Die hessische Diätenaffaire hat erneut den Blick auf die soziale Zusammensetzung der Landtage gelenkt. Welches Abgeordnetenbild ist für diese angebracht? Sollen sie sich an dem Vollzeitparlamentarier des Bundestages orientieren? Zur Beantwortung dieser Fragen werden Erfahrungen mit unterschiedlichen Parlamentsmodellen gesammelt und Funktionen des Länderparlamentarismus ermittelt. Nach dem „Diätenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1975 sind die Landtage vom Teilzeit-zum Vollzeitabgeordneten übergegangen. Eine Ausnahme stellen die Repräsentativversammlungen der Stadtstaaten und Baden-Württembergs dar. Während aber die Bremische Bürgerschaft den Teilzeitabgeordneten bevorzugt und das Berliner Abgeordnetenhaus sich einem Vollzeitlandtag nähert, hält die Hamburgische Bürgerschaft an der Vorstellung eines „Feierabendparlaments" fest. Dessen Arbeitsfähigkeit hängt jedoch von einer Anzahl von Teilzeitabgeordneten in Leitungsfunktionen ab. Der Baden-Württembergische Landtag wiederum gilt als das Beispiel einer Teilzeitregelung. In der Realität ist er aber durch eine Mischregelung gekennzeichnet, d. h. neben einer Mehrheit von Teilzeitabgeordneten gibt es in ihm eine wachsende Anzahl von Vollzeitparlamentariern. Die Aufgaben der Landtage sind heute weniger in der Gesetzgebung und Debatte als vielmehr in der Artikulation und Kontrolle zu suchen. Um diese erfüllen zu können, benötigen die Abgeordneten Sachkenntnis. Arbeitszeit und Realitätsnähe. Letztere wird insbesondere den noch eine Verbindung mit ihrem Beruf aufrechterhaltenden Abgeordneten unterstellt. Erfahrungen und Funktionsüberlegungen führen zu dem Ergebnis, daß die Alternative „Voll-oder Teilzeitabgeordneter“ den komplexen Erfordernissen des Länderparlamentarismus nicht gerecht wird. Die Landtage brauchen beide: den sich ganz seinem Mandat widmenden Vollzeit-und den weiterhin in seiner beruflichen Lebenswelt stehenden Teilzeitabgeordneten.
I. Einleitung
Die hessische Diätenaffäre vom Sommer 1988 hat einige Probleme des Länderparlamentarismus offengelegt: Wer soll künftig über die Höhe der Diäten entscheiden? Von Theodor Eschenburg kam der Vorschlag, hierfür eine unabhängige Diäten-kommission zu bestellen Damit ist es aber noch nicht getan. An welchen Kriterien sollte sich diese -oder wer immer die Diäten festsetzt — ausrichten? Gehört zu diesen nicht auch ein auf die Landtage abgestimmtes Abgeordnetenbild? Die Suche nach ihm wird uns nicht dadurch erleichtert, daß in Wissenschaft und Öffentlichkeit recht unterschiedliche Bilder vom Abgeordneten zu finden sind. In der Regel stellen diese mehr als ein Abbild der politisch-parlamentarischen Wirklichkeit dar; in ihnen können sich auf verschiedene Weise Idealvorstellungen vom geistig hochstehenden Legislateur oder bodenständigen Volksvertreter vermischen mit Wunschbildern vom sich ganz seinem Mandat widmenden Vollzeit-oder neben diesem noch einem Beruf nachgehenden Teilzeitabgeordneten Sollten aber diese Bilder nicht auch bestimmt werden von einer funktionsorientierten Reflexion, d. h. von der Frage, welche Aufgaben der Abgeordnete in einem Teilstaatparlament, wie es ein bundesdeutscher Landtag ist, vorrangig zu erfüllen hat? Mit dieser Frage unterstelle ich einen Zusammenhang zwischen Diätenproblem, Abgeordnetenbild und Funktionsorientierung der Landtage in einem Bundesstaat.
Nachdem bereits Mitte der siebziger Jahre über die Frage Voll-oder Teilzeitabgeordnete in den Land-tagen eingehend diskutiert worden ist brachte vor kurzem Ministerpräsident Walter Wallmann dieses Thema erneut ins Gespräch: Er wirbt für den Teilzeitabgeordneten im Wiesbadener Landtag mit dem Argument, daß sich der Bürger durch die von Berufspolitikern und Beamten überschwemmten Parlamente nicht mehr ausreichend repräsentiert sehe. Als Abhilfe empfiehlt er jedoch nicht eine zusätzliche Quotenregelung, sondern die Auswahl von durch Erfahrung und Persönlichkeit ausgewiesenen Kandidaten. Diese müßten als gewählte Abgeordnete in die Lage versetzt werden, Berufsausübung und Mandat miteinander zu verbinden
Dem Ministerpräsidenten haben SPD und Grüne widersprochen. Die SPD verlangt, daß ein Abgeordnetenmandat den Mandatsträger ernähren sollte; andernfalls werde den jetzt schon in großer Zahl auftretenden Lobbyisten Tür und Tor geöffnet. Und die Grünen lehnen den Teilzeitabgeordneten vor allem deshalb ab. weil Gefahr bestehe, daß dieser zu Wachs in den Händen der Bürokratie werde. Die FDP sieht sich hin und her gerissen: Auf der einen Seite möchte sie gern an dem von ihr hochgehaltenen Bild des unabhängigen Honoratiorenabgeordneten festhalten, auf der anderen Seite sind ihre Abgeordneten als Mitglieder einer kleinen Fraktion einem Professionalisierungszwang ausgesetzt.
Die Argumente für oder gegen den Teilzeitabgeordneten sind bekannt. Sie wurden in dieser oder ähnlicher Weise schon in den siebziger Jahren vorgebracht. Nach dem „Diätenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom November 1975 gingen die meisten Landtage damals zum Vollzeitabgeordneten über 5) — Ausnahmen bildeten das „Hamburger Feierabendparlament“ und die „Stuttgarter Teilzeitlösung“. Es läge daher nahe, bei der jetzt wieder aufgelebten Diskussion danach zu fragen, welche Erfahrungen mit beiden „Modellen“ gesam-melt wurden. Merkwürdigerweise ist dies noch nicht geschehen im folgenden wird es daher nachzuholen sein. Führen uns diese Erfahrungen, verbunden mit einer Funktionsbestimmung Landtage, zu einem dem Länderparlamentaris angemessenen Abgeordnetenbild?
II. Zur Soziologie der Abgeordneten
Der Abgeordnete stellt ein Gegenbild zu einem Bediensteten dar Er übt ein öffentliches Amt aus, ohne ein Beamter zu sein. Keine Stechuhr kontrolliert seine Arbeitszeit. Niemand weist ihn in seine Arbeit ein, und es bleibt seinem Pflichtgefühl anheimgestellt, ob er an Sitzungen teilnimmt oder nicht. Es ist weitgehend ihm überlassen, wie er sein Mandat wahmimmt. Der eine sieht es als seine Berufung an, dem nachzugehen, was Theodor Eschenburg einmal zu den lohnenden Aufgaben des Parlamentariers gezählt hat: Rechts-und Verwaltungskonstruktionen zu durchdenken, praktische Staatsgeschäfte zu erfassen, um sie wirksam kontrollieren zu können, an der politischen Ausrichtung der Staatsführung mitzuwirken Den anderen zieht es hingegen in seinen Wahlkreis, wo er überall dort zu finden ist, wo sich Bürger versammeln. Im Parlament fällt er weder seinen Kollegen noch den Journalisten sonderlich auf, aber draußen, in der Provinz, steht er bei seinen Wählern in einem hohen Ansehen als „Nothelfer“.
Ludwig Thoma hat mit der von ihm geschaffenen Figur des „Filser Jozef“ einen bauemschlauen Volksboten aus seiner oberbayerischen Heimat verewigt Er stellt die Verkörperung seiner ländlichen Wähler dar. Einem etwas anderen Typ von Volksvertreter begegnen wir in den Erinnerungen eines badischen Geistlichen, des querschädeligen Heinrich Hansjacob, der seine Aufgabe vor allem darin sah, die Lebensverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung zu verbessern Neuere Publikationen vermitteln Aufschluß über das Arbeitspensum und das Rollenverständnis eines heutigen als Rechtsanwalt tätigen Teilzeitabgeordneten a Nordrhein-Westfalen Daneben gibt es kaut weitere literarische Zeugnisse zur Person des Abg ordneten, wenn wir von dem seltenen Glücksha absehen, daß ein nicht unbekannter Schriftstellt seine eigene Bundestagszugehörigkeit themat siert
Eines wird aus den genannten Darstellungen u Selbstzeugnissen deutlich: Es gibt nicht den typ sehen Abgeordneten, wenn wir unter Typus di Unverwechselbare, das Charakteristische vers hen, das diesen von einem Arzt oder Lehrer unte scheiden würde. Zu unterschiedlich sind seine & zialisation, sein Rollenverständnis und seine Tät keit. So hat auch die Wissenschaft einige Müh seine empirisch nachweisbaren Rollenvarianten erfassen oder gar ein normatives Bild vom Abg ordneten zu zeichnen
Gerhard Loewenberg unterscheidet in seinemSta dardwerk über den Bundestag innerhalb desselbr im Jahre 1957 folgende Abgeordnetenkategorie Interessenvertreter (u. a. Verbandsgeschäftsfi rer, Gewerkschaftssekretäre) = 30, 4 Prozent, Tt zeitabgeordnete mit einer privaten Berufstätigk = 31, 9 Prozent, im öffentlichen Dienst Beschäftig (ausschließlich kommunale Wahlbeamte) = 9 Prozent und Berufspolitiker = 22, 8 Prozent Schon er hatte Schwierigkeiten, den Typ des Berufspolitikers zu bestimmen. Mit Hilfe von M Webers „von und für die Politik leben“ definierte: sie als Männer (und Frauen), die „weder in Bundestag kommen, um eine Berufsgruppe zu« treten, noch aus dem öffentlichen Dienst stamme: sondern eine parlamentarische Karriere anstn ben“ Ein Vergleich mit der beruflichen Zusammensetzung der Landtage Ende der fünfziger Jahre zeigt, daß in diesen Interessenvertreter und Berufspolitiker weniger zahlreich vertreten waren als im Bundestag. Interessenvertreter zog es schon damals mehr an den Rhein, wo die für sie wichtigen wirt-schafts-
und sozialpolitischen Entscheidungen fallen. Junge, ambitionierte Nachwuchspolitiker sahen in Bonn mehr und bessere Möglichkeiten für eine politische Karriere als in einer der Landeshauptstädte. Das Sozialprofil der Landtage wies daherinjener Zeit einen höheren Anteil von öffentlichen Bediensteten und Angehörigen „privater“ Berufe (Freiberufler, Gewerbetreibende, Landwirte u. a.) auf. Arbeiter und Angestellte hatten schon damals Seltenheitswert. Eine noch erträgliche parlamentarische und berufliche Belastung erlaubte es vielen Landtagsabgeordneten, Mandat und Beruf miteinander zu verbinden. Beim Fehlen einer „strengen“ Inkompatibilität traf dies auch auf nicht wenige öffentliche Bedienstete zu. So ist der noch 1974 bestehende hohe Prozentsatz von Teilzeitparlamentariern in den Landtagen zu erklären: Er reichte von 80 Prozent (Baden-Württemberg) bis 46 Prozent (Saarland) Einen Mittelplatz nahm Nordrhein-Westfalen mit 67 Prozent ein
Einedetaillierte Untersuchung über den Landtag in Nordrhein-Westfalen kommt zu dem Ergebnis, daß dessen Bild inzwischen von Berufsparlamentariern bestimmt wird; gleichzeitig hat unter diesen der Typ des Berufspolitikers zugenommen, wenn man zu ihnen -und das würde die Landtage vom Bundestag unterscheiden — nicht nur die ohne wesentliche Berufserfahrung in das Parlament gekommenen Jungpolitiker, sondern auch die erst nach einer längeren Erwerbstätigkeit im Berufspolitikerdasein eine Lebenserfüllung findenden Abgeordneten zählt. Zwischen ihnen und dem öffentlichen Dienst können die Übergänge fließend sein. Dieser hat schon immer einen erheblichen Teil der Abgeordneten gestellt. Eine historische Begründung reicht aber nicht aus, um die Zunahme des Anteils der öffentlichen Bediensteten im Düsseldorfer Landtag von 17, 8 Prozent (1. Legislaturperiode) auf 41, 6 Prozent (7. Legislaturperiode) zu erklären.
Darauf wird noch zurückzukommen sein, denn eine ähnliche Entwicklung ist sowohl in anderen Landtagen als auch im Bundestag zu verzeichnen. Heino Kaack hat denn auch eine Angleichung der Sozial-profile des Bundes-und Landtagsabgeordneten festgestellt Die deutschen Parlamente sind heute durch einen nicht zu übersehenden Anteil von Berufspolitikern und Angehörigen des öffentlichen Dienstes gekennzeichnet
Ein Grund für die verhältnismäßig große Anzahl von Beamten in den deutschen Parlamenten — die Tradition — ist schon genannt worden. Hinzu kommt die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt abzeichnende Karrierisierung. Was ist darunter zu verstehen? Der Weg in die Parlamente führt heute nur noch durch das Nadelöhr der Parteien, und man muß schon ein engagiertes Mitglied derselben sein, um im Kandidatenwettbewerb eine Chance zu erhalten. Zwar sind die Karrieremuster von Landtagsabgeordneten noch wenig untersucht — aufgrund verschiedener Wahlgesetze weichen sie auch vermutlich von Land zu Land voneinander etwas ab —, doch scheinen sie in einem übereinzustimmen: Um überhaupt aufgestellt zu werden, muß sich der Kandidat im Kreis-und Ortsverband seiner Partei, aber auch als kommunaler Mandatsträger, hervorgetan und sich damit einen politischen Rückhalt verschafft haben. Diese von Dieter Herzog beschriebene Karrierisierung bedingt einen hohen zeitlichen Einsatz Der Kandidat muß sich überall sehen lassen, an vielen Sitzungen teilnehmen, Kontakte knüpfen und Ansprachen halten. Selbständige oder Arbeitnehmer haben es schwer, derartig umfangreiche zeitliche Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Anders die Beamten — sie sind aufgrund der rechtlichen Ausgestaltung ihrer Stellung abkömmlicher.
Nicht umsonst hat die Zahl der Lehrer in den Parlamenten stark zugenommen. Diese sind aber nicht nur abkömmlich, sondern können auch im Unterschied zu anderen Beamten über einen Teil ihrer Arbeitszeit selbst verfügen. Einmal gewählt, sind Beamte aller Kategorien in der Lage, sich ganz dem politischen Geschäft zuzuwenden, brauchen sie sich doch um ihre weitere berufliche Existenz nicht zu sorgen. Es steht ihnen frei, nach Aufgabe des Mandats wieder in die Verwaltungshierarchie — vielfach an einem besseren Platz als zuvor — zurückzukehren, es sei denn, sie zögen es vor, die Politik ganz zu ihrem Beruf zu machen. Und dafür gibt es heute in den Ländern seit der Einführung von politischen Staatssekretären und der Gewährung parlamentarischer Funktionspauschalen mehr Chancen denn je.
Der im Parteiensystem, seinen Kandidaten-Anforderungen und seinem Rekrutierungsmonopol sowie in der Vermehrung des politischen Personals angelegte Beamten-und Berufspolitikerschub wäre aber vermutlich ohne das Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975 nicht so rasch zum Durchbruch gelangt -Darin wird festgestellt, daß aus der im Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz geforderten Entschädigung eine Alimentation als Entgeld des Abgeordneten für seine hauptberuf ehe Inanspruchnahme geworden sei. Allen Abgeordneten stehe eine gleich hohe Alimentation zu die so zu bemessen sei, daß sie für jeden von ihnen — unabhängig von weiteren Einnahmen —. eine Lebensführung zulasse, die der Bedeutung ihres öffentlichen Amtes entspreche. Da aus der bisherigen Entschädigung eine Alimentation geworder sei. müsse diese auch dem Gleichheitsgrundsatzfolgend versteuert werden.
Dieses als „Meilenstein in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“ bezeichnete Urteil scheint gerade das zu bestätigen, was die Landtage bis dahin zu vermeiden gesucht hatten: eine Qualifizierung des Landtagsmandats als Beruf. Aufgrund ihrer bisherigen Ablehnung des Vollzeitparlamen tarier« mußte es daher überraschen, wie schnell sie sich mit der ihnen angebotenen Möglichkeit eines Berufsparlaments anfreundeten. Aus dem etwas mißverständlich formulierten Urteil glaubten sie, ei-nen Zwang zur Anpassung der Diäten (und damit auch des Berufsbildes des Landtagsabgeordneten) an das Vorbild des Bundesparlaments herauslesen zu müssen. Dies ist einige Jahre später von Bundesverfassungsrichter Willi Geiger bestritten worden Mit dem Hinweis auf das ergangene Urteil rechtfertigte aber der bayerische Landtag 1977 die Aufstockung der Grundvergütung seiner Abgeordneten auf 6 750 DM, womit er nur ein wenig unter dem Bundestagssatz von 7 500 DM blieb. Mit diesem Gesetz wurden Maßstäbe für die noch abwartenden anderen Landtage gesetzt. Es folgten bald Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Trotz der Angleichung der Sozialprofile bestehen nach wie vor Unterschiede in der Alimentation der Landtagsabgeordneten Diese sind offensichtlich nicht nur auf die unterschiedliche Größe der Bundesländer (Stadtstaaten), sondern auch auf das Selbstverständnis ihrer Parlamente und das damit verbundene Abgeordnetenbild zurückzuführen. Besonders auffallend ist hier ein Vergleich zwischen Bremen und Hamburg: Während sich die Bremische Bürgerschaft als Teilzeitparlament versteht, versucht die Hamburger Bürgerschaft den Charakter eines Feierabendparlaments beizubehalten.
III. Das Hamburger „Feierabendparlament“
„Feierabendparlament“ — dieser Begriff spricht für sich: Die Sitzungen eines solchen Parlaments beginnen nach einem normalen Arbeitstag um 16 oder 17 Uhr. Seinen Abgeordneten soll es dadurch ermöglicht werden, die Ausübung eines Berufes mit einem als ehrenamtlich angesehenen Parlaments-mandat zu verbinden. Warum bezieht sich aber obige Überschrift nur auf Hamburg und nicht auch aufBerlin und Bremen? Obwohl die Repräsentativ-versammlungen in diesen beiden Stadtstaaten ebenfalls wie in Hamburg die Aufgaben eines Parlaments mit denen eines Gemeinderates (in Bremen nur aufdie Stadt Bremen bezogen) verbinden, stellt die Bremische Bürgerschaft von ihrem Selbstverständnis und von ihrer Arbeitsweise her gesehen ein Teilzeitparlament dar, während sich das Berliner Abgeordnetenhaus mit seinem ganztägigen Sit-zungsplan schon mehr einem Vollzeitparlament in den Flächenstaaten nähert Hamburg bildet daher unter den Stadtstaaten einen Ausnahmefall. Dieser erklärt sich auch aus der besonderen politischen Kultur der Freien und Hansestadt, wo noch stärker als anderswo die politisch-parlamentarische Betätigung als eine ehrenamtliche begriffen wird. Dies kommt selbst in der bis heute beibehaltenen Bezeichnung . Bürgerschaft'unterschwellig zum Ausdruck: Es sind eben Bürger und nicht Politiker/Abgeordnete, die sich der Belange des Gemeinwesens annehmen
Nach der „Großen Parlamentsreform“ im Jahre 1971 mit der Verankerung der Opposition in der Verfassung und der Einführung der Inkompatibilität von Senatorenamt und Abgeordnetenmandat stand Mitte der achtziger Jahre die Verbesserung der parlamentarischen Arbeitsbedingungen zur Debatte. Obwohl in diesem Zusammenhang auch das noch aus politisch geruhsameren Zeiten stammende Feierabendparlament in Frage gestellt wurde, blieb dieses doch letztlich unangetastet. Seine Umwandlung in ein Parlament von Teilzeit-oder Berufsparlamentariern hätte vermutlich eine Reduzierung der vergleichsweise hohen Anzahl von 120 Abgeordnetensitzen nach sich gezogen. Doch nicht nur diese politische Existenzbedrohung ließ manche Bürgerschaftsabgeordnete von einem solchen Schritt noch einmal zurückschrecken, sondern auch der Stolz auf „hanseatische Traditionen“, von denen man nicht ohne einen zwingenden Grund Abschied nehmen wollte. Trotz einer im Vergleich zu anderen Landtagen größeren Arbeitsbelastung als Landesparlament und Gemeinderat schien dieser nicht zu bestehen. Dabei reichen die in der Bürger-schäft behandelten Themen von der EG-oder Bundesaußenhandelspolitik über ausgesprochene Landesangelegenheiten wie Kultur-und Schulfragen bis hin zu kommunalpolitischen Themen wie Stadt-reinigung und Verkehrstarife. Der Beratungs-und Entscheidungsbedarf wird noch dadurch vergrößert, daß in Hamburg im Unterschied zu Berlin die Stadtbezirksverwaltungen mit keiner Entscheidungsautonomie ausgestattet sind.
Die Hamburger Parlamentsreform von 1986 hatte daher vorrangig das Ziel, bei Beibehaltung des überkommenen Feierabendparlaments die allgemein als zu hoch beklagte Arbeitsbelastung der „ehrenamtlich“ tätigen Bürgerschaftsabgeordneten zu verringern. So sollten die als zu umfangreich angesehenen Tagesordnungen der Bürgerschaft entschlackt, Redezeiten verkürzt und Ausschüsse zusammengelegt werden. Das alles ist inzwischen geschehen. Einen gewissen Entlastungseffekt erhoffte man sich auch von einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Damals sind unter anderem den Bürgerschaftsabgeordneten Mittel für eine halbe BAT-IIa-Stelle zur Beschäftigung eines eigenen Mitarbeiters oder die Finanzierung eines mit anderen Kollegen zu unterhaltenden Büros zur Verfügung gestellt worden. Entgegen einer zunächst vorherrschenden Skepsis machen inzwischen mehr als 50 Prozent der Abgeordneten davon Gebrauch Trotz der damit einhergehenden Entlastung bei der Abwicklung des Schriftverkehrs oder der Vorbereitung von Sitzungsunterlagen bleibt der einen Beruf ausübende Abgeordnete weiterhin durch die abendlichen Sitzungstermine der Bürgerschaft und zahlreichen weiteren Verpflichtungen — vor allem gegenüber seiner Parteiorganisation — zeitlich eingespannt. Da hilft ihm auch nicht allzu viel, daß das in Hamburg geltende Verhältniswahl-recht mit einer Landesliste keine Wahlkreise kennt. Zwar haben die Parteien immer wieder versucht, den Abgeordneten „Quasi-Wahlkreise“ für die Betreuung zuzuweisen, doch führte dies zu keiner Wahlkreisarbeit im eigentlichen Sinne.
Der ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete Walter Tormin rechtfertigt das Hamburger Feierabendparlament mit dem modern anmutenden Entfremdungsargument: „Eine wichtige Aufgabe ist es heute zweifellos, der drohenden Entfremdung zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten entgegenzuwirken, die ihren Ausdruck z. B. in zuneh-mender Politikverdrossenheit auf der einen, in außerparlamentarischen Initiativen auf der anderen Seite findet. Parteien und Parlamente geraten zusehends in eine Isolation, gewöhnen sich spezifische Denk-, Verhaltens-und Ausdrucksformen an, verstehen den Bürger nicht mehr und werden von ihm nicht mehr verstanden. Die tägliche Konfrontation mit dem Beruf ist hier ein wichtiges Korrektiv. Seine Argumentation wäre noch überzeugender, wenn nicht Berufs-und Alltagserfahrung gleichgesetzt würden. Hier setzt auch die Kritik des Paria mentsforschers Winfried Steffani ein. Er machtdarauf aufmerksam, daß der sich in seiner Feierabend zeit einem ganz anderen Lebensstil unterwerfende Politiker von normalen Alltagserfahrungen abgeschnitten werde. Vor allem hält er Tormin folgende Überlegungen entgegen: Um ihre Kontrollaufgabe wirksam erfüllen zu können, sehen sich die Abgeordneten bei der Informationsgewinnung und -Verarbeitung einer zeitaufwendigen Belastung ausge setzt. Diese könnte aber in der Bürgerschaft nureia Teil der Abgeordneten auf sich nehmen, die deshalb alles andere als „Feierabendpolitiker“ wären De facto seien sie heute Teilzeitparlamentarier
Sehen wir uns daraufhin einmal die Zusammensei zung der Hamburger Bürgerschaft etwas näher an Als erstes fällt im Vergleich zu anderen Länderpar lamenten auf. daß in ihr die Kategorie der Berufs-politiker, wenn man von Fraktionsvorsitzenden und Fraktionsgeschäftsführern absieht, fehlt. Dies ist in der Hauptsache auf die bereits erwähnte Inkompatibilität zwischen Senatsamt und Abgeordnetem mandat zurückzuführen, d. h. für den in den Senat berufenen Bürgerschaftsabgeordneten ruht das Mandat; es wird von einem Nachrückkandidaten eingenommen. Doch kann der Übergang von diese Berufspolitikergruppe zu der Kategorie der Teilzeitpolitiker mit politiknahen Berufen fließend sein. Zu ihr gehören vor allem einige Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Verbandssekretäre. Ihr Anteil wird von Kennern der Hamburgischen Bürgerschaft mit 10 bis 20 Prozent beziffert; zwei pensionierte Berufsoffiziere eingeschlossen. Der Anteil der in der Bürgerschaft stark vertretenen Lehrerin dieser Kategorie ist gering, weil die meisten von ihnen als Bürgerschaftsabgeordnete weiterhin ihren Beruf bei einem vollen Deputat ausüben. Die Bürgerschaft schiebt viele unerledigte Tagesordnungspunkte vor sich her. Das ist einer der Gründe, warum eine Teilzeitlösung wieder ins Gespräch gekommen ist. Wie das Ergebnis der erneuten Diskussion aussehen wird, läßt sich noch nicht voraussagen. Nur eines scheint festzustehen: Trotz der vorher geschilderten Reformmaßnahmen hat die Arbeitsbelastung der Bürgerschaftsabgeordneten nicht spürbar abgenommen. Im Gegenteil! Unter ihnen ist daher die Zahl der Befürworter einer Teilzeitlösung im Steigen begriffen
IV. Teilzeitlösung in Baden-Württemberg?
Teilzeitlösung bedeutet für den Abgeordneten, daß er neben seinem Mandat noch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen kann. Als Musterbeispiel für deren Verwirklichung gilt gemeinhin der baden-württembergische Landtag. Warum ist dennoch die Überschrift zu diesen Ausführungen mit einem Fragezeichen versehen? Weil die ursprünglich von der CDU-Mehrheitsfraktion angestrebte Lösung mit derdann interfraktionell getroffenen Vereinbarung -von deren Realisierung einmal abgesehen — nicht übereinstimmt. Als Alternative zur bayerischen Vollzeitregelung machte sich zunächst die eine absolute Mehrheit im baden-württembergischen Landtag besitzende CDU-Fraktion für den Teilzeitabgeordneten stark. Als sie sich auf diesen bei einer auswärtigen Sitzung in Berlin im Sommer 1977 festlegte, begründete ihr damaliger Vorsitzender Lothar Späth den nur mit einer Gegenstimme gefaßten Beschluß mit dem Argument, daß im Gegensatz zum Bundestag in den Landtagen keine Politikprofis notwendig seien, sondern Parlamentarier, die noch mitten im beruflichen Leben stünden. Solche Abgeordnete seien aufgrund ihrer Erfahrungen in der Lage, Gegenspieler einer bürgerfernen Verwaltung zu sein. Der Fraktionsvorsitzende kündigte gleichzeitig an, daß die CDU ein Konzept vorzulegen beabsichtigte, das eine Konzentration der Landtagsarbeit auf sechs Monate im Jahre zum Ziele haben werde
Der sogenannte Berliner Beschluß zwang die noch zögernde SPD zu einer abschließenden Meinungs-bildung. Sie machte jedoch ihre Zustimmung von dem Vorbehalt abhängig, daß dem Abgeordneten die Wahlmöglichkeit eingeräumt würde, sich auch für eine parlamentarische Betätigung als Vollzeitberuf zu entscheiden. Damit wollte die SPD Rücksicht nehmen auf die Arbeitnehmerabgeordneten, denen nach dem „Diätenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts kein Verdienstausfall mehr zugestanden wurde und die damit bei einer hauptberuflichen Parlamentstätigkeit ganz auf ihre Grundvergütung angewiesen sind. Deshalb erschien es ihr auch recht und billig, die von der CDU in Erwägung gezogenen Grunddiäten in Höhe von 3 500 DM derart anzuheben, daß ein Parlamentarier von ihnen unabhängig von anderen Einkünften leben kann. Damit war die Möglichkeit für einen Kompromiß abgesteckt, wie er schließlich noch im gleichen Jahre von allen in der Legislaturperiode von 1976 bis 1980 im Landtag vertretenen Parteien (CDU, SPD, FDP) gefunden werden konnte: Die Grunddiäten wurden auf 4 500 DM festgelegt und die „weiche“ Inkompatibilität beibehalten
Der Inhalt dieser Vereinbarung bildete die Grundlage für einen dem Landtag vorgelegten interfraktionellen Gesetzentwurf, der jedoch erhebliche Einwände der FDP auf sich zog. Diese kritisierte vor allem die Höhe der verschiedenen steuerfreien Pauschalen von 2 700 bis 3 500 DM und wollte sie durch eine Gesamtpauschale von 1 500 DM ersetzt sehen, gleichzeitig befürwortete die mehrheitlich aus jungen Vollzeitabgeordneten bestehende siebenköpfige Fraktion eine Anhebung der Grunddiäten auf 4 500 DM. Nach ihren Vorstellungen sollten unter die Kompatibilität künftighin auch die bisher davon ausgenommenen Landräte und Bürgermeister fallen. Mit diesen Forderungen konnte sie sich aber nicht durchsetzen. Zwar wurde die Grundvergütung noch auf 4 800 DM erhöht, doch die beiden „Großen“ — CDU und SPD — hielten an der von ihnen getroffenen Vereinbarung fest. Die auch den Vollzeitabgeordneten ermöglichende „Mischregelung“ wurde am 3. August 1978 gegen die Stimmen der FDP mit überwältigender Mehrheit verabschieden
Grundsatzbeschlüsse über Teilzeit-oder Mischregelungen können folgenlos bleiben, wenn daraus nicht Konsequenzen für die parlamentarische Arbeit gezogen werden. Die Fraktionen waren sich daher darüber einig, nach der gesetzlichen Diäten-neuregelung eine Straffung der Landtagsarbeit in die Wege zu leiten. Die Presse empfahl ihnen dabei, sich auf das „Wesentliche“ zu konzentrieren. Es sollte sich aber bald herausstellen, daß es aufgrund von unterschiedlichen Interessenlagen zu einer recht unterschiedlichen Einschätzung des „Wesentlichen“ kommen kann. Die CDU-Regierungsfraktion glaubte, eine Verkürzung des Sitzungspensums auf 25 Wochen jährlich vertreten zu können. Dabei war aber zu berücksichtigen, daß sie auf die Zuarbeit der ihr nahestehenden Ministerien zählen konnte. Die Vertreter der Oppositionsfraktionen machten demgegenüber geltend, daß eine derartige Beschneidung der parlamentarischen Sitzungszeit einen Verlust an Kontrollfähigkeit des Landtags gegenüber der Exekutive nach sich ziehen müßte. Der nach einigem Tauziehen erreichte Kompromiß sah schließlich 31 Sitzungswochen vor. Neu daran war, daß anstelle des bisherigen Vierwochen-ein Dreiwochenrhythmus treten sollte, d. h. nach zwei Sitzungswochen folgt eine sitzungsfreie, und daß die Montage und Freitage von Sitzungen freigehalten wurden.
Die von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragene „Mischregelung“ fand ein freundliches bis zustimmendes Echo in der baden-württembergischen Landespresse. Sie hatte aber auch den Mann auf der Straße auf ihrer Seite. Das sollte nicht überraschen, Berufspolitiker stehen hierzulande in kei-nem großen Ansehen Dennoch bleibt zu fragen, warum im deutschen Südwesten die Zustimmunga einer den Teilzeitabgeordneten begünstigendes Lösung besonders groß war. Eine der Ursachen ist wohl in der politischen Kultur Baden-Württembergs zu suchen. Da in den zahllosen kleinen und kleinsten vomapoleonischen Territorien zwischen Main und Bodensee Privates und Politisches eng miteinander verwoben war, hatte sich hier die politische Rollenteilung wenig ausgebildet 34).
Solche historischen Erfahrungen können untergründig ebenso lange weiterleben wie die Erinnerung an das alte Herzogtum Württemberg, wo man daran gewöhnt war, daß die zur einflußreichen „Ehrbarkeit“ gehörenden Amtleute und Schultheißen auch im Landtag saßen. Es kann daher nicht verwundern, daß der baden-württembergische Landtag 1970 mit großer Mehrheit einen Antragzu Fall brachte, der anstelle der bisherigen „weicher eine „strenge“ Inkompatibilität einführen wollte Dieser Entscheid führte dazu, daß an dem Beschlul über die „Mischregelung“ auch viele aktive Land räte (3), Bürgermeister (7) und Lehrer (17) mit wirkten. In dem 1988 neugewählten Landtag siebt übrigens das Bild folgendermaßen aus: aktiv Landräte (3), Bürgermeister (6) und Lehrer aller Schularten (24).
Nach rund 10jähriger Erfahrung mit der „Mischte gelung“ im Stuttgarter Landtag fällt bei einererster Bilanz folgendes auf: Der bereits 1978 für die Kot tinuität der Landtagsarbeit notwendig gehaltene Anteil von Vollzeitabgeordneten ist größer als ur sprünglich angenommen: Späth ging noch von 1 bis 20 Prozent aus. Von den 126 Abgeordneten det 9. Legislaturperiode (1984— 1988) gaben zwarnur acht als Beruf Landtagsabgeordneter an, dochz der Kategorie der Berufspolitiker waren noch die Landtagspräsidenten, Fraktions-und Ausschußvor sitzenden sowie die Minister und Staatssekretäre insgesamt rund ein Drittel der Abgeordneten, a zählen. An dieser sich auch in der 10. Legislaturperiode fortsetzenden Teilprofessionalisierung ist Ministerpräsident Späth nicht ganz unschuldig; wäre: es doch, der jedem Ministerium einen politischen Staatssekretär zuordnete, was die Zahl der Regie rungsmitglieder im Landtag auf gegenwärtig 19 hochschnellen ließ. Diese Professionalisierung geht zu Lasten der kleineren Fraktionen, der FDP und der Grünen, die ihre Mitglieder übermäßig belasten müssen. Ihnen bleibt dann gar nichts anderes übrig, als ihr Mandat hauptberuflich auszuüben. Schließlich schlägt noch zu Buche, daß trotz einer zurückgehenden Gesetzgebungstätigkeit der parlamentarische Zeitaufwand zunimmt: Immer komplizierter werdende Verwaltungsmaterien erfordern offensichtlich ein erhöhtes Zeitdeputat für die vom Landtag wahrzunehmende Kontrolle. Dieser kommt daher mit seinem Sitzungspensum nur noch schwer zurecht d. h. er mußte bereits einen Teil der vordem sitzungsfrei gebliebenen Freitage in seine Arbeitsplanung einbeziehen. Der in den Ruhestand getretene langjährige Direktor beim Landtag, Anton Böhringer, blickt daher etwas skeptisch in die Zukunft: Nach seiner Meinung wird sich auch in Stuttgart der Trend zum Vollzeitparlament durchsetzen -Sein Amtsnachfolger Thomas Rößlein sieht sich jedoch in Übereinstimmung mit der Landtagsmehrheit, wenn er dafür plädiert, nach wie vor möglichst vielen Abgeordneten eine Verbindung von Mandat und Beruf zu ermöglichen
V. Zum Funktionsbild der Landtage
Die von Walter Bagehot herausgearbeiteten Parlamentsfunktionen können in der parlamentarischen Theorie und Praxis ein unterschiedliches Gewicht gewinnen So ist noch die Diskussion über den Bundestag als Arbeits-oder Debattenparlament in Erinnerung. Bei den Länderparlamenten besteht zumindest in einem Punkt weitgehend Überein-stimmung: Obwohl es nicht an Vorschlägen mangelt das parlamentarische System in den Ländern durch eine Art von Präsidialdemokratie oder einen Schweizer Bundesratproporz zu ersetzen, wird deren Wahlfunktion nach wie vor eine Schlüsselstellung zuerkannt. In der politischen Praxis bedeutet dies, daß in allen Bundesländern in einer mehr oder weniger abgewandelten Form die Regierungen von den Landtagen bestellt werden. Der Ratio des parlamentarischen Systems entsprechend. stellen diese aber auch Auswahlorgane dar, d. h.der größere Teil der Minister kommt aus den Reihen ihrer Mitglieder.
Die Landtage haben sich allzu lange als Bundestag en miniature gebärdet, d. h. sie nahmen sich das Bonner Parlament mit dem Vorrang der Gesetzgebungs-und Debattenfunktion zum Vorbild. Im Zuge des unitarischen Föderalismus mußten jedoch die Länder zahlreiche Zuständigkeiten an den Bund abgeben, so daß sich ihr Gesetzgebungsspielraum verengt hat. Nachdem dieser durch die kommunale Gebietsreform und die Schulgesetzgebung weitgehend ausgeschöpft worden ist, bleiben nur noch wenige durch Gesetz zu gestaltende Materien — u. a. die Medien — übrig. Es fehlt daher nicht an wohldurchdachten Überlegungen, verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen
Das Heil der Länderparlamente kann jedoch nicht in dem Ausbau ihrer Gesetzgebungsbefugnisse erblickt werden. Selbst wenn es einmal zu einer Neuverteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern kommen sollte, dürfte in einem einheitlichen, sich zur EG erweiternden Wirtschafts-und Sozialraum der Bundesrepublik das Schwergewicht der Gesetzgebung weiterhin in Bonn hegen Es ist deshalb auch anzunehmen, daß der Bundestag der Austragungsort der „Großen Debatten“ bleiben wird. „Groß“ deshalb, weil dabei über die politischen Vitalfragen wie Außen-und Sicherheitspolitik, Steuerangelegenheiten. Außenhandel oder Sozialpolitik gestritten wird. Die Landtage wären daher schlecht beraten, wenn sie hierin mit dem Bundestag konkurrieren wollten. Ihre Debatten-aufgabe hegt auf einer — wenn man so will — „niedrigeren“ Ebene. Die begrenzten Länderzuständigkeiten führen sie vom alles bewegenden „Ob“ zu dem mehr die Fachöffentlichkeit interes-sierenden „Wie“. Meine Zustands-und Zukunftsbeschreibung sollte aber nicht zu dem Schluß verleiten, daß es sich die Landtage leisten können, ihre eingeschränkten Gesetzgebungs-und Debatten-funktionen auf die leichte Schulter zu nehmen. Diese Aufgaben bleiben weiterhin für ihr parlamentarisches Selbstverständnis und für ihre politische Stellung bedeutsam. Sie müssen sich aber über die Grenzen in beiden Bereichen im klaren sein, um so deutlich ihre Chancen in anderen Sachfragen zu erkennen und zu ergreifen. Die Landtage bilden nicht nur einen Teil des politischen Systems des Freistaates Bayern oder der Freien und Hansestadt Hamburg, sondern auch einen Bestandteil des politischen Systems der Bundesrepublik. Meine These lautet daher: Vor allem durch die Ausübung der Kontroll-und Artikulationsfunktionen entlasten die im Vergleich zum Bundestag Verwaltungs-und bevölkerungsnäheren Landtage das Bonner Bundesparlament und können damit zur Lebensfähigkeit des repräsentativen Systems in der Bundesrepublik beitragen
Der repräsentative Anspruch eines Parlaments beruht auch darauf, daß es aufgrund seiner Zusammensetzung und seines Umfanges in der Lage sein sollte, die Interessenvielfalt der Bevölkerung in sich aufzunehmen und zu einer gemeinwohlorientierten Politik zu verarbeiten. Diese Vielfalt wird ihm zum Teil auch durch die Verbände zugänglich gemacht. Die Landtage sind aber aufgrund ihrer begrenzten Zuständigkeiten und ihrer Bevölkerungsnähe weniger als der Bundestag auf diese Form der Interessenmanifestation angewiesen. Die geringere räumliche Distanz zum Bürger erlaubt ihren Abgeordneten, sich unabhängig von Organisationen ein Bild darüber zu machen, wo diesem „der Schuh drückt“ Das wird ihnen auch dadurch erleichtert. daß zahlreiche Bürger von sich aus ihre Anliegen vorbringen. Was wird da nicht alles von einem Abgeordneten erwartet? Er soll sich für eine zügige Bearbeitung eines Rentenantrags ebenso einsetzen wie für die Sicherung eines vom Konkurs bedrohten Unternehmens oder die Zuschüsse für eine Dorfsanierung. In den Augen der Bevölkerung stellt er offensichtlich weniger einen politischen Gestalter als vielmehr einen sozialen „Nothelfer“ in Problem-lagen oder — das kann auf ein und dasselbe hinauslaufen — einen „Makler“ zwischen Bürger und Verwaltung dar. Das „Immer für alle da zu sein“ ist daher — wie eine in Bayern durchgeführte Untersuchung bestätigte — keine leere Wahlkampfflos kel: Die Mitglieder des „Maximilianeums" wenden mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit für die Wah. kreisbetreuung auf. So spricht viel für die These Heinrich Oberreuters, daß der bayerische Landes-parlamentarismus gesellschaftlich tief abgestützt sei
In Wissenschaft und Praxis besteht Übereinstimmung darüber, daß sich mit der Zunahme der Staatstätigkeit und dem Anwachsen der Bürokratie die Notwendigkeit für eine wirksamere Parlaments-kontrolle verstärkt hat Wie aber ein Blick auf mit der Bundesrepublik vergleichbare Flächenstaaten zeigt, sind deren Kontrolle von einer Stelle aus Grenzen gesetzt. Demgegenüber scheint eine Plu-ralisierung der Parlamentskontrolle im Bundesstaat zu einer größeren Kontrollintensität zu führen Voraussetzung dafür ist, daß die Parlamente det Teilstaaten über ein ausreichendes Kontrollinstrumentarium verfügen und von diesem auch Gebrauch machen. Ein solches steht den Landtagenit der Bundesrepublik zu Gebote, und sie arbeiten auch ständig an dessen Vervollkommung. Als Stichworte seien nur genannt: Aktuelle Stunde Hearings, Untersuchungsausschüsse, Petitionswe sen. Doch kann es eine Sache sein, ein Kontrollinstrumentarium zur Hand zu haben, und eine andere, seine Klaviatur zu beherrschen. Daran zweifelt nicht erst seit der Kieler Affaire die über das Landesgeschehen berichtende Presse
Obwohl mir deren an den Funktionen des Bundes tages oder am Bild des Legislateur orientierte Kritik nicht immer gerechtfertigt erscheint, nehme ich eine ihrer Beobachtungen ernst: Die Landtage üben weniger eine systematische Richtlinien-und Richtungskontrolle aus, sondern gefallen sich mehr in der Rolle des Zufallkontrolleurs. Dabei wärevor allem ans Petitionswesen zu denken, dessen steigende Inanspruchnahme durch den Bürger eine Änderung in unserer politischen Kultur anzeigt: Ein Vertrauensschwund gegenüber der einst hoch-angesehenen Bürokratie paart sich mit einem Vertrauensvorschuß gegenüber den Parlamenten. So wichtig daher eine interfraktionell angelegte Petitionskontrolle ist. so wenig kann sich doch die Kontrollaufgabe der Landtage darin erschöpfen: Ausgehend von verschiedenen Orten (Abgeordneter, Ausschuß, Fraktion) hat sie zu unterschiedlichen Zeiten (vorgängig, begleitend, nachträglich) einzusetzen und sich verschiedener Mittel (Anfrage, Antrag, Ausschuß) zu bedienen, um nicht nur eine Einzelfall-, sondern auch eine Richtungs-und Richtlinienkontrolle gegenüber den Regierungen auszuüben. Diese besitzen in den Ländern aus zwei Gründen eine besonders starke Stellung: Zum einen wirken sie allein über den Bundesrat an der Bundespolitik mit, ohne aber für diesen Handlungsbereich von den Landtagen durch Beschlüsse festgelegt werden zu können. Zum anderen ist die für das parlamentarische System kennzeichnende Wachablösung nicht in allen Bundesländern ohne weiteres vorstellbar, d. h. die zu einer ständigen Opposition verurteilten Landtagsfraktionen erhalten kaum jemals Gelegenheit, ihre alternativen Vorstellungen zu verwirklichen. Es ist politisch nur zu verständlich, daß sie — auch personell ausgetrocknet — dann Schwierigkeiten haben, eine Richtungskontrolle mit Biß, Kompetenz und Perspektive durchzuhalten. Umso größere Bedeutung kann unter diesen Umständen der Richtungs-und Richtlinienkontrolle durch die Regierungsfraktion zukommen. Doch diese versteckt sich häufig vor der Öffentlichkeit, vor allem, wenn in einer Einparteien-Regierung eine enge Verbindung zwischen Regierung und Mehrheitsfraktion besteht und der Wählerschaft Eintracht demonstriert werden soll
VI, Welches Abgeordnetenbild benötigen die Landtage?
Welches Abgeordnetenbild benötigen die vorrangig -wenn auch nicht ausschließlich — mit Kontroll-und Artikulationsaufgaben befaßten Länderparlamente? Diese Frage findet verschiedene Antworten: Die einen vertreten die Auffassung, daß bei immer umfangreicher gewordenen Staatsaufgaben und zunehmenden „Nothelfer“ -und „Maklerbedürfnissen“ in der Bevölkerung auch in den Landtagen der Vollzeit(berufs-) abgeordnete unumgänglich geworden sei Dem halten die anderen entgegen, die Stärke eines Länderparlaments liege gerade darin, daß seine Teilzeitabgeordneten den parlamentarischen Kontroll-und Artikulationsaufgaben aufgrund ihrer Realitätsnähe wirksamer als vom Alltagsleben abgehobene Berufspolitiker nachkommen könnten
Ein Blick in die Praxis nimmt dieser Alternative ihre Schärfe. Es stellt sich dabei heraus, daß auch die Vollzeitparlamente noch immer Abgeordnete in ihren Reihen zählen, die von dem Recht Gebrauch machen, neben ihrem Mandat einem Beruf nachzugehen. Dies trifft vor allem auf die Rechtsanwälte unter ihnen zu. Und sowohl im Hamburger Feierabendparlament als auch im Stuttgarter „Teilzeit“ -Landtag sitzen nicht wenige Vollzeitabgeordnete, denen es zu verdanken ist, daß die parlamentarische Maschinerie am Laufen gehalten wird. Eine Praxis rechtfertigt sich aber nicht allein durch ihr bloßes Dasein. Sie hat sich auch der Frage zu stellen, ob sie dem Selbstverständnis und den Funktionen der sie bestimmenden Institutionen gerecht wird. Die mit einem repräsentativen Anspruch auftretenden Parlamente sind multifunktional angelegt. Deshalb benötigen auch die Landtage Debattenredner, die es verstehen, das Plenum in einen Ort der Besinnung, der Anklage und der Verteidigung zu verwandeln. Sie sind aber auch weiterhin auf die Gesetzesmacher angewiesen, die die Kunst beherrschen, komplizierte Sachverhalte in die abstrahierende Sprache einer generellen Regelung zu bringen. Da im Mittelpunkt ihrer Arbeit jedoch Kontroll-und Artikulationsaufgaben stehen, brauchen die Länderparlamente vor allem Abgeordnete, die sich sowohl der Probleme ihrer Wähler annehmen als auch die Regierung/Bürokratie kontrollieren können.
Der sich als Volksbote verstehende Abgeordnete geht auf seine Wähler zu, spricht mit ihnen und leistet ihnen Nothelfer-und Maklerdienste. Man braucht aber nicht unbedingt ein Teilzeitabgeordneter zu sein, um diese Art von Volksnähe zu üben. Eine in Bayern vorgenommene Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß die dortigen Vollzeit-Landtagsabgeordneten ganz besonders eng mit ihren Wählern verbunden sind, sie stehen mit ihnen gewissermaßen auf Du und Du -Dazu trägt die Überschaubarkeit ihrer Wahlkreise ebenso bei wie ihre Sozialisation. Im Gegensatz zu vielen auf der Bonner Bühne agierenden Berufspolitikern haben die meisten von ihnen einen ganz normalen bürgerlichen Beruf ausgeübt, bevor sie sich ganz der politisch-parlamentarischen Betätigung verschrieben.
Wer Kontrollfunktionen wahmimmt, sollte in der Lage sein. Informationen zu sammeln und auszuwerten, auch Vorschläge zu erarbeiten, um das den Landtagen zur Verfügung stehende Kontrollinstrumentarium zu nutzen. Daraus kann man folgern, daß ein Abgeordneter auch die Erfahrung und Realitätsnähe benötigt, um seiner Kontrollaufgabe gerecht zu werden. Wo erwirbt er diese? Der Anhänger einer Teilzeitlösung wird auf private Berufserfahrungen verweisen, schließen diese doch auch den täglichen Existenzkampf ein Mit diesem Hinweis verbindet sich das Argument, daß der vom Abgeordneten weiterhin ausgeübte Beruf einen notwendigen Anschluß an die Lebenswirklichkeit herstelle. Realitätsnähe und Lebenswirklichkeit sowie die noch einzuführenden Begriffe Alltag und Lebenswelt sind jedoch voneinander zu unterscheiden, um sie für die weitere Betrachtung fruchtbar zu machen: Realitätsnähe und Erfahrung stellen nach wie vor wichtige Wahrnehmungs-und Handlungshilfen zur Bewältigung des Lebenszusammenhangs Alltag dar Diesen können wir unter anderem als die konkrete, unmittelbar zugängliche Umwelt verstehen, an der wir weniger zuschauend als vielmehr handelnd teilnehmen. Wenn wir den Alltag nicht als ein auf die Freizeit begrenztes „Restphänomen“ betrachten, so wird dieser subjektiv in Form von zahlreichen, vor allem durch gemeinsame berufliche Erfahrungen gebildete Lebenswelten wie die des Freiberuflers, Gewerbetreibenden, Bauern, Facharbeiters, Managers wahrgenommen. Die Vertretung dieser und anderer beruflich bestimmter Lebenswelten im Parlament sichert nicht nur dessen repräsentativen Anspruch, sondern kann ihm auch dazu verhelfen, realitätsnahe Entscheidungen zu treffen. Die damit erfaßte Lebens-wirklichkeit sollte sich aber nicht auf eine im Gegensatz zur wissenschaftlichen Einstellung gesehene Alltagsorientierung verengen; sie kann auch als allen Deutungen vorausgehende reale Welt unter Einschluß der theoretischen Praxis verstanden werden
Was wie ein sozialphilosophischer Exkurs aussehen mag, besitzt eine gewisse Relevanz für unser Thema. Landtagsabgeordnete, gleichgültig ob Voll-oder Teilzeitparlamentarier, neigen zur Einzelfallkontrolle. Sie gehen von einer realen Alltags-begebenheit aus und suchen nach einer wirklichkeitsnahen Lösung für diese. So ergießt sich eine Flut von Anträgen und Anfragen über die Länderparlamente. Dabei fällt es vor allem Abgeordneten vom Typus des Volksboten nicht immer leicht, die selbst erfahrene alltägliche Mikrowelt mit der zu den sekundären Systemen gehörenden politischen Makrowelt zu verknüpfen d. h. im Einzelfall das allgemeine Problem zu erkennen und dafür generelle Regelungen auszuarbeiten. So urteilt denn auch Hans Heigert etwas hochmütig-herablassend: „Der Landtagsabgeordnete befördert nicht Nachdenken und Erneuerung. Zwar schwadroniert er über vieles. Aber es ist ziemlich egal, was er über die komplizierten Themen der Gegenwart wirklich weiß.“ • Sicher, auch dem ständigen Beobachter des parlamentarischen Lebens bleibt nicht verborgen: Auf der einen Seite gehen Abgeordnete in der alltäglichen Wahlkreisarbeit auf und überbieten sich gegenseitig in der Einzelfallkontrolle; auf der anderen sind ihre Debatten häufig genug in steriler Weise von ihren Lebens-und Berufserfahrungen abgesetzt. Dabei — und hier muß ich Heigert widersprechen — kann es für die Öffentlichkeit gar nicht so gleichgültig sein, was sie über die von ihnen erfahrene und reflektierte Lebenswirklichkeit zu sagen haben
Dem Alltags-und dem Berufsleben verbundene Abgeordnete scheinen für die Funktionsfähigkeit eines lebendigen Länderparlamentarismus unent-behrlich — aber können sich diese unter den Bedingungen einer arbeitsteiligen Gesellschaft entwikkein und behaupten? Das setzt doch voraus, daß sich die parlamentarische Sitzungspräsenz in Grenzen hält, ohne damit die Funktionsfähigkeit der Landtage in Mitleidenschaft zu ziehen. Dem Stutt garter Landtag scheint dies besser gelungen zu sein als der Hamburgischen Bürgerschaft. Hatte die in Stuttgart erprobte Begrenzung der Sitzungszeit zur folge, daß mehr Freiberufler, Gewerbetreibende, Arbeiter und Angestellte auf den dortigen Abgeordnetensitzen zu finden sind? Ein Vergleich mit dem bayerischen und hessischen Vollzeitlandtagen bringt eine Überraschung: Der Anteil dieser Berufskategorien in allen drei Länderparlamenten ist mit rund 20 bis 25 Prozent fast gleich groß. Diäten-höhe und Sitzungspensum haben offensichtlich kaum einen Einfluß auf das Sozialprofil der Landtagsabgeordneten in den Flächenländern. Noch mehr als in anderen Landtagen überwiegen aber in Stuttgart mit über 50 Prozent die Beamtenabgeordneten. vielleicht auch deshalb, weil sie aufgrund der in Baden-Württemberg zugelassenen „weichen“ Inkompatibilität als Bürgermeister und Lehrer weiterhin amtieren dürfen.
Der geringe Einfluß der Stuttgarter „Mischregelung“ auf das Sozialprofil des baden-württembergischen Landtags wirft Fragen auf. Ist der Grund hierfür in der Karrierisierung des parlamentarischen Lebens, verbunden mit einer Demokratisierung der Parteien, zu suchen? Kandidaten werden heute nicht mehr von einigen Honoratioren aufs Schild gehoben, über ihre Auswahl entscheiden Mitgliederversammlungen. Nur der Kandidat hat hierbei eine Chance, der sich als kommunaler Mandatsträger oder Parteifunktionär schon Meriten erworben hat. Das erfordert bereits im Vorfeld der Kandidatenaufstellung einen hohen, von abkömmlichen Beamten eher als von Angehörigen privater Berufe zu leistenden Zeiteinsatz. Und nach der geglückten Wahl hört dieser nicht auf. Mehr als früher müssen heute Abgeordnete ihrer Basis Rede und Antwort stehen. Das ist verständlich. Mit den an sich knappen Zeitdeputaten des Parlamentariers wird aber Mißbrauch getrieben, wenn Funktionäre und Bürgermeister erwarten, daß dieser allen mögliehen und unmöglichen Zusammenkünften durch seine bloße Präsenz Glanz verleiht. Wenn Parteien mehr Angehörige von privaten Berufen in den Landtagen sehen wollen, so müssen sie sich auch dazu bereit finden, auf einen Teil dieser bereits zur schlechten Angewohnheit gewordenen Teilnahme-zwänge zu verzichten.
Um der politischen Professionalisierung vor allem in den Landtagen entgegenzuwirken, könnte man sich noch einen anderen Weg vorstellen: Die zeitliche Begrenzung des Mandats. Diese hätte den Vor-teil, daß sich auch der Vollzeitabgeordnete gezwun8en sähe, die Verbindung mit seinem Beruf nicht dbreißen zu lassen. Ein sich „Anonymus“ nennender Autor — verbirgt sich dahinter ein Richter? — hat die Begrenzung des Mandats auf zwei Legislaturperioden angeregt, ohne jedoch die politischen Konsequenzen seines Vorschlags ganz zu bedenken
In der parlamentarischen Demokratie werden nicht nur die Regierungen in unterschiedlicher Weise durch die Parlamente bestellt, sondern aus diesen gehen auch in der Regel die Minister hervor. Es braucht aber eine gewisse Zeit, bevor ein Abgeordneter parlamentarische Leitungsfunktionen wie Fraktions-oder Ausschußvorsitz übernehmen oder als ministrabel gelten kann, d. h. die für ein Ministeramt notwendigen politischen Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Fingerspitzengefühl und Überzeugungskraft in den Auseinandersetzungen des parlamentarischen Lebens erworben hat. Sieht „Anonymus“ nicht, daß bei einer Mandatsbegrenzung das parlamentarische Regierungssystem einen seiner Rechtfertigungsgründe einbüßen würde? Oder strebt er bewußt ein stärker gewaltenteiliges System in den Ländern an? Vielleicht meint er auch nur, den Länderregierungen könne eine Blutauffrischung durch Außenseiter gut tun
Es bleibt die Frage bestehen: Wie ist es möglich, für einen Teil der Landtagsabgeordneten die Verbindung von Mandat und Beruf offenzuhalten? Soviel ist bereits deutlich geworden: Dafür gibt es kein rasch wirksames Allheilmittel. Wenn die Landtage dies ernsthaft wollen, müssen sie sich einer Politik des geduldigen Bretterbohrens verschreiben. Dazu gehört unter anderem: Besinnung auf ihre wesentlichen Funktionen, Straffung der Sitzungszeit und Bereitstellung von Hilfsdiensten. Sollten sie aber nicht auch darüber nachdenken, wie es verfassungsrechtlich wieder zulässig werden könnte, individuell gestaffelte Diätenzuschläge zu gewähren; um mandatsbedingte wirtschaftliche Nachteile bei den Abgeordneten auszugleichen, d. h. ihnen als Freiberufler oder Gewerbetreibenden zu ermöglichen, einen (Teilzeit-) Vertreter anzustellen? Das einer solchen Praxis noch entgegenstehende „Diätenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1975 beurteilt „Anonymus“ als unhaltbar Vor allem aber sind die für die Selektionen der Parlamentskandidaten verantwortlichen Parteiorganisationen aufgefordert, Verständnis für das komplexe Abgeordnetenbild des Länderparlamentarismus zu entwickeln. Die schlichte Alternative „Volloder Teilzeitabgeordnete“ wird den Funktionen und Notwendigkeiten der Landtage in den Flächenstaaten keinesfalls gerecht. Diese benötigen beide: Den Vollzeit-und den Teilzeitabgeordneten. Ersterer ist zur Rekrutierung des Regierungspersonals und zur Aufrechterhaltung der Parlamentsmaschinerie unentbehrlich. Wer ihn aber verantwortlich machen will für den Niedergang der parlamentarischen Gemeinwohlorientierung, verkennt, daß er bei vielen Entscheidungsfragen unabhängiger von wirtschaftlichen und sozialen Interessen sein kann als der noch in seiner beruflichen Lebenswelt stehende Abgeordnete
Eines ist aber richtig beobachtet: Da der Vollzeitparlamentarier ausschließlich von und für die Politik lebt, stellt diese für ihn nicht nur allgemeinverbindliches Entscheidungshandeln, sondern auchein Mittel zur privaten Existenzsicherung dar. So gerät er leicht in die Versuchung, sich an einem großzügigen Ausbau der Diätenregelung nach der Devise: „Macht macht erfinderisch“ zu beteiligen Im Unterschied zu ihm ist der noch teilweise einem Beruf nachgehende Abgeordnete nicht so stark auf die Politik als seine soziale und geistige Existenzsicherung angewiesen, d. h. er bewahrt sich eine gewisse Unabhängigkeit von ihr. Doch nicht nur aus diesem Grunde sollte er einen Platz im Parlament finden; kann er nicht auch aufgrund seiner unmittelbaren Berufserfahrung, verbunden mit einer Lebensweltreflexion, den Landtagen helfen, ihre Artikulations-und Kontrollfunktionen im gesamtstaatlichen System wirksam zu erfüllen?
Herbert Schneider, Dr. phil., Dr. rer. pol., geb. 1929; o. Professor für Politikwissenschaft an da Pädagogischen Hochschule Heidelberg; Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Länderparlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 197) Die Interessenverbände. München 19795; Kreispolitik — Eine vergleichende Untersuchung, Münche 1985; (zus. mit S. Schiele) Konsens und Dissens in der politischen Bildung, Stuttgart 1987; (Hrsg.) Ve bände in Baden-Württemberg, Stuttgart 1987; Ländliche Kommunalpolitik, München 1989.