Mehr Substanz in den Ost-West-Beziehungen Zur dritten KSZE-Folgekonferenz in Wien
Wilhelm Bruns
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Zusammenfassung
Die 35 KSZE-Staaten konnten sich auf ein ausgewogenes und substantielles Schlußdokument in Wien verständigen. Die Ausgewogenheit bezieht sich auf alle drei Körbe der KSZE-Schlußakte: aufdie politisch-militärische. die ökonomische und die humanitäre Dimension. Substantiell ist das Wiener Schlußdokument, weil es — wenn auch mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad — neue Verabredungen über den grenzüberschreitenden Verkehr (Freizügigkeit) enthält, aber auch notwendige Voraussetzungen für die Aufnahme zweier für die europäische Sicherheit zentraler Konferenzen schafft: einer Konferenz über konventionelle Abrüstung in Europa (KRK) und die Fortsetzung einer Konferenz über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen (KVAE).. Die beiden deutschen Staaten sind am KSZE-Prozeß gleichberechtigt beteiligt. Ihre wechselseitigen Beziehungen können insbesondere durch die Freizügigkeitsverabredungen zusätzliche Impulse erhalten. Die Dynamik in den Ost-West-Beziehungen hat durch das Wiener Schlußdokument eine Richtung erhalten, die für die Begegnungswünsche von Menschen aus Ost und West wichtig ist.
Vorbemerkung Nach mehr als zweijährigen Verhandlungen gelang es den 35 KSZE-Staaten, sich auf ein ausgewogenes und substantielles Schlußdokument in Wien zu verständigen. Auf der 162. Plenarsitzung am 15. Januar 1989 einigten sich die Delegationsleiter auf ein Ergebnis, das bei Konferenzbeginn am 4. November 1986 von vielen gewünscht, aber von keinem so erwartet wurde. Im folgenden soll nicht die Geschichte des KSZE-Prozesses dargestellt werden; auch soll es nicht um die politische Bedeutung der KSZE-Schlußakte gehen 1). Vielmehr stehen drei Fragen im Vordergrund:
a) Wie ist das Ergebnis zu bewerten? (Dies ist die Frage nach der Substanz des Schlußdokuments von Wien.)
b) Was waren die Hauptpunkte der Kontroverse zwischen den beteiligten Staaten? (Diese Frage soll die Gründe erläutern, warum es nicht gelang, den ursprünglichen Zeitplan [31. 7. 1987] einzuhalten.)
c) Die Frage nach den Perspektiven des KSZE-Prozesses soll den Abschluß bilden. 2. Der „Durchbruch“
Noch am 25. März 1988 meinte der Delegationsleiter der Bundesrepublik, Ekkehard Eickhoff, stellvertretend für andere, die Wiener Konferenz sei von „großen Fortschritten weit entfernt“ Dies war der Tenor auch aller sonstigen Stellungnahmen zum Stand der KSZE-Beratungen bis weit in den Herbst des Jahres 1988 hinein. Die Gründe für diese Zustandsbeschreibung waren mannigfach; hier seien nur zwei beispielhaft erwähnt:
-Was als Fortschritt zu gelten hatte, war unter den KSZE-Teilnehmerstaaten durchaus umstritten: Während die USA den Fortschritt abhängig machten von sowjetischen Zugeständnissen in der Menschenrechtsfrage, suchten die Warschauer-Pakt-Staaten Fortschritte zu erzielen bei einem Mandat für eine Konferenz über konventionelle Abrüstung in Europa (KRK). Hinzu kam ein innerwestlicher Dissens in der Gewichtung einzelner Elemente des KSZE-Prozesses: Während die Bundesrepublik alle Elemente, also die politische, die militärische, die ökonomische und die humanitäre Komponente stärken wollte, waren die USA, Frankreich und Großbritannien primär an der Menschenrechtsverwirklichung im Bereich der Warschauer-Pakt-Staaten interessiert. Daneben gab es den „Sonderkonflikt“ zwischen Ungarn und Rumänien wegen der Behandlung der Minderheiten in Rumänien und der rumänischen Weigerung, einem substantiellen Dokument zuzustimmen. — Obgleich der Osten in der humanitären Komponente dem Westen stark entgegengekommen war, suchte der Westen präzisere Festlegungen. Da es nach längeren Verhandlungen gelang, sich auf konkrete Empfehlungen, insbesondere im menschen-rechtlichen Bereich zu verständigen, kam es um die Jahreswende 1988/89 zum „Durchbruch“. Der Verlauf und die Ergebnisse des KSZE-Treffens in Wien zeigen, daß die westlichen Staaten nach besseren Regelungen im „Korb 3“ (größere Freizügigkeit) verlangten und daß die UdSSR — aber auch andere Warschauer-Pakt-Staaten wie etwa die DDR — Entgegenkommen signalisierten und so einen Abschluß möglich machten.
Es waren auch bei dieser Folgekonferenz die soge-nannten N-N-Staaten (also die Neutralen und Blockunabhängigen), die als Koordinatoren in den jeweiligen Arbeitsgruppen wie als Gruppe insgesamt die Wiener KSZE-Konferenz zu einem Erfolg führten. Sie legten am 18. Dezember 1988 einen neuen Entwurf für ein Schlußdokument vor.der im wesentlichen den Text des bereits im Mai 1988 von den N-N-Staaten in Wien vorgelegten Entwurfs enthält, und von den 35 KSZE-Teilnehmern „angenommen“ wurde — wobei Annahme hier bedeutet, daß keiner der 35 KSZE-Staaten mit Ausnahme Rumäniens interpretatorische Einwände erhoben hat. 3. Politischer Klimawandel in Wien Die Beratungen im Rahmen der dritten KSZE-Konferenz haben einige interessante Erkenntnisse zutage gefördert, von denen hier vier stichwortartig genannt werden sollen: — Die Meinungsunterschiede verliefen nicht nach dem bekannten Ost-West-Schema. Dies galt sowohl für den Westen wie für den Osten. So gab es sowohl im Falle des Mandats für die KRK wie beim Projekt einer neuen Ost-West-Wirtschaftskonferenz erhebliche Meinungsunterschiede innerhalb der westlichen Staatengruppe, d. h. zwischen den USA und Frankreich im Falle des KRK-Mandats, im Falle der Wirtschaftskonferenz zwischen den USA und den EG-Staaten, um nur diese beiden Beispiele zu nennen. Im östlichen Bereich wurde der bilaterale Konflikt zwischen Ungarn und Rumänien wegen der Behandlung ungarischer Minderheiten in Rumänien zu einem KSZE-Thema. Zwischen der Türkei und Griechenland, zwischen zwei NATO-Staaten also, gab es einen heftigen Konflikt wegen der Einbeziehung der türkischen Provinz Mersin, deren Küste Zypern gegenüberliegt, in die KRK-Verhandlungen. — Im KSZE-Prozeß reicht es nicht, wenn die beiden Großmächte USA und UdSSR sich einig sind. Es kommt aufjeden der 35 KSZE-Staaten an. Dieses „demokratische“ und antihegemoniale Prinzip findet seinen formalen Ausdruck in der festgelegten Konsensregel, das heißt, es kommt nur dann eine Vereinbarung zustande, wenn keiner der 35 KSZE-Länder dagegen ist. Ein solches „demokratisches“ Prinzip kann auch mißbraucht werden, indem ein einziges Land alles blockiert und von der jeweiligen Führungsmacht nicht mehr diszipliniert werden kann. Rumänien hat lange Zeit diese Blockade-Rolle gespielt. — Bestätigt hat sich der ergebnisorientierte Einfluß der Neutralen und Nichtpaktgebundenen, denen alle Ingredienzen der Machtausübung fehlen, die aber im KSZE-Prozeß ihre Koordinierungsfähigkeit auch gegenüber den Großmächten zum Einsatz bringen. — Deutlich wurde auch die konstruktive Rolle der beiden deutschen Staaten, die in Wien als wichtige KSZE-Staaten kompromißfähig waren und so ihre Verantwortung für die weitere Entwicklung von Entspannung und Abrüstung in Europa unter Beweis stellten. Was waren die wichtigsten Streitpunkte?
Auf den Feldern, wo es die größten Schwierigkeiten gab, gab es dann auch die größten Fortschritte. Dies ist der wichtigste Befund nach der dritten KSZE-Folgekonferenz in Wien. Die größten Kontroversen, die schwierige, immer wieder unterbrochene Verhandlungen auslösten, waren:
— das Mandat über eine neue Konferenz über konventionelle Abrüstung in Europa;
— weitere Konkretisierungen im Korb 3, also zur humanitären Komponente des Entspannungsprozesses, und nicht zuletzt — die „Mischung“ von Zugeständnissen, die letztlich zu substantiellen und ausgewogenen Ergebnissen führte.
Die Redner, zumeist die Außenminister der KSZE-Staaten. haben in der abschließenden Runde vom 17. bis zum 19. Januar 1989 in Wien Einigkeit in drei Punkten gezeigt:
— Das Ergebnis ist ausgewogen und substantiell. — Es rechtfertigt Optimismus, daß die Ost-West-Beziehungen auf gutem Wege sind.
— Ohne die Zugeständnisse der UdSSR sowohl in Menschenrechtsfragen wie beim Mandat über konventionelle Abrüstung wäre es in Wien nicht zu dem von allen gelobten Ergebnis gekommen. a) Zur Konferenz über konventionelle Abrüstungin Europa (KRK)
Nach schwierigen Beratungen gelang es den 16 NATO-Staaten und sieben Warschauer-Pakt-Staaten („Gruppe der 23“), sich auf ein Mandat für Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa zu verständigen 4). Die Verständigung erstreckt sich auf den Teilnehmerkreis, das Verhandlungsziel, die Methode, wie das Ziel zu erreichen ist. und auf das Verhandlungsgebiet. Während diese Elemente klar umrissen sind, ist der Verhandlungsgegenstand nicht ganz so klar festgelegt, so daß es hier durchaus noch Diskussionen zu Beginn der eigentlichen Verhandlungen, die im März 1989 beginnen sollen, geben kann. In der Übersicht sieht das Verhandlungs-Tableau so aus:
Ziel: Festigung der Stabilität und Sicherheit in Europa durch die Schaffung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte, das konventionelle Bewaffnung und Ausrüstung einschließt, auf niedrigerem Niveau; die Beseitigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für die Stabilität und Sicherheit sind; vor allem aber — als vorrangige Angelegenheit — die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung großangelegter offensiver Handlungen.
Methode: Diese Ziele sollen durch die Anwendung militärisch bedeutsamer Maßnahmen — u. a. Reduzierungen, Begrenzungen, Bestimmungen zu Umdislozierungen, gleiche Obergrenzen und ähnliche Maßnahmen — erreicht werden. Teilnehmerkreis: Alle 16 NATO-Staaten und die sieben Warschauer-Pakt-Staaten. Verhandlungsgebiet: Das gesamte Landterritorium derTeilnehmer-Staaten in Europa vom Atlantik bis zum Ural, das alle europäischen Inselterritorien der Beteiligten einschließt. Im Falle der UdSSR schließt das Anwendungsgebiet das gesamte Territorium westlich des Ural-Flusses und des Kaspischen Meeres ein. Im Falle der Türkei schließt das Anwendungsgebiet das Territorium der Türkei nördlich und westlich der folgenden Linie ein: Schnittpunkt der Grenze mit dem 39. Breitengrad und von dort zum Meer.
Verhandlungsgegenstand: Gegenstand sind die auf Land stationierten konventionellen Streitkräfte der Teilnehmer sowie ihre konventionelle Bewaffnung und Ausrüstung innerhalb des Territoriums der Teilnehmer-Staaten in Europa vom Atlantik bis zum Ural. Kernwaffen werden nicht Gegenstand dieser Verhandlungen sein. Seestreitkräfte und chemische Waffen werden nicht behandelt. Keine konventionelle Bewaffnung oder Ausrüstung wird deshalb als Verhandlungsgegenstand ausgeschlossen, weil sie neben konventioneller auch andere Einsatzfähigkeiten haben kann. Solche Bewaffnung oder Ausrüstung wird nicht als eine gesonderte Kategorie herausgestellt.
Verhandlungsbeginn: März 1989.
Verhandlungsort: Wien.
Die Einigung auf ein solches Mandat für die Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa ist auch in der Substanz ein echter Durchbruch. Die Verhandlungen können jetzt nicht nur beginnen, sondern sie können auch auf einer Konsens-Basis geführt werden, bei der zahlreiche mögliche Streitpunkte vorher geklärt wurden.
Die Teilnehmer der KRK müssen noch definieren, welche Kategorien doppelt verwendbarer Waffen -also Kampfflugzeuge, Artillerie und Raketen — in die Verhandlungen mit einbezogen werden. Hier gibt es einen Dissens zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt Sehr detailliert sind auch die Verifikationsbestimmungen: Alle Maßnahmen werden durch ein wirksames Verfahren überprüft, das Vor-Ort-Inspektionen und einen verbindlichen Informationsaustausch einschließt.
Die parallel laufenden Verhandlungen über konventionelle Abrüstung und über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen sind insofern miteinander verbunden, als die 23 KRK-Staaten die anderen Unterzeichnerstaaten der KSZE-Schlußakte mindestens zweimal während einer Verhandlungsrunde unterrichten, die Ansichten der Gruppe der „Neutralen und Nichtpaktgebundenen“ berücksichtigen und diese auch auf bilateralem Weg informieren.
Gesichert ist die Autonomie der KRK-Verhandlungen, das heißt, die KSZE hat weder ein Einspruchs-noch ein Verfügungsrecht über Art, Verlauf und Dauer der KRK-Verhandlungen. Die KRK-Staaten werden das 4. KSZE-Folgetreffen 1992 über ihre Verhandlungen unterrichten wie auch über „deren mögliche Ergebnisse“. Wichtig ist, daß beide Seiten sich das Ziel gesetzt haben, Höchst-grenzen von Streitkräften festzulegen. Keine Einigung gab es darüber, wie diese Höchstgrenzen ziffernmäßig aussehen sollen. Optimisten rechnen mit ersten Verhandlungsergebnissen in etwa fünf Jahren. Es wird auf die Kompromißfähigkeit beider Seiten ankommen wie auf die Verhandlungsfähigkeit ihrer jeweiligen Vorschläge, damit dieser Zeitraum verkürzt wird. Der Warschauer Pakt hat durch eine Reihe von einseitigen Vorleistungen für ein günstiges Verhandlungsklima gesorgt
Die seit 1973(1) ergebnislos verlaufenden MBFR-Gespräche sind am 2. Februar 1989 einvernehmlich beendet worden. Die Teilnehmerstaaten verwiesen immerhin auf die „wertvollen Erfahrungen“, die sie gesammelt hätten, stellten jedoch fest, daß das Maß an Übereinstimmung für einen Vertragsabschluß dicht ausgereicht hätte.
Der KSZE-Prozeß hat eine neue Qualität insofern gewonnen, als die konventionelle Abrüstung, die in der KSZE-Schlußakte von Helsinki noch eine marginale Rolle spielte und bislang in einem gesonderten Verhandlungsforum behandelt wurde — nämlich bei MBFR — nun durch die KRK, die im März 1989 beginnen soll, zum Bestandteil der KSZE geworden ist. Damit umfaßt der KSZE-Prozeß alle Komponenten der Ost-West-Beziehungen: neben der politischen und militärischen die ökonomische, ökologische, wissenschaftlich-technische sowie die humanitäre Komponente. b) Zur Konferenz über vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen (KVAE)
Beim Thema der „vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen“ gibt es eine völlig neue Situation: Lange Zeit handelte es sich um eine Forderung des Westens an den Osten. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Es war ein genuin westliches Thema, das beim Warschauer Pakt auf Skepsis oder sogar Ablehnung stieß. Seit der Annahme des Stockholmer Dokuments über vertrauensbildende Maßnahmen vom September 1986 ist dieses Thema ein gemeinsames Ost-West-Thema geworden.
Heute ist es der Warschauer Pakt, der dem Westen unaufhörlich Vorschläge für eine Infrastruktur des Vertrauens unterbreitet — und heute ist es die NATO, die Probleme damit hat, östliche Vorschläge aufzunehmen und angemessen zu beantworten. Die NATO hat vor allem Probleme mit dem umfassenden Ansatz des Warschauer Pakts. In Budapest haben die Außenminister des östlichen Militärpakts am 28. 729. Oktober 1988 eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, die auf die „gesamte militärische Tätigkeit“ angewandt werden müßten. Das bedeutet, die Offensive liegt heute bei der UdSSR, der DDR, Polen und Ungarn
Die Passage des Wiener Schlußdokuments zur KVAE ist nicht so umfassend und präzise wie das Mandat zur Konferenz über konventionelle Abrüstung. Die KSZE-Teilnehmerstaaten sind übereingekommen, daß Verhandlungen über vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen stattfinden werden, „um auf den bereits bei der Stockholmer Konferenz erzielten Ergebnissen aufzubauen und sie zu erweitern“. Mit diesem „Dokument von Stockholm“ vom 19. September 1986 haben 35 Staaten etwas bewiesen, das auch für die Beratungen in Wien von zentraler Bedeutung gewesen ist, nämlich den Willen und die Fähigkeit zum Kompromiß. Ohne diese Kompromißfähigkeit wäre es in Stockholm nicht gelungen, sich auf wichtige vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen zu verständigen: Ab dem 1. Januar 1987 müssen alle militärischen Manöver und Truppenverlegungen in Europa über 13 000 Soldaten oder 300 Panzer zumindest 42 Tage vorher angemeldet werden. Wenn an solchen Manövern und Truppenverlegungen über 17 000 Mann teilnehmen, müssen militärische Beobachter sämtlicher Teilnehmerstaaten rechtzeitig dazu eingeladen werden. Jedes Jahr wird ein sogenannter Jahreskalender der militärischen Manöver und Truppenverlegungen ausgetauscht. Bis zuletzt umstritten waren die Regelungen über Verifikationsmaßnahmen. Hier gab es dann den größten Fortschritt in den Ost-West-Beziehungen mit Folgen für die militärische Entspannung. Der Sowjetunion konnte das Einverständnis abgerungen werden, Kontrollmaßnahmen auf ihrem eigenen Territorium (Inspektionen vor Ort) zuzulassen. Dreimal im Jahr muß sich jedes Land Inspektionen gefallen lassen, ohne dagegen Ablehnungseinwände vorbringen zu können. Mit diesen neuen, konkreten Maßnahmen wurde der völkerrechtliche Gewalt-verzicht im Rahmen der KVAE konkretisiert. Die in Stockholm vereinbarten Maßnahmen haben sich nach Meinung aller Beteiligten uneingeschränkt bewährt. Bei der Fortsetzung der KVAE (also der KVAE II) in Wien geht es um das Ziel, „einen neuen Satz einander ergänzender vertrauens-und sicherheitsbildender Maßnahmen auszuarbeiten und anzunehmen, die darauf gerichtet sind, die Gefahr einer militärischen Konfrontation in Europa zu vermindern“. Im Wiener Schlußdokument wird hinzugefügt, daß diese Verhandlungen in „Übereinstimmung mit dem Madrider Mandat“ stattfinden werden. Das bedeutet, der Gegenstand selbst wird nicht im einzelnen festgelegt. Im Prinzip kann jeder Staat jeden Vorschlag einbringen mit dem Etikett „vertrauens-und sicherheitsbildend“, wenn dieser Vorschlag die „Gefahr einer militärischen Konfrontation in Europa“ vermindert. Jedoch sind mit dem Verweis auf das „Madrider Mandat“ (gemeint ist hier das abschließende Dokument des zweiten KSZE-Treffens in Madrid vom 6. September 1983) vier Kriterien eingeführt worden, die helfen können, zu klären, was nach KSZE-Maßstäben unter den weiten Begriff „vertrauens-und sicherheitsbildend“ fällt: Danach müssen vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen militärisch bedeutsam und politisch verbindlich sein, von angemessenen Formen der Verifikation begleitet werden und auf ganz Europa anwendbar sein
Damit ist der Rahmen abgesteckt. Unter Berücksichtigung der bisherigen Diskussion und der bekannt gewordenen Vorschläge lassen sich drei Kategorien von vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) bilden:
— Weiterentwicklung der VSBM des Helsinki-Typs, das heißt von Maßnahmen, die auf mehr Transparenz gerichtet sind. Im einzelnen geht es hier um die Verbesserung der Modalitäten bei der Ankündigung und Beobachtung von Manövern.
— Maßnahmen, die den Umfang und die Häufigkeit von Manövern einschränken sowie manöver-freie Räume festlegen (etwa in Grenznähe).
— Diskussion über militärische Optionen und Doktrinen mit dem Ziel, zu Vereinbarungen über defensive Strukturen, Dislozierungen und Ausbildungsinhalte zu kommen
Es ist zu erwarten, daß die 35 Teilnehmer der KVAE II zu allen Kategorien von vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen sich auf weitergehende Vereinbarungen verständigen werden. Am schwierigsten, wenngleich am wichtigsten, wird die Diskussion über militärische Optionen und Doktrinen werden. Sowohl die NATO wie der Warschauer Pakt haben signalisiert, daß sie zu substantiellen Gesprächen bereit seien. „Militärdoktrinen müssen daraufhin überprüft werden, ob und wieweit sie noch offensive, ja sogar aggressive Elemente enthalten.“ c) Die humanitäre Komponente Völlig unerwartet haben sich die 35 KSZE-Staaten in einem Bereich auf weitergehende und präzisere Verabredungen geeinigt, der aus der Sicht des Westens der wichtigste, aus der Sicht der Warschauer-Pakt-Staaten der schwierigste ist: den der „Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen“.
Das vorliegende Wiener Schlußdokument ist von folgendem Grundgedanken gekennzeichnet: Es geht um die politische Förderung und administrative Erleichterung aller grenzüberschreitenden Begegnungen. Ein Durchbruch ist hier auch das fixierte Regel-Ausnahme-Verhältnis: Die Regel ist. daß die Teilnehmerstaaten das „Recht eines jeden aufFreizügigkeit und freie Wahl des Aufenthaltsortes innerhalb der Grenzen eines jeden Staates und aufAusreise aus jedem Land, darunter auch seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land uneingeschränkt (Herv. W. B.) achten ... .“ Einschränkungen dieses Rechts sind also die Ausnahme! Dies gilt auch für den Bereich der Familienbegegnungen und Familienzusammenführung.
Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis verlangt von einigen Staaten eine Umkehrung ihrer bisherigen Praxis, die immer noch Reisen in ein anderes Land als Ausnahme versteht
Zum erstenmal ist in einem KSZE-Dokument die vom Westen geforderte Freizügigkeit — detailliert und als Regelfall — beschrieben. Bei der administrativen Erleichterung des grenzüberschreitenden Besucherverkehrs sind die Staaten aufgefordert, die „Möglichkeiten für eine schrittweise Herabsetzung und schließlich Abschaffung aller etwaiger Erfordernisse an Reisende, Landeswährung über tat-sächliche Ausgaben hinaus zu erwerben, in Erwägung (zu) ziehen und dabei den Personen den Vorrang (zu) geben, die zum Zweck von Familienbegegnungen reisen.“ Eine solche Passage hat natürlich auch eine deutschlandpolitische Komponente, denn sie zielt auf den „Zwangsumtausch“, den die DDR verlangt.
Bei dieser Passage gibt es eine Differenz zwischen der offiziellen deutschen Fassung und dem Wortlaut im „Neuen Deutschland“ (vom 21 , /22. 1. 1989, S. 6). Vereinbart ist, daß die Möglichkeiten zur Herabsetzung und schließlichen Abschaffung des Zwangsumtauschs in Erwägung zu ziehen ist. Im „Neuen Deutschland“ ist lediglich unverbindlich davon die Rede, daß dies nur zu „prüfen“ sei. Bedeutet diese sprachliche Nichtübereinstimmung zwischen der offiziellen deutschen Fassung und der Wiedergabe im „Neuen Deutschland“ einen interpretatorischen Versuch der DDR, die multilaterale Vereinbarung einseitig im deutsch-deutschen Verhältnis zu unterlaufen?
Wichtig ist auch der sogenannte dreistufige Konsultations-und Überprüfungsmechanismus für die Einhaltung der Menschenrechts-Vereinbarungen mit bilateralen Bemühungen sowie dem Recht eines jeden KSZE-Staates, ungelöste Fälle im Kreise der 35 oder bei einer der drei vorgesehenen Konferenzen über Menschenrechte (1989 in Paris, 1990 in Kopenhagen und 1991 in Moskau) vorzubringen. In den Bereich der Menschenrechte fallen auch die detaillierten Beschreibungen der Religionsfreiheit, der Rechte von Glaubensgemeinschaften sowie nationaler Minderheiten, das Recht von einzelnen bzw. Gruppen, die Einhaltung der Menschenrechts-Verpflichtungen zu überwachen sowie verbesserte Rechtsmittel gegen Verstöße. Die politischen Verpflichtungen enthalten also sowohl materielle wie prozedurale Fortschritte. d) Zum Korb 2: ökonomische Ost-West-Kooperation und Zusammenarbeit in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Umwelt Ost und West sind sich in zwei Punkten einig: Der seit Jahren stagnierende Ost-West-Handel ist ohne Strukturveränderungen in seinem Volumen nicht zu vergrößern und eine weitere Teilung Europas. nämlich die technologische Teilung, darf nicht zugelassen werden. Leider hat diese Einigkeit bisher nicht zu konkreten Vorschlägen und verwertbaren Vereinbarungen geführt, die schon bald erhebliche Verbesserungen der Ost-West-Kooperation erbringen können. Statt dessen wird manches wiederholt, was sich schon 1975 in der KSZE-Schlußakte findet; so etwa die Empfehlung: „Zur leichteren Erfassung von Marktchancen werden die Teilnehmerstaaten die Veröffentlichung und Bereitstellung umfassender, vergleichbarer und rechtzeitig verfügbarer wirtschaftlicher und kommerzieller Informationen weiter fördern.“ Die Wiederholung dieser Empfehlung deutet auf erhebliche Defizite bei der Transparenz von Wirtschaftsabläufen hin.
Bei der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit geht es aktuell u. a. um Maßnahmen zur Eindämmung von AIDS und um die Erforschung der Langzeitfolgen von Strahleneinwirkung. Im Umweltbereich ist man sich einig darüber, daß beispielsweise Schwefelemissionen bzw.deren grenzüberschreitende Verbreitung rasch und wirksam verringert werden müssen. Weiter geht es um die Kontrolle und Verringerung von Stickstoffoxidemissionen bzw. ihrer grenzüberschreitenden Verbreitung. Hier wird man möglicherweise weiterkommen im bi-bzw. trilateralen Rahmen. Eine Umweltkonferenz, die 1989 in Sofia stattfinden wird, soll sich mit der Schaffung eines Frühwarnsystems, dem Ausbau des Informationsaustausches sowie mit der gegenseitigen Hilfe bei Industrieunfällen befassen.
Die einzige der KSZE-Spezialkonferenzen, die in der Bundesrepublik stattfinden wird, ist die Ost-West-Wirtschaftskonferenz. Die „Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa“ wird vom 19. März bis 11. April 1990 in Bonn stattfinden. Ein ausformuliertes Mandat für diese Konferenz gibt es noch nicht. Es wird hier um einen Meinungsaustausch von Vertretern der Regierungen aus Ost und West sowie der Privatwirtschaft über Verbesserungen der ökonomischen Ost-West-Zusammenarbeit gehen. 5. KSZE-Spezialtreffen bis 1992 Der KSZE-Prozeß geht weiter. Er manifestiert sich in einer dichten Abfolge von Konferenzen, auf denen wichtige Themen behandelt werden mit dem Ziel, das zu konkretisieren, was sich die 35 KSZE-Staaten vorgenommen haben: Verläßliche Sicherheit durch weniger und andere Waffen sowie durch intensivere Zusammenarbeit in allen Bereichen. Dazu eine Übersicht über KSZE-Spezialtreffen bis 1992: 6. Perspektiven: Verlangt wird die KSZE-Fähigkeit der Staaten Das Schlußdokument von Wien verlangt von einigen Staaten mehr als von anderen. Dies liegt an den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen wie an der insbesondere im menschenrechtlichen Teil restriktiven Praxis in einigen Staaten.
Der weitere KSZE-Prozeß verlangt auf jeden Fall die KSZE-Fähigkeit der Staaten. KSZE-fähig ist der Staat, der seine Politik im Innern den KSZE-Verabredungen anpaßt und nicht etwa den Versuch macht (wie dies offensichtlich im Falle Rumäniens bereits geschehen ist), die Verabredungen umzudeuten und sich ansonsten hinter der Formel von den inneren Angelegenheiten, in die sich niemand einmischen dürfe, zu verstecken. Eine solche KSZE-Unfähigkeit würde beim nächsten Treffen der 35 Staaten in Helsinki zur Sprache kommen.
Zur KSZE-Fähigkeit heißt es im Wiener Schlußdokument, daß die Teilnehmerstaaten die Bestimmungen über Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen im Rahmen ihrer Gesetze und Verordnungen gewährleisten, wobei die Teilnehmerstaaten davon ausgehen, daß diese Gesetze und Verordnungen mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen übereinstimmen. Mahnend wird hinzugefügt, daß diese Gesetze und Verordnungen mit ihren KSZE-Verpflichtungen in Einklang gebracht werden müssen, soweit dies noch nicht geschehen ist.
Wie es in den Ost-West-Beziehungen konkret weitergehen soll, ist im KSZE-Schlußdokument von Wien beschrieben worden, wenn auch mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad. Wie es tatsächlich weitergehen wird, hängt von einer Reihe von äußeren und inneren Bedingungen ab, die das Verhalten der KSZE-Staaten bestimmen. Entscheidend ist der politische Wille der 35 Teilnehmer-staaten.
Die dichte Konferenzfolge mit der 4. Überprüfungskonferenz der KSZE 1992 in Helsinki sichert nicht nur die Fortsetzung des KSZE-Prozesses, sondern übt auch den nötigen Druck auf die KSZE-Teilnehmer aus, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Man kann hier dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker nur zustimmen: „Jetzt kommt es darauf an, das Vereinbarte im Sinne der Festigung der Stabilität des KSZE-Prozesses, der Stärkung friedlicher und gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit in die Tat umzusetzen.“ Das Vereinbarte ist im KSZE-Schlußdokument strek-kenweise detailliert formuliert. Wenn er nicht nur auf die politisch-militärische Komponente beschränkt wird, sondern auch die humanitäre Komponente uneingeschränkt einschließt, ist der KSZE-Prozeß auf gutem Wege. Es ist viel von der Dynamik in den Ost-West-Beziehungen die Rede. Wenn dies richtig ist, so kommt es entscheidend darauf an, dieser Dynamik eine bestimmte Richtung zu geben. Für eine allgemein akzeptable Richtung in den Ost-West-Beziehungen gibt es eine gemeinsame Basis, vereinbarte Mittel sowie gemeinsame Zielbegriffe.
Die gemeinsame Basis für eine positive, also gewollte Dynamik ist die KSZE-Schlußakte von 1975, die sich allseits bewährt hat und nun durch das Wiener Schlußdokument konkretisiert wurde. Die vereinbarten Mittel sind der Gewaltverzicht, die Verhandlungen, die bilateralen und multilateralen Beratungen und die regelmäßigen Konsultationen auf allen Ebenen. Als gemeinsamen Zielbegriff würde ich die „Europäische Friedensordnung“ nennen, ein Begriff, der sich sowohl in den Dokumenten der NATO wie des Warschauer Pakts findet.
Diese Europäische Friedensordnung muß umfassend verwirklicht werden, d. h. sie muß ihren Ausdruck im Politischen, im Militärischen, im Wissenschaftlichen. im Ökologischen, Ökonomischen wie natürlich im Humanitären finden. Eine dynamische Entwicklung dieser verschiedenen Komponenten führt zu einer neuen politischen Infrastruktur in Europa. Unterhalb dieser generellen Linie gibt es nicht nur gemeinsame Begriffe wie etwa die ökologische Sicherheitspartnerschaft, sondern auch den der strukturellen Angriffsunfähigkeit von bestehenden Streitkräften. Das Wiener Schlußdokument, das einen hohen Grad an Ost-West-Übereinstimmung zum Ausdruck bringt, wird den aktuellen Ost-West-Beziehungen Substanz und Richtung geben.
Wilhelm Bruns. Dr. phil., geb. 1943; Abteilungsleiter im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die friedliche Koexistenz, Hamburg 1976; Die UNO-Politik der DDR, Stuttgart 19802; Uneinig in den Vereinten Nationen, Köln 1980; Deutsch-deutsche Beziehungen. Opladen 19844; (zusammen mit Christian Krause und Eckhart Lübkemeier) Sicherheit durch Abrüstung, Bonn 1984; (Hrsg, zusammen mit Horst Ehmke und Christian Krause) Bedrohungsanalysen. Bonn 1985; DDR-Außenpolitik, Berlin 1985; (Hrsg.) Die Ost-West-Beziehungen am Wendepunkt?, Bonn 1988; Von der Deutschland-Politik zur DDR-Politik?, Opladen 1989.
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