Unter der Prämisse einseitiger Umrüstung handelt man sich einen kaum aufzulösenden Zielkonflikt ein. Entweder optimiert man das Verteidigungskonzept im Hinblick auf konventionelle Stabilität. In diesem Fall sind Einbußen bei der Abhaltefähigkeit fast unausweichlich. Oder man kümmert sich in erster Linie um die Aufrechterhaltung militärischer Wirksamkeit. Dann aber wird man stabilitätspolitischen Kriterien kaum hinreichend genügen können und u. U. sogar die Lage verschlimmern.

Wie gravierend der angedeutete Zielkonflikt einzuschätzen ist, hängt einerseits von der Bewertung des militärischen Kräfteverhältnisses in Europa ab und andererseits davon, welche Kriegsursache für besonders wahrscheinlich gehalten wird. Aber auch diejenigen, die den Zielkonflikt zwischen Stabilität und militärischer Wirksamkeit für weniger bedeutsam halten, müssen sich dem Problem stellen, wie mit der Übergangsphase umzugehen ist, wenn eher reaktive und eher offensivfähige Strukturen nebeneinander stehen. Werden die eher statischen Elemente der Verteidigung zusätzlich zu den herkömmlichen Verbänden eingeführt, so wird die militärische Lage insgesamt wahrscheinlich instabiler. Oder aber die gepanzerten und hochbeweglichen Einheiten werden abgebaut in einer Situation, in der die eher defensiven Strukturen noch nicht tragfähig genug im Hinblick auf ihre militärische Effizienz sind.

Dieser Zielkonflikt läßt sich bei einseitiger Umrüstung wohl nicht vermeiden. Wem es wirklich um die Verbesserung konventioneller Stabilität in Europa geht, ohne daß die westliche Abwehrfähigkeit gravierend leidet, der kommt um kooperative Rüstungssteuerung im Zusammenhang mit der Umrüstung nicht herum. Die Forderung nach verhandelter Rüstungskontrolle ergibt sich also nicht aus Gründen politischer Taktik oder innen-wie bündnispolitischer Durchsetzbarkeit, sondern aus der Struktur der militärischen und stabilitätspolitischen Probleme, die bei der Umrüstung auf alternative Verteidigungskonzepte entstehen. Ohne die Kooperation mit dem potentiellen Gegner, ohne die Einbindung der Veränderung der militärischen Strukturen in ein entspannungspolitisches Gesamtkonzept ist konventionelle Stabilität in Europa nicht zu haben. Das gilt schon deshalb, weil ohne Verhandlungen mit der WVO kaum herausgefunden werden kann, was nicht-bedrohliche und vertrauensbildende Sicherheitsstrukturen in Europa eigentlich sind.

Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern verhandelter Rüstungskontrolle und Anhängern einer einseitigen Umrüstung kann überwunden werden, wenn beide Vorstellungen in ein Konzept konventioneller Stabilisierung in Europa eingebunden werden. Weder darf die Umrüstung ausschließlich auf defensive Strukturen von Rüstungskontrollerfolgen abhängig gemacht werden, noch sollte man sich der Illusion hingeben, ohne kooperative Rüstungssteuerung könnten wirksame, stabilitätskonforme Strukturen auf Dauer in Europa geschaffen werden.

Verhandelte Rüstungskontrolle und einseitige Stabilisierung durch Umrüstung können sich gegenseitig ergänzen und befördern. Aufgabe der Rüstungskontrolle mit der WVO wäre es, die besonders zur Offensive geeigneten Verbände auf beiden Seiten zu reduzieren. Verhandlungen über konventionelle Rüstungsminderung in Europa müssen mit dem Ziel begonnen werden, schwer gepanzerte und hochbewegliche Verbände auf beiden Seiten abzubauen. Darüber hinaus dienen diese Gespräche mit der WVO dem Zweck, einvernehmlich Kriterien der Stabilisierung zu definieren, sich über die jeweiligen Bedrohtheitsvorstellungen zu verständigen, sie gegebenenfalls zu verändern sowie schließlich gemeinsam festzulegen, was hinlängliche Verteidigungsfähigkeit bedeutet. Kurz, es handelt sich darum, konventionelle Stabilisierung als gegenseitigen Lernprozeß zu organisieren.

Verteidigungspolitik dagegen hätte die Aufgabe, die Umrüstung auf eher defensive Strukturen zu bewerkstelligen. Mit dieser Stabilisierung kann zunächst unabhängig von Rüstungskontrollergebnissen begonnen werden, soweit hierdurch eine hinlängliche Verteidigungsfähigkeit nicht gefährdet wird. Dabei müßte die Grenze definiert werden, jenseits derer Abhaltefähigkeit nicht mehr gewährleistet werden kann. Aufgrund ihrer zahlreichen grenznah stationierten Potentiale hat die Sowjetunion gegenwärtig einen größeren Spielraum für einseitige Schritte in Zentraleuropa als die NATO. Ein wirklich einschneidender Schritt wäre die Veränderung der WVO-Strategie von einer Vorwärts-in eine Vorneverteidigung. Dies setzt eine Veränderung der Doktrin und Struktur der WVO-Streitkräfte voraus, die dann allerdings auch den Spielraum der NATO für einseitige Schritte vergrößern würde.

Die Erfolgsaussichten für eine solche integrierte reformerische Strategie zur Stabilisierung der militärischen Lage in Europa sind besser geworden. Die Anzeichen mehren sich, daß im Zuge des „neuen Denkens“ unter Gorbatschow ein Umdenkungsprozeß in der WVO begonnen hat. Die Chancen, die sich daraus ergeben, müssen entschlossen durch entsprechende westliche Initiativen getestet werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu den aus diesen Kriterien abgeleiteten rüstungskontrollpolitischen Optionen siehe Karsten D. Voigt, Von der nuklearen zur konventionellen Abrüstung — Kriterien konventioneller Stabilität und Möglichkeiten der Rüstungskontrolle, in: Europa-Archiv, (1987) 14, S. 409— 418.

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