Der Wandel Großbritanniens vom zögernden Außenseiter zum widerspenstigen Partner in der Europäischen Gemeinschaft
Angelika Volle
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Zusammenfassung
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Gemeinschaft sind geprägt vom Trauma des Verlusts britischer Souveränität durch die Abgabe nationaler Entscheidungsbefugnis. Die Vision kontinentaleuropäischer Politiker von einer Europäischen Union, die sie mit viel Idealismus anstreben, wird von den pragmatischen Briten, die im Gemeinsamen Binnenmarkt das Ziel des europäischen Einigungsprozesses zu sehen scheinen, nicht geteilt. Zwar hat die Regierung von Premierministerin Thatcher seit Beendigung des Budgetstreits 1984 konstruktiv an der Weiterentwicklung der Gemeinschaft mitgewirkt: Die Einheitliche Europäische Akte, die die Verankerung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) in das Institutionengefüge der EG festschreibt, die Regierungschefs auf die Schaffung des europäischen Binnenmarkts bis Ende 1992 verpflichtet und die das Ziel einer Europäischen Union propagiert, wurde mit aktiver Unterstützung der britischen Regierung verabschiedet. Auch die ersten Schritte zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EG. die zu einem drastischen Abbau der Butterberge und des Milchsees Ende 1988 führten, sind hauptsächlich auf die Initiativen von Mrs. Thatcher zurückzuführen. Dennoch sind britische Widerstände ein ernstzunehmender Faktor bei der Weiterentwicklung der EG von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Politischen Union: Einer Europäischen Währungsunion, der Schaffung eines gemeinsamen „sozialen Europa“ (der erste Kommissionsvorschlag, der von der Labour Party und TUC freudig begrüßt wurde) sowie der Steuerharmonisierung werden von britischer Seite (aber auch von anderen EG-Staaten) noch harte Widerstände entgegengesetzt.
I. Die Durchsetzung britischer Interessen in der EG
Die Labour-Regierung (1975— 1979)
Trotz des überzeugenden Ausgangs des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der EG am 5. Juni 1975 (67, Prozent stimmten dafür, 32, 8 Prozent dagegen) blieb die britische Öffentlichkeit von der EG-Mitgliedschaft ihres Landes unbeeindruckt. Für sie war die EG für die schlechte Wirtschaftslage in Großbritannien verantwortlich: In einer Gallup-Umfrage vom September 1976 gaben 74 Prozent der Befragten an, vor allem die EG sei schuld an den steigenden Lebensmittelpreisen, den 12, 6 Prozent Inflation und den 1, 3 Millionen Arbeitslosen; nur 16 Prozent teilten diese Meinung nicht. Zwar befürworteten sowohl der britische Industrieverband CBI als auch der Bauernverband (NFU) die Mitgliedschaft; die Gewerkschaftsmitglieder — und nicht nur die militanten — blieben dagegen feindlich eingestellt.
Auf den Parteitagen der Labour Party in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre tendierte die Linke dazu, eine „much looser grouping of European States“ zu fordern und jegliche Art von supranationaler Kontrolle abzulehnen. Ein Austritt stand als Ziel in zahlreichen Anträgen von EG-Gegnem immer wieder auf der Tagesordnung: „Opposition to the EEC is thus very much part and parcel of Labour ideology" 1). Die Labour-Regierung allerdings beharrte darauf, innerhalb der EG nach Problemlösungen zu suchen. Premierminister Callaghan forderte schon Ende 1977 erneut — nach den „Neuverhandlungen“ 1974 — „tiefgreifende Reformen“ und zählte sechs „Schlüsselelemente“ auf, auf die die Regierung ihre Aufmerksamkeit konzentrieren wolle: 1. Erhaltung der Souveränität nationaler Regierungen und Parlamente; 2.demokratische Kon-Eine längere Fassung dieses Beitrags erscheint demnächst in einem Sammelband von Gustav Schmidt (Hrsg.), Großbritannien und Europa — Großbritannien in Europa (Schriftenreihe des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung, Bd. 10), Bochum 1989. Im Frühjahr 1989 erscheintferner eine ausführliche Studie der Verfasserin zum Thema „Großbritannien und Europa“ als Arbeitspapier der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn. trolle der Tätigkeiten der Gemeinschaft; 3. Erreichen wirtschafts-, industrie-und regionalpolitischer Ziele vorrangig auf nationaler (und nicht auf EG-) Ebene; 4. Reform der gemeinsamen Agrarpolitik; 5. Entwicklung einer gemeinsamen Energie-politik in Übereinstimmung mit nationalen Interessen; 6. Erweiterung der EG. Callaghan betonte zudem. daß die britische Regierung niemals eine föderalistische Zielsetzung für die Gemeinschaft akzeptiert habe.
Auch die konservative Oppositionsführerin Margaret Thatcher meldete sich zu Wort: „Zu meinen Lebzeiten wird es nach meiner Auffassung keine zentrale europäische Regierung geben, die einem zentralen europäischen Parlament gegenüber verantwortlich ist, und den Nationalstaaten die Herr-Schaftsgewalt nur noch in dem Umfang zusteht, wie sie die Bundesstaaten in den USA haben. Aufgrund unserer Geschichte werden in Europa auch künftig die nationalen Regierungen und nationale Parlamente eine größere Rolle spielen.“ 2) Außenminister David Owen, der mehr Zeit für die Lösung der Rhodesien-Frage als für die europäischer Probleme zu verwenden schien, mußte den Vorwurf der EG-Partner hinnehmen, die Forderung einer Süderweiterung der EG werde nur deshalb von Großbritannien betrieben, um dadurch einer „Aufweichung“ der Gemeinschaft Vorschub zu leisten und sie in einen „lockeren Verbund“ umzuwandeln. Auch mußten die übrigen EG-Länder die Erfahrung machen, daß es Großbritannien anfangs sehr schwer fiel, mit ihnen als geschlossene EG-Gruppe auf internationalen Konferenzen und in internationalen Organisationen aufzutreten. So wollte die britische Regierung auf der KIWZ (Konferenz über Internationale Wirtschaftliche Zusammenarbeit, auch Nord-Süd-Dialog genannt), die vom Dezember 1975 bis Juni 1977 dauerte, zunächst als Erdöl-Erzeugerland mit einer eigenen Delegation auftreten. Erst auf starken Druck der EG-Partnerländer zog Großbritannien diese Forderung zurück. Die Berufung des Labour-Politikers Roy Jenkins an die Spitze der EG-Kommission (1977— 1981), von der sich die meisten EG-Länder eine engere Anbindung Großbritanniens an die Gemeinschaft erhofften, brachte auch nicht den gewünschten Erfolg: Der Proeuropäer Jenkins wurde von seinen Parteifreunden und ehemaligen Kabinettskollegen geradezu als „Verräter an der britischen Sache“ angesehen und konnte als Vermittler zwischen Großbritannien und den anderen EG-Ländem keine Erfolge verzeichnen.
Großbritannien machte nach Auffassung seiner Partner vor allem den Fehler, sich bei seinen Anliegen keine Verbündeten zu suchen, sondern als „Einzelkämpfer“ aufzutreten: Bei den Diskussionen um die Einführung eines Europäischen Währungssystems (EWS), das Anfang 1979 in Kraft treten sollte, äußerte Premierminister Callaghan frühzeitig. „daß einer oder mehrere Partner möglicherweise zu diesem Zeitpunkt noch nicht mitmachen möchten“ — und Großbritannien stand allein da. Eine weitere Möglichkeit, bei der Großbritannien durch geschicktes Taktieren hätte Verbündete gewinnen können, war die EG-Präsidentschaft, die Großbritannien im ersten Halbjahr 1977 innehatte. Doch die britische Regierung — seit März 1977 in einer Art Koalition mit der Liberal Party (Lib-LabPact) — entschied sich für einen „low-profile approach“, vor allem auch deshalb, weil sie selbst ihre Eigeninteressen bei den Verhandlungen über die Fischereipolitik, die Agrarpolitik und beim Finanz-beitrag zum Gemeinschaftshaushalt nicht hintanstellen wollte. Auch fehlte der Konsens in der eigenen Partei. Der Vorsitz durch britische Minister, die durch ihre Anti-EG-Haltung ausgewiesen waren (wie z. B. Landwirtschaftsminister Silkin), trug zum öffentlichen Bild einer engstirnigen britischen Haltung bei. Zu substantiellen Fortschritten kam es während der ersten britischen Präsidentschaft nicht, „the future of Britain’s relations with her European partners were left as troubled as ever“
Zwar äußerten einige EG-Mitgliedstaaten hinter vorgehaltener Hand, daß Großbritannien in vielem mit seiner Kritik an eingefahrenen Verhaltensweisen der EG recht habe und sie selbst ganz froh seien, daß Großbritannien diese zur Sprache bringe (und damit natürlich auch die Rolle des „Schwarzen Peter“ übernehme). Aber das ständige Querlegen Großbritanniens, die oftmals ungeschickte Art, mit der es sich selbst zum „odd one out“ stilisierte, brachte die Verhandlungspartner häufig an den Rand der Verzweiflung. Besonders augenfällig war dies bei Streitpunkten, die aus grundsätzlichen Erwägungen für Großbritannien nicht konsensfähig waren: die Fischereipolitik, die Budget-und Agrarpolitik sowie die Wahlen zum Europäischen Parlament. a) Der Streit um die Fischereipolitik
Kurz vor dem Beitritt der drei neuen EG-Mitglieder hatten die Sechs sich auf eine „Gemeinsame Fischereipolitik“ geeinigt. Für die britische Bevölkerung wurde diese Regelung zu einer Frage des nationalen Interesses: Großbritannien tätigte vor der Ausdehnung der Fischereizonen 3, 6 Prozent seiner Fänge in der eigenen Zone und war an der Hochseefischerei in fremden Gewässern nur begrenzt interessiert. Der vom EG-Ministerrat im Februar 1976 vorgeschlagenen Einführung einer nationalen Fischereizone bis zu 12 sm sowie der Festsetzung jährlicher Fangquoten setzte Großbritannien seine Forderung nach einer 100-sm-Exklusivzone entgegen. Seit Mitte 1976 erhob EG-Gegner Silkin den Anspruch auf eine variable Küstenzone von 12 bis 50 sm mit Exklusivrechten für britische Fischer. Eine Sonderquotenzuteilung für Großbritannien, wie die Kommission sie Ende 1976 vorschlug, wurde von Silkin rüde abgelehnt, da es noch keine konkreten Überwachungsmaßnahmen und somit auch keine Kontrollen der einzelnen Fangmengen gebe und die Überfischung von anderer Seite nicht auszuschließen sei. Außenminister Owen faßte im Januar 1977 im Unterhaus die britische Empörung prägnant zusammen: „No other Community resource is subject to a regime of equal access in the way provided for fish. The Community does not require German coal or French farm land or our own North Sea oil and gas to be open territory for anyone in the Community.“ 6)
Am 1. Juli 1977 verhängte die britische Regierung ein unbefristetes einseitiges Heringsfangverbot im britischen Teil der 200-sm-EG-Zone, das von der EG-Kommission stillschweigend gebilligt wurde. Den für 1978 vorgeschlagenen Quoten für die einzelnen EG-Staaten stimmte nur Großbritannien nicht zu — es hätte 21 Prozent erhalten, aber 60 Prozent der Bestände lagen in einem 50-smStreifen vor seiner eigenen Küste! Um die britischen Forderungen durchzusetzen, praktizierte Silkin auf einer Tagung des Ministerrats sogar die „Politik des leeren Stuhls“ — Gaullismus in Perfektion, der eine enge Solidarität der übrigen Acht bewirkte. Was die anderen Mitgliedstaaten besonders ärgerte, war, daß Silkin sich nicht an die Spielregeln hielt: 18 Monate lang verhandelten alle EG-Länder auf der Grundlage von Kommissionsvorschlägen, die — als ein Kompromiß in Aussicht stand — von Silkin als „unmögliche Basis für eine Regelung“ abgelehnt wurden. Großbritannien wiederum war verärgert über die Kommission, die nicht genügend die spezifisch britische Situation würdigte, Abkommen mit Drittländern (Norwegen) abschloß, in deren Gewässern außer Großbritannien auch noch die Bundesrepublik und Frankreich fischen durften, Maßnahmen gegen das Aussterben bedrohter Arten wegen mangelnder Einigkeit der anderen acht EG-Staaten nicht traf und sich zur Frage der Überwachung und Kontrolle von Fangquoten, Netzgrößen etc. nicht äußerte. Aus britischer Sicht war ein Verhandlungserfolg, der der an dieser Frage besonders interessierten britischen Öffentlichkeit hätte präsentiert werden können, bei Übernahme der Regierungsmacht durch die Konservativen im Mai 1979 noch in weiter Ferne. b) Die Auseinandersetzungen über die Budget-und Agrarpolitik Schon bei den ersten Gesprächen zwischen Großbritannien und den anderen europäischen Ländern Mitte der fünfziger Jahre über eine mögliche Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatte die Frage der Finanzierung der Gemeinschaftspolitiken einem möglichen Beitritt Großbritanniens im Weg gestanden. Wie ein roter Faden zog sich dieses Problem, das eng mit der Agrarpolitik verbunden ist, als „Stein des Anstoßes“ durch alle Verhandlungen in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Gelöst wurde diese Streitfrage auch nicht in den „Neuverhandlungen“ — es war eigentlich abzusehen, daß das Thema in absehbarer Zeit von Großbritannien wieder vorgebracht werden würde. Dennoch traf es die Acht völlig unerwartet, als sich Premierminister Callaghan im November 1978 außerordentlich kritisch über den britischen Netto-Beitrag zum EG-Haushalt äußerte. Ohne hier in Details gehen zu wollen Jedes EG-Land mußte außer dem Mehrwertsteueranteil von einem Prozent auch Einfuhrzölle und Abgaben an die EG abführen, die auf die Einfuhr von Agrarund Industrieprodukten aus Ländern, die nicht EG-Mitglieder sind, aufgeschlagen wurden. Ein stark einfuhrabhängiges Land wie Großbritannien, das vor allem Produkte aus Commonwealth-Ländern einführte, mußte also vergleichsweise hohe Summen an Brüssel abführen. Trotz des in Dublin 1975 vereinbarten Ausgleichs hatte Großbritannien 1977 1, 6 Milliarden DM mehr eingezahlt, als es herausbekommen hatte. Damit war Großbritannien zum größten Nettozahler der Gemeinschaft geworden — zu einem Zeitpunkt, als es mit seinem Bruttosozialprodukt (BSP) an siebter Stelle der OECD-Länder lag, am Welthandel einen Anteil von lediglich fünf Prozent aufwies und mit seinem Pro-Kopf-Ein-* kommen nur die Nr. 24 in der Welt war. Angesicht!
dieser in der Tat ungerechten Situation stellte Cal laghan die Forderung, baldmöglichst die Grundlage der Gemeinsamen Agrarpolitik zu ändern, die 70 Prozent des Gemeinschaftshaushaltes verschlinge und hauptsächlich „in die Länder fließt, die die Agrarüberschüsse produzieren, durch die das Problem verursacht wird“
Großbritannien mußte allerdings feststellen, daE sein Anliegen, das budgetäre Ungleichgewicht zu korrigieren und einen Nachlaß beim britischen Beitrag einzuhandeln, gegen die Interessen der anderen Mitgliedstaaten verstieß. Sie hatten sich inzwischen an die hohen Nahrungsmittelpreise gewöhnt, und ihre Bauern waren durch starke Lobbies abgesichert. Diese forderten bei den Politikern, für die die Bauern eine wichtige Wählerschaft darstellen, immer wieder hohe Subventionen ein, so daß enorme Überschüsse produziert wurden, deren Lagerung bzw. Vernichtung weitere Gelder aus dem Agrarfonds verschlang. Die effiziente britische Landwirtschaft (keine Überschüsse!) profitierte hingegen kaum vom Agrarfonds. Dies wollte Callaghan ändern, doch stand er mit seinen Forderungen 1978 allein da: Die kontinentaleuropäischen Staaten brachten für die kompromißlos vorgetragenen britischen Forderungen im Landwirtschafts-Ministerrat kein Verständnis auf. Sie waren noch nicht einmal bereit, das Problem als solches überhaupt anzuerkennen — weniger des Inhalts der Forderung als der Tatsache wegen, daß sie einem Großbritannien nicht mehr entgegenkommen wollten, das selbst nicht bereit war, Kompromisse einzugehen oder zumindest den guten Willen zur Zusammenarbeit zu demonstrieren.
c) Die britischen Vorbehalte gegenüber den ersten Direktwahlen zum Europa-Parlament Als Wahltermin für die ersten Direktwahlen zum Europa-Parlament (EP) war zunächst von allen EG-Staaten der Frühsommer 1978 ins Auge gefaßt worden. Das Nationale Exekutivkomitee der Labour Party legte auf dem Labour-Parteitag im Oktober 1976 ein Dokument vor, in dem es sich prinzipiell gegen derartige Direktwahlen aussprach, da zum einen eine demokratische Kontrolle über die EG nur von den nationalen Parlamenten ausgeübt werden könne, und zum andern durch das EP die Macht der EG-Bürokratie gestärkt werde. Diesem Verdikt schloß sich die Labour-Regierung zwar nicht an, dennoch sah sie sich einer derart starken Opposition in der Partei gegenüber, daß sie die Entscheidungen über die Gesetzgebung für die Direkt-wahlen bis nach Weihnachten 1976 aufschob. Es ging hier also wieder einmal um den seit den fünfziger Jahren unaufhörlich geäußerten britischen Vorbehalt, die nationale Souveränität auf keinen Fall durch europäische Institutionen einschränken lassen zu wollen. Die Labour-Regierung, die sich des tiefen Mißtrauens der eigenen Partei gegenüber den Direktwahlen zum EP bewußt war, versuchte sich für ihre Unterstützung des Prinzips von Direkt-wahlen zu rechtfertigen, indem sie immer wieder betonte, daß durch diese Wahlen eine Ausweitung der Souveränität dieser Institution auf keinen Fall erfolgen werde. Ein britisches öffentliches Engagement für die Direktwahlen war nicht vorhanden. Überhaupt war die Zustimmung der britischen Bevölkerung zur Europäischen Gemeinschaft seit Herbst 1975, als sie bei 50 Prozent gelegen hatte, kontinuierlich gesunken: auf 35 Prozent im Herbst 1977 und sogar auf nur 29 Prozent im Frühjahr 1978 (die niedrigste Zustimmungsquote in der Gemeinschaft)
Nachdem erst am 13. Dezember 1977 vom Unterhaus der Wahlmodus (Mehrheitswahlrecht) festgelegt worden war, stand fest, daß der ursprüngliche Wahltermin wegen der langwierigen Einteilung der 81 Wahlkreise nicht mehr einzuhalten war, sondern auf den 7. bis Juni 1979 verschoben werden mußte. Alle anderen Staaten hätten den ursprünglichen Termin einhalten können. Der Wahlkampf in Großbritannien für die Europawahlen litt zum einen unter Geldmangel, da im Mai 1979 nationale Wahlen stattgefunden hatten, aus denen Margaret Thatcher als Siegerin hervorgegangen war. Zum andern war die Wahl-, aber auch die Europa-Müdigkeit der Briten nicht zu übersehen: Anders als beim Referendum blieben die meisten Säle sowohl bei pro-als auch bei antieuropäischen Rednern leer. Nur das politische Establishment schien interessiert. Mrs. Thatcher war bislang nur als „lauwarme“ Befürworterin der Europa-Wahlen und als Gegnerin eines politisch einflußreicheren Europa-Parlaments in Erscheinung getreten; die Labour Party übte sich in EG-Gegnerschaft. Die Wahlbeteiligung insgesamt war mit knapp 33 Prozent mit Abstand die niedrigste in der EG (zum Vergleich: Dänemark 47, 1 Prozent); britische Politiker konnten sich in Brüssel deshalb weiterhin darauf berufen. daß europäische Politik in Großbritannien nicht populär sei. 2. Die konservative Regierung (1979— 1984)
Mit Margaret Thatcher und ihren Ministern hielt ein anderer Stil Einzug in Brüssel — sehr zur Erleichterung der europäischen Partner, die sich von der konservativen Premierministerin eine andere EG-Politik versprachen. In dieser Hoffnung sahen sie sich allerdings enttäuscht. Mrs. Thatcher ging die europäische Politik ähnlich an wie die britische Innenpolitik: rigoros und unbeirrbar in ihrem Anliegen. Einsparungen bei unnötigen Ausgaben vorzunehmen, die Brüsseler Bürokratie zu mehr Effi-zienz anzuspornen und die politischen Prioritäten neu zu setzen. Hier half es ihr. daß auch die Beamten von Whitehall inzwischen Erfahrungen in Brüssel gesammelt und europäische Verbindlichkeit gelernt hatten: Mit diplomatischem Geschick wurden die (weiterhin bestehenden) nationalen Vorbehalte vorgebracht, so daß sich die kontinentaleuropäischen Verhandlungspartner außerstande sahen, diese schroff zurückzuweisen; sie mußten sich mit ihnen auseinandersetzen. Positiv wurde auf dem europäischen Kontinent aufgenommen, daß sich die konservative Partei — im Gegensatz zur Labour Party, die auf ihren Parteitagen gebetsmühlenhaft ihren Willen zum EG-Austritt bekundete — aktiv an Parteizusammenschlüssen auf europäischer Ebene (EVP) beteiligte und die Premierministerin offenbar gezielt proeuropäische Minister in ihr Kabinett berief.
Doch Großbritannien war nach acht Jahren Mitgliedschaft immer noch unsicher in seinem Verhalten gegenüber der Europäischen Gemeinschaft (weiterhin „Wirtschaftsgemeinschaft“ im britischen Sprachgebrauch 10)). Das eigentliche Trachten der Briten bezog sich auf den „Common Market“, und hier schien die Mitgliedschaft den britischen Interessen nicht zu dienen: Weder die Landwirtschaft noch die Harmonisierungsdebatten, weder der Haushaltsbeitrag noch die Handelsbilanz konnten der britischen Öffentlichkeit als Erfolge für Großbritannien „verkauft“ werden. Zwar konnte darauf verwiesen werden, daß zwischen 1972 und 1980 der Wert der britischen Exporte in die EG um 480 Prozent gestiegen war (der Handel mit den USA dagegen nur um 234 Prozent, mit Japan um 237 Prozent und mit dem Rest der Welt um 295 Prozent) Dennoch lastete die Öffentlichkeit die britischen Zahlungsbilanzprobleme, die sinkenden Produktionszahlen, die wachsende Arbeitslosigkeit der EG an — und wurde von britischen Politikern in dieser Ansicht noch bestätigt: Für nationale Fehlleistungen war die EG ein guter Sündenbock! a) Übereinkunft in der Gemeinsamen Fischerei-politik
Ebenfalls mit großem Unbehagen wurde in der britischen Öffentlichkeit die „starre Haltung und das Unverständnis“ der europäischen Partner bei der Regelung der Fischereipolitik der EG registriert. Auch unter der konservativen Regierung forderte Großbritannien eine exklusive Küstenzone, eine „gerechte“ Verteilung von Fangquoten bei gleichzeitigen Überwachungs-und Kontrollmaßnahmen sowie temporäre Fangverbote zur biologischen Regenerierung der Bestände. Im Gegensatz zu den unbeugsamen Labour-Unterhändlern waren die konservativen Verhandlungsführer konziliant im Stil, aber hart in der Sache. Indem sie 1980 und 1981 wiederum jegliche Beschlüsse zur EG-Fischereipolitik verhinderten, gaben sie den EG-Partnern erneut die Möglichkeit, sich gegen Großbritannien zu verbünden und ebenfalls eine kompromißlose Haltung einzunehmen. Allerdings nahte Ende Dezember 1982 der Termin, zu dem die in den ersten Beitrittsverhandlungen vereinbarten Übergangsregelungen ausliefen und alle EG-Staaten dann mangels einer Vereinbarung über eine Gemeinsame Fischereipolitik das EG-Meer als Gemeinschaftsgewässer betrachten konnten.
Daran konnte Großbritannien nicht gelegen sein. Im Juni 1982 gelang der Durchbruch: Großbritannien gestand Frankreich gewisse (historische) Fischereirechte in seiner Küstenzone zu. Im Gegenzug akzeptierten alle EG-Länder Kontrollmaßnahmen zur Einhaltung von Fangquoten, und Großbritannien erhielt ab 1983 für zehn Jahre eine 6-smExklusivzone vor der britischen Küste zugestanden, die ausschließlich von britischen Fischern genutzt werden darf. Mit 35, 6 Prozent wurde Großbritannien die höchste Fangquote für 1983 zugeteilt, was von der britischen Öffentlichkeit mit Befriedigung als nationaler Sieg aufgenommen wurde, die anderen EG-Länder aber nach fast siebenjährigen harten Verhandlungen verbittert über die britische Starrköpfigkeit zurückließ. Am 25. Januar 1983 konnte in Brüssel endlich der Vertrag über die Gemeinsame Fischereipolitik der EG unterzeichnet werden. b) Priorität der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) für Großbritannien Auf der politischen Ebene sah die Bilanz erfreulicher aus: Von Juli bis Dezember 1981 hatte Großbritannien zum zweiten Mal die Präsidentschaft im EG-Ministerrat inne und nutzte diesmal seine Chancen besser Vor allem hatte Großbritannien inzwischen sein Interesse an der Weiterentwicklung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ = Außenpolitik der EG) entdeckt und bereitete sich deshalb besonders gründlich darauf vor, Europas Stimme in der Weltpolitik zu Gehör zu bringen. Außenminister Lord Carrington bemühte sich vorrangig um einen Beitrag der EG bei der Lösung der Nahost-Frage und um eine Vermittlung im Afghanistan-Konflikt. Das ehemalige Welt-reich hatte erkannt, daß es nur über die EPZ, nur im europäischen Verbund seine eigenen außenpolitischen Vorstellungen zur Geltung bringen konnte; die eigenständige Rolle in der Weltpolitik war ausgespielt. Der Londoner Bericht vom Dezember 1981 schrieb die Aktivitäten der EPZ fort und unterstrich vor allem die „Bedeutung der Konsultation in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik“ — für Großbritannien war dies ein erster wichtiger Beitrag bei der Weiterentwicklung eines politischen Bereichs der EG. Auch die Teile der Genscher-Colombo-Initiative von 1981, die sich mit der Weiterentwicklung der Außen-und Sicherheitspolitik der EG befaßten, fanden die Unterstützung der britischen Regierung; die Absätze allerdings, die eine Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses forderten, erhielten nicht den Beifall der britischen Premierministerin.
Als 1982 der Falkland(Malwinen) -Krieg ausbrach, wandte sich Großbritannien an seine EG-Partner mit der Bitte, gegenüber Argentinien wirtschaftliche Sanktionen auszuüben. Selbst die Bundesrepublik, die bislang immer von Sanktionen abgeraten hatte, verschloß sich dem britischen Anliegen nicht und bekundete gemeinsam mit allen EG-Partnern die Solidarität mit Großbritannien. Als aber kurze Zeit später Großbritannien sich bei der Festlegung der Höhe der Agrarpreise wieder einmal querlegte — da es dadurch eine längerfristige Regelung seiner Beitragszahlungen von den Partnern erzwingen wollte —, übergingen die anderen EG-Staaten am 17. /18. Mai 1982 einfach das britische Veto und stimmten mit Mehrheit für eine Preiserhöhung. Sie waren nicht mehr bereit, sich von der britischen Regierung immer wieder das Tempo europäischer Politik vorschreiben zu lassen. Premierministerin Thatcher blieb nichts anderes übrig, als gute Miene dazu zu machen und die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Dafür blieb sie aber hart in ihrer Entscheidung, dem Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS) nicht beizutreten, so daß hier die Hoffnungen, die die kontinentaleuropäischen Partner in eine konservative Administration gesetzt hatten, zunichte gemacht wurden.
Besonders Bundeskanzler Schmidt und der französische Präsident Valöry Giscard d’Estaing verübelten der britischen Regierungschefin die immer wieder vorgebrachten nationalen Vorbehalte. Zum einen war es ihnen nicht möglich, die aus dem Falkland(Malwinen) -Krieg politisch gestärkt hervorgegangene Premierministerin zu isolieren oder sie als Vertreterin eines unwichtigen Landes abzustempeln; zum andern wollten sie sich ihre Domäne der Zusammenarbeit der „Großen Zwei“ (sie hatten das EWS aus der Taufe gehoben) nicht mit einer Frau teilen: „They were very patronizing, even rüde, in their treatment of her, . . . they made it clear that she, a mere woman, wouldn’t be able to stand up to these two experienced and knowledgeable men in hard negotiation.“
Zum zehnjährigen Jubiläum der britischen EG-Mitgliedschaft befaßten sich 1983 zahlreiche Publikationen in Großbritannien ernsthaft immer noch mit der Frage: EWG-Austritt ja oder nein? Zu einer Zeit, als die kontinentaleuropäischen Partner über die Zukunft und politische Gestaltung der EG reflektierten, Griechenland gerade beigetreten war und Spanien und Portugal vor der Tür standen, führte die Labour Party in Großbritannien ihren nationalen Wahlkampf 1983 mit dem Versprechen, im Falle ihres Sieges Großbritannien aus der EG wieder herauszulösen. Wirtschaftlich wollte sie allerdings eng mit dem Kontinent verbunden bleiben, da die stetig wachsenden Exporte auf den Gemeinsamen Markt natürlich nicht eingeschränkt werden sollten! Kein Wunder also, daß die anderen deutlich machten, daß für sie ein Austritt Großbritanniens aus der EG keine Drohung darstelle. Überlegungen über ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ wurden nicht nur auf den Brüsseler Korridoren angestellt, sondern auch von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten gezielt in der Öffentlichkeit lanciert. Die Beziehungen zwischen der EG und Großbritannien waren auf einem Tiefpunkt angelangt. c) Beendigung der Auseinandersetzungen um die britischen Beitragszahlungen Nachdem Premierministerin Thatcher nach ihrer Regierungsübernahme im Mai 1979 als ihre nationalen Hauptaufgaben den Inflationsstopp sowie die Drosselung der Geldmenge verkündet hatte, war nur folgerichtig, daß sie auch bei den britischen Beiträgen zum EG-Haushalt Einsparungen forderte. Als der Nettobeitrag Großbritanniens 1979 auf 2, 267 Milliarden DM angestiegen war, holte Frau Thatcher auf dem Gipfel in Dublin im November 1979 zu einer Attacke aus: Für 1980 müsse Großbritannien 20 Prozent des Gesamteinkommens der EG aufbringen, sei aber nur mit 16 Prozent am EG-Bruttosozialprodukt beteiligt und erhalte nur 8, 7 Prozent aus dem Gemeinschaftsbudget. Dies sei so völlig unannehmbar; sie erwarte hier ein Entgegenkommen der anderen. Präsident Giscard und Bundeskanzler Schmidt hatten sich allerdings vorgenommen, Frau Thatcher auf diesem Gipfel zu* isolieren und dadurch auf sie Druck auszuüben, so daß sie nicht anders könne, als ihr (aus britischer Sicht indiskutables) Angebot zu akzeptieren. Diesen Gefallen tat sie ihnen nicht: „I want my money back“, war der Kemsatz ihrer Ausführungen, mit denen sie das gesamte Prinzip der Eigeneinnahmen der EG in Frage zu stellen schien. Das Treffen endete ohne Ergebnis: Die Position der übrigen Länder verhärtete sich; die europäische Öffentlichkeit war schockiert, und Frau Thatcher wurde Wegen ihrer ultimativen Forderungen der Spitzname „die eiserne Lady Europas“ verpaßt.
Im Anschluß an das Treffen begannen Fachleute in den anderen EG-Staaten, die britischen Forderungen zu überprüfen. Dabei stellte sich heraus, daß nach den bestehenden EG-Finanzierungsmechanismen Großbritannien — drittärmstes EG-Land — 1980 einen Nettobeitrag von 1, 784 Milliarden Ecu und 1981 von 2, 140 Milliarden Ecu an die EG hätte abführen müssen. Die Acht konnten sich daher der Argumentation der Briten — so sehr ihnen der kompromißlose Stil der Verhandlungen mißfiel — nicht verschließen. Auf dem Ministerratstreffen in Brüssel im Mai 1980 erzielte die britische Regierung nach zähen Verhandlungen eine temporäre Entlastung ihrer Beitragszahlungen um ca. 30 Prozent für drei Jahre: Großbritannien erhielt für 1980 bis 1982 Abschläge von insgesamt 3, 92 Milliarden Ecu zugesprochen; diese Kosten wurden auf alle anderen Mitgliedstaaten verteilt. In einem Kompromißpaket wurden diese Beschlüsse verknüpft mit der Billigung von Sondermaßnahmen zur Förderung der Infrastruktur in Wales und Nordwestengland, mit der Festsetzung der Agrarpreise für 1980/81 (hier mußte Großbritannien von seinen Forderungen nach Reduzierung der Subventionen für Über-schüsse große Abstriche machen, da es sonst keine Zugeständnisse in der Budgetfrage erhalten hätte) und mit einer (unverbindlichen) Erklärung Großbritanniens, bei der Gemeinsamen Fischereipolitik den anderen Ländern entgegenzukommen.
Falls sich die EG-Partner Großbritanniens von diesem Beschluß eine konziliantere britische Haltung versprochen hatten, sahen sie sich enttäuscht: Die britische Regierung dachte überhaupt nicht daran, den Partnern bei den Beschlüssen über die Fischereipolitik entgegenzukommen. Frau Thatcher setzte ihren persönlichen Ehrgeiz daran, eine langfristige „juste retour“ zu erhalten. Sie hatte in dieser Frage — und dessen war sie sich bewußt — die gesamte britische Öffentlichkeit hinter sich. Es schien ihr nichts auszumachen, daß sich Großbritannien wegen seiner ausschließlichen Konzentration auf die Frage der ungerechten Beitragszahlung zunehmend isolierte. Die britische Regierungschefin zeigte wenig europäische Solidarität in anderen Bereichen und versteifte sich darauf, jeglichen europäischen Fortschritt der Frage des britischen Bei-trags unterzuordnen. Außerdem schien sie der gemeinsamen Agrarpolitik (dem Grundstein des Übels der hohen britischen Zahlungen) grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen, statt an den notwendigen Reformen mitwirken zu wollen. Am 25. Mai 1982 wurde erneut nur eine Ad-hoc-Lösung rückwirkend für 1982 (850 Millionen Ecu Rückerstattung) vereinbart, allerdings mit dem Versprechen der anderen EG-Staaten, vor Ende November 1982 eine Lösung für die folgenden Jahre zu finden.
Nach ihrem überwältigenden Sieg in den britischen Parlamentswahlen am 9. Juni 1983 entließ Premierministerin Thatcher Außenminister Francis Pym.der in Fragen der britischen Haltung zum EG-Haushaltsproblem angeblich zu kompromißbereit war, und ersetzte ihn durch Sir Geoffrey Howe, den bisherigen Finanzminister. Die Zahlen sprachen für die Notwendigkeit einer gerechteren langfristigen Lösung für Großbritannien:
Aber die schrille Art und Weise, in der Frau Thatcher den anderen ihre Forderungen präsentierte, indem sie Widersprüche nicht akzeptierte und in Fragen der politischen Weiterentwicklung der EG nicht bereit war einzulenken, verärgerte die EG-Partner über alle Maßen. Sie mußten sich jedoch eingestehen, daß sie über keinerlei Handhabe verfügten, den Briten ihre Vorschläge aufzuzwingen: Ohne eine Lösung bei den britischen Beitragszahlungen war an politische Fortschritte nicht zu denken. 1983 erhielt Großbritannien wiederum eine Rückzahlung von 750 Millionen Ecu, da man sich — trotz des vorhergehenden Versprechens — nicht auf eine langfristige Lösung hatte einigen können.
Schließlich gelang dann doch der Durchbruch: Auf dem Gipfel der Staats-und Regierungschefs vom 25. /26. Juni 1984 in Fontainebleau erzielte man unter der französischen Präsidentschaft den langer-sehnten Kompromiß, dem Großbritannien zustimmen konnte Für 1984 erhielt Großbritannien eine Rückerstattung von ca. 2, 25 Milliarden DM; für die folgenden Jahre wurde ihm ein Rabatt von 66 Prozent seines Nettosaldos eingeräumt. Der Preis dafür war. daß Frau Thatcher ihre weitgehenden Forderungen nach einer tiefgreifenden, über-fälligen Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik zurückstellen mußte.
Zugegebenermaßen hatte es lange gedauert, bis das britische Anliegen einer langfristigen Beitragslösung von den Partnern überhaupt als rechtmäßig anerkannt wurde. Aber das dann folgende jahrelange Feilschen um den genauen Betrag, dieses öffentlichkeitsunwirksame Thema, das in seinen Details selbst viele Staats-und Regierungschefs überforderte (nicht aber Mrs. Thatcher!), die Stagnation im politischen Entwicklungsprozeß, die Unbeugsamkeit der britischen Regierung, auf anderen Gebieten Fortschritte zu fördern — all dies zermürbte die EG-Partner und ließ Frau Thatcher als „Siegerin“ aus den Verhandlungen gestärkt hervorgehen. Mit seiner Selbstisolierung hatte Großbritannien die in der britischen Öffentlichkeit verbreitete Auffassung von „them and us“ („die anderen und GB“) nur noch verdeutlicht; selbst das für Großbritannien günstige Resultat wurde nicht als eine positive europäische Entscheidung gewertet, sondern als nationaler Triumph — was ganz im Sinne der britischen Regierungschefin lag.
II. Die Neubelebung des Integrationsprozesses und die Haltung Großbritanniens (1985— 1988)
Nach der Lösung des Budget-Streits konnten sich die EG-Mitgliedstaaten nun endlich dem dringend notwendigen politischen Ausbau der Gemeinschaft zuwenden. Hier zeigte sich, daß die Beschlüsse von Fontainebleau eine Zäsur gesetzt hatten: Großbritannien war bereit, beim europäischen Einigungsprozeß konstruktiv mitzuwirken; selbst für die Labour Party war seither der EG-Austritt kein Thema mehr. Großbritannien setzte jedoch seine europa-politischen Prioritäten anders als seine Partner. So legte die britische Regierung in einem Arbeitspapier, das sie dem Europäischen Rat in Fontainebleau unterbreitete, ihre Schwerpunkte 1. auf den weiteren Ausbau der EPZ mit einem gleichzeitigen Verweis auf „die Stärkung des europäischen Pfeilers des Atlantischen Bündnisses'und eine Verbesserung der europäischen Zusammenarbeit bei der Verteidigung“; 2. auf die Schaffung eines einheitlichen EG-Binnenmarkts, in dem „Maßnahmen zur Harmonisierung von Normen“ getroffen und eine „Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs einschließlich des Bankwesens, der Versicherungswirtschaft und des Güter-und Personenverkehrs“ erfolgen müßten, und 3. auf eine „Korrektur der Verzerrungen, die sich in Gestalt riesiger, kostspieliger Überschüsse“ in der Gemeinsamen Agrarpolitik niedergeschlagen hätten.
Die anderen EG-Länder, vor allem die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder, sprachen dagegen — wie auch der Kommissionspräsident — zunehmend vom Vorrang der Schaffung einer „Europäischen Politischen Union“. Auf dem Stuttgarter Gipfel des Europäischen Rats 1983 war die zu diesem Zweck ausgearbeitete „Europäische Akte“ nicht zuletzt durch britische Intervention verwässert worden zu einer „Feierlichen Deklaration“. Während Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher von einer neuen „Zielvorstellung für Europa“, von einer „neuen Dimension unserer Politik“ sprach, stand Großbritannien dem Ziel einer „Europäischen Union“ skeptisch gegenüber. In der Tat war dieser Begriff, der auch in den folgenden Jahren in politischen Kreisen, aber auch in der Öffentlichkeit Großbritanniens auf unverhohlene Ablehnung stieß, umstritten. Schon 1972 hatte aufeine Frage Pompidous, was denn diese „Europäische Union“, auf die sich die EG-Staaten auf dem Pariser Gipfel verpflichtet hatten, eigentlich bedeute, ein Mitarbeiter (Edouard Balladur) geantwortet: „Nichts . . . Aber das ist ja gerade das Schöne daran!“ Von britischer Seite wurde der erneute Ruf nach „Europäischer Union“ abgetan als „deutsche Rhetorik“, mit der versucht werden solle, die europäische Idee mit Enthusiasmus zu erfüllen. Der Begriff sei von „außerordentlicher Zweideutigkeit“ Deshalb verschwende Großbritannien wenig Zeit auf Diskussionen über „idealistische Ziele“, sondern konzentriere sich auf pragmatische Schritte, mit denen Europa vorangebracht werden solle.
Weshalb auf einmal dieser britische Sinneswandel, die Entwicklung der EG positiv zu beeinflussen und voranzubringen? Zum einen war der größte Streitpunkt — das Haushaltsproblem — zumindest mittelfristig gelöst, zum andern gab es Mitte der achtziger Jahre für Großbritannien keine politischen Alternativen mehr zur EG, und zum dritten wurden die Risiken nationaler Alleingänge realistisch eingeschätzt. Des weiteren hatten sich die britischen Ministerialbeamten an den EG-Verhandlungsrahmen gewöhnt und alle Winkelzüge der Brüsseler Bürokratie inzwischen erlernt. Auch war britischen Politikern deutlich geworden, daß sie die EG-Kommission ernst nehmen mußten, wenn sie bestimmte politische Anliegen durchsetzen wollten. Deshalb bemühte sich die britische Regierung schon im Vorfeld des Mailänder Gipfels, auf dem der Entwurf eines „Vertrags über die Europäische Union“ ausgehandelt werden sollte, konstruktiv mitzuarbeiten. 1. Der Gipfel von Mailand und die britische Haltung (1985)
Gegen diesen Entwurf eines Vertrags über institutioneile Fragen einer möglichen politischen Union (Dooge-Bericht), dem die meisten EG-Staaten gewisse Vorbehalte entgegenbrachten, führte der britische Staatsminister im Foreign Office, Malcolm Rifkind, im Februar 1985 das bekannte Argument an: Großbritannien sei die Bedeutung einer Europäischen Politischen Union überhaupt nicht klar — ob „Union“ gleichzusetzen sei mit der Union, die seit 1603 England und Schottland verbinde? Doch führten diese Bedenken erstaunlicherweise nicht dazu, daß Großbritannien seine weitere Mitwirkung an diesem Entwurf aufgab. Im Gegenteil, Anfang Juni 1985 legte Außenminister Howe in Stresa ein britisches Arbeitspapier vor, das praktische, konkrete Vorschläge 1. zur Schaffung eines EG-Binnenmarktes, 2. zu häufigerer Mehrheitsabstimmung und 3. zur Errichtung eines EPZ-Sekretariats in Brüssel enthielt. Dieses Positionspapier wurde kurz darauf durch ein Weißbuch der EG mit etwa 300 detaillierten Vorschlägen zur Reform des EG-Binnenmarkts ergänzt, das unter der Ägide des britischen EG-Kommissars Lord Cockfield erstellt worden war und die vorbehaltlose Unterstützung der britischen Regierung fand. Ein wenige Tage vor dem Gipfel von Mailand (28. /29. Juni 1985) veröffentlichtes deutsch-französisches Arbeitspapier fand dann allerdings weit mehr Aufmerksamkeit als die britischen Vorschläge, obwohl sich der Inhalt der beiden Papiere nur geringfügig unterschied: Die britische Premierministerin forderte ein „Gentleman’s Agreement“, praktische Schritte innerhalb der bestehenden Gemeinschaft; die sechs Gründer-staaten wollten aber vor allem weitergehende vertragliche Verpflichtungen auf eine Europäische Union.
An diesem Punkt zeichnete sich die Gefahr einer Spaltung der EG in zwei Gruppen ab, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten den politischen Ausbau der Gemeinschaft verfolgen würden. Großbritannien schien sich der langsameren Gruppe zusammen mit Dänemark und Griechenland anschließen zu wollen, da die Premierministerin die Einberufung einer Regierungskonferenz, die eine Verfassung für Europa ausarbeiten sollte, zunächst indigniert ablehnte. „Instead of diplomatic success for which Mrs. Thatcher had hoped, she retumed home looking isolated and rebuffed.“ Doch drei Tage nach Abschluß des Gipfeltreffens fand sich Frau Thatcher zur großen Überraschung der anderen EG-Länder zur Teilnahme Großbritanniens an den Beratungen bereit. Eine vertragliche Revision bzw. Ergänzung der Römischen Verträge mußte ohnehin dem britischen Unterhaus zur Abstimmung vorgelegt werden, und die Premierministerin behielt sich eine Annahme oder Ablehnung des Vertragswerks vor. 2. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) aus britischer Sicht (1986/87)
Auf der Regierungskonferenz zeigten sich die britischen Verhandlungspartner kooperativ und flexibel, vor allem auf dem Gebiet der EPZ, auf dem sie die Howe-Vorschläge gezielt vorantrieben und bei den Richtlinien für die Regulierungen des Binnenmarkts konstruktiv mitarbeiteten. Während des Luxemburger Gipfels Anfang Dezember 1985 wurde das gesamte Paket auch mit britischer Zustimmung verabschiedet: — Das Thema Binnenmarkt, der bis Ende 1992 geschaffen werden soll, war von konservativen Ministem mit geradezu „überraschender Leidenschaftlichkeit“ vorangetrieben worden. Nicht die Harmonisierung um jeden Preis, sondern die Anerkennung von Standards, wie sie in einem anderen EG-Land gehandhabt wurden, sollte nach britischer Auffassung die Grundlage des Binnenmarkts darstellen. Hierin wurde die britische Regierung, die gemeinsam mit EG-Kommissar Cockfield diesem Thema höchste Priorität einräumte, von der britischen Wirtschaft vorbehaltlos unterstützt. — Bei der Entscheidung, in Zukunft in den meisten Fällen mit qualifizierter Mehrheit abstimmen zu wollen, hatte Großbritannien die Aufrechterhaltung des Veto bei „vitalem Interesse eines Landes“ durchsetzen können. Dies bedeutet beispielsweise, daß eine EG-Steuerharmonisierung nur mit Einstimmigkeit verabschiedet werden kann. — Die EPZ wurde — gemäß dem britischen Vorschlag — durch ein in Brüssel angesiedeltes EPZ-Sekretariat institutionell gestärkt und zum ersten-mal völkerrechtlich verankert. Im Bereich der europäischen Sicherheit wäre Großbritannien bereit gewesen, eine institutionelle Verpflichtung auf eine „gemeinsame europäische Sicherheitspolitik“ einzugehen; hierzu waren die meisten anderen EG-Staaten aber noch nicht bereit. — Der vor allem von Frankreich geforderte Ausbau des Europäischen Währungssystems wurde von Großbritannien (unterstützt von der Bundesrepublik) eher gebremst. Obwohl die Bank von England, die britische Wirtschaft und die Londoner City für einen Beitritt des Landes zum Wechselkursmechanismus eintraten, sperrte sich in diesem Punkt weiterhin die britische Premierministerin. — Eine Ausweitung von Rechten für das EuropaParlament war für Großbritannien (und für Frankreich und Dänemark) nicht konsensfähig. Die Souveränität des britischen Parlaments dürfe, so die britische Premierministerin, keinesfalls angetastet werden. Daß die Souveränität des britischen Parlaments allerdings seit dem EG-Beitritt Großbritanniens eingeschränkt worden war, mochten sich die Briten immer noch nicht eingestehen: „Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bedeutet nicht nur eine faktische Einschränkung parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, sondern vielmehr die Unterwerfung unter eine höhere Instanz ...der Grundkonsens über die zentralen politischen Strukturen, auf dem politische Herrschaft in Großbritannien über Jahrhunderte basierte, ist durch die Euro-22) päischen Gemeinschaften labil geworden.“ Das EP erhielt also nur ein „abgestuftes Mitentscheidungsrecht“.
— Die Vorschläge zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen Forschungs-und Technologiepolitik fanden, besonders im Bereich der Hochtechnologie, ideelle britische Unterstützung. Die Programme ESPRIT und RACE wurden verabschiedet; EUREKA wurde als zivile europäische Reaktion auf SDI tatkräftig von der britischen Regierung unterstützt. Der von der Kommission für diese Politik geforderte Befrag von 10, 3 Milliarden Ecu wurde allerdings auf Drängen Großbritanniens auf 5, 6 Milliarden Ecu gekürzt; in der europäischen Weltraumpolitik erwies sich die britische Regierung als Bremser.
— In der ümweltpolitik gelang es vor allem wegen des britischen, aber auch des französischen Einspruchs nicht, die Grenzwerte für Umweltbelastungen möglichst niedrig zu setzen, wie es die Bundesrepublik und Dänemark ausdrücklieh forderten. Dennoch einigten sich alle EG-Mitglieder sowie Spanien und Portugal, die am 1. Januar 1986 der Gemeinschaft beitraten, auf eine EG-Umweltpolitik.
Am 7. Februar 1986 fand die feierliche Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (Single European Act) in Brüssel statt, in deren erstem Abschnitt der Wille, die Gesamtheit der Beziehungen „in eine Europäische Union umzuwandeln“, bekundet wird Vorbehalte machten diesmal Dänemark, Griechenland und Italien, nicht jedoch die britische Regierung geltend! Während der britischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1986 fand termingemäß der Ratifizierungsprozeß in Großbritannien statt. In den Debatten im House of Lords wurde besonders hervorgehoben, daß „the setting of the date of December 31, 1992 does not create an automatic legal effect“. Auch wurde be23) tont, daß „the Single Act does nothing to give any real power to the (European) Parliament. It gives much greater scope to the Commission without removing any of its shortcomings.“ Die britischen Medien hatten von dem Ereignis kaum Notiz genommen, so daß die Öffentlichkeit über dieses Reformwerk nur oberflächlich informiert war. 3. Das „Delors-Paket" und die britischen Einwände (1987/88)
Im Februar 1987 unterbreitete die EG-Kommission unter ihrem Präsidenten Jacques Delors ergänzende Vorschläge zur EEA — bevor diese nicht verabschiedet seien, könne das große Werk des Gemeinsamen Binnenmarktes nicht in die Tat umgesetzt werden. Die Kommission forderte u. a. eine Paketlösung für 1. eine Reform der Agrarpolitik, 2. ein langfristiges, solides Finanzsystem und 3. eine Erhöhung der Strukturfonds für die ärmeren Mitglieder der Gemeinschaft.
Mit seinen Vorschlägen, durch eine Kürzung der Etatmittel für den Agrarfonds eine Reduzierung der Überschüsse zu erreichen, fand Delors in Frau Thatcher sofort eine Verbündete; Frankreich und die Bundesrepublik hingegen leisteten Widerstand. Die Einigung auf ein dauerhaftes Finanzsystem der EG bei strikter Haushaltsdisziplin war schon seit langem auch eine Forderung der britischen Regierung gewesen. Die durch den Kursverfall des Dollar steigenden Agrarstützungspreise führten zu frühzeitig leeren Kassen. Bei zwölf EG-Mitgliedern mußte eine neue Finanzquelle, das Bruttosozialprodukt (BSP), zu den bisherigen EG-Einnahmequellen der Außenzölle, Agrarabschöpfungen und der Mehrwertsteuer von 1, 4 Prozent hinzugezogen werden. Als aber M. Delors in diesem Zusammenhang die „heilige Kuh“ der Briten, nämlich ihren Beitragsrabatt, antastete und forderte, der Rabatt solle nur noch 50 Prozent betragen, zog er den Zorn der britischen Premierministerin auf sich. Die Forderung der Kommission nach einer Verdoppelung der Strukturfonds bis 1992, mit denen besonders die Entwicklung des ländlichen Raumes in den ärmeren EG-Regionen gefördert werden sollte, ging Großbritannien viel zu weit. Die britische Premierministerin, die immer wieder die Solidarität ihrer EG-Partner gefordert hatte, als es um ihre eigenen Forderungen ging, war nur zu einer Erhöhung der Strukturfonds um 50 Prozent bereit — eine Position, der sich auch Frankreich anschloß. Die Bundesrepublik war immerhin bereit, auf 68 Prozent zu gehen.
Die britische Einstellung auf den Gipfeltreffen in Brüssel im Juni sowie in Kopenhagen im Dezember 1987 lautete: Erst nach einer drastischen Reform der Agrarpolitik, nach einer Senkung der viel zu hohen Ausgaben für die landwirtschaftlichen Stützungspreise, nach der Einführung von Produktionsobergrenzen und von „Stabilisatoren“ (automatischen Preissenkungen) bei Übertretung dieser Obergrenzen könne über eine Erhöhung der Finanzmittel für die Kommission gesprochen werden. Obwohl die britische Premierministerin, die in ihrer Haltung auch von Holland unterstützt wurde, mit ihren Forderungen nach einer radikalen Reform der gemeinsamen Agrarpolitik sicherlich die Interessen aller europäischen Verbraucher verteidigte und in deren Sinne handelte, hätte ihr nach jahrelangen EG-Erfahrungen deutlich sein müssen, daß drastische Maßnahmen in einer EG mit zwölf Mitgliedsländern nicht durchzusetzen sind. Es gibt nur Einigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, und um diesen Nenner zu vergrößern, gilt es, Verbündete zu finden. Frau Thatcher aber, die im Juni 1987 aus den nationalen Wahlen unangefochten als Siegerin hervorgegangen war, gerierte sich wieder als Einzelkämpferin und beharrte (gegen den Willen des Foreign Office) auf der Konfrontation, statt nach Konsens zu suchen. Die Regierungen Frankreichs und der Bundesrepublik wollten mit Rücksicht auf die Wähler aus der Bauernschaft im Prinzip keine einschneidenden Veränderungen in der Agrarpolitik, wenngleich auch sie die wachsende Forderung der Öffentlichkeit nach Eindämmung der Überschüsse nicht mehr übersehen konnten. Frau Thatcher hingegen versuchte, in einem Schnelldurchgang die gemeinsame Agrarpolitik grundlegend zu verändern, was dem europäischen Verbraucher sicherlich zugute gekommen wäre, wozu die anderen Länder aber noch nicht bereit waren.
Die Positionen lagen also weit auseinander, bevor Bundeskanzler Helmut Kohl nach einer 30-stündigen Sitzung am 12. /13. Februar 1988 dann doch eine Einigung ankündigen konnte. Nachdem auch die Holländer sich den letzten Kompromißvorschlägen hatten anschließen können und Frau Thatcher mit ihren Forderungen isoliert dastand, wäre sie für das Scheitern des Gipfels verantwortlich gemacht worden. Eine solche Position war mit der seit Fontainebleau eingenommenen proeuropäischen britischen Haltung nicht vereinbar. Sie beugte sich letztendlich dem Kompromiß: Die Obergrenze für Getreide wurde bei 160 Millionen Tonnen festgelegt (so hatte die Forderung Frankreichs und der Bundesrepublik gelautet), dafür konnte Großbritannien eine dreiprozentige Preissenkung bei Produktionsüberschreitungen durchsetzen. Im Gegenzug erklärte sich Frau Thatcher bereit, die Mittel für die Strukturfonds bis 1993 zu verdoppeln, und stimmte der Ergänzung der EG-Finanzierung durch einen Teil des BSP als vierter Einnahmequelle zu — allerdings unter der Maßgabe, daß die EG-Ausgaben bis 1992 nicht mehr als 1, 3 Prozent des BSP der Gemeinschaft betragen durften. Die britischen Beitragszahlungen wurden nicht angetastet. Ein erster Einstieg in eine größere Haushaltsdisziplin sowie ii die Reform der Agrarpolitik war gelungen. Naci diesen Entscheidungen, die besonders für die Bun desrepublik hohe finanzielle Belastungen mit siel brachten, konnte sich die Gemeinschaft endlich au den geplanten Weg zur Europäischen Union kon zentrieren; der erste wichtige Schritt hin zu diesen Ziel ist die Schaffung des Europäischen Binnen markts bis Ende 1992. 4. Großbritannien und der EG-Binnenmark (1992)
Wie bereits erwähnt, waren die Verankerung de EG-Binnenmarkts in der EEA und die Ausarbei tung der circa 300 Richtlinien mit größtmögliche) politischer Unterstützung der britischen Regierung wenn nicht gar auf ihr Betreiben hin, zustandege kommen: „London bemühte sich, das . Gemein schaftsspiel’ zu spielen und nach Konsens zu su chen.“ Besonderen Wert legte Großbritanniei auf die Deregulierungen, d. h. auf die weitgehend« Abschaffung von Barrieren im Gemeinsamer Markt, auf die Liberalisierung des Kapital-unc Dienstleistungsverkehrs, auf die gegenseitige Anerkennung von unterschiedlichen Normen und Standards sowie auf die Öffnung der Märkte für öffent liehe Beschaffungen. Die Steuerharmonisierung die der britische Kommissar Lord Cockfield hervorhob, fand dagegen nicht die Unterstützung der britischen Regierung: Weshalb sollten in Großbritannien Nahrungsmittel oder Kinderkleidung wie in Frankreich mit Mehrwertsteuer belegt werden, während möglicherweise die britische Luxussteuei auf Alkohol oder Zigaretten reduziert werdet müßte? Das amerikanische, nach Einzelstaaten differenzierte Steuersystem wurde von Premierministerin Thatcher als leuchtendes Beispiel für Europa hervorgehoben.
Für eine große Werbe-und Informationskampagne der britischen Regierung zur Vorbereitung der britischen Wirtschaft auf den einheitlichen europäischen Binnenmarkt gab der britische Handels-und Industrieminister Lord Young am 18. März 1988 den Startschuß. Er mußte allerdings zugeben, daß zu diesem Zeitpunkt 40 Prozent der britischen Unternehmer vom EG-Binnenmarkt noch nichts gehört hatten, etwa 45 Prozent zwar von der langfristigen Bedeutung dieses Markts wußten, aber nur 15 Prozent sich des Datums 1992 bewußt waren (62 Prozent der französischen und 36 Prozent der deutschen Unternehmen hatten zu diesem Zeitpunkt schon Pläne für die Erschließung neuer Geschäftsmöglichkeiten nach 1992 ausgearbeitet). Während die konservative Regierung mit Nachdruck darauf verwies, die britische Industrie brauche den europäischen Wettbewerb nicht zu fürchten, von der „englischen Krankheit“ sei Großbri-tannien genesen befürchteten Labour-Politiker, daß der Abbau interner Handelsbarrieren sowie die Schritte zu einer Harmonisierung im Kapitalbereich die britische Wirtschaft ernsthaft bedrohen könnten. Auf einer Pressekonferenz nach Abschluß des Gipfels in Hannover am 28. Juni 1988, der ganz im Zeichen der Weiterentwicklung des Binnenmarkts stand, verdeutlichte auch die britische Premierministerin ihre Vorbehalte: Den „sozialen Aspekten“ des Binnenmarkts, also einer Einigung auf ein „deutsches Modell“ sozialen Fortschritts, das von allen Ländern als verbindlich angesehen werden müßte, stand sie skeptisch gegenüber. Von einer Beseitigung von Binnengrenzen, wie die EG-Partner sie forderten, konnte ihrer Meinung nach keine Rede sein — höchstens sei an eine Beseitigung von Kontrollen an den Binnengrenzen zu denken, und das sei im Hinblick auf den zunehmenden Terrorismus keinesfalls wünschenswert. Ebenso bremste sie (wie auch die Bundesrepublik) bei derwährungspolitischen Zusammenarbeit (an einen Beitritt Großbritanniens zum Wechselkursverbund des EWS war nicht zu denken), bei einer baldigen Errichtung einer Europäischen Zentralbank (wie sie vor allem von Frankreich gefordert wurde) und bei der Einführung des Ecu als gemeinsamer Währung. Daß gerade der letzte Punkt von den EG-Partnem häufig als notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer Europäischen Politischen Union angeführt wurde, bestärkte sie eher noch in ihrer Ablehnung. Seit spätestens Mitte 1988 war der britischen Premierministerin offensichtlich klar geworden, welch einschneidende Auswirkungen die einzelnen De-regulierungen auf die nationale britische Wirtschaft, auf Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, aber auch auf die Machtbefugnis nationaler Politiker haben würden — und die waren ihr eindeutig zu weitgehend. Ende Juli, als die meisten europäischen Regierungschefs in den Sommerurlaub gereist waren. holte sie zum Gegenschlag aus: Zunächst lud sie einen entschiedenen Gegner des EWS, Sir Alan Walters, ein, 1989 erneut ihr persönlicher Berater zu werden. Dann verweigerte sie Lord Cockfield eine zweite Amtszeitin Brüssel: Er hatte sich für die europäische Integration, besonders mit seinen Vorschlägen zur Steuerharmonisierung, in einem Maße begeistert, das von Downing Street nicht geteilt wurde. Zum neuen britischen Kommissar wurde der frühere Handelsminister Leon Brittan ernannt, ein enger Vertrauter der Premierministerin.
Ihr größter Coup allerdings blieb ein Interview, das sie am 27. Juli dem BBC gab Der Präsident der EG-Kommission, der Sozialist Delors, hatte vor dem EP verkündet, daß „innerhalb der nächsten zehn Jahre 80 Prozent aller wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen nicht mehr von den nationalen Regierungen, sondern auf Gemeinschaftsebene getroffen würden“. „He went over the top“, war der Kommentar Frau Thatchers. Die britische Erwartung an den Binnenmarkt sei gekoppelt mit praktischen Erleichterungen im Kapital-und Güterverkehr sowie mit dem Abbau von Handelsbarrieren. Großbritannien konzentriere sich auf praktische Verbesserungen, z. B. auf die Abschaffung von Devisenkontrollen und die pragmatische Einführung von Ecu-Schatzanweisungen am 11. Oktober 1988 in Großbritannien: „I am very practical. . . they talk about monetary union. I say , you don’t even have free movement of Capital about Europe — we do'." Befragt, ob sie sich vorstellen könne, irgendwann einmal die größte Mehrheit aller sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen von Großbritannien auf Europa zu übertragen, antwortete sie: „No circumstances in which I would do it. . . This is a Europe of separate countries working together.“ Der Binnenmarkt, die EWG, war für Frau Thatcher offenbar das wesentliche Ziel der EEA: „One of the reasons we went into Europe was to have a very much larger market for our goods . . . We were the ones who first sorted out the budget. We are the ones who have now sorted out agriculture. We are the ones who are now sorting out the free movement of goods, investment.“ Da die anderen EG-Staaten aber den Binnenmarkt nur als ersten Schritt in Richtung Europäische Politische Union betrachten, sind künftige Konflikte schon vorprogrammiert.
III. Großbritannien — gleichgesinnter Partner?
Die Vorbehalte der britischen Premierministerin kamen nicht von ungefähr: Wieder einmal wurde das britische Trauma des Verlusts nationaler Souveränität durch die Abgabe nationaler Entscheidungs-befugnis an die Gemeinschaft von „Lady de Gaulle“, wie sie auf dem Kontinent tituliert wird thematisiert. Die „airy-fairy" Ideen der „anderen“, diese vage Vision einer Europäischen Union, die Luftschlösser, die jeglichem pragmatisch-praktischen Ansatz spotteten, seien einer britischen Öffentlichkeit nicht zuzumuten — entschied Frau Thatcher. Dabei mußte ihr als erfahre-ner Politikerin allerdings klar sein, daß sie mit ihren Unterschriften unter die Einheitliche Europäische Akte und das Delors-Paket die Weichen mit gestellt hatte für die über die Schaffung eines Europäischen Marktes hinausgehenden Ziele einer zukünftigen (zugegebenermaßen noch in weiter Feme liegenden) Politischen Union.
Wenn Frau Thatcher die britische Bevölkerung für noch nicht „reif* befand, die europäischen Tatsachen hinzunehmen, ist dies nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, daß alle britischen Regierungen — ihre miteingeschlossen — seit dem EG-Beitritt wenig dazu getan haben, die Öffentlichkeit über die Gemeinschaft und ihre Ziele aufzuklären und sie auf eine positive Grundeinstellung einzustimmen. Das britische Widerstreben, die Reserviertheit bei der Aufgabe nationaler Souveränität aufgrund geschichtlicher Vergangenheit und insularer Lage sind eine Seite der Medaille — die geringen Fremdsprachenkenntnisse der jüngeren Generation, die fehlende Erkenntnis, daß die EG keine außenpolitische, sondern inzwischen eine britische innenpolitische Zielsetzung ist, sind die andere. Es muß noch viel Aufklärungsarbeit in Großbritannien geleistet werden, wenn „der Mann/die Frau auf der Straße“ für Europa auch eine gewisse Neugierde — von Begeisterung soll hier gar nicht die Rede sein — entwickeln soll
Erstaunlicherweise zeichnet sich in der britischen Labour Party und im Gewerkschaftsbund TUC seit Herbst 1988 ein Einstellungswandel zur EG ab, der vielleicht eine optimistischere Haltung in der britischen Öffentlichkeit auslösen kann: Nicht nur diskutierte die Labour Party auf ihrem Parteikongreß in Blackpool im Oktober 1988 die positiven Auswirkungen einer Vollmitgliedschaft Großbritanniens im EWS; es wurde vielmehr auch der Versuch gemacht, eine kohärente EG-Strategie zu entwickeln — von Austritt war keine Rede mehr Auf dem TUC-Kongreß in Brighton Anfang September 1988 erhielt Kommissionspräsident Delors Ovationen (!) für seine Rede über die Schaffung einer „sozialen Dimension Europas“. Das von ihm vorgeschlagene Paket für alle Mitgliedstaaten enthält nämlich die Verankerung von Mitbestimmungsrechten, weitgehenden Mindest-Sicherheits-und Gesundheitsstandards am Arbeitsplatz, garantierte Rechte auf lebenslängliche Weiterbildung und auf Umschulung sowie weitere durchgreifende Maßnahmen, die den britischen Arbeitnehmern unter einer konservativen Regierung voraussichtlich nicht zugestanden würden. Vom EG-Binnenmarkt erhoffen sich Labour Party und TUC deshalb rechtliche Fortschritte, die sie auf nationaler Ebene nicht durchsetzen könnten — und Mrs. Thatcher hat ihre Abneigung gegen die Schaffung entsprechender europäischer Statuten auch schon angekündigt.
In ihrer vielbeachteten Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge am 20. September 1988 machte die britische Premierministerin ihre grundsätzlichen Bedingungen hinsichtlich einer Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft deutlich. Die fundamentale Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik steht ganz oben auf ihrer Liste der in Angriff zu nehmenden Probleme: „The task of reforming the Common Agricultural Policy (CAP) is far from complete ... the CAP has become unwieldy, inefficient and grossly expensive . . . tackling these Problems requires political courage.“ Dies wird, hält man sich ihren rigorosen Verhandlungsstil in der Frage der britischen Beitragszahlungen vor Augen, in Zukunft sicherlich noch zu größeren Auseinandersetzungen mit den EG-Partnern führen und möglicherweise das Tempo bei der Schaffung des Binnenmarkts verlangsamen. Die Deregulierungen „to establish a genuinely free market in financial Services, in banking, insurance, investment“ müssen, so Frau Thatcher, „umgehend und pragmatisch“ angegangen werden. Es gehe darum, die wirklichen Bedürfnisse der Verbraucher zu erkennen und sich nicht durch hochtrabende Bekenntnisse zu einer Europäischen Zentralbank den Weg zu praktischen Verbesserungen — wie freiem Kapitalverkehr, Abschaffung von Devisenkontrollen und zunehmender Handhabung des Ecu — verstellen zu lassen.
Ganz besonders wichtig ist Frau Thatcher — mit Blick auch auf manchen Abgeordneten aus ihren eigenen Reihen — die Beibehaltung des Status eines „unabhängigen souveränen Großbritannien“, das keineswegs mehr Macht „an Brüssel“ delegiert oder Entscheidungsvollmacht auf die zur Kommission entsandte (nicht gewählte!) Bürokratie überträgt: „Certainly we want to see Europe more united and with a greater sense ofcommon purpose. But it must be in a way which preserves the different traditions, parliamentary powers and sense of national pride in one’s own country, for these have been the source of Europe’s vitality through the centuries.“
Die tiefgreifenden Auswirkungen des Binnenmarkts der EG, die nicht nur ein Auslöser für die wirtschaftlichen, sondern auch für die weiteren politischen Entwicklungen Europas sind und — laut EEA, die Frau Thatcher mit unterschrieb — auch sein sollen, haben bei der britischen Politikerin, die auch in Zukunft von ihren nationalen Wählern gewählt werden will, Bedenken ausgelöst. War sie Vielleicht hier nur wieder einmal couragierter als die anderen Staats-und Regierungschefs der EG-Staaten und artikulierte sie die insgeheim auch in Frankreich und in der Bundesrepublik gehegten (oft hinter vollmundiger deutsch-französischer Rhetorik verborgenen) Vorbehalte gegenüber einer Delegierung bislang nationaler Entscheidungen auf die EG-Kommission (in die sicherlich nicht alle Länder die erste Wahl von Politikern entsandten)? Oder hat sie einfach noch nicht begriffen, daß es sich — wie es der britische EG-Kommissar Tugend-hat einmal formulierte — bei der Entwicklung Europas um eine „Echternacher Springprozession“ handelt: zwei Schritte vor, einen zurück?
Um ein gemeinsames Europa bauen zu können, muß deshalb ein hohes Ziel anvisiert werden — eine Gemeinschaft, die mit einem Schuß europäischen Idealismus, mit einer europäischen Vision angereichert ist. Selbst bei den vielen Rückschlägen im einzelnen, die aufgrund von Kompromissen zwischen mittlerweile zwölf Ländern unvermeidlich sind, bleibt die Hoffnung auf das idealistische Ziel eines nicht mehr von nationalstaatlichem Kleingeist geprägten Europa. Die sechs Gründerstaaten haben sich grundsätzlich zu einer Europäischen Union bekannt. Wird sich Großbritannien, das seine Vision von einer eigenen Weltmachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg hat begraben müssen, dieser europäischen Vision anschließen können?
Angelika Volle, Dr. phil., geb. 1949; Wissenschaftliche Referentin im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Jahrbuch-Redakteurin, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Deutsch-britische Beziehungen: Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985; Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft, in: Adolf Birke/Kurt Kluxen (Hrsg.), Die europäische Herausforderung. England und Deutschland in Europa, München-London 1987; Die Neubelebung des Integrationsprozesses in der Europäischen Gemeinschaft, in: Wolfgang Wagner u. a. (Hrsg.), Jahrbuch „Die Internationale Politik 1985/86“, München 1988.
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