Politikwissenschaft und Zeitdiagnose in der Bundesrepublik Deutschland
Göttrik Wewer
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Zusammenfassung
Es ist allgemein unstrittig, daß die nach 1945 im westlichen Teil Deutschlands in zunächst bescheidenem Umfang wiederbegründete Politikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten trotz aller fachinternen Differenzen erheblich an methodischer und theoretischer Stringenz gewonnen hat. Mit der Professionalisierung der politikwissenschaftlichen Forschung ging jedoch eine innerfachliche Ausdifferenzierung und Spezialisierung einher, die wiederum die Frage aufwarf, ob das Fach nicht seine eigentliche Aufgabe, die Analyse und Deutung der großen Linien unserer Zeit, mehr und mehr aus den Augen verliere. Haben der Politikwissenschaft nicht Philosophen. Soziologen und Historiker längst den Rang abgelaufen, wenn es darum geht, Gegenwartsdeutungen und etwa auch Zustandsdiagnosen der Bundesrepublik Deutschland zu erstellen? Ausgehend von der umstrittenen, gleichwohl üblichen Dreiteilung der Disziplin nach metatheoretischen Grundpositionen läßt sich sagen, daß normativ-ontologische Theorien einerseits und kritisch-dialektische Positionen andererseits eine gewisse Affinität zu Zeitdiagnosen besitzen. Bei empirisch-analytischem Selbstverständnis ergibt sich eher Skepsis gegenüber zeitdiagnostischen Bemühungen und ihren Vereinfachungen und Überzeichnungen, wiewohl auch Vertreter dieses Ansatzes gelegentlich Zustandsdiagnosen der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt haben. Die methodische und theoretische Kritik an Zeitdiagnosen geht insofern fehl, als sie in der Regel übersieht, daß diese mehr oder minder bewußt vereinfachen und dramatisieren, um öffentliche Wirkung zu erzielen. Zeitdiagnosen zielen weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn denn auf Beeinflussung der Öffentlichkeit. Wenn es heute stärker Historiker sind, die Zeitdiagnosen abgeben, und weniger Politikwissenschaftler wie noch Arnold Bergstraesser, Emst Fraenkel, Eugen Kogon oder Theodor Eschenburg, dann liegt das nicht an Kompetenzverlusten der Politikwissenschaft und -gewinnen der Geschichte, sondern läßt sich erklären aus Generationenwechsel und Gewißheitsverlusten, Professionalisierung und Spezialisierung. Es gibt keine spezifische Kompetenz eines bestimmten Faches für übergreifende Zeitdiagnosen, und die methodischen Unterschiede zwischen den Nachbardisziplinen schleifen sich zunehmend ab. Nicht zuletzt hinsichtlich der sprachlichen Präsentation ihrer Ergebnisse kann freilich die empirische Politikforschung unserer Tage von den „Gründervätern“ und den Historikern immer noch lernen.
I. Politikwissenschaft und Zeitdiagnose
Eine Antwort auf die Frage, welche fachspezifische Methodik die Politikwissenschaft befähigen könnte, die „Zeichen der Zeit richtig zu deuten“ und auf den Begriff zu bringen, ist aus mindestens zweierlei Gründen schwierig: Zum einen gibt es keine spezifisch politikwissenschaftliche Methodik, statt dessen herrscht im Fach ein gewisser Eklektizismus — ein „Methoden-Mix" zwischen geisteswissenschaftlicher Grundlagenmethodik und den Techniken der empirischen Sozialforschung — vor; zum anderen aus Gründen innerwissenschaftlicher Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Kurz gesagt: Es gibt nicht die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, sondern unterschiedliche Erkenntnisinteressen, Untersuchungsfelder und Methodenpräferenzen. Wenn man von der umstrittenen, gleichwohl üblichen Dreiteilung des Faches nach erkenntnistheoretischen Grundpositionen ausgeht (rechts im Schaubild dann würde man am ehesten bei Vertretern eines normativ-ontologischen Verständnisses vom Menschen, der Politik und der Welt einerseits und von Vertretern kritisch-dialektischer Ansätze andererseits einen Hang zu „zeitdiagnostischen“ Bemühungen vermuten 1). Wo die ersteren einen Verfall der Werte und der politischen Führungskunst beklagen, da liefern letztere unermüdlich Krisendiagnosen am Totenbett des Spätkapitalismus und zeigen stets aufs neue, daß er an systemische Grenzen stößt. Inwieweit die neueren Entwicklungen in der Sowjetunion, in China, in Ungarn oder Polen hier auch im marxistischen Denken des Westens eine Änderung bringen, muß noch abgewartet werden.
Wie Carl Bohret und seine Mitarbeiter gezeigt haben (Schaubild folgen aus den unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grundpositionen in der Regel auch unterschiedliche methodische Präferenzen. Man könnte also sagen, daß die alten, „verstehenden“, „intuitiven“, „weichen“ geisteswissenschaftlichen Methoden eher Spekulationen über „Zeitgeist“ und „Zustand“ der Republik zulassen als die moderneren, „harten“ Techniken der empirischen Sozialforschung, die mit dem „Killer-Instinkt“ des Kritischen Rationalismus ohnehin stärker auf die Destruktion statt auf die Konstruktion von Hypothesen gerichtet sind, und daß Marxisten, insbesondere dogmatische, jeweils vorliegende Erkenntnisse irgendwie „dialektisch“ in das vorgegebene Theorieschema zu pressen versuchen, wobei eine methodische Rationalisierung und Kontrolle eher hinderlich ist. Man könnte daraus die Hypothese ableiten: Je stärker sich eine geistes-, kultur-oder sozialwissenschaftliche Disziplin, von Einzelgängern abgesehen, am szientistischen Ideal ausrichtet, desto mehr geht ihr insgesamt die „Kompetenz“ für „Zeitdiagnosen“ verloren. Daß es heute primär Historiker und Philosophen sind, die als Diagnostiker auftreten, ließe sich damit erklären; weniger jedoch, daß sich zu ihnen offenkundig mehr Soziologen als Politologen gesellen. Wir müssen also nach weiteren intervenierenden Variablen suchen.
Die politikwissenschaftlichen Repräsentanten einer empirisch-analytischen Erkenntnistheorie, Wirklichkeitsanalyse und Erfahrungswissenschaft dürften dagegen „zeitdiagnostische“ Bemühungen prinzipiell skeptisch beurteilen. Alf Mintzel hat diese Skepsis gegenüber „Zeitdiagnosen“ exemplarisch an der Parteienforschung unterstrichen: „Effektvolle und medienwirksame Zeitdiagnosen“ würden, so schreibt er mit Blick auf mancherlei Krisen-diagnosen und überzogene Parteienkritik in der Geschichte der Republik und besonders im letzten Jahrzehnt, „von einer nüchternen politiksoziologischen Wirklichkeitsanalyse nach einiger Zeit in der Regel als apokalyptische Visionen oder dramaturgisch effektvolle Vereinfachungen der politischen Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland entschlüsselt“ 2). Bei allem spürbaren Vergnügen von Mintzel an der akademischen Kontroverse schwingt hier eine un-überhörbare Verärgerung des empirischen Parteienforschers mit, der viel Zeit für mühselige Feldarbeit benötigt und nebenher immer wieder das Porzellan wegräumen muß, das leichtfüßige Deutungskünstler vielfach ohne Kenntnis der wichtigsten Literatur, Quellen und Daten und ohne wissenschaftliche Selbstkontrolle öffentlich zerschlagen: „Je weniger die Autoren sich der Kärrnerarbeit der empirischen Parteienforschung widmen, je weniger sie sich um den empirischen Gehalt ihrer Aussagen kümmern und je weniger sie sich den wissenschaftlichen Regeln der Typologisierung, der Modell-und Theoriekonstruktion unterwerfen, desto kühner ihre Thesen. Die immer gefragte und medienwirksame Zeitdiagnose beflügelt illustrative Deutungskunst und faktenillustrierte , diskursive‘ Erörterungen.“
Wenn „diverse Phantom-Kreationen und Konstruktions-Mythen“ von Zeitdeutern „als Schein-wirklichkeiten Gegenstand von (wissenschaftlichen) Kontroversen“ werden und solche ideologischen „Zeitdiagnosen“ mit zusätzlichem Arbeitsaufwand erst wieder mühsam korrigiert werden müssen, dann geht das nicht nur zu Lasten des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Realitätsferne Kunstprodukte von eilfertigen Zeitdeutem beeinträchtigen auch die Reputation der Disziplin insgesamt und ihre Wahrnehmung in der politischen Praxis. Wo Wissenschaft nicht Selbstkontrolle übt, da wird sie zum Hofnarren der Mächtigen und ihre „Zeitdiagnosen" Bestandteil des politischen Tageskampfes: „Der , Pareto-Effekt* ihrer Wirkungen liegt darin, daß vermeintlich bewährte Theorien, Modelle und Typologien im ideologischen Parteien-wettbewerb ungeachtet der Probleme ihrer politischen Herkunft, ihrer Konstruktion, ihrer Opera-tionalisierung und Überprüfung auf dem . politischen Markt'zum Nutzen oder Schaden der einen oder anderen Seite verwendet werden (sog. Pareto-Effekt der Theorien)“, schreibt Mintzel zu recht. „Solche Thesen wirken auf Individuen und Kollektive und verstärken oder modifizieren gefühlsmäßig und zentral politische Assoziationen und Dissoziationen. Die Sozialwissenschaften laufen stets Gefahr, im Sinne des Pareto-Effektes als . Verstärker'und . Apologeten'benutzt zu werden.“
Wer, der die Entwicklungsgeschichte der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland kennt wollte bestreiten, daß es in der Tat solche „Phantom-Diskussionen“ gegeben hat und in Nischen auch heute noch gibt. Das ist im übrigen keine Frage von „links“ oder „rechts“, wie Mintzel ausführlich belegt hat — und die Akzeptanz von „Zeitdiagnosen“ ist auch nicht unbedingt eine Frage von „richtig“ oder „falsch“, wie zu ergänzen ist. Selbst Theodor Eschenburgs öffentliche Einmischungen wirkten gelegentlich antiquiert (wenn er sich etwa mit einer ,, Kurze[n] Historie der Tischordnungsetikette“ beschäftigte) und seine „Beiträge und Kommentare zur Verfassung der Republik“ sind wissenschaftlich verschiedentlich nur begrenzt „up to date“ Aber der „grand old man“ der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft erzielte mit seinen „ZEIT-Diagnosen" zum konkreten „Zustand“ des Gemeinwesens, zur tatsächlichen „Verfassung“ der Republik in den vergangenen Jahrzehnten dennoch eine gewisse Wirkung, weil seine Erfahrung, persönliche Integrität und fachliche Reputation stets unstrittig waren, er Anstands-und Höflichkeitsregeln beachtete und bei aller Kritik an manchen Vorgängen, an politischer Korruption oder dem „Jahrmarktsrummel des Wahlkampfes“, Abgeklärtheit und Gelassenheit erkennen ließ und nie den Grundkonsens der Führungselite der Republik in Politik, Wirtschaft und Medien verließ.
Wichtig ist hier noch der Hinweis, daß auch „harte“ empirische Forschung nicht prinzipiell vor Fehldeutungen und Überzeichnung gefeit ist. Ähnlich sei-, nem „technischen Staat“, in dem die Entscheidungsfreiheit des Politikers nur noch darin bestehen sollte, „zwischen Sachgutachten wählen zu können“, stimmt auch jene These des „Anti-Soziologen“ Helmut Schelsky, die Bundesrepublik Deutschland sei bereits eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, trotz unübersehbarer Angleichungstendenzen zwischen den sozialen Gruppen empirisch bis heute nicht und sie diente in der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse immer eher als willkommene Kontrastfolie, von der man sich in der eigenen Arbeit gut absetzen konnte, denn als zutreffende Diagnose der Wirklichkeit der Bundesrepublik. Heute ist dagegen die Rede von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ jener, die Arbeit und Einkommen haben, und dem Rest ohne Chancen und berufliche Perspektiven.
Die These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ hatte aber in den fünfziger und sechziger Jahren eine enorme Resonanz, weil sie das Selbstverständnis der frühen Bundesrepublik als leistungsorientierte Aufstiegsgesellschaft, der regierenden Parteien und der durch sie vornehmlich repräsentierten Sozialgruppen „auf den Begriff brachte“ Anders gesagt: Sie spiegelte den „Zeitgeist“ des „CDU-Staates“ wider, ohne einer wissenschaftlichen Überprüfung ernstlich standzuhalten. „Zeitdiagnosen“, so könnte man verallgemeinern, beziehen sich — positiv oder negativ — auf den „Zeitgeist“ einer bestimmten Phase; ihre Akzeptanz ist bei positiven Bezügen grundsätzlich größer und wächst, je besser sie den „Zeitgeist“ treffen und je genauer sie ihn artikulieren.
In diesem Sinne läßt sich die von manchen als Kompetenzverlust beklagte Zurückhaltung der Politikwissenschaft, „Zeitdiagnosen“ anzustellen, zum Teil wohl auch aus der Entwicklungsgeschichte der Disziplin in der Bundesrepublik Deutschland von einer hochambitionierten „Demokratiewissenschaft“ zu einer „normal Science“ unter anderen erklären. Dominierte in den fünfziger und auch noch frühen sechziger Jahren die philosophisch-praktische Grundrichtung, so verlagerte sich im letzten Jahrzehnt der „mainstream“ der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft — auch als Reaktion auf die neomarxistischen Krisendiagnosen der späten sechziger und siebziger Jahre — mehr und mehr auf empirische Policy-Analysen, hin zu Implementations-und Evaluationsforschung mit „harten“, quantitativen Methoden, international und interdisziplinär ausgerichtet und komperativ arbeitend
Hans Maier beklagte gegenüber diesen sich damals erst abzeichnenden Entwicklungen des Faches schon vor zwanzig Jahren, daß „die moderne politische Forschung ihre methodische Schärfe und empirische Aussagekraft paradoxerweise gerade einer Einschränkung ihrer Fragestellung zu verdanken“ scheine. Sie wolle nicht mehr wissen (jedenfalls nicht in erster Linie), wozu sich Menschen entscheiden. welche Ziele sie damit verfolgen, sondern sie frage vorrangig nach den Gründen, aus denen sie sich so oder so verhalten. Der Unterschied zwischen älterer Politikwissenschaft und moderner Forschung ergebe sich durch die umfassende Quantifizierung, durch die Konzentration der Fragestellung auf den Grund, nicht mehr auf das Ziel politischer Handlungen und schließlich „durch den Verzicht — oder doch die vorläufige Suspension — der Wertfragen, die jetzt an den Rand des wissenschaftlichen Interesses rücken“. Durch Quantifizierung und Reduktion auf kausale Erkenntnisse operiere die Disziplin „mit gesteigerter Wissenschaftlichkeit in einem reduzierten Arbeitsfeld“, und darin liege „ihre methodische Stärke, aber auch ihre erzieherische Schwäche“
Die These vom Verlust zeitdiagnostischer Deutungskompetenz durch innerwissenschaftliche „Professionalisierung“ der bundesdeutschen Politikwissenschaft seit den siebziger Jahren durch größere methodische und theoretische Strenge, aber auch durch eine Blickfeldverengung aufgrund von Spezialisierung und der Hintanstellung von Bewertungsfragen, wäre allerdings unvollständig ohne Erwähnung des parallel ablaufenden Generationenwechsels im Fach. Persönlichkeiten wie Wolfgang Abendroth, Emst Fraenkel, Otto Heinrich von der Gablentz („Das wissenschaftliche Verständnis der Politik muß sich bewähren an der Darstellung und Beurteilung der offenen Aufgaben der eigenen Zeit“), Eugen Kogon, Dolf Stemberger, die zum Teil in nationalsozialistischen Konzentrationslagern gesessen hatten oder aus der Emigration zurückgekehrt waren, wirkten — unbeschadet der Stichhaltigkeit ihrer Zeitdiagnosen — schon durch ihre Lebensgeschichte und Lebenserfahrung als moralische Instanzen und „erzieherische“ Autoritäten. Die „Gründerväter“ der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland waren, jenseits ihrer inhaltlichen Kontroversen und politischen Standorte, immer auch normative Moralisten und kämpferische Demokraten. Welcher Politik-wissenschaftler und mit welcher Legitimationsbasis würde sich, salopp gesprochen, heute noch für „das Gemeinwohl“ aus dem Fenster hängen, das in dieser Abstraktion ja allenfalls eine regulative Idee ist?
Man wolle neben der selbstverständlichen wissenschaftlichen Verpflichtung der Forschung und Lehre, sagte Otto Suhr in seiner Rede zum zweijährigen Bestehen der neuen Hochschule für Politik in Berlin am 16. Januar 1951, eine „Arbeitsstätte für sachliche Politik“ sein, zugleich aber versuchen, „durch Erfassung der sachlichen Tatbestände auch zur Veredelung der politischen Sitten, der Gesittung im öffentlichen Leben beizutragen“ Welcher gegenwärtige Hochschullehrer würde noch einen solchen Anspruch erheben? Geht es nicht vielmehr dämm, von einer moralisierenden, räsonnierenden zu einer analysierenden Betracht Januar 1951, eine „Arbeitsstätte für sachliche Politik“ sein, zugleich aber versuchen, „durch Erfassung der sachlichen Tatbestände auch zur Veredelung der politischen Sitten, der Gesittung im öffentlichen Leben beizutragen“ 14). Welcher gegenwärtige Hochschullehrer würde noch einen solchen Anspruch erheben? Geht es nicht vielmehr dämm, von einer moralisierenden, räsonnierenden zu einer analysierenden Betrachtung der Politik zu kommen 15)?
Nach ihrem Verständnis als einer „Bildungsanstalt für die Lebensnöte unserer Zeit“ wollte die Hochschule für Politik nach den Worten von Suhr nicht bloß die Ergebnisse der benachbarten Wissenschaften zu einer „politischen Standortslehre“ zusammenfassen, „um zu zeigen, auf welcher Woge unseres Zeitenstromes wir treiben“, sie wollte u. a. auch „zur politischen Gesittung, zum fair play in der Politik erziehen“ 16). Dieser normative Grundzug einer „Integrationswissenschaft“ und „Demokratiewissenschaft“ ist mit der fachspezifischen Professionalisierung — mit der „Soziologisierung" der Politikwissenschaft verloren gegangen — und er ist, weil der „antitotalitäre Nachkriegskonsens“ von neuen Fragen überholt wurde und im gesellschaftlichen Wertepluralismus nicht zu halten ist, in dieser Weise auch nicht mehr — gleichsam künstlich — herstellbar Dies kann nicht ohne Rückwirkungen für die Akzeptanz von irgendwelchen „Zeitdiagnosen“ bleiben.
Wenn Bracher immer wieder betont, es gehe „nach wie vor jedoch vor allem darum, der wirklich zentralen Erfahrung der deutschen Zeitgeschichte gerecht zu werden und die überragende Bedeutung der Unterscheidung von Demokratie und Diktatur sowie des Phänomens der totalitären Verführung im 20. Jahrhundert nicht durch den konzentrischen Blick auf gesellschaftliche oder nationalpolitische Zielsetzungen zu verdrängen“, es gelte „inmitten ideologisch sich verhärtender Positionen und Tendenzen . . ., einer Betrachtungsweise weiterhin Gehör zu verschaffen, die nach 1945 so wesentlich die Neubegründung und Entfaltung einer freiheitlich-demokratischen Politikwissenschaft mit einer ihr verbündeten Zeitgeschichte bei der Vergegenwärtigung des .deutschen Problems* getragen hat“, es gelte also „das Auf und Ab der ideologischen Verführungen zu bedenken, denen Europa und besonders Deutschland seit der Jahrhundertwende ausgesetzt waren, um jene Orientierungsprobleme und Fragen nach dem Sinngehalt der modernen Zivilisation in die richtige Perspektive zu rücken, mit denen die westlichen Demokratien angesichts alter und neuer Weltanschauungskonflikte mit ih-ren irrationalen Wirkungen zunehmend konfrontiert sind“ dann artikuliert er gewissermaßen das Selbstverständnis der „Gründerväter“ der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik
Aber geht es wirklich in erster Linie um ein natürliches Bedürfnis nach „positiven Orientierungspunkte(n) in einer gebrochenen Geschichte“ für die nachwachsenden Generationen und reicht es dabei aus, in einer „postnationalen Demokratie unter Nationalstaaten“ den „Verfassungspatriotismus“ zu beschwören? Kann man Jugendliche ernstlich mit der schlechteren Wirklichkeit im Ostblock überzeugen oder erwarten sie hier und jetzt Antworten auf ihre Ängste und Fragen nach Beruf, Arbeit, Umweltschutz und Lebensperspektiven?
Auch Peter Graf Kielmansegg hielt es in seinem Vortrag „Vom Nutzen und Nachteil der Politikwissenschaft für das Leben“ im letzten Jahr vor dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und in Anwesenheit des Bundeskanzlers für ein Mißverständnis, das Fach vor allem als Problemlösungswissenschaft aufzufassen, „als eine Wissenschaft, die eine ganz bestimmte professionelle Praxis anzuleiten imstande ist, als eine Wissenschaft, die eine ganz bestimmte professionelle Kompetenz vermittelt. Sie mag — in Grenzen und gelegentlich — auch das leisten“; aber zuerst und vor allem sei sie eine „Orientierungswissenschaft“, zu der auch „das philosophische Nachdenken über eine dem Menschen gemäße und bekömmliche Ordnung des Zusammenlebens“ gehöre: „Wir brauchen — jedenfalls in den Komplexitäten der modernen Welt — mehr Orientierungswissen, als wir aus der Erfahrung unmittelbar gewinnen können, und das gilt gerade auch für den Phänomenbereich der Poli-
tik"
Damit artikulierte Graf Kielmansegg das „Programm“ der philosophischen Traditionslinie des Faches, die in den letzten Jahrzehnten etwas in den Hintergrund gedrängt worden ist, aber als integraler Bestandteil der Politikwissenschaft als Gesamt-disziplinnicht in Frage steht und an ihren Grenzen auch nicht abbricht. Die Geisteswissenschaften insgesamt sind auch für den Soziologen Friedrich H. Tenbruck nicht mit dem „Programm des Positivismus“ richtig verstanden, das „bloß ein Erklärungs-, kein Bedeutungswissen“ zu liefern vermag, sondern „die unentbehrlichen Orientierungswissenschaften der modernen Gesellschaft. Die wissenschaftliche Erkenntnis war die Grundlage ihrer Arbeit, die Bildung der Öffentlichkeit ihr Ziel.“ Von diesem Anspruch, „Orientierungen“ zu (historisch gesättigten) „Zeitdiagnosen“ anzubieten über die „spezifischen Lagen und Fragen der eigenen Kultur“ zur (als gefährdet angesehenen) „kulturellen Identität“, ist es nur ein kleiner Schritt: Tenbrucks jüngste Veröffentlichungen sind eine „Zustandsdiagnose“ seiner eigenen Disziplin und durchaus als „Zeitdiagnose“ gemeint.
Die streitbare Bereitschaft der Generation der „Gründerväter“, die Zeichen der Zeit kritisch zu deuten und sich für das Gemeinwohl einzusetzen, hat aus objektiven wie subjektiven Gründen heute im Fach abgenommen. Das zentrale Motiv für die „Gründer“ des Faches, die Sorge um die zweite Republik nach dem Scheitern der ersten, ist längst nicht mehr der wichtigste Antrieb für Forschungen und Publikationen, und nach den hitzigen Debatten der siebziger Jahre geht die Disziplin heute eher unspektakulär ihren Geschäften nach: „Da präsentiert sich eine Wissenschaft ruhig, diszipliniert und solide, gelegentlich auch zu umständlich oder belanglos“, so die Diagnose von Gunter Hofmann in der „Zeit“. „Die Aufsässigkeit von einst jedenfalls ist weg. Die Politologen wollen nüchtern mitreden bei dem großen Thema dieser Jahre.“ Das Bedauern von Hofmann führte bei Günther Nonnenmacher in der „Frankfurter Allgemeinen“ zu grundsätzlicheren Überlegungen über „Politik als Wissenschaft“ und zu dem Plädoyer für einen „trotz aller Schwierigkeiten aufrechterhaltenen Willen zur Synthese“: „Bei aller notwendigen Spezialisierung braucht die Disziplin einen geistigen Mittelpunkt, der die wissenschaftliche . Identität* und die akademische Einheit des Faches begründet. Dieser Mittelpunkt kann nur die ständige Reflexion auf die Konsequenzen der „ungeselligen Gesellschaft* (Kant) des Menschen sein . . . Schon damit die Politikwissenschaft nicht ständig auf den in anderen Fächern bereits vorgestern erarbeiteten Erkenntnisstand zurückfällt, bedarf die Tendenz zur Abkopplung von den Geisteswissenschaften, vor allem von Geschichte und Philosophie, eines Gegengewichts. Das läßt sich sogar, bei aller Einsicht in die Notwendigkeit von Spezialisierung und Professionalisierung, mit Blick auf die Berufschancen von Politologen begründen: Fachleute für alles mögliche gibt es genug; für Fachleute, die den Blick für das Allgemeine nicht verloren oder ihn sogar methodisch trainiert haben, wird es dagegen immer Bedarf geben.“
Wo ein Emst Fraenkel getreu seiner Maxime, Politologie sei „kein Geschäft für Leisetreter und Opportunisten“ gegen „Strukturdefekte der Demokratie“ anschrieb, da blieben seine Apologeten und Gralshüter und eine inzwischen etablierte Disziplin merkwürdig still, als in den letzten Jahren der Verfassungs-und Gesetzesbruch von Parteien und Politikern bei Beschaffung ihrer Mittel und ähnliche „Pathologien der Politik“ ans Licht kamen. Jedoch: „Der Anhänger der repräsentativen Demokratie sollte der erste sein, der seine Stimme gegen den Mißbrauch des Amtsprinzips erhebt, wie dies in Schleswig-Holstein im Jahre 1987 durch Ministerpräsident Uwe Barschel in einer derart ungewöhnlichen Form geschehen ist, daß die repräsentative Demokratie schweren Schaden gelitten hat.“
Gewiß gibt es manches übereilte Geschrei um — vermeintliche oder tatsächliche — Affären und Skandale in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Aber gerade jene, die die Einhaltung der „Spielregeln“ der Demokratie von Demonstranten, Hausbesetzern und Umweltschützern unaufhörlich einfordern, blieben in allen diesen Fällen stumm. Überspitzt formuliert: Wer als Wissenschaftler offensichtlich nach parteitaktischen Gesichtspunkten spricht oder schweigt, fällt als moralische Instanz aus. Anders gesagt: Nur wer glaubhaft macht, daß er sich mit ganzer Person und eigenem Risiko für das Gemeinwohl engagiert, hat eine gewisse Chance, im gesellschaftlichen Wertepluralismus und im schnellebigen Medienzeitalter mit kritischen Zeitdiagnosen auch bei denen Gehör zu finden, die nicht im eigenen Lager stehen.
Generationenwechsel und Professionalisierung müssen außerdem vor dem Hintergrund der Geschichte der Republik seit 1949 und der fachinternen Konflikte gesehen werden. Konnten Eugen Kogon und mehr noch Theodor Eschenburg mit ihren Reden und Artikeln noch eine gewisse Wirkung auf die öffentliche Meinung und die Politik erzielen, weil man sie zumindest als integre und herausragende Persönlichkeiten allgemein akzeptierte, da wurden die unablässig produzierten Krisendiagnosen der späteren Jahre rasch als zu leicht befunden und von der Wirklichkeit widerlegt.
Die heutige Reserve in der bundesdeutschen Politikwissenschaft gegenüber „Zeitdiagnosen“ rührt weniger aus der „Tendenzwende“ im Zeitgeist seit Mitte der siebziger Jahre, der politischen Wende in Bonn, der katastrophalen Situation an den Hochschulen und der aussichtslosen Lage für den Nachwuchs oder ähnlichen Gründen. Sie ist vorrangig zu verstehen als der Versuch, das mühsam gekittete Porzellan der siebziger Jahre und das neu erworbene Ansehen des Faches nicht wieder leichtfertig aufs Spiel zu setzen. In diesem Sinne ist es für die Diagnose des Zustandes der Disziplin zwar symptomatisch, daß ein eher konservativer Staatsrechtslehrer die normative Politikwissenschaft zu „rehabilitieren“ versucht, „Wertanalysen“ einfordert und das Fach an seine Ursprünge erinnert ist aber auf der anderen Seite die Zurückhaltung gegenüber leichtfertigen (Krisen-) Diagnosen, die allzu oft den empirischen Test nicht bestehen, und ideologisch geprägten Debatten durchaus verständlich und durchaus berechtigt. Aber ist nicht etwas dran an der Kritik von Hans Herbert von Arnim, daß die weitgehende Ausblendung des Normativen seitens des „Hauptstroms“ der Politikwissenschaft diese blind gemacht habe für „ihre eigentliche Berufung: die Beschäftigung mit dem Gemeinwohl, verstanden als Wohl der Bürger insgesamt“?
-ziel, -interesse Wertbezug Methoden/Vorgehensweise Grobe Zuordnung politikwissenschaftlicher Positionen Schaubild 2: Wissenschaftstheoretische Grundströmungen Normativontologische Theorien Empirisch-analytische Theorien Dialektisch-historische Theorien S. 417. — Existenz einer objektiven Wahrheit — Wahres und Gutes durch Wissenschaft zu finden — Wirklichkeit nur durch Erfahrung und Beobachtung erfaßbar — keine absolute Wahrheit (Neoঈࠠ
-ziel, -interesse Wertbezug Methoden/Vorgehensweise Grobe Zuordnung politikwissenschaftlicher Positionen Schaubild 2: Wissenschaftstheoretische Grundströmungen Normativontologische Theorien Empirisch-analytische Theorien Dialektisch-historische Theorien S. 417. — Existenz einer objektiven Wahrheit — Wahres und Gutes durch Wissenschaft zu finden — Wirklichkeit nur durch Erfahrung und Beobachtung erfaßbar — keine absolute Wahrheit (Neoঈࠠ
Ein Stichwort „Zeitdiagnose“ oder „Zustandsdiagnose“ des Gemeinwesens sucht man in Handbüchern und Einführungen von Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland vergeblich. Am nächsten kommt dem wohl noch die „politische Lageanalyse“ von Hans-Joachim Arndt. Der Autor streitet hier sowohl gegen normative als auch gegen szientistische Universal-Ansprüche beim Verstehen und Erklären von Politik, die „lange-inadäquat“ an der konkreten politischen Situation Mitteleuropas vorbeigezielt hätten (und vorbeizielen würden), und plädiert für eine Analyse von konkreten politischen Subjekten in konkreten Lagen. Durch solche „konkreten Lageanalysen“ rücke Politikwissenschaft „sehr nahe an die Geschichtswissenschaft heran, auch an die Geographie, speziell die Politische Geographie, gar eine Geopolitik“, und die „politische Lageanalyse“ scheine deshalb durchaus „geeignet sowohl für anspruchsvolle wissenschaftliche Aus-und Fortbildung als auch für Entscheidungshilfe in politischen Lagezimmern"
Wie es mit der tatsächlichen Nachfrage nach derartigen „Lageanalysen“, die durchaus an manche national oder nationalistisch inspirierten „Sinnstiftungen“ der letzten Jahre bei der neuen Suche nach „Identität“ erinnern, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Im Fach jedenfalls ist dieser Vorschlag mit Schweigen übergangen worden. Wenn aber nicht „Lageanalysen“, was sind dann eigentlich „Zeitdiagnosen“? Abstrakt lassen sich mindestens vier Bedeutungen bzw. Spielarten von „Zeitdiagnose“ unterscheiden:
— „Krisentheorien“, in der Regel Konkretisierungen von Geschichtsphilosophien wie des Marxismus(-Leninismus), die von durchgängigen Bewegungsgesetzen der Geschichte ausgehen und historische Konstellationen und konkrete Phänomene lediglich innerhalb dieses (teleologisch mehr oder minder geschlossenen) Interpretationsschemas verorten; — „Verfallstheorien“ eines Kulturpessimismus, der den sozialen und kulturellen Wandel negativ einschätzt, einen Verfall der Werte beklagt und sich gegen den allgemeinen „Zeitgeist“ zu stemmen versucht, ohne allzu optimistisch zu sein;
— „Versuchstheorien“ aus der Zeitbewegung, aus der Sicht von Beteiligten und Betroffenen in Wissenschaft und Gesellschaft, die, oft tastend noch, das Neue „auf den Begriff“ zu bringen und dem „Zeitgeist“ Ausdruck zu verleihen versuchen, ohne daß diese subjektivistische Sichtweise in jedem Fall schon wissenschaftlich überzeugend wäre;
— Theorien sozialen Wandels oder „Modernisierungstheorien“, die die Entwicklung (beispielsweise der Bundesrepublik Deutschland in vierzig Jahren) empirisch registrieren, ohne sich ideologisch-strategisch oder politisch-praktisch vereinnahmen zu lassen.
Es liegt auf der Hand, daß solche „Diagnose aus der kühlen Distanz des Analytikers“ dem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch am nächsten kommt, daß aber „Verfallstheorien“ und „konkrete Utopien“ am ehesten als „Zeitdiagnosen“ gelten können. Denn hier liegt, aus entgegengesetzten Blickwinkeln, die Betonung auf dem „Zeitgeist“, der „geistigen Verfassung“ der Republik, und dem entspricht in der Geschichte die Erkenntnis, „daß historische Epochen nicht einfach aus ihrer sozialen Verfassung abzuleiten sind, sondern eine besondere geistige Struktur zeigen, deren Züge der Historiker von jeher unter dem Begriff des Zeitgeistes zu fassen versucht hat“
Es drängt sich der Einwand auf, daß „Theorie“ kein passendes Synonym für „Diagnose“ ist. Denn im Begriff „Diagnose“ steckt unterschwellig zugleich die Annahme einer gewissen Unruhe, eines Unwohlseins, einer Krankheit. Wer gesund ist, muß sich nicht in ärztliche Behandlung begeben, wer keine Therapie will, braucht auch keine Diagnose. Wenn Arnulf Baring uns einen „neuen Größenwahn“ bescheinigt, weil manche (viele? die Mehrheit?) in träumerischer Selbstüberschätzung anzunehmen scheinen, wir könnten aus eigener Kraft und ganz risikolos nach der Westintegration nun eine vergleichbar intensive, ähnlich positive Ost-orientierung bewerkstelligen, ohne das amerikanische Fundament zu beschädigen oder gar zu beseitigen, auf dem die Bundesrepublik ruhe dann wird wiederum deutlich, daß Zeitdiagnose oft Krisendiagnose ist, in diesem Falle: Bescheinigung von Realitätsverlust bei der „deutschen Standortsuche“ zwischen Ost und West.
Wenn aber Otto Heinrich von der Gablentz recht hätte, Politische Wissenschaft sei „immer eine kritische Wissenschaft, ihre Höhepunkte fallen zusammen mit den großen geistigen und politischen Krisen“ und sich die Politikwissenschaft an „Zeitdiagnosen“ kaum beteiligt und unspektakulär ihren Geschäften nachgeht, dann ließe sich die Feststellung auch so interpretieren, daß die Mehrheit der Disziplin zumindest gegenwärtig keine „große geistige und politische Krise“ sieht. Dann läge kein „Kompetenzverlust“ der Politikwissenschaft vor, sondern es würde einfach der Anlaß für „Zeitdiagnosen“ fehlen. Oder mangelt es dem Fach heute nur an Gespür und Sensibilität für gefährliche Entwicklungen? Wenn andere nahezu parallel statt „Selbstüberschätzung“ eine „Machtvergessenheit“ der Deutschen diagnostizieren, dann wird immerhin exemplarisch deutlich, daß solch gegensätzliche „Zeitdiagnosen“ — von „gezähmten Deutschen“ mit „neuem Größenwahn“ — nicht beide stimmen können — oder auch beide nicht stimmen. Sie zielen freilich ohnehin nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt und, als gewollte „self-destroying prophecies“, viel mehr auf öffentliche Belehrung in praktischer Absicht. Dies scheint mir nicht nur für die gegenwärtigen Anstrengungen einer politisch-ideologischen „Sinnstiftung“ (statt argumen-tativ-rationaler Sinnbildung) „nationaler Identität“ charakteristisch, sondern typisch fürjedwede „Zeitdiagnosen“ zu sein.
Es wäre also selbst bei „Zeitdiagnosen“ von Wissenschaftlern verfehlt, von ihnen eine nüchterne Analyse der von ihnen hervorgehobenen Tendenzen zu erwarten. Ein gewisser dramatisierender Grundzug — in der Hoffnung auf Besserung — macht „Zeitdiagnosen“ gerade aus und unterscheidet sie von anderen wissenschaftlichen Darstellungsformen. Aber: Der Kern von „Zeitdiagnosen“ muß stimmen, muß erfahrungswissenschaftlich abgesichert sein. Dies wirft die Frage nach dem Geltungsanspruch, nach der Reichweite von „Zeitdiagnosen“ auf.
Wie Dieter Rucht an anderer Stelle eher beiläufig erwähnt hat bezieht sich „Zeitdiagnose“ immer auf die gesamte Gesellschaft. Eine noch so überzeugende Analyse der Kommunalpolitik in Hintertupfingen, der Finanzpolitik eines Bundeslandes oder des „Akten-Bermuda-Dreiecks“ im Kanzleramt, kurz: der „kleinen Details“ der Politik in diesem (oder jenem) Lande, kann schwerlich die „großen Linien“ unserer Zeit entdecken, die allenfalls aus der „synoptischen“ Zusammenschau oder „Integration“ der (wesentlichen!) Ergebnisse verschiedener, möglichst vielfältiger Disziplinen sichtbar werden. Insofern müßte eine treffende Zeitdiagnose immer das Ganze in den Blick nehmen, sich auf den Zustand des Gemeinwesens, der Gesellschaft insgesamt beziehen. Den spezialisierten Arbeitsmarkt-, Industrie-und Verkehrspolitik-oder auch Wahlforschem der gegenwärtigen Politikwissenschaft, die kaum noch über den Zaun ihres kleinen, mehr oder minder gepflegten Gärtchens blicken, fehlt somit eine wesentliche Voraussetzung zur Erfassung und Deutung der „großen Linien“ unserer Zeit. Es hat freilich nicht den Anschein, als ob sie darunter leiden, hier einen „Verlust“ empfinden. Wenn aber eine vernünftige, methodisch kontrollierte Zeitdiagnose nur als „zeitdiagnostische Gesellschaftsanalyse“ bzw. „gesellschaftstheoretische Zeitdiagnose“ denkbar erscheint, dann liegt es nahe, hier einen grundsätzlichen Kompetenzvorsprung der Makrosoziologie anzunehmen. Kaum zufällig wären es dann Soziologen und Gesellschaftstheoretiker, die mit „Dienstleistungs-“ bzw. „Informationsgesellschaft“ der öffentlichen Diskussion die Stichwörter vorgeben, der „neuen Unübersichtlichkeit“ und der Verunsicherung in der „Risikogesellschaft“ ihre Feder leihen oder auch das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ diagnostizieren. Und dann wäre der „Verlust“ der zeit-diagnostischen Deutungskompetenz einer ausdifferenzierten und spezialisierten Politikwissenschaft eher ein Rückgewinn des angestammten Platzes für die (historische und komparative) Soziologie, die mit Namen wie Emile Durkheim, Max Weber, Georg Simmel oder auch Rudolf Heberle, Gerhard Mackenroth und Norbert Elias verbunden ist. Walter Euchner hat erst kürzlich darauf hingewiesen, daß „Diagnose unserer Zeit“ schließlich der Titel einer Schrift Karl Mannheims ist.
Freilich ist der Streit um „Sinnstiftung“ und „nationale Identität“, d. h. um eine insgesamt affirmative Interpretation und „Umdeutung“ der deutschen Geschichte im wesentlichen ein „Historikerstreit“, keiner unter Soziologen oder Politologen Auch in der aktuellen Debatte, wie es hier und heute um die Aufklärung, die das Zeitalter der Moderne eröffnete, um Fortschritt und Emanzipation bestellt ist, stemmen sich nur wenige Politologen und Soziologen gegen die „Wendung der öffentlichen und intellektuellen Zeitdiagnosen in die Postmoderne“, gegen publizistische Anstrengungen, einer Entpolitisierung unserer kulturellen Deutungs-und Orientierungsmuster das Wort zu reden. Politologische „Zeitdiagnosen“ sind gegenüber diesen „großen“ Debatten zwar ebenfalls konträr, aber doch ein bißchen tiefer angesiedelt: machtvergessene Politik oder weltpolitische Illusionen, wen regen solche Thesen schon auf oder an?
Neben der praktischen Philosophie, die diesen Anspruch auch nach wie vor erhebt, wäre es demnach primär Anliegen und Aufgabe der politischen Soziologie, zur „Ortsbestimmung der Gegenwart“ beizutragen, könnte man den beklagten Kompetenzverlust der Politikwissenschaft auch mit einer Diagnose ihres Zustandes verbinden. Wenn Walter Euchner an die Zeitdiagnosen eines Max Weber erinnert, der, gegen den Sozialismus gewandt, die Vision eines „Gehäuses der Hörigkeit“ an die Wand gemalt habe, falls „rationale Beamtenverwaltung und -Versorgung“ der letzte und einzige Wert werden sollte, und wenn Wilhelm Hennis unterstreicht, eben diese Zeitdiagnose, die „Entwicklung des Menschentums unter dem Kapitalismus“, und weniger seine Wissenschaftstheorie sei Max Webers eigentliche Fragestellung gewesen, dann läßt sich das natürlich auch als Kritik am Zustand einer politischen Soziologie lesen, die mehr und mehr ein Sammelsurium unverbundener und teilweise hegemonial verstandener Spezialgebiete wird: „Vermutlich hilft es der heutigen Politischen Soziologie nicht eben viel, sie an zeitdiagnostische Metaphern der älteren Soziologie zu erinnern“, schreibt Euchner eher resignativ. „Doch daß gewichtige empirische Forschung eine Ortsbestimmung der Gegenwart voraussetzt, kann diese uns lehren.“
Das frühere Programm, die wesentlichen Ergebnisse der benachbarten Disziplinen zu erfassen, zu bündeln und in „Konstellationsanalysen“ zusammenzufassen, in denen sich allein die „konkrete historisch-soziologische Situation“ erfassen lasse, hat die bundesrepublikanische Politikwissenschaft längst aufgegeben. Der darin enthaltene Anspruch des „synoptischen Zusammensehens“ der historischen, soziologischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Erkenntnisse, einer grundsätzlichen „Integrations-“ oder gar „Königswissenschaft“, scheint auch entschieden zu hoch.
Insofern wäre ein Anspruch einer bestimmten Disziplin, grundsätzlich die Integrationswissenschaft sein zu wollen, die die Studien der anderen überblickt und auswertet, und von daher eine besondere Kompetenz für Zeitdiagnosen zu besitzen, sicherlich überzogen. Allenfalls bestimmte Segmente in den einzelnen Disziplinen und der sozialwissenschaftlichen Arbeitsteilung, die sich forschungspraktisch auf die „großen Linien“ konzentrieren und bewußt nicht in die Niederungen des Wissens-labyrinthshinabsteigen, um vor lauter (Bücher-) Wänden den Überblick nicht zu verlieren, sind deshalb für „Zeitdiagnosen“ besser als andere prädestiniert, nicht aber Fächer als solche und als ganze. Nicht derjenige, der über Lokalradios und Medienpolitik in Nordrhein-Westfalen forscht und promoviert, kann „die großen Linien unserer Zeit“ entdecken, sondern allenfalls solche Forscher, die sich — sei es aus politikwissenschaftlicher oder geschichtswissenschaftlicher Sicht, aus soziologischer oder philosophischer Perspektive — ganz auf diese Suche konzentrieren und dabei interdisziplinär vorgehen. Zutreffende Zeitdiagnosen sind also kein Privileg einer Disziplin, sondern eher einzelner Wissenschaftler. Daß Juristen und Ökonomen, zwei ebenfalls wichtige Nachbarfächer der Politikwissenschaft, hier weitgehend ausfallen, hängt sicherlich damit zusammen, daß man dort ganz selten über den eigenen Vorgarten blickt und Ergebnisse anderer Disziplinen zur Kenntnis nimmt. John Maynard Keynes oder Joseph A. Schumpeter, die selbst bedeutende Zeitdiagnosen vorgelegt haben, waren vielseitig interessierte und gebildete Forscher, aber teilweise auch Außenseiter, weil sie sich mit eben dieser disziplinären Beschränktheit nicht begnügt haben.
III. Politikwissenschaft und Zeitgeschichte
Zeitgeschichtsforschung und Politikwissenschaft überschneiden sich thematisch und methodisch in vielen Bereichen und es wäre auch verfehlt, sie heute noch nach den alten, einfachen Antinomien wie Vergangenheitsorientierung hier, Zukunftsorientierung dort, Wissenschaft vom Individuellen hier, Wissenschaft vom Generellen dort, Ereignis und Struktur, Erzählung und Theorie, Verstehen und Erklären unterscheiden zu wollen. Zwischen Politischer Philosophie, Ideengeschichte und Begriffsgeschichte gibt es vielfältige Gemeinsamkeiten. Auch hinsichtlich der reklamierten Grundfunktion beider Wissenschaften lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken. Ähnlich wie Graf Kielmansegg in der philosophischen Traditionslinie des Faches Politikwissenschaft in erster Linie als „Orientierungswissenschaft“ ansieht, betont Jörn Rüsen die „lebensweltliche Grundfunktion des historischen Erzählens“: , Jedes historische Erzählen geht (wie vermittelt auch immer) auf Gegenwartsinteressen zurück; es ist — in der Form einer historischen Frage — getragen von Orientierungsbedürfnissen, die zeitliche Verläufe im Kontext aktueller Handlungen betreffen.“ Anders gesagt: „Erfahrungen der Vergangenheit sind ohne normative Absichten auf Zukunft historisch blind; normative Absichten auf Zukunft sind ohne Erfahrungen der Vergangenheit historisch leer. Erst durch ihre Vermittlung im Prozeß des Erzählens, der die Erfahrung der Vergangenheit erinnernd vergegenwärtigt und die Zukunftsabsichten auf diese Vergegenwärtigung zurückwendet, werden beide historisch. Erst dann werden sie fähig, gegenwärtig handelnde und leidende Menschen im Fluß der Zeit zu orientieren.“
Zwar würde die gegenwärtige Hauptströmung der Politikwissenschaft das Ansinnen, daß es bei der Analyse von Politik um „Deutungen von Zeiterfahrungen“ gehen solle, der Ausgangspunkt der eigenen Forschungen generell „bei den Bedürfnissen des Menschen nach einer Orientierung seines Handelns und Leidens in der Zeit“ liegen müsse und man sich mit den eigenen Studien „aktiv an den aktuellen Prozessen der Identitätsbildung“ zu beteiligen habe, wohl ebenso verneinen wie den erzieherischen Grundimpuls der Gründerväter. Konstitutiver Aspekt der Geschichtswissenschaft ist die Frage nach dem Vergangenen in seinem Zusammenhang mit unserer Gegenwart; der konstitutive Aspekt der Politikwissenschaft ist nach dem heute vorherrschenden Selbstverständnis die Frage nach der Möglichkeit der Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Probleme und Aufgaben, „nach den Bedingungen der Möglichkeit, das sich . hinter dem Rükken'der Menschen vollziehende kollektive Schicksal durch absichtsvolles politisches Handeln zielstrebig zu beeinflussen“. „Zeitdiagnosen“ wären nach diesem Verständnis nur als empirische nützlich, die konkrete Hinweise für politische Steuerung geben könnten.
Geschichtsschreibung und Politikanalyse sind auch aus anderen Gründen nicht identisch. Bei der „narrativen Rekonstruktion der menschlichen Vergangenheit“, die das Spezifische der Geschichte ausmacht, haben Theorien einen anderen Status als in der systematischen Politikforschung unserer Tage. Wo die Geschichte lediglich einen „hilfswissenschaftlichen Gebrauch nomologischen Wissens in den Operationen der historischen Interpretation“ zuläßt, um ihre narrative Struktur nicht zu zerstören strebt die empirische Politikforschung — im Rahmen des Möglichen und zumindest als Ideal — tatsächliches nomologisches Wissen über das Funktionieren der Politik nach dem Modell der deduktiven Theoriebildung an. Anders gesagt: Es geht nicht um die „richtige Mischung“ von konkretem Verstehen und übergreifenden Erklärungsmustern in historischen Erzählungen über ein bestimmtes raum-zeitliches Phänomen sondern Politikwissenschaft strebt grundsätzlich nach allgemeingültigen Erklärungen für das Funktionieren von Politik, nach politischen „Gesetzmäßigkeiten“, und benutzt historische Untersuchungen lediglich als vorbereitende Fallstudien, die die jeweilige Kontingenz politischer Phänomene plausibler machen können.
Daniel Frei hat die abweichenden Stoßrichtungen beider Disziplinen einmal daran erläutert, daß der Historiker zum Beispiel danach frage, warum der Zweite Weltkrieg ausgebrochen sei, wohingegen der Politikwissenschaftler sich dafür interessiere, aus welchen Gründen — ganz allgemein und unabhängig von irgendwelchen speziellen Einzelfällen — Kriege auszubrechen pflegen, d. h. welches die kriegsverursachenden Faktoren im politischen Geschehen sind Der Historiker mag solche Theorien später wieder aufdie konkrete Geschichte eines bestimmten Krieges anzuwenden versuchen, die systematische Suche nach Kriegsursachen ist zumeist nicht sein Geschäft. Dafür ist er für Diagnosen des „Zeitgeistes“ in historisch konkreten Situationen viel offener als eine generalisierende Politikwissenschaft.
Die methodischen Unterschiede zwischen beiden Disziplinen sind heute nurmehr graduell, eine Frage des Mehr oder Weniger, keineswegs prinzipiell. Politikwissenschaft bewegte sich schon immer zwischen Philosophie, Geschichte und Jurisprudenz einerseits und Soziologie und Ökonomie andererseits und griff in Ermangelung einer fachspezifischen Methodik immer schon sowohl auf die klassische historisch-philologische Methode als auch auf die moderneren Verfahren der empirischen Sozial-forschung zurück. Mit der Abwendung vom alten Historismus hin zu Sozialgeschichte, Begriffsgeschichte Strukturgeschichte, Historischer Sozialwissenschaft und Historischer Sozialforschung haben sich die methodischen Unterschiede zwischen narrativer Historiographie und systematischen Sozialwissenschaften auch von dieser Seite her weiter abgeschliffen. Der um die Jahrhundertwende in Deutschland noch ungebrochene Anspruch der Geisteswissenschaften, über eine eigene unverwechselbare und unübertroffene Methode zu verfügen, ist von dem Verweis der Sozialwissenschaften, daß es nur eine einheitliche wissenschaftliche Logik gebe, mehr und mehr überrollt worden. In der internationalen Geschichtsforschung wirkt der säkulare Trend hin zu quantitativen Methoden zur Straffung des Materials durch beschreibende Statistik und zur Überprüfung von Hypothesen durch statistische Korrelationsanalysen. Auch die Historiker bedienen sich zur Beantwortung ihrer Fragen und zur Aufbereitung ihrer Quellen zunehmend moderner Instrumente und Anlagen bis hin zur elektronischen Datenverarbeitung Dieser Trend mag in der Politikwissenschaft weiter fortge-schritten sein begründet aber keine methodischen Differenzen mehr.
Der einzige verbleibende, jedoch unbedeutende Unterschied besteht darin, daß auch eine modernisierte Geschichtsforschung — mit wenigen Ausnahmen, etwa der Sicherung von Erinnerung im Rahmen von „Oral History“ — auf vorfindbare „Quellen“ angewiesen bleibt, selbst dort, wo sie diese nicht mehr in qualitativen Inhaltsanalysen sondern mit quantitativen Methoden auswertet und aus beliebigen „Quellen“ statistische „Daten“ macht. Daß die Politikwissenschaft mit dem Instrumentarium der empirischen Sozialforschung selbst Daten erheben kann, ändert auf der anderen Seite wenig daran, daß viele Politikwissenschaftler (aus den verschiedensten Gründen) nach wie vor eher mit einer modernisierten historischen Methode arbeiten. Und das prinzipielle methodische Handicap der Historiker wird, was die potentielle Kompetenz für „Zeitdiagnosen“ anbetrifft, mehr als kompensiert durch die Ausweitung zu Sozialgeschichte bzw. Strukturgeschichte. Hier wird die politische Geschichte als Handlungs-und Ereignisgeschichte nur noch Teil einer umfassenden „historischen Sozialwissenschaft“ begriffen, die sich — als sie begann, historische Entwicklungen nicht mehr vom Staat, sondern von der Gesellschaft her zu analysieren — ihre theoretischen und methodischen Anregungen eher von der Soziologie als von der Politikwissenschaft holte. Das Programm einer übergreifenden, synthetisierenden „Strukturgeschichte“ eines Werner Conze erinnert dabei stark an „Politikwissenschaft als Integrationswissenschaft“, reicht jedenfalls weit über den engeren Bereich des Politischen hinaus.
Die beiderseitigen Beziehungen könnte man als sinnvolle Arbeitsteilung, als Komplementär-Verhältnis beschreiben, in dem beide Fächer voneinander lernen, sich gegenseitig befruchten. Hans-Peter Ullmann hat das aus der Sicht der historischen Verbandsforschung kürzlich unterstrichen: Der Geschichtswissenschaft gehe es um „das Problem von Kontinuität und Diskontinuität der Verbände im Wechsel politischer Systeme, im Strukturwandel der Wirtschaft sowie im Verlauf gesellschaftlicher Umwälzungen. Die historische Verbandsforschung kann dabei auf Methoden und Theorien der systematischen Sozialwissenschaften zurückgreifen, ja, sie muß dies tun, um ihr Thema angemessen bearbeiten zu können. Zugleich wird sie aber immer wieder an die Grenzen sozialwissenschaftlicher Methodologie und Theoriebildung stoßen, vor allem dann, wenn weiter zurückliegende Phasen der Verbandsentwicklung oder der langfristige Wandel von Interessenverbänden selber in den Blick kommen. In dieser Spannung zwischen historischem und systematischem Fragen Hegt der Reiz einer Geschichte der Interessenverbände von ihren Anfängen bis in die Gegenwart.“
Ein gewisser, wenngleich praktisch ebenfalls nur gradueller Unterschied besteht darin, daß die Politikwissenschaft — jedenfalls als problemorientierte, praxisbezogene Grundlagenforschung — politische Phänomene nicht nur beschreiben und erklären will, sondern wie alle systematischen Wissenschaften auf Handlung abzielt, auf die Gestaltung des gegenwärtigen sozialen Lebens abhebt. Der Geschichte dagegen fehlt noch weitgehend der Wille, systematisch und methodisch kontrollierte Schlüsse aus den vielen Einzelgeschichten für aktuelles Handeln zu ziehen. Auch dort, wo Historiker nicht bloß nacherzählen wollen, „wie es wirklich gewesen“, sondern erklären, warum es in dieser oder jener historischen Konstellation „so und nicht anders gewesen ist“, also Theorien entwickeln, fehlt ihnen die Ausrichtung auf empirisch begründete und überprüfbare Prognosen, auf praktische Politikberatung. Der Historiker, sagt jedenfalls Theodor Schieder, „verfehlt seinen Beruf, wenn er den Propheten spielen will, der aus der Vergangenheit die geheimnisvollen Zeichen zukünftiger Ereignisse liest"
Aber auch schon Ranke nannte es (im „Politischen Gespräch“) die wichtigste Aufgabe, die „Regel des Werdens“, modern gesprochen: Strukturgesetze historischer Prozesse, aufzufinden. Anders gesagt: „Die Geschichte hatte es immer mit Strukturen zu tun, ohne daß sie das Wort kannte, aber sie Heß das Verhältnis von Strukturen und Persönlichkeiten offen, variierte es nach Epochen und Kulturkreisen und legte ihm kein feststehendes Schema zugrunde.“ In der gegenwärtigen PolitikwissenSchaft dagegen taucht der Einzelne — der Bürger, der Wähler, das Parteimitglied, der Politiker — bestenfalls noch als statistisches Aggregatwesen auf, arbeiten lediglich komplexe Systeme, wirken Gesetze und geschichtsmächtige Trends. Man könnte auch sagen, daß beide Disziplinen das Verhältnis von Individuellem und Generellem — im Prinzip jedenfalls — offen lassen, daß sie es aber von den entgegengesetzten Standpunkten her betrachten. Dadurch, daß sie nach allgemeinen Gesetzen sucht und das Individuelle vernachlässigt, meint die systematische Sozialforschung, der Prognosefähigkeit und damit Politikberatung eher näher zu kommen. Wenn aber der Grundimpuls der Geschichte eine „Orientierung des menschlichen Handelns (und Leidens) in der Zeit“ ist, wie Rüsen sagt, wenn es bei der „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ letztlich um die „Identität“ derjenigen geht, die mit Geschichte(n) angesprochen werden sollen, und wenn zudem der Anstoß zu diesem Rückgang, zu diesem Ausgreifen ins Vergangene und zum Gang in die Archive „immer von Zeiterfahrungen der Gegenwart her“ erfolgt, dann liegt es nahe, daß „Zeitdiagnosen“ viel eher von Historikern vorgelegt werden als von einer Politikwissenschaft, deren Selbstverständnis sich grundlegend zu einer empirisch-systematischen Sozialwissenschaft hin gewandelt hat und die sich auf diesem Wege immer weiter von Geschichte und Philosophie entfernt hat.
Der entscheidende Unterschied zu „Zeitdiagnosen“ in politisch-ideologischer Absicht liegt nach Rüsen darin, daß Geschichte als Wissenschaft den Prinzipien einer Rationalität folgt, „die den Streit der Meinungen mit den Waffen der besseren Argumente austragen läßt“ und nicht auf Überredung und Überrumpelung baut: „Rationalisierung der Geschichtsschreibung durch die Historik heißt, daß in der Darstellung von Forschungsergebnissen das Medium der diskursiven Argumentation, an das die Forschung streng gebunden ist, nicht zugunsten der Präsentation geschlossener Geschichtsbilder zurücktreten darf, an denen der Rezipient selber nichts mehr argumentativ zu rütteln hat.“ Anders gesagt: Geschichte hat (wie „Zeitdiagnosen“) ihre Kompetenz in argumentativer Sinnbildung zu beweisen und eine subjektivistische Sinnstiftung zu vermeiden, bei der Entscheidungen über leitende Gesichtspunkte der zukunftsgerichteten Handlungsorientierung den Ausschlag dafür geben, was Geschichte ist bzw. zu sein hat („Geschichte ist hier bloß eine kulturelle Arabeske auf Herrschaftsinteressen“, und wohl stets mit dem Preis einer verhängnisvollen Ideologisierung, zumindest einer erheblichen Ideologieanfälligkeit belastet). „ . Wissenschaft* wird hier also im weitesten Sinne als Inbegriff der methodisch geregelten Denkoperationen verstanden, durch die Erkenntnisse mit gesicherten Geltungsansprüchen gewonnen werden. Wissenschaftliches historisches Denken unterscheidet sich von anderen Formen des historischen Denkens nicht dadurch, daß es allein Wahrheit für sich beanspruchen kann, sondern dadurch, wie es für sich Wahrheit beansprucht, nämlich durch seine methodische Regelung. Wissenschaftlichkeit im Bereich der Operationen des Geschichtsbewußtseins, im Bereich des historischen Erzählens also; besteht in der methodischen Regelung dieser Operationen, dieses historischen Erzählens. Wissenschaft ist Methode.“
In diesem Sinne ließe sich sagen, daß eine Rationalisierung von Zustandsdiagnosen zwischen Parteilichkeit und Objektivität, zwischen politisch-praktischen Ambitionen und wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen nichts anderes darstellt als das normale Geschäft jeder Wissenschaft, die manche Erklärungen und Zeitdiagnosen akzeptiert und andere verwirft. Rationalisierung von Zustandsdiagnosen folgt gleichsam automatisch aus dem Grundsatz der Methodisierung des historischen Denkens, der systematischen Steigerung seines argumentativ-begründenden Charakters bzw.den allgemeinen Prinzipien des Kritischen Rationalismus. Das eigentliche Problem besteht darin, daß manche „Zeitdiagnosen“ wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gar nicht anstreben, sich nicht einer fachlichen Prüfung ihrer Thesen stellen wollen, sondern gemäß der von Michael Stürmer vertretenen Meinung, „daß in einem geschichtslosen Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“, auf Emotionen der Öffentlichkeit gezielt sind. Wenn der Diskurs der scientific Community über solche Zeitdiagnosen und Therapievorschläge gerichtet und sie verworfen hat, können sie dennoch schon Wirkung auf die öffentliche Meinung erzielt haben; der innerwissenschaftliche Klärungsprozeß und eine mögliche Korrektur werden vielleicht gar nicht mehr registriert. Dieses Problem läßt sich durch schnelle Reaktion etwas mildem, aber im demokratischen Verfassungsstaat nicht generell lösen.
Prinzipiell jedenfalls bestehen hier methodisch seit Max Weber und spätestens seit den neueren Erkenntnissen der Wissenschaftstheorie, die den Dualismus zwischen verstehenden und nomothetischen Wissenschaften relativiert hat, für alle Geistes-, Kultur-und Sozialwissenschaften dieselben Grundsätze: Es wäre falsch. Verstehen und Erklären gegeneinander auszuspielen, es wäre unverständig, nur auf einem Wege nach Erkenntnis zu suchen, es ist richtig, „daß zum intuitiven Verstehen von motivationsbedingten Zusammenhängen stets die rationale Erklärung unter Zuhilfenahme nomologischen Wissens hinzutreten muß“ um das Geflecht von Motiven, Absichten, tatsächlichem Handeln und Wirkungen wirklich klar zu erfassen. In der Praxis der Forschung und Darstellung mag in Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft der hermeneutische Zugriff noch überwiegen, aber der Trend geht in beiden Disziplinen klar in Richtung kausaler Kontrolle der verstehend und „intuitiv“ gewonnenen Hypothesen. Solange man versucht, vor lauter Details den Blick auf die „großen Linien“ nicht zu verlieren, muß das nicht zwangsläufig ein Schwin-den der Kompetenz für Zeitdiagnosen bedeuten, ganz im Gegenteil: Treffende Zeitdiagnosen, die nicht bloß auf öffentliche Wirkung in politischer Absicht hoffen, sondern weiter wissenschaftlichen Objektivitätsansprüchen folgen wollen, müssen wohl immer beide, allgemein gesagt: alle jeweils möglichen Wege der Erkenntnis ausschöpfen, um überzeugend sein zu können.
Es gibt, so ließen sich diese Thesen zusammenfassen, keine besondere methodische Kompetenz einer bestimmten Disziplin für Diagnosen des Zeitgeistes und des Zustandes der Republik — weder der Politikwissenschaft noch der Zeitgeschichte. Treffende Zeitdiagnosen der Geistes-, Kultur-und Sozialwissenschaften ergeben sich allenfalls aus interdisziplinärer „Zusammenschau“, für die keine fachspezifischen Privilegien existieren. Eine Rückkehr zum Anspruch einer fächerübergreifenden „Integrationswissenschaft“, die manche jetzt empfehlen, ist in der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft nicht in Sicht und hieße für eine jede Disziplin auch, sich zu überheben; die Plädoyers für eine „Orientierungswissenschaft“ bleiben viel bescheidener innerhalb der Möglichkeiten des eigenen Faches und stehen allenfalls durch ihren stärkeren Wertbezug etwas im Regen der empirischen Sozialforschung unserer Tage. Aber auch eine normativ stärker eingestimmte Politikwissenschaft müßte, um nicht in fruchtlose ideologische Streitereien oder praktische Irrelevanz zurückzufallen — selbst dann, wenn sie über „die Bestimmung des Menschen“ reflektiert („wo die Bestimmung des Menschen verkannt wird oder offen bleibt, da müssen auch Sinn und Bestimmung des Staates offen bleiben: allenfalls seine , Mittel'bleiben, ihn zu bestimmen“) und „die Fragen ihrer Zeit in sich aufnimmt“, um nach Wilhelm Hennis „zur Deutung ihrer geschichtlichen Zeit durch(zu) stoßen“ —, ihre Hypothesen und Zeitdiagnosen auf beiden Wegen methodisch rationalisieren. Sonst verharrt sie in vorwissenschaftlicher Spekulation.
Für den „Verlust“ der Deutungskompetenz der Politikwissenschaft stehen die Stichwörter Konsens-verlust und Wertepluralismus (außen), Generationenwechsel und „Professionalisierung“ (innen). Eines fehlt: Mit dem weitreichenden Entwicklungstrend hin zur quantitativen Politikforschung ging auch eine sprachliche Veränderung einher, die die Wahrnehmung der Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit grundsätzlich behindert Zwar zielte die Rede vom „Soziologen-Chinesisch“ vielfach eher auf die unerwünschten Inhalte und versuchte, diese zu diffamieren, ohne den Notwendigkeiten einer präzisen Wissenschaftssprache Rechnung zu tragen. Aber es ist auf der anderen Seite auch schwerlich zu bestreiten, daß immer mehr Untersuchungsergebnisse der Politikwissenschaft in einer Weise präsentiert werden, als habe man gar kein Interesse daran, außerhalb der Spezialisten in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Daß auch dies die Beachtung ihrer „Diagnosen“ beeinträchtigt, liegt auf der Hand.
„Zeitdiagnosen" zielen dagegen nicht primär auf den innerwissenschaftlichen Diskurs, sondern auf die öffentliche Meinung, und sie bedienen sich einer entsprechenden Sprache. Wenn Historiker die Darstellung der Ergebnisse als integralen Bestandteil ihrer Arbeit begreifen und auf mehreren Tagungen über „Formen der Geschichtsschreibung“ nachdenken (wobei die einst von Hennis vergeblich für die Politikwissenschaft empfohlene Topik zu neuen Ehren zu kommen scheint) dann läßt sich das auch als Anstoß und Ansporn für die Politikwissenschaft verstehen, ihren „Kompetenzverlust“ zu „Zeitdiagnosen“ auch einmal von dieser Seite her zu beleuchten. Auch dies ist ein Punkt, in dem die Politikwissenschaft von der Geschichtswissenschaft immer noch lernen kann.
Göttrik Wewer, Dr. phil., Diplom-Politologe, geb. 1954; seit 1985 Hochschulassistent im Teilbereich Regierungslehre am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: (Mithrsg.) Regierungssystem und Regierungslehre. Fragestellungen, Analyse-konzepte und Forschungsstand eines Kembereichs der Politikwissenschaft, Opladen 1989; (Mithrsg.) Die Kirchen und die Politik. Beiträge zu einem ungeklärten Verhältnis, Opladen 1989; (Hrsg.) Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb. Rechtsnormen — Realanalysen — Reformvorschläge, Opladen 1989 (i. E.).
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