Wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten
Clemens Burrichter
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Zusammenfassung
Nachdem die beiden deutschen Staaten durch das Kultur-und Wissenschaftsabkommen Möglichkeiten zur Wissenschaftskooperation eröffnet haben, ist die „Startphase“ der Kontakte zunächst als Einübung in eine neue Variante intersystemarer Kooperation zu betrachten. Zwei Jahre nach Vertragsunterzeichnung wird eine Bilanz vorgenommen, die zu einem eingeschränkt positiven Ergebnis kommt und zugleich auf einige Probleme verweist. Im abschließenden Ausblick wird auf den neuen Charakter des Systemwettstreits verwiesen, der unter den Rahmenbedingungen einer ideologischen Koevolution normativ und diskursiv zu führen ist und an dem sich insbesondere die Wissenschaften zu beteiligen haben.
I. Hintergrund
Seit beim Besuch von Erich Honecker im September 1987 von den beiden deutschen Wissenschafts-ministern — Heinz Riesenhuber und Herbert Weiz — das Abkommen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit (fortan: WTZ-Abkommen) zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik unterzeichnet wurde, sind zwei Jahre vergangen. Bereits im Mai 1986 war das „Kulturabkommen“ unterzeichnet worden; dort hatten die Vertragspartner in Art. 2 vereinbart, „die Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wissenschaft und Bildung .. .“ zu fördern. Diese beiden Vertragswerke regeln seither die verschiedensten Formen wissenschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den beiden deuts vereinbart, „die Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wissenschaft und Bildung .. .“ zu fördern. Diese beiden Vertragswerke regeln seither die verschiedensten Formen wissenschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme und Erfahrungsbilanz als Basis für einen Ausblick auf die nächsten Jahre scheint angezeigt.
Zunächst ist daran zu erinnern, daß mit diesen Abkommen eine fast vierzigjährige widernatürliche Situation förmlich beendet wurde. Widernatürlich -weil ausgerechnet von der auf internationale Reputation bedachten SED, die stets auch die „Beziehungen zur BRD“ als international klassifiziert, der grenzüberschreitende Charakter der Wissenschaften im Hinblick auf unser Land stets ver-oder doch behindert wurde. Die rigorose Abgrenzungs-und Eingrenzungspolitik hat für mindestens eine Wissenschaftlergeneration eine „Funkstille“ erzeugt, die zwangsläufig eine deutliche Entfremdung zur Folge hatte. Andererseits gibt es hierzulande eine verbreitete Ignoranz gegenüber den Ergebnissen der Wissenschaft in der DDR. Beispielsweise könnte es sich der Verfasser einer sozialwissenschaftlichen Dissertation nicht erlauben, die themenrelevante angelsächsische Literatur zu überseheni ungestraft für den Ausgang des Promotionsverfahrens kann er das allerdings mit der entsprechenden Fachliteratur aus der DDR tun. In der Regel kennen der Doktorvater und die Gutachter 'ese nicht einmal. Auch wenn man in jüngster Zeit aus Erhebungen zum Lehrangebot über die DDR an bundesdeutschen Hochschulen und Universitäsn eine erfreuliche, wenn auch vorerst noch vorsic tige Trendwendung registrieren kann 1), hat sich die Situation durchaus noch nicht „normalisiert“. Übersehen werden sollte in diesem Zusammenhang allerdings auch nicht, daß unterhalb der von der SED bisher praktizierten wissenschaftlichen Kontaktscheu die Fachdialoge und der Literaturaustausch zumindest punktuell stattfanden — aufgrund älterer und auf internationalen Konferenzen neu angeknüpfter persönlicher Verbindungen. Dies galt insbesondere für Kontakte in den Natur-und Technikwissenschaften 2), die wohl auch aufgrund des erwarteten ökonomierelevanten Know-how-Transfers von West nach Ost von der Politik stillschweigend toleriert wurden.
Auch wenn man diese „Rauschzone“ an den Rändern berücksichtigt, fand doch ein kontinuierlicher deutsch-deutscher Wissenschaftsdialog seit Jahren eigentlich nicht mehr statt. Ab-und Eingrenzungspolitik der SED (durchaus gegen die Dialoginteressen der Wissenschaftler) einerseits und andererseits eine ideologisch bedingte Ignoranz bei weiten Teilen der Wissenschaftler in der Bundesrepublik haben eine Situation geschaffen, die nicht so war, daß mit den durch das Kultur-und WTZ-Abkommen eröffneten Möglichkeiten der Informations-und Diskursverkehr zwischen den beiden deutschen „communities“ reibungslos und zügig in Gang kommen konnte.
Um die mit den staatlichen Abkommen eröffnete Startphase in den deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen richtig einschätzen zu können, muß gesehen werden:
— in welcher Verfassung die „Betroffenen“ — die Wissenschaftler in den beiden unterschiedlichen Gesellschaften — sich befanden und welche Einstellung (Interessen) sie hinsichtlich des deutsch-deutschen Wissenschaftsdialogs hatten und haben; — daß mit den Abkommen insofern eine neue Situation entstanden ist, als Deutschlandpolitik mit den Folgeverträgen zum Grundlagenvertrag nun F;
nrriwertvolle ^nreSungen und Hinweise sowie für die Überter des emP‘rischen Materials bin ich den Kollegen Gün“ uterbach und Emil Schmickl zu Dank verpflichtet. nicht mehr nur und allein von den dafürzuständigen Politikern gemacht wird, sondern auch und insbesondere von den Akteuren in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die politischen Instanzen haben mit den Abkommen für dieses deutschlandpolitische Agieren die Möglichkeiten eröffnet. Wie die Beziehungen der beiden deutschen Staaten und ganz besonders der beiden unterschiedlichen deutschen Gesellschaften sich in Zukunft gestalten, hängt wesentlich davon ab, was in diesen deutsch-deutschen Beziehungen in den nächsten Jahren geschieht und sich entwickelt.
II. Einige Rahmenbedingungen
Die Kooperation mit den Wissenschaften eines anderen Staates und einer anderen Gesellschaft bedarf bestimmter Ressourcen, ist also kostenträchtig. In einer Zeit, in der die Mittel für die Wissenschaften — und dies gilt dort wie hier — knapper werden, hängen Entscheidungen, ob man denn diese neuen „Kosten und Mühen“ auf sich nimmt, von einer Kosten-Nutzen-Rechnung ab, die in unserem Falle — hinsichtlich der deutsch-deutschen Wissenschaftskooperation — aus dem üblichen Rahmen fällt, weil ein zusätzlicher „artfremder“ Faktor hinzukommt.
Im Unterschied zur gängigen internationalen Wissenschaftskooperation, in der im wesentlichen auf die wissenschaftlichen sowie an-und eingebundene ökonomische und vielleicht auch kulturelle Interessen Bezug genommen wird, hat der deutsch-deutsche Wissenschaftsdialog auch und gerade eine deutschlandpolitische Dimension. Zumindest für die bundesrepublikanische Seite ist das gewollt.
Vor dem Hintergrund der Reformbewegungen in den Gesellschaften des „realen Sozialismus“ — die DDR eingeschlossen, auch wenn die offiziellen Verlautbarungen einem zynischen Dogmatismus frönen — ist der deutsch-deutsche Wissenschaftsdialog eine Chance zum Überdenken der Antagonismen, um diese gegebenenfalls zu relativieren. Denn schließlich geht es in den Reformdiskussionen zentral um die Frage nach der Stellung des Individuums in der'zukünftigen Gesellschaft. Und in dem Maße, in dem auch in der DDR die Machtkonzeption eines parteizentrierten Kollektivismus zugunsten einer Theorie individueller Pluralität weiterentwickelt wird, relativiert sich dieser Antagonismus zwischen unseren Gesellschaften in Deutschland.
Die Wissenschaften — die Philosophie und Gesellschaftswissenschaften ebenso wie die Natur-und Technikwissenschaften, wenn sie kritisch-reflexiv sind — sind auch in der DDR an diesem „Wertewandel“ diskursiv beteiligt. Und der wissenschaftliche Dialog mit den Kollegen aus der DDR ist — ob man das nun will oder nicht — zumindest indirekte Teilnahme und Mitwirkung an diesem diskursiven Wertewandel. Das gilt wechselseitig — hier wie dort.
Damit wird nicht einer Einmischung „in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten“ das Wort geredet, sondern den heutigen Gegebenheiten unserer Gesellschaften und ihrem interdependenten Verhältnis zueinander entsprochen. Durch die grenz-und systemübergreifenden Probleme der postindustriellen Gesellschaften muß der „Nachbar“ existentiell am Geschehen im anderen Lande interessiert sein. Nicht nur die ökologischen Themen, sondern auch die Reaktorsicherheit, die AIDS-Forschung, die Bio-und Gentechnologie und sogar die Denkmalpflege u. a. sind Forschungsfelder, in denen nicht nurje eigene, sondern auch gemeinsame Interessen bestehen. Insofern sind die Suche nach Lösungen und deren praktische Umsetzung wechselseitig bedeutsam. Die im Juli 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vereinbarte Zusammenarbeit zu Umweltproblemen macht deutlich, in welche Richtung gedacht und gemeinsam gehandelt werden muß.
Wenn z. B. aus der Bundesrepublik mehrere hundert Millionen DM in die DDR fließen, nimmt man auch Einfluß auf die „inneren Angelegenheiten“ — es sind aber eben nicht nur „innere“, sondern zugleich auch grenzüberschreitende Angelegenheiten, und das gilt für viele Probleme unserer postindustriellen Gesellschaften in Deutschland. Die Beziehungen zwischen uns werden heute und morgen von den neuartigen, systemübergreifenden und analogen Problemen geprägt. Da die gemeinsame Geschichte und Tradition eine günstige Voraussetzung für eine konstruktive Kooperation sind, kann auch eine dogmatische Ab-und Eingrenzungspolitik auf Dauer diese Zusammenarbeit nicht verhindern. Insbesondere auch deswegen nicht, weil in erster Linie die DDR in ökonomischer Hinsicht Nutznießer dieser Kooperation sein wird.
III. Gegenwärtiger Stand
Zwischen dem Kulturabkommen und dem WTZ-Abkommen bestehen wichtige Unterschiede. Im Kulturabkommen liegt das Schwergewicht auf dem Austausch von Wissenschaftlern und Nachwuchs-wissenschaftlern. Dort heißt es in Art. 2: „Die Abkommenspartner . . . fördern 1. Die Entsendung von Delegationen, Wissenschaftlern und Experten zum Zwecke des Erfahrungsaustausches, wissenschaftlicher Information und der Teilnahme an Kongressen und Konferenzen; 2. Den Austausch von Wissenschaftlern zu Vorlesungs-, Forschungs-und Studienaufenthalten;
Den Austausch von Studierenden, insbesondere postgradual Studierenden und jungen Wissenschaftlern zu Studienaufenthalten;
4. Den Austausch von Fachliteratur, Lehr-und Anschauungsmaterial sowie von Lehrmitteln.“
Dagegen wurde bei der Unterzeichnung des WTZ-Abkommens zugleich eine „Projektliste“ mit 27 Vorhaben von den Vertragspartnern vereinbart. Folgerichtig ist die institutionelle Anbindung der Kooperationsvorhaben hinsichtlich der Förderung und administrativen Betreuung unterschiedlich. Die über das WTZ-Abkommen vereinbarten Forschungsprojekte ressortieren beim Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) und werden durch das Büro für zwischenstaatliche Beziehungen (BzB) beim Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IGW) an der Universität Erlangen-Nürnberg betreut. Bis Mitte 1989 waren folgende Ergebnisse zu registrieren: -Inzwischen sind 35 Einzelvereinbarungen zwischen Forschungseinrichtungen aus der Bundesrepublik und der DDR abgeschlossen worden. In diesen Dokumenten werden die Form, der Umfang und die Abwicklung der Kooperation für eine bestimmte Laufzeit geregelt. Deutliche disziplinäre Schwerpunkte bilden die medizinische Forschung mit acht, die Biotechnologie mit fünf und die Atomkemphysik mit vier Einzelvereinbarungen. -Zur Präzisierung und Implementierung der einzelnen Projekte haben bisher über 200 Begegnungen stattgefunden, an denen mehr als 500 Wissenschaftler beteiligt waren.Es bleibt allerdings anzumerken, daß die Wissenschaftler aus der DDR häufiger zu uns kommen 4 s umgekehrt. Diese deutliche Zurückhaltung bunesrepublikanischer Kollegen sollte auf ihre Ursa-s en hin untersucht werden, um einer weiteren ne erenentwicklung rechtzeitig begegnen zu könnnueinem Zwischenbericht hat der Leiter des BzB, unter Lauterbach, kürzlich festgestellt: „Die Zusammenarbeit im Bereich Wissenschaft und Technik mit der DDR hat 1989 an Qualität gewonnen. Die Zeit des gegenseitigen Sich-Kennenlemens und Vorstellens der eigenen Forschungsarbeit und Forschungseinrichtungen ist — bis aufwenige Projekte, in denen erst lose Kontakte zwischen den Kooperationspartnern bestehen, im Wesentlichen abgeschlossen. Man hat damit begonnen, gemeinsame Forschungsprojekte zu definieren und arbeitsteilig bzw. gemeinsam in Angriff zu nehmen. Die neue Qualität zeigt sich insbesondere in der Zunahme der längerfristigen Gastforscheraufenthalte.“ 3)
Der über das Kulturabkommen geregelte Austausch von Wissenschaftlern wird von mehreren Institutionen betreut und gefördert: — Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (BMB) hat 1988 ca. 400 Wissenschaftlern eine Reise in die DDR ermöglicht und für etwa 250 Wissenschaftler aus der DDR den Aufenthalt bei uns finanziell unterstützt. Vergleiche mit den Vorjahreszahlen ergeben eine steigende Tendenz. Zu den vom BMB geförderten Kooperationsaktivitäten gehören auch die in Art. 12 des Kulturabkommens vereinbarten Arbeitspläne für die Bereiche Kultur, Bildung und Wissenschaft. Unter den für 1988/89 vorgesehenen 100 Vorhaben waren 21 wissenschaftliche Projekte mit einem deutlichen Über-gewicht der Wirtschafts-, Rechts-und Sozialwissenschaften.
Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) wurde der Austausch von Studenten und Nachwuchswissenschaftlern im Rahmen des Kulturabkommens übertragen. Folgende Kontingente sind vereinbart und werden von dieser Institution verwaltet: — Die Bundesrepublik Deutschland stellt jährlich 200 Kurzaufenthalte bis zu einem Monat und 100 Aufenthalte bis zu sechs Monaten für Wissenschaftler und Studenten aus der DDR zur Verfügung. — Die DDR stellt 100 Kurz-und 10 längerfristige Aufenthalte für Wissenschaftler und Studenten aus der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung.
Die Tabelle (S. 6) zeigt, welche Verteilung über die DAAD-Förderung zustande gekommen ist. Interessant ist die disziplinäre Verteilung: Während aus der Bundesrepublik Deutschland Nachwuchswissenschaftler und Studenten der Rechts-, Wirtschafts-und Sozialwissenschaften besonders interessiert sind, in die DDR reisen zu können, rekrutieren sich die Gäste aus der DDR aus den Sprach-und Kulturwissenschaften und den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Das statisti-sehe Material zeigt aber auch, daß die DDR noch keine Studenten in das Austauschprogramm einbezogen hat. Das mag vielerlei Gründe haben, die aber in absehbarer Zeit ausgeräumt werden sollten, denn nach Geist und Buchstaben des Abkommens soll gerade auch dem studentischen Nachwuchs eine Chance gegeben werden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat am 22. Dezember 1988 mit der Akademie der Wissenschaften der DDR eine „Vereinbarung“ getroffen Neben der Förderung gemeinsamer Forschungsprojekte können folgende Aktivitäten finanziell unterstützt werden:
— der Austausch wissenschaftlicher Informationen und Publikationen;
— gemeinsame wissenschaftliche Veranstaltungen; — der Austausch von Wissenschaftlern zu kurz-und langfristigen Aufenthalten.
Für den Austausch von Wissenschaftlern zu langfristigen Aufenthalten (bis zu sechs Monaten) sind jährlich 25 Monate, für den Austausch zu kurzfristigen Aufenthalten (bis zu vier Wochen) sind jährlich insgesamt 60 Wochen vorgesehen. Nach Auskunft der DFG lagen bis zur Jahresmitte nur wenige Anträge von Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik vor. Sehr viel größer ist indessen das Interesse aus der DDR, als Gastwissenschaftler an Institute indie Bundesrepublik zu gehen. Bisher liegen der DFG bereits mehr als 40 Anträge auf Gastaufenthalte von Wissenschaftlern aus der DDR vor. Die bundesdeutschen Wissenschaftler sollten dagegen verstärkt auf die vorhandenen Möglichkeiten hingewiesen werden.
Die Volkswagen-Stiftung hat im Frühjahr 1989 eine begrüßenswerte Initiative „Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen in der Deutschen Demokratischen Republik“ in ihr Programm aufgenommen Dieses Programm ist ausdrücklich als Ergänzung zu den staatlich geförderten Kooperationsaktivitäten auf der deutsch-deutschen Ebene ge dacht. Erste Anträge sind bereits eingegangen. Es wäre zu wünschen, daß insbesondere aus dem Bereich der Geistes-und Sozialwissenschaften diese Möglichkeiten genutzt würden.
IV. Einige Einsichten
Eine internationale oder intersystemare Wissenschaftskooperation läßt sich auf verschiedene Weise begründen:
-Da ist das primär wissenschaftliche Interesse: Weil der Kollege in einem Institut eines anderen Landes interessante Arbeiten mit respektablem Niveau durchgeführt hat, ist es für die eigenen Arbeiten bedeutsam, mit ihm zu kooperieren. Bei der Beurteilung der deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen sollte diesbezüglich zwischen Natur-und Technikwissenschaften einschließlich der Schlüsseltechnologien und den Geistes-und Sozial-wissenschaften (Gesellschaftswissenschaften) unterschieden werden.
Nicht für alle Forschungsvorhaben der Projektliste gilt, daß der Stand der Forschung in der DDR die bundesdeutschen Wissenschaftler zu investitionsträchtiger Kooperation hoch motiviert. Für die Natur-und Technikwissenschaften sind genaue Differenzierungen und Bewertungen nötig. Das Ergebnis korrespondiert dann nicht immer mit den Kooperationswünschen der DDR, die unter Umständen in den Bereichen kooperieren möchte, die für uns nicht interessant sind oder aus anderen Gründen ausgeklammert werden müssen. Dann gilt es, einen Motivationsausgleich auf anderer Ebene zu finden.
Für die Geistes-und Sozialwissenschaften zeichnet sich eine positive Tendenz ab. Wenn sie sich entsprechende Kenntnisse über ihre Disziplin in der DDR angeeignet haben — das ist allerdings noch die Ausnahme —, sind bundesdeutsche Wissenschaftler an einer Kooperation sehr interessiert.
Selbst in den „ideologienahen“ Disziplinen und Fächern sind schon interessante Konferenzen durchgeführt worden, und es bahnen sich dort auch projektförmige Kooperationen an.
Das wird verständlich, wenn man weiß, daß — weniger spektakulär als in der Sowjetunion — auch in der DDR sehr bedeutsame Theoriediskussionen und auch -kontroversen von den Gesellschaftswissenschaftlern geführt werden. Psychologie, Historographie, Soziologie und auch Philosophie sind durchaus interessante Kooperationsdisziplinen.
Es bleibt zu hoffen, daß das erfreuliche Interesse auf unserer Seite nicht durch politische Bedenken Von Seiten der DDR (die SED schätzt diese Wissenschaftskontakte immer noch als Gefahrenquelle ein) zurückgedrängt wird.
-Nebendem vornehmlich wissenschaftlichen In-
teresse ist das ökonomische oder produktionsorientrte Interesse für die WTZ zu nennen. Die Projektliste gibt dafür einige Beispiele. Sie zeigt aber auch, daß mit dieser Absicht vor allem von seifen er DDR Projektvorschläge gemacht werden. Das ist legitim und entspricht durchaus den Erfahrungen internationaler und intersystemarer Wissenschaftskooperation. Der Interessenausgleich — in der Vertragssprache „zum beiderseitigen Nutzen“ — sollte dann durch eine ausgewogene Verteilung der Aktivitäten zwischen unterschiedlichen Interessen-und Motivationsebenen gewährleistet werden.
Das macht allerdings Schwierigkeiten, denn die DDR hat sich feste Quoten für den Wissenschaftlerverkehr vorgegeben. Das ist nicht nur politisches Kalkül, sondern auch den begrenzten Ressourcen geschuldet.
In der Realität entsteht dadurch allerdings — schon jetzt absehbar — eine Beeinträchtigung der Geistes-und Sozialwissenschaften zugunsten der ökonomierelevanten Natur-und Technikwissenschaften. Da sollte man frühzeitig gegensteuern. — Schließlich sollte man als Motivationshintergrund für die Wissenschaftskooperation noch das deutschlandpolitische Moment berücksichtigen. Es kann und darf natürlich nicht dominieren, denn dann könnte die Wissenschaftskooperation leicht zur politischen Agitation degenerieren. Aber aus-klammem kann man diese Motivationsebene nicht, und schließlich entspricht ein — neben wissenschaftlichen und ökonomischen Interessen mitwirkendes — politisches Motiv der von beiden Regierungen vertretenen Dialogpolitik.
Daß es in der Startphase der deutsch-deutschen Wissenschaftskooperation zu politischen und bürokratischen Problemen und Pannen kommen würde, war vorhersehbar. Man kann heute auch sagen, daß beide Seiten um eine Überwindung von Engpässen und Hindernissen bemüht sind. Einige weiterhin bestehende Hemmnisse sollen beispielhaft erwähnt werden: — Aus bundesdeutscher Sicht sind die Einreisemodalitäten immer noch sehr zeitaufwendig und bürokratisch. Zumindest den Projektmitarbeitern sollten Dauervisa zugestanden werden. Aber auch der Grenzübertritt zu Konferenzbesuchen und Studienaufenthalten sollte erleichtert werden. — Seitens der DDR sollte die Informationsbereitschaft über institutionelle und personelle Angelegenheiten in den Instituten und vor allem an den Universitäten deutlich ausgebaut werden. Insbesondere der Wissenschaftler-und Studentenaustausch kann sich nur positiv und expansiv entwikkeln, wenn über das akademische Innenleben mehr bekannt wird, als das bisher der Fall ist. — Schließlich muß gefordert werden, daß — insbesondere für den Bereich der Natur-und Technik-wissenschaften — der Transfer von wissenschaftlichen Apparaten und Geräten aus der Bundesrepu7 blik Deutschland in die DDR nicht durch Sonder-zölle belastet und damit verhindert wird. Wenn ein Institut in der DDR im Rahmen der gemeinsamen Projektforschung vom bundesrepublikanischen Partnerinstitut eine entsprechende apparative Hilfe bekommt und der Institutsleiter in der DDR aus seinem ohnehin knappen Valutakonto einen hohen Einfuhrzoll bezahlen muß, dann ist dies kontraproduktiv.
Viele Hemmnisse und Hürden sind bürokratischer Herkunft. Bisherige Erfahrungen berechtigen zu der Hoffnung, daß die Einsicht in die Notwendigkeit und Nützlichkeit der deutsch-deutschen Zusammenarbeit auch zur Beseitigung noch bestehender Probleme führen kann. Sie müssen nur — auch von den Betroffenen — den entsprechenden Instanzen bekannt gemacht werden.
V. Bausteine einer Perspektive
In beiden deutschen Gesellschaften ist in den letzten Jahrzehnten eine Aufwertung der Wissenschaften erfolgt. Gemeint ist nicht eine Aufwertung im Bewußtsein und Ansehen der Bürger, sondern hinsichtlich der Leistungen von Wissenschaft und Technik für die Entwicklung der postindustriellen Gesellschaft. Wissenschaft ist — hier wie dort — neben Politik und Ökonomie zu einem „primären Teilsystem“ geworden. Die Bundesrepublik und die DDR setzen auf die Leistungssteigerung der Wissenschaften, um das angestrebte Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Faktum ist aber, daß die Politik in beiden Staaten dieses forschungspolitische Konzept — wie modifiziert auch immer — verfolgt. Eine Möglichkeit, die Leistungssteigerung des eigenen Wissenschaftssystems zu erreichen, ist die internationale und die intersystemare Kooperation. Insbesondere die DDR sieht die deutsch-deutsche WTZ unter diesem Vorzeichen.
Zur richtigen Einschätzung und Beurteilung der deutsch-deutschen Kooperation — auch im Sinne einer realistischen Perspektive — gehört es, das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, wie es sich heute darstellt, genauer zu untersuchen. Erst dann läßt sich sagen, was man eigentlich auf lange Sicht mit der WTZ bewirken will, denn die kurz-und mittelfristige Effektivitätssteigerungist schließlich nur ein Teil der Auswirkungen, die diese Wissenschaftskooperation hervorbringt.
In der aktuellen Wissenschaftsforschung betrachtet man Wissenschaft und Technologie als eine gesellschaftliche Problemlösungsinstanz. Die modernen Schlüsseltechnologien — die energetische, die biound gentechnologische und informationelle — lösen im Umgang mit Natur und Gesellschaft Probleme. Aber auch die Geistes-und Sozialwissenschaften schaffen neues Wissen, das zur Bewältigung von sozialen, politischen und anderen Aufgaben genutzt wird. Insofern sind Probleme — gesellschaftliche oder auch wissenschaftliche — die Keimzelle des Neuen, das von der Wissenschaft erst zu finden ist.
In der Wissenschaftsforschung besteht Einvernehmen, daß die Wissenschaften nicht nur Probleme lösen helfen, sondern mit ihren Innovationen zugleich wieder neue und qualitativ neuartige Probleme und Problembündel schaffen. Jede praktisch gewordene Innovation ist die Geburtsstätte eines Problems. Diese eigentümliche Dialektik im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist gegenüber den früheren Industriegesellschaften qualitativ neu. Und dies gilt für alle hochentwickelten, technologieorientierten Gesellschaften — also auch für die DDR.
Im technologischen Zeitalter wird das Handeln in diesen Gesellschaften durch die Innovationsleistungen vor allem der Naturwissenschaften und der Technologien problematisiert, weil mit diesen Innovationen neuartige Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Um die Qualität dieser Probleme, ihre Neuartigkeit zu erkennen, muß man sich bewußt machen, daß die überkommenen, tradierten Normen und Werte — hier die liberaldemokratisch-pluralistischen, dort die zentralistisch-kollektivistischen — uns keine angemessene Orientierung zu Entscheidungen über die neuen Möglichkeiten mehr geben. Der Übergang in das Technologiezeitalter deutet sich als Orientierungskrise an. Der Ruf nach Orientierungswissen — hierzulande nachdrücklich an die Geistes-und Sozialwissenschaften gerichtet — entspricht durchaus einer richtigen Situationsanalyse. Und die Reformbemühungen in den sozialistischen Staaten sind vor diesem Problemhintergrund auch als Reaktion auf eine solche Orientierungskrise zu verstehen.
Die technologische Entwicklung unserer Gesellschaft, zunächst über einen mehr oder weniger forcierten wissenschaftlich-technischen Fortschritt ökonomisch ausgerichtet, ist inzwischen gesamtgesellschaftlich wirksam geworden und labilisiert unsere Norm-und Wertesysteme. Das gilt gleichermaßen für die Gesellschaften in Ost und West, für die Bundesrepublik wie für die DDR. Wenn aber die Gesellschaften in Ost und West mit ihrer zunehmenden Technologisierung einen tiefgreifenden Norm-und Wertwandel erfahren, dann trifft die Rede von der Koexistenz als Kennzeichnung ihrer Beziehungen zueinander einfach nicht mehr zu. Die Evolution der bundesrepublikanischen und die der DDR-Gesellschaft schafft dann eine Koevolution. Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Situation sei ein kurzer historischer Rückblick erlaubt: Als Marx die Produktionsverhältnisse der aufkommenden Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert (am Beispiel Englands) analysierte und den Klassenantagonismus systematisch aufdeckte und theoretisch verortete, tat er dies anhand seines Konzepts einer „Politischen Ökonomie“ für das 20. Jahrhundert. Seine geniale Leistung war der theoretische Vorgriff auf das nächste Jahrhundert, denn er entwikkelte dieses Theorem im Blick auf die eben erst embryonalen Ansätze der aufkommenden Industriegesellschaft. Wissenschaft und Technologie haben insbesondere mit den Schlüsseltechnologien und den globalen Problemen in ihrem Gefolge neue gesellschaftliche Verhältnisse herbeigeführt. Diese sind bereits weiter ausgereift als die industriegesellschaftlichen Verhältnisse in der Zeit, als Marx seinen theoretischen Entwurf entwickelte. Wir haben heute aber wedereinen bürgerlichen noch einen marxistischen Denker, der einen angemessenen Entwurf einer Theorie der Politischen Ökonomie des 21. Jahrhunderts zur Diskussion stellt.
In den unterschiedlichen Gesellschaften verstärken sich daher die Diskussionen und Kontroversen um Modifizierung und Weiterentwicklung ihres Orien-
tierungswissens. In diesen öffentlichen Diskurs sind die Wissenschaften — insbesondere die Geistes-und Sozialwissenschaften — eingebunden und haben darin eine bestimmte Funktion zu erfüllen.
Wenn man vor diesem Hintergrund das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander charakterisiert, dann muß man feststellen, daß wir aus einer Phase der „friedlichen Koexistenz“ hinüberwechseln in eine Phase der ideologischen Koevolution.
Die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Gesellschaften ereignet sich in diesem politischen und gesellschaftlichen Kontext.
Die Theorie der „friedlichen Koexistenz“ war arrogant und aggressiv zugleich. Arrogant, weil jede Selbstkritik am eigenen System ausgeklammert wurde, und aggressiv weil man dem „Klassenfeind“
eigentlich keine Existenzberechtigung zugestanden hat — dies freilich alles unter der Voraussetzung, in der Systemauseinandersetzung keine kriegerischen Mittel zu verwenden.
Heute erleben wir einen ideologischen Aufbruch in en sozialistischen Staaten und Gesellschaften, ein ernsthaftes Bemühen um die Weiterentwicklung f r Theorie des Sozialismus hin zu einer leistungs-
ahigen und demokratischen Gesellschaftsordnung.
Wir sehen natürlich auch die konservativen und reaktionären „Bremser“. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß sich die Schwächen und Mängel der gesellschaftlichen Praxis nicht allein durch den Glauben an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die Einführung neuer Technologien aufheben lassen. Und es hat sich wohl bei den Reformern die Einsicht eingestellt, daß ein nur technokratisches Effektivieren der sozialistischen Gesellschaften die eigentlichen Probleme nicht beseitigt.
Eine Wissenschaftskooperation, die einer solchen Situation gerecht werden will, kann ebenfalls nicht technokratisch verkürzt angegangen werden. Wer wissenschaftliche Kooperation von der Sache und den Problemen her angemessen gestalten will, kann nicht die Energietechnologie, die Bio-und Gen-technologie oder die Informationstechnologie nur auf ihre naturwissenschaftlichen Fragestellungen reduzieren, aber die involvierten gesellschaftlichen Aspekte und Folgeprobleme abtrennen und als „innere Angelegenheiten“ des jeweiligen Partners immunisieren. Die in der intersystemaren wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit thematisierten Problemfelder sind in ihrer interdisziplinären Komplexität gemeinsam zu bearbeiten, denn nur so können für die systemübergreifenden Probleme komplementäre und kompatible Lösungen gefunden werden. Es zählt aber insbesondere auch zu dieser Problemlösung, daß die ordnungspolitische Theoriediskussion mitgeführt wird.
Natürlich sind dies sensible Themen. Daher wäre es eine Belastung gewesen, sie schon in der Startphase der deutsch-deutschen WTZ angemessen einzubeziehen., Auf Dauer kann man sie jedoch nicht aus-klammem. So gesehen treten wir in eine neue Epoche der Systemauseinandersetzung. Es geht nicht darum, den anderen zu missionieren und zu agitieren, sondern ihn in seinem Bemühen um einen theoretischen Entwurf seiner Gesellschaft für das 21. Jahrhundert kritisch-konstruktiv zu begleiten. Die Systemauseinandersetzung wird diskursiy, und die Wissenschaften haben in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle. Sie werden dieser neuen Situation nur dann gerecht, wenn die Technologen gesellschaftstheoretisch sensibilisiert handeln und wenn die Gesellschaftswissenschaftler sich mit der naturwissenschaftlichen Problemmaterie so vertraut machen, daß sie den ordnungspolitischen Diskurs auf einer konkreten Grundlage führen können. Dann erst wird die Systemauseinandersetzung als ideologische Koevolution ein für die Zukunft verantwortungsbewußtes Handeln.
Clemens Burrichter, Dr. phil., geb. 1932; Direktor des Instituts für Gesellschaft und Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Wissenschaft und Entspannung — Beiträge vom XL Erlanger Werkstattgespräch 1979; (Hrsg.) Ein kurzer Frühling der Philosophie — DDR-Philosophie in der , Aufbauphase 1, Paderborn 1984; (Hrsg.) Wissenschaftsforschung — Neue Probleme, neue Aufgaben, Erlangen 1985; (Mitherausgeber) Wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit in den gegenwärtigen Ost-West-Beziehungen, Erlangen 1988.
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