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Die Polen im geteilten Europa | APuZ 23/1989 | bpb.de

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APuZ 23/1989 Artikel 1 Systemwandel durch Evolution: Polens schwieriger Weg in die parlamentarische Demokratie Die Polen im geteilten Europa Ungarns politische Reformen im Spiegel der neuen Verfassungskonzeption

Die Polen im geteilten Europa

Anna Wolff-Powska

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Polen der achtziger Jahre vollziehen sich wichtige Wandlungen im politischen Denken. Die in der Volksrepublik Polen geborene Generation präsentiert eine eigene differenzierte Vorstellung von der Ordnung des alten Kontinents. Sie sucht Wege, um das System der politischen Kräfte in Europa an Vorstellungen anzugleichen, denen zufolge das Wohl des Menschen und der Gesellschaft Vorrang vor Belangen des Militärblocks haben. Die politischen Einstellungen der Polen bilden eine Resultante aus historischen Erfahrungen und geopolitischen Bedingtheiten. Die schwierige Nachbarschaft mit den Deutschen wie mit den Russen prägte das politische Bewußtsein der Polen, in dem viele alte Klischees über die Nachbarnationen zu finden sind. Heute, da die politische Diskussion offener denn je ist, kommen immer häufiger Stimmen zu Wort, die fordern, die volle Wahrheit über unsere Nachbarn und über die sie mit uns verbindenden Beziehungen zu enthüllen. Dies könnte eine der Voraussetzungen für eine neue Form der europäischen Zusammenarbeit sein — sowohl innerhalb des RGW als auch mit dem Westen. Ihren Beitrag zum Bau des gemeinsamen „europäischen Hauses“ wollen die Polen vor allem dadurch leisten, daß sie im eigenen Hause grundsätzliche Umgestaltungen durchführen. Damit könnte erreicht werden, daß die künftige Zusammenarbeit in Europa auf dem Prinzip einer gleichberechtigten Partnerschaft in allen Lebensbereichen beruht.

I. Eine neue Periode des politischen Denkens

Mit den achtziger Jahren begann eine neue Periode in der Geschichte des politischen Denkens in Polen. Das Bedürfnis, die innere Stagnation zu überwinden, in der sich unser Land befindet, löste im Zusammenhang mit den sich in den internationalen Verhältnissen vollziehenden Wandlungen eine neue gesellschaftliche Energie von bis dahin nicht gekannter Intensität aus. Ihr Träger — eine in der Volksrepublik Polen geborene und aufgewachsene Generation — präsentiert eine eigene differenzierte Ordnungsvision für Europa und vertritt von der bislang verpflichtenden Skala abweichende politische Werte.

Das heutige System der politischen Kräfte in Europa wird nicht mehr als unveränderlich betrachtet; es werden Wege für seine Modifizierung und seine Anpassung an Vorstellungen gesucht, nach denen die Interessen der Menschen, der Bürger und der Gesellschaft vor den Interessen der Militärblocks Vorrang haben. Die polnische Gesellschaft will in einer Zeit enger werdender internationaler Verknüpfungen und Abhängigkeiten, in der sich die Distanz zwischen den getrennten Teilen Europas verringert, an den sie betreffenden Entscheidungen teilhaben und die souveräne Realisierung nationaler Bedürfnisse anstreben. Dies erklärt u. a. das polnische Bedürfnis nach Europäität. Polen, das im Schnittpunkt verschiedener Kulturen liegt, erlebte die Einheit des europäischen Schicksals immer auf eine besondere Weise. Diese Tatsache veranlaßt dazu, über Polens Platz im zukünftigen Europa nachzudenken.

Polen hat an dem Annäherungsprozeß zwischen Ost und West seinen unbestreitbaren Anteil. Die Art und Weise und der Charakter der Überwindung der europäischen Teilung bilden allerdings ein Problem, das manche Kontroversen hervorruft. Wir haben uns daran gewöhnt, Europa in den viele Jahre lang verpflichtenden Schwarz-Weiß-Kategorien zu sehen. Die öffentliche Meinung Polens gab zwar verhältnismäßig früh unterschiedlichen politisehen Auffassungen Ausdruck, jedoch ermöglichten es die günstigen internationalen Bedingungen und die Liberalisierung der Zensur erst in den letzten Jahren, ein bunteres und facettenreicheres Bild der europäischen Völker in einer reicheren Farbskala zu zeichnen.

Die intellektuelle Belebung der Frage der Teilung Europas wurde von mannigfaltigen Faktoren beeinflußt: Vor allem ließen sich die negativen Folgen der langjährigen Isolierung der Polen und der übrigen von den Staaten des Warschauer Paktes repräsentierten Völker nicht mehr länger übersehen. Die politischen Kontakte dieser Staaten mit dem Westen waren nämlich nicht von einem Ideen-und Menschenaustausch begleitet; infolge dessen wandelten sich Beziehungen auf Regierungsebene nicht in gesellschaftliche und zwischenmenschliche Beziehungen um. Offizielle Erklärungen über Freundschaft und Zusammenarbeit wurden nicht mit glaubwürdigen Inhalten ausgefüllt. Dies zwingt dazu, sich verschiedene Punkte bewußt werden zu lassen, die den Ausgangspunkt gemeinsamer Unternehmungen der polnischen Gesellschaft und der polnischen Regierung zur Annäherung zwischen den europäischen Völkern bilden könnten.

II. Polnische Geopolitik

Polen war von der Tragödie des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise betroffen. Die Verschiebung der Grenzen — im Osten gingen 180 000 km 2 verloren, im Westen wurden 103 000 km gewonnen — ließen die polnischen Gebiete um 77 000 km 2 schrumpfen. Die Folge waren Repatri-ierung und Umsiedlung in großem Umfang, welche die sozio-psychologische Struktur der Gesellschaft veränderten und tiefe, öffentlich allerdings nicht eingestandene Spuren in der Psyche vieler Menschen hinterließen. Die aus den östlichen Gebieten repatriierten ca. zwei Millionen Polen fanden sich nicht von einem Tag zum anderen mit dem Verlust ihrer Heimat ab.

Das in seiner nationalen Substanz geschwächte, eines bedeutenden Teils seiner Intelligenz beraubte Polen — der durch Kriegsverluste, Ausrottungspolitik und Grenzverschiebung verursachte Bevölkerungsverlust betrug acht Millionen — beendete den Krieg im Lager der Sieger. Man konnte hoffen, daß Polen eine gewisse Rolle in Europa spielen würde, um so mehr, als das seit undenklichen Zeiten als Feind geltende Deutschland völlig zerschlagen war. Gesellschaftlich und politisch befand sich unser Land im Vergleich zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in einer qualitativ veränderten Situation. Die Befreiung Polens von der deutschen Okkupation durch die sowjetische Armee schuf den für die Gesellschaftsordnung Polens entscheidenden Faktor und bedingte die Zugehörigkeit zum Lager der sozialistischen Staaten. Polens Mitgliedschaft im RGW und Warschauer Pakt legte seinen Platz im geteilten, von Jalta und Potsdam bestimmten Europa fest. In einem Europa, das lange Zeit von der Konfrontation des Kalten Krieges dominiert wurde, gab es für die kleinen und mittleren Völker, die im Schatten der sowjetischen Großmacht lebten, keine Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Die politischen Einstellungen der Polen sind die Resultate geschichtlicher Erfahrungen und geopolitischer Bedingtheiten. Die schwierige Nachbarschaft mit den Deutschen und den Russen, der ungefähr ein Jahrhundert lang dauernde Kampf gegen Germanisierung und Russifizierung, schließlich Deutschlands Überfall auf Polen am September 1939 und der Einmarsch sowjetischer Truppen in die östlichen Gebiete am 17. September 1939 bestimmten das politische Bewußtsein. Die lange Tradition des deutsch-russischen Bündnisses, dessen Konsequenzen Polen am schmerzlichsten trafen, beeinflußte das Urteil über unsere beiden Nachbarn. Heute noch, in der Periode der Entspannung zwischen Ost und West, ruft eine stärkere Belebung der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Bonn in manchen Kreisen Unruhe hervor. Erst der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 zerstörte die Überzeugung von der Beständigkeit des deutsch-russischen Bündnisses.

Die einzige rationale Lösung für das geschwächte Polen war 1945 eine Politik, die sich nach dem Prinzip des finnischen Politikers Urho Kekkonen richtete: „Sucht Freunde nicht weit und Feinde nicht nah.“ Die Mehrheit der Gesellschaft akzeptierte das Bündnis mit der Sowjetunion als Festigung des Sieges über Hitlerdeutschland — um so mehr, als die Beziehungen zu Frankreich und England an Popularität verloren hatten. Das Bündnis mit der Sowjetunion, das als „Verstandesehe“ geschlossen wurde, schien die sicherste Garantie für die Oder-Neiße-Grenze, für die deutsche Zweistaatlichkeit und den Erfolg der polnischen Rückforderungsansprüche zu sein.

Charakteristisch für die außenpolitische Orientierung Polens in den ersten 20 Nachkriegsjahren war die Verknüpfung des Bündnisses mit der Sowjetunion mit einer deutschfeindlichen Einstellung. Nichts verband die Gesellschaft mit der Regierung so sehr wie die Überzeugung, daß mit Beistand des östlichen Nachbarn die Wiedergeburt Deutschlands als politische Macht in Europa vereitelt werden könne. Angesichts gemeinsamer Kriegserlebnisse, slavischer Solidarität und ideologischer Bande galt die Freundschaft mit der Sowjetunion als geschichtliche. durch höhere Staatsraison gerechtfertigte Notwendigkeit.

Adam Rapacki, der spätere Minister für auswärtige Angelegenheiten, drückte eine populäre Überzeugung aus. als er 1946 sagte, daß das Bündnis mit der Sowjetunion „den Einsatz für ein starkes Polen“ bedeute, für „ein den Deutschen und allem, was hinter diesen steht, für immer feindliches Polen, ein Polen, das sich mit dem Rücken an die Sowjetunion lehnt“ 1). Das Klischee von den Deutschen als den einzigen Feinden Polens kam der damaligen Ansicht entgegen, wie sie u. a. auch von Wladyslaw Gomölka, dem späteren I. Sekretär des Zentralkommitees der PVAP formuliert wurde: Polen könne sich in seiner Außenpolitik nicht in zwei Richtungen orientieren, sondern nur in einer: in der, die seine Grenzen sichert Der „slavische Schutzwall" bildete nach Meinung vieler die sicherste Sperre gegen eine eventuelle Aggression aus dem Westen.

III. Zwischen Ost und West

Die vergangenen 40 Jahre haben in Polen keine für die Entwicklung der politischen Diskussion günstigen Bedingungen geschaffen. Das politische Denken war von oben gesteuert, der Disziplin des Marxismus unterworfen und darauf gerichtet, die offizielle Linie der Regierung zu untermauern. Jeder Individualismus wurde als Verrat an der Staatsraison behandelt.

Einer Überlegung wert ist die Tatsache, daß die Initiative, das Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion mit Inhalten zu füllen, nicht von Seiten der Regierung, sondern bereits Ende der siebziger Jahre von Seiten oppositioneller Kreise ausging. Das Bedürfnis, über die Häupter der Partei hinweg Kontakt mit den Völkern der Sowjetunion aufzunehmen, fand in breiten Kreisen der katholischen Intelligenz Unterstützung. Die Stimmen, die heute immer öfter in der offiziellen Presse die Orientierung des polnisch-sowjetischen Bündnisses am Modell einer wahren Interessengemeinschaft fordern, knüpfen lediglich an bereits früher geäußerte Wünsche an.

Das politische Tauwetter im Osten und die sich in unserem Lande vollziehenden Wandlungen schaffen die Chance, daß die mit den Staaten des War-schauer Paktes geschlossenen Verträge die Billigung der Gesellschaft finden. Ob diese Chance genützt wird, wird sich allerdings erst entscheiden, wenn die polnische Gesellschaft die volle Wahrheit über unsere Nachbarn und über die uns mit ihnen verbindenden Beziehungen erfahren hat. Jedes Volk wird nach dem Wissen beurteilt, das man über es besitzt. Unser Wissen über die Verbündeten ist voll von Verschweigungen, Verlogenheit und „weißen Flecken“.

Die Haltung den Deutschen und den Russen gegenüber bildet seit jeher das Hauptelement des politischen Denkens in Polen. Die Priorität für die eine oder die andere Seite bestimmte die politische Orientierung von gesellschaftlichen Gruppen und von Parteien. Das Verhältnis der Polen zu den Russen ist ambivalent. Zum einen scheint die Sicherheit der Westgrenze an das Bündnis mit der Sowjetunion geknüpft zu sein, zum anderen ist man überzeugt, daß wir einer Großmacht benachbart sind, die seit Jahrhunderten gegenüber Polen die Politik der Gewalt angewandt und die Souveränität der polnischen Nation beschnitten hat.

Das Bündnis mit der Sowjetunion wies beiden Völkern — den Polen wie den Russen — eine neue Rolle zu, auf die wir nicht vorbereitet waren. In der Geschichte unserer tausendjährigen Nachbarschaft sind schwerlich gemeinsame Interessen zu finden. Angefangen mit der Beteiligung Rußlands an der ersten Teilung Polens im Jahre 1772, wurde die Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen als eine Reihe von nationalen Demütigungen betrachtet. Die polnische Belletristik, insbesondere die der Romantik, prägte das Bild des von Rußland mitverschuldeten Martyriums des polnischen Volkes — blutig unterdrückter Aufstände, Deportationen nach Sibirien und Verfolgungen — tief in das Bewußtsein der Gesellschaft ein.

Grenzkonflikte während der Zwischenkriegszeit, die Jahre stalinistischen Terrors und die Gefahr sowjetischer Intervention, die in den Jahren 1956 und 1981 über dem Land schwebte, vertieften das Mißtrauen gegenüber dem Nachbarstaat, dessen System mitunter als Fortsetzung des zaristischen Despotismus betrachtet wurde.

Schweigen bahnt der Lüge den Weg. Diese Wahrheit trifft auch auf die Beziehungen zwischen dem polnischen und dem russischen Volk zu. Das falsche und vereinfachte Bild des russischen Volkes setzt sich aus vielen Faktoren — u. a. aus historischen Ressentiments, Unwissenheit und nationalem Größenwahn — zusammen. Die Abneigung gegen das politische System der Sowjetunion wurde mitunter auf deren Völker übertragen; die Schuld für den Mißbrauch der Macht wurde dem sowjetischen Bürger angelastet.

Die polnische Propaganda, welche die Gesellschaft über 40 Jahre mit Informationen nährte, die das wahre Gesicht der sowjetischen Gesellschaft entstellten, begünstigte eine kritische Prüfung des falschen Bildes von unserem östlichen Nachbarn gewiß nicht. Literatur, Zeitungen und andere Massenmedien glorifizierten die sowjetischen Völker, indem sie sie als Wohltäter Polens darstellten. Der sowjetische Bürger erschien als makelloser Mensch, dem die Schwächen der westlichen Welt fremd sind. Er trat als Kriegsheld oder als Held der Arbeit auf. Gegenstand der Schulbücher waren z. B. zumeist heldenhafte Kolchosbäuerinnen und Idealistinnen, die das Wohl des Sozialismus über das Familienglück und über eigene Bedürfnisse stellten.

Nicht alle wertvollen Leistungen sowjetischer Literatur kamen auf den polnischen Büchermarkt; das Angebotene hatte quasi einen ideologischen Überguß und war unverdaulich. Bittere Reflexionen weckt auch die Tatsache, daß in der sonst so ertragreichen polnischen Historiographie kein Platz ge19 fanden wurde für eine wahrhaft objektive Geschichte der Sowjetunion und der Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern. Der Mangel an Austausch von Ideen, von redlicher Information und von Menschen ermöglichte es nicht, echte zwischenmenschliche Bindungen anzuknüpfen.

Zum Abbruch der „Fassadenpolitik“ gegenüber der Sowjetunion und zur Anknüpfung eines authentischen Dialogs mit den sowjetischen Völkern bedarf es nicht der Auflistung der Benachteiligungen Polens, sondern vor allem der Beseitigung der Ursachen alter Vorurteile. Montesquieus Satz: „Jeder Bürger hat die Pflicht, dem Vaterland sein Leben zu opfern, niemand jedoch hat die Pflicht, für dieses zu lügen“ könnte den Weg bei dieser schwierigen Aufgabe weisen. Im Prozeß des Vergebens und Vergessens gibt es zur Wahrheit keine Alternative.

Der erste Schritt auf diesem Weg wurde mit der Berufung einer sowjetisch-polnischen Historiker-kommission getan, die 1987 im Rahmen der gemeinsamen Erklärung über Zusammenarbeit im Bereich der Ideologie, Kultur und Wissenschaft gegründet wurde. Sie ist als Ausgangspunkt für die Verifizierung des Forschungsstandes über die Vergangenheit der Beziehungen zwischen unseren Völkern und als Anregung für die Arbeit weiterer Forschungsgemeinschaften gedacht. Ihre Aufgabe ist es. mit der unrühmlichen Tradition der Tabuisierung von Themen und der Flucht in unwesentliche Probleme zu brechen. Gegenstand der Forschungen der Kommission sollen u. a.sein der polnisch-sowjetische Krieg von 1919— 1920. die Tragödie der Kommunistischen Partei Polens, die durch den Beschluß des Vollzugskommitees der Kommunistischen Internationalen 1938 aufgelöst wurde, der Ribbentrop-Molotow-Vertrag vom 23. August 1939. die nach Kriegsbeginn einsetzenden Deportationen von Polen und das Verbrechen von Katyn.

Wollen wir vor den künftigen Generationen glaubwürdig erscheinen, dürfen wir uns allerdings nicht allein mit den Forschungsergebnissen der Kommission zufriedengeben, zumal die Aufarbeitung der Geschichte langwierig sein kann, da der Zugang zu den Archiven erschwert ist. Zur Beseitigung von Traumata und Komplexen ist eine breite Diskussion über die ganze Geschichte der polnisch-russischen bzw. russisch-polnischen Beziehungen unentbehrlich. Die Verständigung mit den Russen kann nur die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit leisten.

Der Prozeß der Wiederherstellung des gemeinsamen historischen Gedächtnisses erfordert eine objektive Abrechnung mit dem Stalinismus. Die während der politischen Tauwetterperioden der Jahre 1956, 1970 und 1980 unternommenen Versuche, den Stalinismus aufzuarbeiten, hatten nur oberflächlichen Charakter. Die gegenwärtigen Bemühungen konzentrieren sich vorläufig noch auf das Abdrucken von Texten sowjetischer Autoren. Immer noch scheint es sicherer zu sein, Chruschtschows Referat nachzudrucken, das er auf der XX. Tagung des ZK der KPdSU über die Verbrechen und den Persönlichkeitskult Stalins gehalten hat, als eigene Arbeiten zu veröffentlichen Obwohl die Sprache der gegenwärtigen kritischen Auseinandersetzung sich Euphemismen wie „Fehler“ und „Entstellungen“ nicht mehr bedient, so berührt sie doch wesentliche Punkte nicht: Wir setzen uns mit dem Stalinismus in seiner russischen Form auseinander. verschweigen aber seine polnischen Deformationen.

Die Diskussionen um politische Veränderungen in der Sowjetunion und Polen haben manches gemeinsam. Die Abrechnung mit dem Stalinismus zu Zeiten Chruschtschows war. wie es auch heute teils der Fall ist, von der Regierung gesteuert. Die plötzliche Wandlung von Anhängern stalinistischer Denkund Handlungsschemata in Kritiker und Reformatoren weckt in einigen Gesellschaftskreisen verständliches Mißtrauen. Damit die Versicherung der polnischen Reformatoren: „Jetzt sprechen wir die Wahrheit“ glaubwürdig werden kann, bedarf es Zeit und neuer Taten. Die Gesellschaft erwartet, daß die Fragen gestellt werden, welche für das Verständnis der Periode des Stalinismus in Polen fundamental sind, nämlich: Inwieweit sind wir noch stalinistisch? Wer ist für die Repressionen und die verübten Verbrechen verantwortlich? Wann wird die Gesellschaft die volle Wahrheit über die Welt der Lager und das Ausmaß menschlichen Leids erfahren? Warum wurden diejenigen nicht rehabilitiert — im vollsten Sinne des Wortes —, die in diesen schwierigen Zeiten ihre Würde bewahrt hatten? Ich bin der Ansicht, daß gemeinsame Bemühungen zur Aufarbeitung des Stalinismus in seiner ganzen Vielschichtigkeit zur Annäherung zwischen beiden Völkern beitragen könnten.

In die Tradition des politischen Denkens in Polen haben die unabhängigen Gewerkschaften der „Solidarität“ ein neues Element hineingetragen. Sie versuchten, eine Brücke zwischen den Völkern zu bauen und die Beziehungen zwischen den Polen und den Russen auf wechselseitige Aufrichtigkeit und Achtung aufzubauen Die „Solidarität“ sprach einen im Unterbewußtsein vieler Polen vorhandenen Gedanken offen aus: „Wir sind nicht Rußlands Nachbarn. Unsere Nachbarn sind die Ukraine. Weißrußland und Litauen.“ Sie nahm damit eines der neuralgischen Probleme in der Geschichte der sowjetisch-polnischen Beziehungen auf.

Vom slavischen Osten trennt uns eine Mauer von Vorurteilen, die vor allem auf Unwissenheit gegründet sind. Der durchschnittliche Pole weiß über entlegene Länder wie Australien und Amerika mehr als über die nächsten Nachbarn, mit denen uns eine Jahrhunderte dauernde gemeinsame Geschichte verbindet. 40 Jahre stillschweigender Übereinkunft, die Geschichte zu ignorieren, vertieften das Trauma. Polnische und ukrainische Emigranten begegnen zwar einander bei Symposien und Konferenzen in den USA oder in Rom und geben gemeinsam wissenschaftliche Arbeiten heraus, ihr Dialog kann jedoch die Verständigung nicht ersetzen, die hier und jetzt von den Völkern geleistetwerden muß. Die Jahrhunderte lange Nachbarschaft mit Litauen. Weißrußland und der Ukraine determinierte unsere historische Wirklichkeit. Beide Seiten verdanken einander viel. Der polnische, am Berührungspunkt zweier Zivilisationen liegende Osten schöpfte sowohl aus dem Erbe der Kultur des Ostens als auch des Westens. Was wäre das Schaffen von Adam Mickiewicz, Henryk Sienkiewicz und Czeslaw Milosz ohne die Tradition dieser Grenzgebiete!

Der Begriff „Ukrainer“ weckt indessen bei den Polen negative Assoziationen. Wir erinnern uns hauptsächlich daran, daß der erste Krieg der 1918 wiedererstandenen polnischen Republik mit der Sowjetunion um die Ukraine geführt wurde. Auch die Periode der tragischen Auseinandersetzungen der Jahre 1939— 1947.deren Verlauf und Konsequenzen bis auf den heutigen Tag unerforscht geblieben sind, hinterließen tiefen gegenseitigen Groll. Das Schicksal beider Völker war in gewisser Hinsicht ähnlich. So wie Polen Deutschland und Rußland gegenüberstand, so befand sich die Ukraine unter dem Ansturm polnischer und russischer Kräfte. Beide Nationen gingen aus diesen Konfrontationen verletzt hervor, innerlich ganz darauf eingestellt, das erlittene Unrecht aufzurechnen. Dabei vergessen wir, was uns über Jahrhunderte hinweg verband: gemeinsame Herrscher und Feldzüge gegen die Kreuzritter, die Tataren und gegen Moskau, verwandte Sprache und Bräuche. In den gegenwärtigen Ostgebieten Polens leben noch Ukrainer, Weißrussen, Litauer, in den westlichen Gebieten der Sowjetunion leben Polen. Beide Minderheiten möchten die besten Traditionen ihrer Vorfahren kultivieren, indem sie ihrer Sprache und Kultur die Treue wahren. Bei der gegenwärtigen Dialogbereitschaft kann hierfür sehr viel getan werden. Inzwischen geht aber in einem Land, das sich der Tradition der Toleranz rühmt, vor unseren Augen die Kultur der Lemken, eines in verschiedene Regionen Polens zerstreuten ukrainischen Volksstammes, zugrunde, verfallen griechisch-orthodoxe Kirchen und andere Denkmäler der Grenzkultur.

Die europäische Politik Gorbatschows ermutigt zu optimistischen Prognosen. Während seines Aufenthaltes in Polen sprach sich der sowjetische Führer für die Idee des ungeteilten Europas aus, für Frieden und Zusammenarbeit, für ein gemeinsames „europäisches Haus“, in dem Vertrauen und gutnachbarliche Beziehungen herrschen. Die gemeinsame polnisch-sowjetische Erklärung ergänzt diesen Gedanken. Der Aufruf, die Erfahrungen der eigenen Partei zu achten, und die Versicherung des Rechts auf souveräne Selbstbestimmung sind als Ausgangspunkte zu betrachten, als Voraussetzung eines Prozesses, den die Zukunft mit konkreten Inhalten zu füllen hat.

Die Mehrheit der Polen beurteilt die sich bei unserem östlichen Nachbarn vollziehenden Wandlungen positiv, und Gorbatschow erfreut sich in unserem Lande aufrichtiger Anerkennung. Die Perestroika wird als Unterstützung der polnischen Reformpolitik eingeschätzt, als Garantie der Handlungssicherheit und als Chance für die Realisierung von Vorhaben, die gesellschaftliche Hoffnungen und Interessen mit den Intentionen der Regierung verbinden. Vielfach findet sich eine Haltung, die als kühle, mit vorsichtiger Hoffnung verbundene Distanz bezeichnet werden kann. Wenn ein Bürger, der davon überzeugt ist, Mitglied eines unabhängigen Staates zu sein, erst nach 40 Jahren vom Recht seines Volkes auf souveräne Entscheidungen erfährt, so muß seine Skepsis als begründet erscheinen.

Gorbatschows Politik, die günstige internationale Konjunktur und der Druck der öffentlichen Meinung bewirkten, daß in der Haltung der Polen gegenüber den Sowjetvölkern neue Elemente aufgetreten sind: — Es wurden Kontakte angeknüpft, die den offiziellen Rahmen polnisch-sowjetischer Zusammenarbeit überschreiten. Ein Symptom dieses neuen Klimas ist die Präsentation von bisher zur Verbreitung nicht zugelassener Filme Andrzej Wajdas und Krzysztof Zanussis in der UdSSR. Andrzej Wajda wurde zum Präsidenten der Jury des Moskauer Filmfestivals für das Jahr 1989 gewählt. Zudem wurde der Klub „Zeitgenössische Sowjetische und Polnische Intelligenz“ gegründet. — Gesellschaftliche Initiative führte zur Aufnahme der Zusammenarbeit mit polnischen Kreisen in Litauen, Weißrußland und der Ukraine. Es ist das unbestrittene Verdienst des polnischen Papstes — der mehrfach dazu aufrief, die Landsleute im Osten nicht zu vergessen —, daß ein ökumenischer Dialog mit der griechisch-orthodoxen Kirche begonnen und Kontakte mit polnischen katholischen Gemeinden in der Sowjetunion angeknüpft wurden. — Auch wurde das Aufstellen eines Kreuzes auf den Gräbern der polnischen Offiziere in Katyn bewilligt. Dies ist mit Sicherheit eines der gewichtigsten Zeichen für den Beginn einer Annäherung auf zwischenmenschlicher Ebene.

Das wachsende Interesse am Osten und an den Völkern der Sowjetunion trägt Früchte in einer Vielzahl von Symposien, Konferenzen, Diskussionen und Veröffentlichungen. Die Überzeugung, daß uns nicht nur die Zugehörigkeit zu dem selben Block, sondern auch gemeinsame menschliche Interessen verbinden, gewinnt zusehends an Boden.

Die Aussöhnung der Völker ist ein langwieriger, sowohl Verständnis als auch Bereitschaft zum Vergessen und Vergeben erfordernder Prozeß. Es genügt nicht, daß die Versöhnung durch internationale Verträge dekretiert wird. Notwendig ist, daß sich an diesem Prozeß auch die Gesellschaft beteiligt. Diese sicherlich banale Wahrheit zeigt sich auch in den deutsch-polnischen Beziehungen.

Das Verhältnis der Polen zu den Deutschen ist durch tief wurzelnde Emotionen geprägt. Dies hat seinen Grund in historischen Erfahrungen, insbesondere in denen des Zweiten Weltkrieges. Seit dem Ende des Krieges existiert in Polen das Problem „was mit dem Ozean von Haß“ allem gegenüber zu tun sei, „das mit dem Begriff Deutschland, Deutschtum, deutsche Sprache verbunden ist“ Das emotional gespannte Verhältnis zum westlichen Nachbarn bewirkte, daß noch viele Jahre nach dem Kriege der Hitlerismus und der Faschismus mit dem deutschen Volke identifiziert wurden. Für den „guten Deutschen“ gab es im polnischen Bewußtsein keinen Platz.

Eine kritische Bewertung dieser Haltungen ist sogar aus der Perspektive der vergangenen 40 Jahre un-möglich. Auch 20 Jahre nach der offiziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fällt es schwer, dieses Problem kühl und distanziert zu betrachten. Eine Aussöhnung wurde weder vom Klima des Kalten Krieges, noch von den Aktivitäten nationalistischer Gruppen im Westdeutschland der fünfziger Jahre oder den Aufrufen zur Rückkehr in den verlorenen „deutschen Osten“ begünstigt. Die deklarierte Bereitschaft zur Normalisierung des Verhältnisses zu Polen ließ und läßt sich mit der Doktrin des Fortbestehens Deutschlands in den Grenzen vom Jahre 1937 nicht vereinbaren.

Die Sünden der polnischen Seite bestehen u. a. darin, versucht zu haben, schwierige innenpolitische Situationen zu überspielen, indem man die Bundesrepublik zum Schreckgespenst machte. Den Brief der polnischen Bischöfe vom 18. November 1965. in dem sich die Erklärung: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ fand, wurde von offiziellen Kreisen verworfen und als Verrat nationaler Interessen bezeichnet. Auch als Jan Jözef Lipski 1981 das Problem des Verhältnisses zu den Deutschen und Russen aufnahm, stellten sich nur wenige auf seine Seite, obwohl das damalige politische Klima eine offene, breite Diskussion begünstigte Die Aufforderung Lipskis, mit den Mythen und dem falschen Bild der polnisch-deutschen Beziehungen zu brechen, wurde fälschlich als Versuch, „Polen in den westdeutschen Imperialismus zu integrieren“, interpretiert. Die Absichten des Autors wurden als „dumm und leichtfertig“ abqualifiziert

Die Furcht vor der Wiedergeburt des Faschismus und der Wiedervereinigung Deutschlands bestimmt in Polen fast jede Diskussion über Deutschland. In den Augen der Polen ist ein geteiltes Deutschland die Garantie für Gleichgewicht und Sicherheit für Europa. Die nervösen Reaktionen der Polen auf jede Belebung der Diskussion über die deutsche Wiedervereinigung sind allerdings in Europa kein Einzelfall. Die Erklärung des italienischen Ministers für auswärtige Angelegenheiten, Giulio Andreotti, vom September 1984 zur Notwendigkeit der deutschen Zweistaatlichkeit als Garantie des europäischen Friedens bestätigt dies.

Die geschichtlichen Belastungen sind der Grund dafür, daß wir noch lernen müssen, die Handlungsmotivationen unserer westdeutschen Gesprächspartner zu verstehen. Obwohl seit Kriegsende 44 Jahre verflossen sind, haben wir Schwierigkeiten mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart. Wir stehen der deutschen Frage in gewissem Sinne ratlos gegenüber — zwischen Hoffnungen, zu denen die Bilanz der bisherigen Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern berechtigt, dem Bedürfnis nach Annäherung und den immer noch lebendigen Befürchtungen. Auch wenn den Deutschen das Anrecht auf nationale Einheit kaum abzusprechen ist, so erschwert die Furcht vor einem vereinigten Deutschland es doch, sich von emotionellen Einschätzungen zu befreien.

Die achtziger Jahre brachten eine gewisse Evolution im Deutschlandbild der Polen. Wir sind von dem einheitlichen Stereotyp des Deutschen als dem „Feind seit undenklichen Zeiten“ abgegangen. 20 Jahre Zusammenarbeit in verschiedenen Lebensbereichen haben die Optik verändert. Anstelle des einen negativen Stereotyps wurden viele Bilder geschaffen. Dabei wurde auch Platz für das Bild des freundlichen, Wege zur Verständigung mit den Polen suchenden Deutschen gefunden. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit wurde eine polnische Publikation veröffentlicht, deren Verfasser — der mit seinen Ansichten allerdings noch vereinzelt dasteht — die Möglichkeit der Nachbarschaft Polens mit einem in einer Konföderation vereinigten Deutschland sieht. Edmund Osmanczyk, ehemaliger Sejm-Abgeordneter und ein sehr um die Erforschung des deutschen Problems verdienter Autor. sieht in einer „Zweisystem-Konföderation“ der Deutschen ein neues Vorbild für das Zusammenleben in einer von Systemen getrennten, „doch menschlich absolut einheitlichen Welt“ Konsequent in seiner Überzeugung, daß wir „mit einer deutschfeindlichen Karte in Europa nichts gewinnen“, fordert er Polen und Deutsche zur gemeinsamen Suche nach neuen Wegen zur Vereinigung Europas auf. Er spricht sich für eine Formel des Zusammenlebens aus, die sich auf Wechselseitigkeit stützt. „Die Gefahr der Grenzrevision ist seit 40 Jahren unsere innenpolnische Vogelscheuche, die hartnäckig vor jeder folgenden Generation von Polen zu verschiedenen innenpolitischen Zwecken aufgestellt wurde.“

Es ist schwierig vorauszusehen, ob die optimistischen, das baldige Ende der Ära der Supermächte annehmenden Prognosen Osmariczyks zutreffend sind. Eines ist indes gewiß: Die Zeit ist gekommen. Probleme geringeren Gewichts, die aus der Vergangenheit resultieren, auf das politische Klima wechselseitiger Beziehungen nicht mehr rückwirken zu lassen. Streitigkeiten über die Schreibweise geographischer Namen, über die Abstammung von Veit Stoss und Nikolaus Kopernikus sind durch gemeinsame Debatten über die Überwindung von Teilungen und künstlichen Grenzen in Europa zu ersetzen.

Mit den Ländern Mitteleuropas verbinden uns gewisse gemeinsame Erfahrungen. Die Völker dieses Teils des Kontinents nahmen weder an den großen geographischen Entdeckungen noch an kolonialen Eroberungen teil. Während der Westen Europas im 14. Jahrhundert große Urbanisierungsprozesse erlebte, behielt der Osten seinen agrarischen Charakter. Die Gesellschaften des östlichen Europa nahmen die im Westen initiierten Ideen der Renaissance und der Aufklärung auf und schützten zugleich die westlichen Ideale und Werte gegen Türken und Tataren. Ihr gemeinsames Schicksal war der Verlust der Staatlichkeit und langjährige Knechtschaft unter russischer, preußischer, österreichischer und türkischer Herrschaft. Die Jahre der Kämpfe um die Erhaltung nationaler Identität prägten das politische Bewußtsein dieser Völker. Die Gemeinsamkeit negativer Erfahrungen hatte

IV. Distanzierte Freundschaft

sie jedoch wenig gelehrt. Nach der Wiedergewinnung ihrer Souveränität im Jahre 1918 verstrickten sie sich in eine Reihe von Konflikten und wurden zum Nährboden für die Entwicklung von Nationalismen.

Nach den erdrückenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges fanden sie sich in einem vom Westen durch den Eisernen Vorhang getrennten politischen Block wieder. Die Tschechoslowakei. Ungarn, Rumänien. Bulgarien — kleine Völker inmitten Europas, die mehrere Jahrhunderte hindurch Spielball der großen europäischen Mächte gewesen waren — kannten wie niemand anderer auf dem Kontinent den Preis der Unabhängigkeit. Nach 1945 wurden sie einer neuen Prüfung ausgesetzt. Ihre gesellschaftlichen und nationalen Interessen wurden den politisch-militärischen Interessen des Blocks untergeordnet. ihre Souveränität wurde zugunsten der sowjetischen Großmacht begrenzt.

Die Staaten des Warschauer Paktes bilden ein kompliziertes Mosaik von Nationen, ethnischen Grup23 pen und Sprachen. Die aufgezwungene Ideologie, das wichtigste Bindeglied im Bündnis, löste sie von ihren historischen und kulturellen Wurzeln, indem sie diese Staaten in eine politische Insel in Mitteleuropa umwandelte. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Geschichte dieser Gemeinschaft läßt erkennen, daß hier über 40 Jahre vergeudet wurden. In Gegensatz zur EG gelang es nämlich den Staaten des Warschauer Paktes nicht, eine echte Gemeinschaft zu schaffen. Es wurde keine Formel der Zusammenarbeit erarbeitet, die allgemeine gesellschaftliche Anerkennung gefunden hätte.

Wir existieren nebeneinander, formell durch Freundschaftserklärungen verbunden, die zu realisieren uns nicht beschieden war. Die russische Sprache. die die mittel-und osteuropäischen Völker zusammenführen sollte, erfüllte die ihr zugewiesene Aufgabe nicht, hauptsächlich wegen fehlender Gelegenheit, sie zu benutzen. Die undurchlässigen „Freundschaftsgrenzen“ verhindern den Austausch von Menschen, und der von oben dekretierte Ideenaustausch ließ nur ein geringes Maß an Freiheit. Die wirtschaftliche Krise und der ständige Warenmangel bewirkten u. a., daß der innerhalb des RGW so sehr eingeschränkte touristische Reiseverkehr häufig nur für einen Schwarzmarkt-Handel genutzt wurde. Der Kontakt mit den Zollbeamten an der Grenze gehört für die Bürger des RGW zu einem der erniedrigendsten Erlebnisse. Die limitierten Kontakte, das gegenseitige Unwissen über den anderen erleichterten es nicht, ein Klima des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen, das durch den Einmarsch der Sowjetunion 1956 in Ungarn und die Intervention der Armeen des Warschauer Paktes 1968 in der Tschechoslowakei ohnehin stark gelitten hatte.

Die verknöcherten bürokratischen Strukturen stellen einen der vielen Gründe für die Probleme des RGW dar. Sein Anteil am internationalen Handel verringert sich kontinuierlich. Das Volumen des Handels zwischen der EG und dem RGW verminderte sich in den letzten drei Jahren um 25 Prozent. Die Pflicht, alle Fragen mit Moskau abzustimmen, erschwert individuelle Unternehmungen. Die Beschränkungen des Geldmarktes — Devisen sind innerhalb des RGW nicht frei austauschbar — und der Mangel an freiem Zutritt selbständiger Unternehmen zu Auslandsmärkten vertiefen die Schwierigkeiten und bewirken, daß wir nicht nur vom Westen, sondern auch voneinander isoliert leben.

Einen Sonderfall bilden die Beziehungen zwischen Polen und der Deutschen Demokratischen Republik. Das Mißtrauen dem westlichen Nachbarn gegenüber war anfangs völlig begründet. Die Zugehörigkeit der Ostdeutschen zu einem gemeinsamen politisch-militärischen Block zwang uns jedoch, sie als „gute“ Deutsche zu betrachten, und hieß uns zu vergessen, daß sie in demselben Maße für die Hitlervergangenheit verantwortlich waren wie die Westdeutschen. Diese plötzliche Umwandlung des Feindes in einen Freund mußte Mißtrauen wecken, das aber aus doktrinären Gründen verschleiert wurde. Daß den Emotionen kein Ausdruck verliehen werden konnte, gereichte weder Polen noch der DDR zum besten.

Die polnische Propaganda versicherte die Freundschaft und Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze seitens der DDR und schirmte die polnische Gesellschaft von allem ab, was die Glaubwürdigkeit dieser Erklärungen hätte untergraben können. Erst 1988 wurde zum ersten Mal erwähnt, daß die Leitung der SED die polnische Westgrenze in den ersten Nachkriegsjahren als Provisorium betrachtete und Otto Grotewohl seinen Widerspruch gegen diese Grenze unverhohlen äußerte, indem er dafür plädierte, daß das deutsche Volk seinen Lebensraum wiedergewinnen müsse.

Die Polen haben nicht vergessen, daß die DDR die Erhebung der Jahre 1980/81 in Polen schärfstens verurteilt und die Funktionäre der „Solidarität“ mit einer „Nazibande“ verglichen hat. Das polnische Volk wurde über die Ansprüche der DDR-Regierung auf die polnischen Gewässer der Pommersehen Bucht und den Beschluß der DDR. ihre See-grenzen bis auf zwölf Meilen zu erweitern, nicht informiert. Unverständlich ist für die Polen auch die gegenwärtige Haltung der SED-Führung, ihre Abneigung gegen innere Reformen und das Verbot einiger sowjetischer Zeitschriften in der DDR. Das Fassadenhafte in der Zusammenarbeit zwischen Polen und der DDR, die von Verschweigungen begleitete Freundschaft, Einschränkungen im Reiseverkehr — all dies machte das Entstehen echter Bande unmöglich.

Die Gemeinschaft der RGW-Staaten steht vor einer neuen, ungewöhnlich schwierigen Entwicklungsetappe. „Gesonderter Weg“ und „Entwicklungsspezifik“ heißen die Schlagworte. Es werden Versuche individueller Annäherung an den Westen unternommen. Das Bedürfnis, eigene Interessen zu exponieren, wird akzentuiert. Der Geist des Umbaus bahnt sich allerdings seinen Weg mit unterschiedlichem Resultat. Das Kräfteverhältnis zwischen der Gesellschaft und der Regierungsmacht ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Effektive Wandlungen erfordern von allen Mitgliedsstaa-ten des Warschauer Paktes, sich eigener Fehler und Schwächen bewußt zu werden. Notwendig ist die Solidarität der Handlungen, nicht diejenige der Einmischung wie damals in Ungarn und der Tschechoslowakei, sondern die Solidarität bei der Reform von inneren Strukturen.

V. Rückkehr nach Europa

„Ein Europa oder zwei Europas“? — diese Frage bewegte in den letzten Jahren viele Völker unseres Kontinents. Ausgelöst wurde die Debatte von den zwischen der EG und der Sowjetunion gelegenen mitteleuropäischen Staaten. Der Hunger nach Europäität tritt in diesem Teil des Kontinents mit besonderer Intensität zutage. Die Popularität der allgemeineuropäischen Option hat eine Reihe von Ursachen:

-Die Teilung Europas und deren Folgen sowie die ideologische Konfrontation und der Rüstungswettlauf. Die Ideologie erlag einer Entwertung, die Rüstung erschöpfte sich finanziell und ökonomisch.

-Die 1945 geschaffene Ordnung ist für die Generationen, die zukünftig über das Schicksal des Kontinents entscheiden werden, anachronistisch.

-Das Bedürfnis wächst, die Isolation, in welche die Staaten Mittel-und Südosteuropas durch künstliche Teilungen und Beschränkungen geraten sind, zu durchbrechen. Die bevorstehende Integration des Europas der „Zwölf“ (d. h., die EG) zwingt zu unverzüglichen Entscheidungen hinsichtlich des weiteren Schicksals der RGW-Staaten.

-Ökologische und technologische Katastrophen erhellen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Suchens nach Wegen zur Überwindung von Gefahren, die in gleichem Maße sowohl Osteuropa als auch Westeuropa bedrohen.

-Die Prinzipien, auf die sich die Zusammenarbeit der RGW-Staaten stützt, haben sich als untauglich erwiesen. Evident wird dies durch die kontinuierlichen Wachstumsverluste des RGW und durch die Verelendung seiner Mitgliedsstaaten.

Europa ist nicht nur ein geographischer Begriff. Das, woraus Europa besteht, Europäität, europäischer Art zu sein, ist vor allem das Werk jahrhundertelanger Bemühungen, das Erbe der Errungenschaften von Völkern, die den gemeinsamen Schatz der Kultur durch ihre Unterschiedlichkeit bereichert haben. Die Grenzen Europas werden von einer Kultur, von einer Zivilisation und von einem Wertesystem bestimmt, die im Christentum verwurzelt sind.

Polen ist ein Land, in dem das Gefühl der Zugehörigkeit zur europäischen Kultur und die daraus entspringende Achtung von Freiheit, bürgerlichen Rechten und Tradition tief verwurzelt sind. Die polnischen Sehnsüchte nach europäischer Einheit bedeuten nicht nur Rückkehr zu universellen, teilweise vom ideologischen Uniformismus verdrängten Werten, sondern resultieren auch aus dem Bedürfnis, am Aufbau eines gegen die wachsenden zivilisatorischen und militärischen Gefährdungen gemeinsamen Sicherheitssystems teilzunehmen.

Die Gesellschaft Polens ist sich vollkommen bewußt, daß die „Wohnung“, die es im gegenwärtigen „osteuropäischen Haus“ innehat. einer generellen Wiederherstellung bedarf. Die Teilnahme am Bau eines anderen, besseren Europa ist für die Polen ein Geheiß der Zeit. Dabei wird es insbesondere um die Frage gehen, wie das künftige Europa sein soll, was europäisches Denken bedeutet, wie sich die Möglichkeiten kleiner Völker bei der Gestaltung des europäischen Modells darstellen.

Wie die meisten Visionen ist die polnische Vorstellung vom zukünftigen Europa eine Resultante von Schwärmerei, Sentimentalität und politischem Pragmatismus, eine Mischung politischer Träume und reeller Wirklichkeit:

— Die Polen stehen der päpstlichen Idee von Europa als einer aus dem gemeinsamen Stamm der lateinischen Zivilisation erwachsenen Gemeinschaft sehr nahe. Das Hauptkriterium der Europäität bildet danach die Würde der Person. Es soll ein Europa sein, in dem der Wert eines jeden, unabhängig von seiner Nationalität, geachtet wird.

— Die Vision eines solidarischen Europa, die sich mitunter in ein mystisches Gewand kleidet, erkennt die Verantwortlichkeit der Gemeinschaft für den einzelnen an. Überzeugt von der Richtigkeit der Devise des polnischen Schriftstellers und Philosophen Stanislaw Staszic (1755 — 1826): „Das ganze menschliche Volk muß leiden, wenn auch nur in einem Lande menschliche Rechte vergewaltigt werden“ kritisieren ihre Anhänger die Staaten der westlichen Welt wegen ihrer Gleichgültigkeit und ihres Verrats europäischer Interessen. — Die Vorstellung, daß der Weg nach Europa über die Denuklearisierung führt, hat in Polen eine lange Tradition. Bereits 1957 legte Adam Rapacki, der damalige Minister für auswärtige Angelegenheiten, das Projekt einer atomwaffenfreien Zone vor, welche die Territorien der Tschechoslowakei, der DDR, der Bundesrepublik Deutschland und Polens umfassen sollte. 1964 vertrat Wladyslaw Gomölka, der I. Sekretär des ZK der PVAP, den Plan, die Atomrüstung in Europa einzufrieren. Die letzte Initiative dieser Art stammt vom gegenwärtigen I. Sekretär des ZK der PVAP, Wojciech Jaruzelski. Sein Vorschlag sieht die Bildung einer Zone verringerten Kriegsrisikos vor, die das Gebiet von neun Staaten umfassen soll: der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarns und Polens sowie der Bundesrepublik Deutschland, Belgiens, Hollands, Luxemburgs und Dänemarks. — Erforderlich wäre zudem die Beseitigung der weltpolitischen Polarisierung mittels einer allmählichen Demontage der existierenden Teilungsinstrumente durch Verhandlungen und Verständigung auf europäischer Ebene. Dieses Europa „des dritten Weges“ wäre eine blockübergreifende Konföderation, wäre eine Gemeinschaft freier, durch demokratische Nachbarschaft verbundener Völker. Eine solche Gemeinschaft würde die Anomalität der Situation, in der wir seit fast einem halben Jahrhundert leben müssen, beseitigen können.

Heute überwiegt in Polen allerdings der Realismus. Die alten Ängste haben sich noch nicht gelegt. Die Polen wollen also ihren Verbündeten die Loyalität wahren, streben aber zugleich neue Formen der Beziehungen zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und eine neue Qualität der Kontakte zwischen Ost und West an.

VI. Schlußfolgerungen und Ausblick

Die Volksrepublik Polen steht nach ihrem ersten halben Jahrhundert an einem Kreuzweg. Neben der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, moralischen und ideologischen Krise erlebt Polen eine Krise des politischen Denkens. Polen braucht die Aktivität seiner Bürger. Mut im außenpolitischen Denken und ein Umdenken in der Wahrnehmung seiner Nachbarn. Die Enthüllung der vollen Wahrheit über den Charakter unserer bisherigen Beziehungen mit den Staaten des sozialistischen Blocks ist eine Bedingung sine qua non dafür, daß die internationalen Verträge mit Inhalt gefüllt werden könnten. Nur dann gewinnen Begriffe wie „Pluralismus“, „Demokratie“ oder „Freiheit“, die so oft in der Presse zu lesen sind, ihre Glaubwürdigkeit zurück. Der polnischen Staatsraison kann eine manipulierte öffentliche Meinung nicht dienlich sein.

Das polnische Volk ist seit 1945 einen Weg gegangen, der von Enthusiasmus, Niederlagen und Zusammenbrüchen geprägt war. Die Konsequenzen sind Mißtrauen gegen die Regierungsmacht, die Erinnerung an nicht gehaltene Versprechen, das Gefühl der Gefährdung und vor allem die Überzeugung, daß man sich keinen Zeitverlust mehr leisten kann. Es muß ein grundlegender Umbau des Staates vorgenommen werden, ohne daß man sich dabei nach Hilfe aus dem Westen umsieht oder sich an fertigen Mustern aus dem Osten orientiert. Die Ablehnung von Reformen seitens der Sowjetunion gab polnischen Politikern lange Jahre ein bequemes Alibi, das die Stagnation Polens entschuldigte. Das polnische Volk muß nun selber über seine Wege entscheiden.

Die Ideologie darf nicht die Grundlage des Bündnisses mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Paktes bilden. Die Grundlage der Zusammenarbeit muß künftig ein gegenseitiges Vertrauen sein, das auf dem Gleichgewicht zwischen den nationalen Interessen und den Interessen des Blocks beruht. Die polnische Gesellschaft erstrebt Autonomie und Souveränität in den politischen Entscheidungen und Gleichberechtigung in den wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Die Grundlage der Freundschaft ist Partnerschaft, nicht aber der Gesang nach denselben Noten.

Die Gespräche zwischen den USA und der UdSSR schaffen ein günstiges Klima für eine qualitativ neue Zusammenarbeit der mitteleuropäischen Staaten. Es gibt die Chance, daß die Integration dieser Völker nicht nur aufgrund ihrer Mitgliedschaft im RGW, sondern auch aufgrund ihrer historischen und kulturellen Verwandtschaft die Aktivitäten zur Überwindung der Trennung Europas verstärken könnten.

In Polen wurde die Formel, der zufolge die Dauerhaftigkeit der Teilung Europas den Frieden garantiert, nicht akzeptiert. Ein Europa ohne künstliche Grenzen und Teilungen, ein Europa freier und souveräner Völker ist jedoch ein Traum, der keine Chancen hat, schnell realisiert zu werden. Das „geB meinsame europäische Haus“ ist eine schöne Metapher. Wir leben weiterhin in zwei verschiedenen Häusern. Es gibt zwei Europas — das Europa der EG und das Europa des RGW, das Europa des Wohlstandes und das Europa der tiefen Krise, das Europa der Achtung vor menschlichem Unternehmungsgeist und das Europa der Vergeudung menschlicher Tatkraft und Energie. Bevor wir also das „gemeinsame europäische Haus“ aufbauen, müssen wir uns in Polen fragen, ob wir auf diesen Umzug vorbereitet sind. Die Länder des RGW müssen zuerst mit ihren eigenen Problemen fertig werden, bevor sie in die europäische Gemeinschaft als gleichrangige Partner, nicht aber als „arme Verwandte“ eintreten können.

Die Durchsetzung des neuen politischen Denkens ist sowohl in Polen als auch in anderen europäischen Ländern eine Frage des Generationswechsels. Die Mehrzahl dieser Länder wird von Menschen regiert, deren Denkschemata von der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges geprägt sind. Es ist zu hoffen, daß die nachfolgende Generation dem Europa des 21. Jahrhunderts eine bessere, menschlichere Gestalt verleihen wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. Rapacki. Nach einem Gespräch mit einem Freund von der PVP, in: Kuznica vom 2. September 1946. (Titel von Zeitungsartikeln, Aufsätzen, Monographien u. ä. in polnischer Sprache hier und im folgenden in deutscher Übersetzung des Verfassers.)

  2. Vgl. E. Dimitrow, Die Deutschen und die Hitlerokkupation in den Augen der Polen. Ansichten und Urteile aus den Jahren 1945— 1948, Warschau 1987.

  3. Das Referat wurde in der polnischen Presse zum ersten Mal in der Wochenschrift „Polityka“ vom 30. Juli 1988 nachgedruckt.

  4. Vgl. Solidarnosc vom 13. September 1981.

  5. J. Borejsza, Vorwort zu E. Dimitrow

  6. Vgl. J. J. Lipski, Zwei Heimatländer, zwei Patriotismen, in: Kultura (polnische Emigrationszeitschrift), (1981) 409.

  7. S. Zielicz, Leichtfertig und dumm, in: Zolnierz Wolnosci („Soldat der Freiheit“) vom 23. November 1981.

  8. E. Osmanczyk. Die Teilung Europas in den Augen eines Polen, Instytut Slaski w Opolu (Schlesisches Institut in Oppeln), Oppeln 1988.

Weitere Inhalte

Anna Wolff-Powska, Dr. habil., geb. 1941; Professorin an der Abteilung für Politische Wissenschaft des Instytut Zachodni (West-Institut) in Poznan (Posen); 1976— 1977 Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: Die geopolitische Doktrin in Deutschland, Poznan 1979; Politische und philosophische Strömungen des Konservatismus in der Bundesrepublik Deutschland, Poznari 1984; Das deutsche politische Denken zur Zeit der Aufklärung, Poznan 1988; Mitteleuropa — das gelobte Land?, in: Deutsche Studien, (1988) 103.