Die Bundesrepublik Deutschland -eine Weltmacht?, Außenpolitik nach vierzig Jahren
Volker Rittberger
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Zusammenfassung
Unter den Grundorientierungen bundesdeutscher Außenpolitik genießt die Westbindung höchste Priorität, wobei in der Sicherheitspolitik das Bündnis mit den USA, in der Außenwirtschaftspolitik die westeuropäische Integration vorrangig ist. Seit den siebziger Jahren hat sich die entspannungsorientierte Ost-politik zur zweiten, aber nicht ohne Abstimmung mit den westlichen Partnern aufrechtzuerhaltenden Säule der bundesdeutschen Außenpolitik entwickelt. Die Südpolitik nimmt demgegenüber einen nachgeordneten Rang ein. Bundesdeutsche Außenpolitik ist vor allem an der Sicherung und am Ausbau des Wohlfahrtstaates durch exportgestütztes Wachstum orientiert und verfolgt sicherheitspolitische Ziele mit militärischen Mitteln eher aus Notwendigkeit als aus eigenem Antrieb. Das Ziel der „Demokratieförderung“ hat im allgemeinen das Nachsehen, wenn es in Konflikt mit sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen gerät. Die Bundesrepublik gehört als größte Exportnation und aufgrund des Gewichts ihrer Währung zum „Klub“ der führenden Weltwirtschaftsmächte. Eine „Leitökonomie“ im Weltmaßstab ist sie aber nicht, sondern sie unterliegt selbst den von Dritten, vor allem den USA gesetzten Rahmenbedingungen. In der Sicherheitspolitik wird die Reklamierung eines Weltmachtstatus für die Bundesrepublik vollends absurd, da er vom Besitz von Nuklearwaffen nicht zu trennen ist. Auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft kann, trotz der wirtschaftlichen Dominanz der Bundesrepublik, von einer politischen Hegemonie keine Rede sein. Der Blick auf die EG zeigt vielmehr, daß der internationale Status der Bundesrepublik nicht unabhängig von ihren integrativen Verflechtungen bestimmt werden kann. Die Bundesrepublik verhält sich in der Weltpolitik als „Handelsstaat“. Aus dem „Schatten“ einer expansionistischen Vergangenheit heraus hat die Bundesrepublik die „Chance“ der Rehabilitierung durch Integration ergriffen. Ihrer militärischen Gefährlichkeit beraubt, hat sie auf ihre ökonomische Stärke gesetzt. Der „Kaufmann“ Bundesrepublik sucht die handelsbegünstigende Entspannung und verzichtet sowohl auf machtstaatliches Auftreten als auch auf eine konsequente Menschenrechtspolitik, um seine Geschäftspartner nicht zu verprellen. Die Interdependenzorientierung findet allerdings dort ihre Grenzen, wo es um die Folgekosten handelsstaatlicher Politik geht — kann sie doch für Krieg, Hunger und Armut in der Dritten Welt ebenso mitverantwortlich gemacht werden wie für die weltweiten Klima-und Umweltbelastungen.
Erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 18. Mai 1989 an der Universität Tübingen anläßlich des vierzigsten Jahrestags der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gehalten hat. Herrn Frank Schimmelfennig schulde ich Dank für seine Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts.
I. Einführung
Die „Deutsche Frage“ ist ein Dauerproblem der internationalen Politik. Infolge der jüngsten Entwicklungen in Osteuropa und in der DDR wird sie weltweit wieder kontrovers diskutiert. Ohne Berücksichtigung dieser „Deutschen Frage“ ist weder die Existenz der Bundesrepublik noch ihre Stellung im System der internationalen Beziehungen und ihre Außenpolitik adäquat zu verstehen. Daher beginnt die Ausführung mit einem knappen geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklungsetappen des Deutschlandproblems und auf die Entstehungsbedingungen der westdeutschen Außenpolitik.
Abbildung 5
Tabelle 4: Entwicklung der weltwirtschaftlichen Position der Bundesrepublik
Tabelle 4: Entwicklung der weltwirtschaftlichen Position der Bundesrepublik
Die Untersuchung der bundesrepublikanischen Außenpolitik selbst wird dann allerdings nicht ihre geschichtliche Entwicklung von Bundeskanzler zu Bundeskanzler nachzeichnen sondern versuchen, ihre Konstanten herauszuarbeiten: Als Kriterien dienen dabei zum einen die Akteure und die normativ-institutionellen Vorgaben der Außenpolitik und zum anderen die inneren und äußeren Rahmenbedingungen, die die außenpolitischen Grundorientierungen geprägt haben.
Als ebenso zentrales wie kaum präzise bestimmbares Kennzeichen der internationalen Stellung eines Landes gilt sein Machtrang. Er wird — wie die Frage nach dem außenpolitischen Rollenverständnis und Stil — seit einem guten Jahrzehnt in der Bundesrepublik lebhaft diskutiert. Diese Diskussion bildet den Ausgangspunkt der abschließenden Überlegungen zu den Charakteristika und den Perspektiven bundesdeutscher Außenpolitik.
II. Vom Reich zur blockgebundenen Doppelstaatlichkeit
Abbildung 2
Tabelle 1: Entwicklungshilfeleistungen der Bundesrepublik (in Mio. DM) Quelle: Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik 1989/90. hrsg. v. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit,Bonn, S. 59.
Tabelle 1: Entwicklungshilfeleistungen der Bundesrepublik (in Mio. DM) Quelle: Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik 1989/90. hrsg. v. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit,Bonn, S. 59.
1. Zwei Staaten — eine Nation? Die „Deutsche Frage“ im historischen Rückblick „Was ist des Teutschen Vaterland?“ Auf diese 1813 von Emst Moritz Arndt gestellte Frage hat die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts keine eindeutige und dauerhafte Antwort gegeben. Vielmehr verbergen sich hinter der „Deutschen Frage“ drei Einzelprobleme: das der Einheit Deutschlands, also seiner territorialen und nationalen Identität, das seiner Verfassung, also seiner politischen Ordnung, und das seines internationalen Status, d. h.seiner Verträglichkeit mit der Stabilität des europäischen Staatensystems. Aufgrund der wechselnden Lösungsversuche dieser Probleme und ihrer Verbindüng untereinander ist „Deutschland“ immer wieder neu definiert worden: — 1815/1850ff. als „Kongreß-Deutschland“ mit einer Vielzahl souveräner Einzelstaaten unterschiedlicher politischer Ordnung; — 1848/49 als „Paulskirchen-Deutschland“ auf der Grundlage liberaler Verfassungsstaatlichkeit, jedoch durch konkurrierende Vorstellungen über Einheit und Status tief gespalten; — 1867/1871 ff. als „Preußen-Deutschland“, eine „kleindeutsche“ Einheit ohne Österreich mit autoritärer Verfassung und expansiver Außenpolitik; — 1919 ff. als „Weimar-Deutschland“, eine instabile Synthese von nationalem Einheitsstaat, demokratischer Republik und internationaler Verträglichkeit; — 1933 ff. als „NS-Deutschland“ in Gestalt des totalitären Führerstaates mit weit über die nationalen Siedlungsgrenzen hinausreichendem Expansionsstreben; — 1945 ff. als „Kontrollrats-Deutschland“ auf das Gebiet westlich von Oder und Neiße reduziert und von den Alliierten in Besatzungszonen verwaltet; — 1949ff. als „Teilstaaten-Deutschland“, dessen internationale Verträglichkeit durch die bündnis-und systempolitische Integration von Bundesrepublik und DDR gesichert wurde.
Ob es sich bei den deutschen Teilstaaten wieder nur um „Provisorien“ auf dem Weg zum Einheitsstaat handelt, läßt sich angesichts der Wechselhaftigkeit der deutschen Nationalgeschichte kaum abschließend beantworten. Der historische Rückblick zeigt zumindest, daß die deutsche Mehrstaatlichkeit — zumal unter dem Aspekt der Kulturnation — keine „Abnormität“ darstellt, der deutsche Einheitsstaat bzw. das Streben danach sich jedoch eher als Quelle des Unfriedens in Europa erwiesen hat.
Aus gegenwärtiger Sicht spricht vieles dafür, die Mehrstaatlichkeit als Form der politischen Existenz Deutschlands und der Deutschen nicht in Frage zu stellen, sondern auf ihrer Grundlage die größtmögliche Offenheit für wechselseitige gesellschaftliche und politische Verflechtungen anzustreben, die bis zu einer „Vertragsgemeinschaft“ (Ministerpräsident Hans Modrow) oder zu „konföderativen Strukturen“ (Bundeskanzler Helmut Kohl) im Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR reichen können Gegenüber voreiligen Projektionen sei indessen in Erinnerung gerufen, daß zumindest die Mehrheit der Nachkriegs-Eliten in beiden Teilen Deutschlands schon früh die Teilung für unvermeidlich gehalten und sich für die Integration in die jeweiligen Bündnissysteme im Westen und im Osten aktiv eingesetzt hat. Für sie wäre jedenfalls bis vor kurzem die „Wiedervereinigung“ nur in der Form eines „Anschlusses“ des jeweils anderen Staates an den eigenen annehmbar gewesen; und selbst die jüngsten dramatischen Entwicklungen in der DDR rufen bei den politischen Führungsgruppen in West und Ost eher große Unsicherheiten bei der Behandlung der „Wiedervereinigungsfrage“ hervor als klar umrissene Positionsbestimmungen. Zum anderen machen die Reaktionen des westlichen und östlichen Auslands auf die Veränderungen in Zentraleuropa erneut deutlich, daß ein aus Bundesrepublik, DDR und Berlin zusammengefügtes deutsches Staatsgebilde nur als internationale Konsenslösung vorstellbar wäre, für die aber in der Vergangenheit und auch noch gegenwärtig die notwendigen Voraussetzungen fehlen.
Demoskopische Daten vermitteln ein widersprüchliches, im Verlauf der Zeit uneinheitliches Bild von den Vorstellungen, die sich die Westdeutschen selbst von der „Wiedervereinigung“ machen: So hielt bis zur Öffnung der Grenzen seitens der DDR eine Mehrheit der Westdeutschen die „Wiedervereinigung“ zwar für wünschenswert, aber in absehbarer Zeit nicht für erreichbar. Auch der Fortbestand der „einen Nation“ mußte fraglich erscheinen, da man von einer zunehmenden „Ausgrenzung der DDR aus dem Gesichtsfeld“ der Bundesrepublik sprechen konnte 3). Seit August 1989 aber zeigen Umfragen ein Emporschnellen der unter den Westdeutschen verbreiteten Überzeugung, daß es zur „Wiedervereinigung“ in absehbarer Zeit kommen werde; demgegenüber sank gleichzeitig die Zahl derer, die eine „Wiedervereinigung“ für wünschenswert halten, wohl infolge eines durch die umfangreichen Medienberichte gestiegenen Problembewußtseins in der bundesdeutschen Öffentlichkeit Wie die Zukunft der „Deutschen Frage“ gesehen wird, hängt also von den jeweiligen Rahmenbedingungen und den sich daraus ergebenden Perspektiven ab 2. Teilung und Integration — Weichenstellungen für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland
Drei Prozesse sind verantwortlich für die Teilung Deutschlands: zunächst der Eroberungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands, dann die Politik der Siegermächte und schließlich — darin eingebettet — das Verhalten der politischen Eliten im Deutschland der Nachkriegszeit. Nach der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands trafen die konkurrierenden Sicherheitsinteressen und Weltordnungsmodelle der USA und der UdSSR — hier die Etablierung eines weltweiten Freihandelssystems mit zumindest liberal-kapitalistischen Partnerstaaten, dort die Abgrenzung einer Einflußsphäre mit zumindest antifaschistisch-„volksdemokratisch“ geprägten Gesellschaftssystemen — in Europa und insbesondere im besetzten Deutschland aufeinander. Ein beiderseitiger Mangel an Bereitschaft zu friedlicher Zusammenarbeit und wechselseitige Fehleinschätzungen von Absichten und Möglichkeiten trieben Ost und West in den „Kalten Krieg“ 6). Unter diesen Umständen fehlte für die zunächst beabsichtigte gemeinsame Verwaltung von „Deutschland als Ganzem“ und um so mehr für die Wiedervereinigung des schon in Besatzungszonen aufgeteilten Landes eine konsensfähige Konzeption, so daß die Praxis immer mehr auf eine Politik der vollendeten Tatsachen („Faustpfänder“) und der zwangsläufigen Teilung hinauslief.
Als die USA mit ihrer Forderung nach einer ihrer Politik der „Open Door“ entsprechenden gemeinsamen Wirtschaftsverwaltung für Deutschland nicht durchdrangen, konzentrierten sie sich auf die Integration der Westzonen, deren Anbindung an Westeuropa und dessen Ausbau zu einem wirtschaftlich prosperierenden „antikommunistischen Bollwerk“ (später u. a. durch das Europäische Wiederaufbauprogramm, auch „Marshall-Plan“ genannt). Dem schloß sich Großbritannien frühzeitig an, so daß es schon am 1. Januar 1947 zur Gründung der „Bizone“ kam. Frankreich versuchte hingegen zunächst, am Ziel einer umfassenden Föderalisierung Deutschlands, der Abtrennung der linksrheinischen Gebiete und der Internationalisierung des Ruhrgebiets festzuhalten, beugte sich aber schließlich dem Druck der USA und ließ die eigene Besatzungszone am 1. April 1949 in der „Trizone“ aufgehen. Damit ging eine Wende in der Deutschlandpolitik Frankreichs einher, das nun die eigene Sicherheit durch eine weitgehende westeuropäische Integration des westdeutschen Teilstaats unter seiner Kontrolle zu gewährleisten trachtete.
Auch die maßgeblichen politischen Kräfte unter den deutschen Eliten in allen Besatzungszonen waren nicht in erster Linie an einer gesamtdeutschen Lösung interessiert, die notwendigerweise mit einem Kompromiß, d. h. einem teilweisen Eingehen auf die Bedingungen der jeweils anderen Seite verbunden gewesen wäre. Darin waren sich im Westen CDU und SPD einig. Oberstes Ziel Konrad Adenauers, der in der Westzonen-CDU und später als Bundeskanzler die Politik der Teilung und Westintegration verkörperte, war der rasche wirtschaftliche und politische Wiederaufbau und die Herstellung (west) deutscher Souveränität. Die Souveränität war jedoch nicht ohne Westbindung und die Westbindung nicht ohne Beibehaltung und Vertiefung der Teilung Deutschlands zu erreichen. Adenauer war daher bereit, die Wiedervereinigung zurückzustellen und die außenpolitische Handlungsfreiheit des Weststaates zu beschränken, um die innere Souveränität und die Gleichberechtigung innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft zu erlangen. Auf der ideologisch-deklamatorischen Ebene mußte er jedoch die Westintegration als Voraussetzung der Wiedervereinigung propagieren („Politik der Stärke“), weil ein offener Verzicht auf die Wiedervereinigung innenpolitisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Wann immer sich auch nur entfernte Chancen einer Wiedervereinigung auftaten (wie vor allem nach der Stalin-Note vom März 1952). blockierte er die Aufnahme ernsthafter Verhandlungen. Ähnlich kompromißlos war die West-SPD unter der eindeutig antikommunistisch ausgerichteten Führung Kurt Schumachers. Zwar war für sie die Wiedervereinigung weniger ein rein deklamatorisches Ziel, doch lehnte auch sie eine Verständigung mit dem Osten, z. B. über die Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands, strikt ab. Das Pendant zu Adenauers „Politik der Stärke“ bildete hier die These von der „Magnetwirkung“ einer sozial attraktiven Bundesrepublik, gegen die die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR auf Dauer nicht bestehen könne. Eine Kontroverse zwischen SPD und CDU, in deren Verlauf Schumacher Adenauer als „Kanzler der Alliierten“ titulierte, entstand weniger über die Politik gegenüber der Sowjetunion und der DDR als über den Grad des Souveränitätsverzichts infolge der Westintegration und später über den Zeitpunkt und die Umstände der Wiederbewaffnung.
Teilung, Integration und Souveränitätsgewinn gingen in den Jahren 1949— 1955. in denen die Fundamente für die außenpolitischen Grundorientierun5 gen der Bundesrepublik gelegt wurden, Hand in Hand. Bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 verfügte die Alliierte Hohe Kommission zunächst über weitgehende Vorbehaltsrechte vor allem in der Außen-und Sicherheitspolitik. Das Petersberger Abkommen ermächtigte die Bundesrepublik, Konsulate auf dem Gebiet der Westmächte zu errichten und internationalen Organisationen (wie 1950 dem'Europarat) beizutreten. Zugleich wurde sie jedoch Mitglied der Internationalen Ruhrbehörde und des Alliierten Sicherheitsamtes (zur Überwachung der Entmilitarisierung). Die Institutionalisierung der westdeutschen Außenpolitik begann mit einer besonderen Verbindungsstelle zur Alliierten Hohen Kommission, die 1950 zur „Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten“ und 1951 schließlich zum „Auswärtigen Amt“ aufgewertet wurde. Die wirtschaftliche Integration der Bundesrepublik in Westeuropa nahm mit dem Beitritt zur „Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OEEC), die mit der Verteilung der „Marshall-Plan“ -Hilfe beauftragt war, und 1951 mit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS oder Montanunion) ihren Anfang. Mit dem Ausbruch des Koreakrieges 1950 stellte sich erstmals mit Vehemenz die Frage der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, die schließlich für Adenauer zum entscheidenden Hebel wurde, die Gleichberechtigung des Weststaates zu erlangen. Da die Integration westdeutscher Streitkräfte in eine europäische Armee gemäß dem Vertrag über die „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ in der französischen Nationalversammlung 1954 scheiterte, setzte sich die „atlantische“ Lösung eines Beitritts zur NATO durch. Mit dem Abschluß der Pariser Verträge und ihrem Inkrafttreten 1955 hatte Adenauer sein Ziel — die völkerrechtliche Souveränität der Bundesrepublik — erreicht; 1956 begann der Aufbau der Bundeswehr. Dennoch bestehen bis heute alliierte Vorbehaltsrechte fort, die Deutschland als Ganzes, den Status von Berlin und die Stationierung von Truppen in der Bundesrepublik betreffen.
Schon dieser knappe Rückblick verdeutlicht zwei historische Prägungen, die der bundesdeutschen Außenpolitik bis heute ihren Stempel aufdrücken. Da ist zunächst der „Schatten der Vergangenheit“, den die Tradition einer mit dem Frieden in Europa unverträglichen Außenpolitik wirft, die ihren Höhepunkt in der nationalsozialistischen Eroberungsund Vernichtungspolitik fand. Diese ist nicht nur verantwortlich für die territoriale Beschränkung Deutschlands durch die Teilung und den Verlust der Ostgebiete, die militärischen Beschränkungen wie den ABC-Waffenverzicht oder die direkte Unterstellung der Bundeswehr unter NATO-Kommando; die Erfahrungen mit ihr legen es der Bundesrepublik auch nahe, auf ein machtstaatliches Auftrumpfen in ihren internationalen Beziehungen zu verzichten. Die Anerkennung dieser Geschichte liefert auch den Schlüssel zu den Sonderbeziehungen mit Israel und der Entspannungspolitik insbesondere gegenüber Polen — der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Warschauer Getto-Denkmal ebenso wie die Versöhnungsgeste zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki im schlesischen Kreisau sind hierfür bleibende Symbole.
Zugleich machen die Gründungsjahre der Bundesrepublik die „Chancen der Integration“ deutlich, auch und gerade als Möglichkeit, aus dem „Schatten der Vergangenheit“ herauszutreten. Nur durch die feste Bindung der Bundesrepublik an den Westen (und gleiches gilt für die DDR im Osten) erhielten ihre Nachbarn die erforderliche Sicherheit vor einem souveränen deutschen Staat, und bis in die Gegenwart kann sich jedes (auch nur vermeintliche) Ausscheren der Bundesrepublik aus der Bündnislinie des Argwohns ihrer Partner sicher sein. Zugleich bietet die multilaterale Koordination der Außenpolitik im westeuropäischen Rahmen der Bundesrepublik Gelegenheit, sich bei „historisch heiklen“ Problemen wie dem Nahostkonflikt hinter einer gemeinsamen Politik zu „verstecken“. Vor allem aber hat sich die Westintegration nicht nur als Voraussetzung für das „Wirtschaftswunder“ unter dem „amerikanischen Schutzschirm“, sondern als dauerhaftes Fundament des westdeutschen Wohlstandes erwiesen.
III. Bestimmungsfaktoren und Grundorientierungen westdeutscher Außenpolitik
Abbildung 3
Tabelle 2: Anteil des westeuropäischen und atlantischen Beziehungsfeldes an der weltwirtschaftlichen Verflechtung der Bundesrepublik Quellen: Fischer Weltalmanach 1990, Frankfurt 1989. und Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. 1984. 1986 und 1987. Stuttgart-Mainz 1984. 1986 und 1987. sowie Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1988, Stuttgart 1989.
Tabelle 2: Anteil des westeuropäischen und atlantischen Beziehungsfeldes an der weltwirtschaftlichen Verflechtung der Bundesrepublik Quellen: Fischer Weltalmanach 1990, Frankfurt 1989. und Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. 1984. 1986 und 1987. Stuttgart-Mainz 1984. 1986 und 1987. sowie Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1988, Stuttgart 1989.
1. Entscheidungssystem: Die außenpolitischen Akteure in der Bundesrepublik Das Grundgesetz sieht keine separate auswärtige Gewalt neben den drei traditionellen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) vor, sondern verteilt sie nach dem Prinzip der kombinierten Gewalt auf mehrere staatliche Organe. Eine Besonderheit ist dabei die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik. Sie beruht auf der Grundregel, daß die Länder für alle Angelegenheiten zuständig sind, die das Grundgesetz nicht ausdrücklich dem Bund zuweist (Art. 30 GG). Nun ist zwar die Außenpolitik nach Art. 32 GG Sache des Bundes, der auch Hoheitsrechte des Bundes und der Länder an zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen darf (Art. 24 GG). Weil aber durch die zunehmende Internationalisierung traditioneller Länderaufgaben, wie etwa die Vereinheitlichung von Hochschulabschlüssen oder Umweltnormen in der Europäischen Gemeinschaft, eine Aushöhlung des Föderalismus droht, sieht das Grundgesetz ebenfalls vor, daß die Länder innerhalb ihrer Zuständigkeit vor dem Abschluß von Verträgen gehört werden müssen, ja daß sie selbst mit Zustimmung des Bundes Verträge schließen dürfen (Art. 32, Abs. 2 und 3 GG). In der EG-Integrationspolitik haben die Bundesländer angesichts des Inkrafttretens der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 das Recht erwirkt, nicht nur angehört, sondern auch an Verhandlungen in der EG beteiligt zu werden
Unter den obersten Verfassungsorganen des Bundes kommt der Bundesregierung in der Außenpolitik die Führungsrolle zu. Dem Bundespräsidenten als völkerrechtlichem Vertreter der Bundesrepublik verbleibt eine eher repräsentative Funktion. Die Zustimmung des Bundestages ist lediglich bei den den politischen Status der Bundesrepublik berührenden Staatsverträgen notwendig, nicht jedoch bei Regierungsoder Verwaltungsabkommen; doch kann er über sein Haushaltsrecht immer dort Einfluß auf die Außenpolitik nehmen, wo sie finanzielle Aufwendungen erfordert. Schließlich kann das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Verfassungswidrigkeit von Verträgen angerufen werden. Insgesamt besitzt jedoch kein Bundesorgan außer der Bundesregierung wirkliche Gestaltungsmöglichkeiten in der Außenpolitik, und selbst die Mittel der (nachträglichen) Kontrolle sind begrenzter als in anderen Politikbereichen.
Innerhalb der Bundesregierung kommt dem Bundeskanzler trotz der Ressortzuständigkeit des Außenministers eine hervorragende Rolle zu. Sofern es ihm wichtig erscheint, kann er die Außenpolitik, gerade im Verkehr mit Vertretern anderer Staaten, zu einem wesentlichen Teil an sich ziehen. Dazu untersteht ihm ein eigenständiger außenpolitisch einsetzbarer Apparat: vor allem das Bundeskanzleramt, aber auch das Bundespresseund Informationsamt, der Bundesnachrichtendienst sowie der Bevollmächtigte der Bundesregierung in Berlin und der Ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der Regierung der DDR. Auf diese Weise ist die gesamte Deutschland-und Berlinpolitik beim Bundeskanzler zentral verankert. Ansonsten besitzt das Auswärtige Amt eine Generalkompetenz für den diplomatischen Verkehr und muß auch bei den internationalen Angelegenheiten anderer Ministerien hinzugezogenwerden. Hier sind die Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Nord-Süd-Fragen, Entwicklungspolitik), für innerdeutsche Beziehungen (Deutschlandpolitik), für Wirtschaft (Außenwirtschaftsbeziehungen, EG-Wirtschaftsintegration), der Finanzen (Währungspolitik zusammen mit der Bundesbank) und der Verteidigung (Sicherheitspolitik) zu erwähnen.
Die Komplexität des Entscheidungsprozesses wird zusätzlich durch die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in zwischenstaatlichen Organisationen erhöht („zusammengesetzte Außenpolitik“) Außerhalb des engeren Rahmens der EG besteht die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) als Koordinationsforum und gemeinsames Instrument der westeuropäischen Regierungen. Die EG selbst verfügt auch über eigene Kompetenzen in der Außenhandels-, Assoziationsund Entwicklungspolitik. an der die Bundesrepublik über den Ministerrat mitwirkt. Die NATO ist insgesamt ein schwächerer Rahmen der zusammengesetzten Außenpolitik, deren Hauptaufgabe in der politisch-administrativen Abstimmung der Bündnisregierungen auf dem Gebiet der Verteidigung liegt. Schließlich dürfen auch die nicht-staatlichen Akteure nicht vernachlässigt werden. Parteien, Medien, Unternehmen, Verbände und gesellschaftliche Großorganisationen wie die Kirchen und Gewerkschaften wirken zum einen auf den Staat ein, verfügen aber zum anderen auch über eigenständige Außenverbindungen, wie etwa europäische und weltweite Zusammen-Schlüsse von Parteien. Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, multinationale Unternehmen oder die Weltkirchen zeigen. 2. Friedensgebot: Normative Vorgaben der westdeutschen Außenpolitik Das Grundgesetz trifft nicht nur Aussagen über die institutionellen Zuständigkeiten in der Außenpolitik, sondern macht ihr auch allgemeine inhaltliche Vorschriften. Schon in der Präambel verleiht das „Deutsche Volk“ seinem Willen Ausdruck, „seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ sowie „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Hier klingen die zentralen Themen bereits an: Sicherheitsstreben, Integrations-und Kooperationsfreundlichkeit und Wiedervereinigung. Über allem steht jedoch das Friedensgebot 9). Ausdrücklich verbietet Art. 26, Abs. 1 GG alle „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere einen Angriffskrieg vorzubereiten“. Außerdem macht Art. 25 GG die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ zum unmittelbar bindenden und den Gesetzen vorgelagerten Bestandteil des Bundesrechts. Eine gewaltsame Wiedervereinigung kommt daher ebensowenig in Frage wie ein offensives Militärbündnis. Die Landesverteidigung unterliegt dem Grundsatz der militärischen Selbstbeschränkung und sollte sogar einem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ (Art. 24, Abs. 2 GG) anvertraut werden. Das Friedensgebot des Grundgesetzes begründet zunächst eine Verpflichtung zur Kriegsverhütung; ob es darüber hinaus auch eine positive Vision des Friedens transportiert, ist skeptischer zu beurteilen. Immerhin bieten das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1, Abs. 2 GG und der Gedanke der Völkerverständigung in Art. Abs. 2 GG Anknüpfungspunkte für ein solches Friedensverständnis. 3. Rahmenbedingungen und Grundorientierungen Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird in den zentralen Politikfeldern „Sicherheit“, „Wohlfahrt“ und „Herrschaft“ durch eine Reihe von externen, dem internationalen System zuzurechnenden, und internen, den Systemmerkmalen der Bundesrepublik entstammenden Rahmenbedingungen beein-flußt Interne und externe Rahmenbedingungen innerhalb eines Politikfeldes sind dabei aufeinander bezogen. Als Antwort auf diese Rahmenbedingungen durchziehen die Außenpolitik der Bundesrepublik drei Grundorientierungen (vgl. Übersicht S. 9), denen sich für die großen Beziehungsfelder „West“, „Ost“ und „Süd“ wiederum Unterziele zuordnen lassen. Das Beziehungsfeld „West“ läßt sich dabei noch einmal in eine „atlantische“ Schiene, deren Basis die deutsch-amerikanischen Beziehungen bilden. und in eine „westeuropäische“ Schiene unterteilen, die sich multilateral in der Europäischen Gemeinschaft und bilateral vor allem in den deutsch-französischen Sonderbeziehungen zeigt. Die Grundorientierungen der bundesdeutschen Außenpolitik sind in sich allerdings nicht widerspruchsfrei. Zielkonflikte treten sowohl innerhalb eines Politikfeldes zwischen verschiedenen Beziehungsfeldern als auch innerhalb des gleichen Beziehungsfeldes zwischen verschiedenen Politikfeldern auf. Solche Zielkonflikte sind regelmäßig auch Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzungen über Außenpolitik in der Bundesrepublik (1) Das Hauptziel der bundesdeutschen Außenpolitik im Politikfeld „Sicherheit“, das sich aus der globalen Machtkonkurrenz im Ost-West-Verhältnis und der geostrategischen Lage der Bundesrepublik ergibt, ist die Sicherung der territorialen Integrität und der Freiheit ihrer politischen Entwicklung. Da die Bundesrepublik und auch die Westeuropäer insgesamt sich allein nicht in der Lage sahen und sehen, eine ausreichende Gegenmacht zur Sowjetunion zu bilden, erfüllt diesen Zweck die militärische Bindung an die USA, die in der NATO-Inte-gration ihren institutioneilen Ausdruck findet. Die Stellung der Bundesrepublik im Bündnis ist dabei von einer besonders hohen sicherheitspolitischen Abhängigkeit geprägt: Durch ihre „Grenzlage“ erscheint die Bundesrepublik — und mehr noch das auf allen Seiten von DDR-Territorium umgebene West-Berlin — verwundbarer als das übrige West-10 europa und als Nicht-Kernwaffenstaat auf den „nuklearen Schutzschirm“ der USA in noch höherem Maße angewiesen. Jegliche Veränderung der Militärdoktrin der USA, die auf eine „Abkoppelung“ hindeuten könnte, jegliche Bestrebung zur Verringerung der amerikanischen Militärpräsenz in Europa wird daher in Bonn besonders aufmerksam registriert. Mit dieser Abhängigkeit korrespondiert die Rolle des „Lastesels“, die der Bundesrepublik in personeller, finanzieller und territorialer Hinsicht von Anfang an zugedacht war und die sie auch zu spielen bereit ist. Sie hat sich verpflichtet, die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee auf einer Präsenz-stärke von 495 000 Mann zu halten, die durch Reservisten im Kriegsfall auf etwa 1, 3 Mio. Mann Kampftruppen erhöht werden kann. Grob geschätzt stellt die Bundesrepublik damit etwa die Hälfte des militärischen Personals und Geräts an der NATO-Zentralfront und trägt außerdem die Belastungen einer weltweit einzigartigen Massierung von Truppen und Waffen samt der damit verbundenen Übungen (z. B. Großmanöver und Tiefflüge). Darüber hinaus leistet sie einen überdurchschnittlich hohen Beitrag zur Erneuerung und zum Ausbau der NATO-Infrastruktur.
Zwar existiert mit der Westeuropäischen Union (WEU) auch ein westeuropäisches Militärbündnis, das sich seit einigen Jahren einzelner Wiederbelebungsversuche erfreut, das aber für die Bundesrepublik keine gleichrangige Orientierung geschweige denn eine Alternative zur NATO darstellt. Auch die bilaterale deutschfranzösische Sicherheitskooperation ist bisher bei eher symbolischen Aktionen stehengeblieben (gemeinsame Manöver, gemeinsame Brigade). Sie wird zum einen belastet durch das französische Entscheidungsmonopol über Zielplanung und Einsatz der „force de frappe“, zum anderen durch die Funktion der Bundesrepublik als nukleartaktisches Vorfeld Frankreichs. So feierlich die Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit in den öffentlichen Äußerungen westdeutscher Politiker auch beschworen wurde, in der tatsächlichen Politik wurde sie zunächst der Westbindung und später auch der Ost-West-Entspannung untergeordnet. Das gilt zum einen für die Gründungsphase, als Adenauer alle Verlockungen eines vereinigten, aber neutralen Deutschlands zurückwies, wie zum anderen für die zweite Hälfte der sechziger Jahre, als Bonn seine harte Linie in der Frage der (Nicht-) Anerkennung der DDR und des europäischen Status quo dem Drängen der USA und anderer westlicher Staaten auf Entspannung opferte. Seither konzentrierte sich die amtliche Deutschlandpolitik darauf, die „Deutsche Frage“ völkerrechtlich offenzuhalten und durch die Förderung des innerdeutschen Austauschs auf allen Ebenen ein „gesamtdeutsches Bewußtsein“ zu bewahren, was ihr — wie die millionenfachen Begegnungen zwischen Bürgern der DDR und der Bundesrepublik in den letzten Monaten belegen — zu einem erheblichen Teil gelungen zu sein scheint. Nichtsdestoweniger respektiert die bundesdeutsche Politik die DDR als eigenständigen Staat nach Maßgabe der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Bürger der DDR, und sie akzeptiert, wie die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 8. November 1989 unterstreicht die jetzt bestehende Westgrenze Polens auch für die Zukunft.
Im Verlaufe der sozialliberalen „Neuen Ostpolitik“ hat die Bundesrepublik ein genuines Entspannungsinteresse entwickelt, das die Regierung Kohl/Gen-scher im wesentlichen weiterverfolgt. Dabei kam zum Tragen, daß die geographische Position der Bundesrepublik nicht nur eine Grenz-, sondern auch eine „Mittellage“ zwischen Ost und West ist Als die USA ab dem Ende der siebziger Jahre von der Entspannungspolitik abrückten und vermehrt auf Rüstung und Konfrontation setzten, ergab sich für die Bundesregierung erneut ein Ziel-konflikt, den Bundeskanzler Schmidt durch eine Mittlerrolle zwischen USA und UdSSR zunächst zu überbrücken suchte. Schließlich ordnete die Bundesrepublik ihre Ostpolitik (abgesehen von den Wirtschaftsbeziehungen) jedoch wieder der sicherheitspolitischen Westbindung unter — auch um den Preis erheblicher innenpolitischer Konflikte um die sogenannte „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenraketen. Die Südpolitik der Bundesrepublik begann in den fünfziger und sechziger Jahren unter dem Primat des Ost-West-Gegensatzes und speziell der Forderung nach Nicht-Anerkennung der DDR. Es war ihr vorrangiges Ziel, die entstehenden Staaten der Dritten Welt vom Einfluß der sozialistischen Staaten fernzuhalten und damit auch eine Anerkennung der DDR zu verhindern. Bis heute aber hat sich die Bundesrepublik in diesem Beziehungsfeld militärische Zurückhaltung auferlegt. Der Einsatzraum der Bundeswehr ist auf das NATO-Gebiet beschränkt, Anfragen der Verbündeten nach einem Engage-ment „out of area“ (etwa im Persischen Golf) wurden stets abschlägig beschieden. Die in neuerer Zeit verstärkt geführte Diskussion über die Beteiligung der Bundesrepublik an Friedensmissionen der Vereinten Nationen läßt nach wie vor eine große Zurückhaltung bei Teilen der politischen Führungsgruppen vor allem gegenüber dem Einsatz von Bundeswehrsoldaten erkennen; soll ihr Einsatz auf Verlangen der Vereinten Nationen und der am Konflikt beteiligten Parteien grundsätzlich in Betracht kommen. so wird dafür beispielsweise von Außenminister Hans-Dietrich Genscher eine Grundgesetzänderung gefordert Wie noch zu zeigen sein wird, gilt die gleiche Zurückhaltung jedoch nicht für Rüstungsexporte. (2) Für die außenpolitische Grundorientierung im Politikfeld „ Wohlfahrt“ sind die Erfordernisse einer hochentwickelten Industriegesellschaft mit einer zugleich marktwirtschaftlichen und sozialstaatlich verpflichteten Wirtschaftsordnung prägend. Die politischen Führungsgruppen der Bundesrepublik suchen unter den Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz den Wohlfahrtsstaat zu sichern und auszubauen und dadurch die Massenloyalität zu stabilisieren. Es kennzeichnet die Bundesrepublik, daß sie zu diesem Zweck von Anfang an auf ein exportorientiertes Wachstum gesetzt hat. Mehr als ein Viertel ihres Bruttosozialproduktes erwirtschaftet* sie im Außenhandel (1950 noch 8, 5 Prozent). Der Staat (d. h.der Bund und in nicht zu unterschätzender Weise auch die Länder) betreibt daher nicht nur eine aktive Außenwirtschaftspolitik mit dem Ziel, Exportmärkte für die westdeutsche Wirtschaft zu erschließen. Die Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und die Attraktivität des „Wirtschaftsstandorts“ Bundesrepublik sind auch in der Innenpolitik gewichtige Argumente zur Legitimation politischer Entscheidungen. Aus der Exportorientierung und aus ihrer wirtschaftlichen Stärke ergibt sich, daß die Bundesrepublik die liberale Weltwirtschaftsordnung nachhaltig unterstützt. Zu diesem Zweck arbeitet sie mit den USA in den internationalen Wirtschaftsund Finanzorganisationen eng zusammen — im GATT zugunsten eines möglichst freizügigen Handels und im IWF zugunsten einer restriktiven Gläubigerpolitik in der gegenwärtigen Schuldenkrise. Einen Schuldenerlaß befürwortet sie nur für die „Ärmsten der Armen“. Im Rahmen dieser Weltwirtschaftsordnung und zum Zweck der Weltmarktintegration der Dritten Welt leistet die Bundesrepublik sehr wohl beträchtliche Entwicklungshilfe, die noch immer über dem Durchschnitt der Industrieländer (1988: 0, 35 Prozent des Bruttosozialproduktes) liegt. Aber sowohl bei den Gesamtleistungen als auch bei den öffentlichen Leistungen hat die Entwicklungshilfe im Durchschnitt der letzten Jahre eher abgenommen und liegt weit unter dem von den Vereinten Nationen geforderten Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe von 0. 7 Prozent des BSP (vgl. Tabelle 1). Eine Vergabe der Entwicklungshilfe nach wirtschaftlichen Interessen läßt sich indes ebensowenig eindeutig feststellen wie eine Diskriminierung von Staaten mit nicht-marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung — eher schon spielt die Position, die ein Land im Ost-West-Konflikt einnimmt (wie z. B. jüngst Nicaragua), eine gewisse Rolle Geht es jedoch um die Spielregeln des Welthandels selbst, gehört die Bundesrepublik zu den vehementesten Gegnern der Forderungen der Dritte-Welt-Länder nach einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“.
Einzig im Politikfeld „Wohlfahrt“ hat sich innerhalb der Westbindung der Bundesrepublik eine echte Zweigleisigkeit von atlantischen und westeuropäischen Beziehungen herausgebildet. Der Schwerpunkt der bundesdeutschen Außenwirtschaft liegt aber deutlich und in zunehmendem Maße auf dem westeuropäischen Binnenmarkt, für dessen Vollendung sich die Bundesregierung als eine der treibenden Kräfte und als der größte „Nettozahler“ der Gemeinschaft einsetzt. Wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist, nimmt die Rolle der USA für den Außenhandel der Bundesrepublik (vor allem bei der Einfuhr) stetig ab, die der EG (natürlich auch durch ihre Erweiterung) hingegen zu. Gleichzeitig hat sich allerdings auch der US-Handel von Westeuropa weg auf den asiatisch-pazifischen Raum hin orientiert. Nur im Hinblick auf langfristige Kapitalverflechtung (Direktinvestitionen) ist die Bedeutung der USA und Westeuropas für die Bundesrepublik noch annähernd gleichwertig. Die westeuropäische Wirtschaftsintegration öffnet der Bundesrepublik außerdem Märkte in der Dritten Welt, wo ihr als Nicht-Kolonialmacht traditionelle Handelsbeziehungen fehlen. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die westeuropäische Wirtschaftsintegration vor allem durch ihre protektionistische Agrarpolitik sowohl mit der liberalen Weltwirtschaftsordnung als auch mit der Entwicklung der Dritten Welt in Konflikt gerät. Das schlägt sich vor allem in immer wieder neuen „Handelskriegen“ mit den USA nieder. Wegen der politischen Funktion der Europäischen Gemeinschaft ist die Bundesrepublik zwar von Fall zu Fall bereit, ordnungspolitische Konzessionen zu machen, drängt jedoch im Industriesektor zugleich auf möglichst geringe Handelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen.
Im Osthandel ist die Bundesrepublik der wichtigste westliche Partner der RGW-Länder. Obwohl er nur einen geringen Teil des Gesamthandels ausmacht (durchschnittlich etwa fünf Prozent), ist der Osthandel für einige Wirtschaftsbranchen (z. B. Anlagenbau) von Gewicht. Außerdem kann die Bundesrepublik im Austausch für die Lieferung von Investitionsgütern in die Sowjetunion Erdöl und Erdgas beziehen. Diese Warenstruktur verlangt eine langfristig angelegte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kreditunterstützung, in der die Bundesrepublik ein wichtiges Element der Stabilisierung eines entspannten Ost-West-Verhältnisses sieht.
Während also aus bundesdeutscher Sicht Wohlfahrt und Sicherheit in der Ost-West-Wirtschaftskooperation schon immer Hand in Hand gingen, befürchtete man in den USA bis in die jüngste Vergangenheit eine Gefährdung der westlichen Sicherheit durch den Transfer von Hochtechnologie oder durch eine vermeintliche westdeutsche oder westeuropäische Abhängigkeit von den Staaten Osteuropas. Auch stand bisher für die USA die kurzfristige politische Instrumentalisierung des Osthandels zur „Bestrafung“ oder „Belohnung“ des Verhaltens der sozialistischen Staaten im Vordergrund, was sowohl der Entspannungskonzeption der bundesdeutschen Ostpolitik als auch der Struktur des bundesdeutschen Osthandels widersprach.
Eine Politik der Steigerung der eigenen Wohlfahrt auf Kosten der Sicherheit Dritter zeichnet sich hingegen deutlich in der Südpolitik der Bundesrepublik ab. In den letzten Jahren (1984— 1988) hat sich die Bundesrepublik zum sechstgrößten Riistungsexporteurder Welt entwickelt; den gleichen Rangplatz nimmt sie bei den Rüstungsexporten in die Dritte Welt ein (vgl. Tabelle 3). Dazu hat nicht zuletzt eine immer laxere Handhabung der ursprünglich scharfen Richtlinien für Rüstungsexportbeschränkungen beigetragen. Die militärischen Beschränkungen der Bundesrepublik wie das ABC-Waffenverbot oder die Begrenzung des Einsatzraumes der Bundeswehr wurden überdies wirtschaftlich längst unterlaufen, wie die weltweiten Lieferungen von Waffen auch in Spannungsgebiete (siehe den iranisch-irakischen Krieg) und zum Aufbau von Chemiewaffenproduktionen im Irak und in Libyen gezeigt haben. (3) Die Rahmenbedingungen im Politikfeld „Herrschafr sind im Innern die liberaldemokratische Identität der Bundesrepublik und international die Konkurrenz zwischen dem liberaldemokratischen und sozialistischen System, die mit der Machtkonkurrenz zwischen West und Ost eng verwoben ist. Daraus ergibt sich im Hinblick auf die Außenpolitik eine Grundorientierung, die zumindest mit dem eigenen Demokratieverständnis verträglich sein muß, seine Verbreitung möglichst aber auch fördern soll.
Abgesehen von den sicherheitspolitischen Erfordernissen ergibt sich die Westbindung der Bundesrepublik auch und gerade aus der systempolitischen Gleichartigkeit ihrer Partner. Im Westen ist daher die Stabilisierung liberaldemokratischer Herrschaft end die möglichst enge Zusammenarbeit aller liber“ ldemokratischen Staaten eine zentrale Maxime bundesdeutscher Politik. Die Bundesrepublik ist nicht nur Mitglied des Europarates und Unterzeichnerin der Europäischen Menschenrechtskonvention, sondern hat sich auch für eine Aufnahme der vormals autoritären Staaten Griechenland, Portugal und Spanien in die Europäische Gemeinschaft eingesetzt, um die Demokratie dort zu stützen. Das Ziel der Demokratieverträglichkeit kann allerdings mit sicherheitspolitischen Bündnisverpflichtungen kollidieren. Beispielsweise führte der Militärputsch von 1980 in der strategisch als wichtig angesehenen Türkei keineswegs zu einer Reduzierung der Militär-und Wirtschaftshilfe.
Der Antikommunismus erfüllte in den ersten beiden Jahrzehnten der Existenz der Bundesrepublik nicht nur innenpolitisch eine wichtige ideologische Integrationsfunktion, sondern bot auch in der Außenpolitik Orientierungshilfe, die erst in den sieb-ziger Jahren im Zuge der Entspannung allmählich an Bedeutung verlor.
Mit der Entspannungspolitik schwor der Westen einer demokratischen Systemveränderung in Osteuropa als Fernziel zwar keineswegs völlig ab, doch verfolgte die sozialliberale „Neue Ostpolitik“ eine neue Strategie des „Wandels durch Annäherung“, also einer schrittweisen Liberalisierung der sozialistischen Staaten auf der Grundlage der Anerkennung des Status quo und der Zusammenarbeit, ohne die Gefahr einer Destabilisierung zu provozieren. Dabei legte die bundesdeutsche Politik wegen der deutschen Teilung und deutscher Minderheiten in osteuropäischen Staaten wie Polen, Rumänien und der Sowjetunion bis auf den heutigen Tag besonderen Wert auf verbesserte Familienzusammenführung sowie Reise-und Kontaktmöglichkeiten, die im Mittelpunkt des „Korbes III“ der KSZE-Verhandlungen stehen. Vor allem durch materielle Leistungen und durch eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen erhoffte sie sich ein Entgegenkommen der sozialistischen Staaten. Umgekehrt sperrte sich die Bundesrepublik jedoch gegen publikumswirksame Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen und verfolgte im allgemeinen eine „stille“ Menschenrechtsdiplomatie. Auch zeigte sie sich nicht bereit, als Reaktion auf Unterdrückungsmaßnahmen (wie das Verbot der Gewerkschaft „Solidarität“ in Polen 1981) die Entspannung oder den Osthandel aufs Spiel zu setzen. In der Ostpolitik der Bundesrepublik genießt demnach das übergreifende sicherheitspolitische und ökonomische Entspannungsinteresse gegenüber der direkten Demokratieförderung Priorität.
Eine ähnliche relativ untergeordnete Stellung der Demokratieförderung läßt sich auch in der Südpolitik der Bundesrepublik beobachten. Zwar erweiterte sich die ursprüngliche antikommunistische Orientierung zu einer Aversion auch gegenüber nichtsozialistischen Diktaturen. Wurde jedoch gefordert, dieser Aversion durch wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen Nachdruck zu verleihen, wie z. B. gegenüber der Republik Südafrika oder dem Iran, hat sich bisher in der Regel das außenwirtschaftliche Interesse durchgesetzt.
(4) Es ist deutlich geworden, daß unter den Beziehungsfelder. n die Westbindung deutlichen Vorrang genießt. Innerhalb der Westbindung wird man nach Politikfeldem differenzieren müssen und in der Sicherheitspolitik dem Bündnis mit den USA, in der Außenwirtschaftspolitik hingegen der westeuropäischen Integration die größte Bedeutung beimessen. Seit den siebziger Jahren hat die Bundesrepublik jedoch auch eine eigenständige entspannungsorientierte Ostpolitik entwickelt, die seither ihre zweite, aber nicht ohne die Abstimmung mit ihren westlichen Partnern aufrechtzuerhaltende außenpolitische Säule bildet. Es hängt weitgehend vom allgemeinen „Ost-West-Klima“ ab, inwieweit die Entspannungsorientierung der Bundesrepublik sich entfalten kann; eine Reduzierung der Außenpolitik auf eine ausschließliche Westbindung wie zur Zeit des Kalten Krieges ist jedoch heute ebensowenig vorstellbar wie ein Ausstieg aus der Westbindung zugunsten einer „Äquidistanz“ oder „Selbst-Finnlandisierung", die in der Krise der Entspannung zu Anfang der achtziger Jahre als Real-Utopie durch die westlichen Medien geisterte. Die Südpolitik nimmt demgegenüber einen deutlich nachgeordneten Rang ein. (5) Eine ähnliche Bestimmung der Rangordnung unter den Politikfeldern würde die Frage beantworten, ob die Bundesrepublik eher eine sicherheitsorientierte, eine wohlfahrtsorientierte oder eine ideologische Außenpolitik betreibt. Leicht läßt sich zeigen, daß der „demokratische Internationalismus“, wenn es zum Konflikt mit sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen Interessen kommt, das Nachsehen hat. Er erfüllt nicht zuletzt die Funktion der innenpolitischen Legitimation außenpolitischer Entscheidungen und kommt auch dort eher in seiner passiven Variante, in der Forderung nach der „Demokratieverträglichkeit“ von Sicherheits-und Außenwirtschaftspolitik, denn als aktive „Demokratieförderung“ zur Geltung. Deutlich ist auch zu beobachten, daß in Konflikten zwischen „Sicherheit“ und „Wohlfahrt“ die Wohlfahrtsorientierung in der Regel von bundesdeutschen Akteuren favorisiert wird, die militärischen Anforderungen hingegen häufig von ausländischer Seite in den Vordergrund gerückt werden. Was mehr Gewicht erhält, hängt vor allem vom Spannungsgrad der Ost-West-Beziehungen und dem damit verbundenen — perzipierten — Handlungsspielraum der Bundesrepublik gegenüber den USA ab. Damit sind wir bereits beim Problem der „Macht“ der Bundesrepublik.
IV. Irrungen und Wirrungen über den internationalen Status und den außenpolitischen Stil der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 4
Tabelle 3: Rüstungsexporte der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen führenden Exportländern (1984— 1988, in Mio. US-Dollar zu konstanten Preisen von 1985) Quelle: SIPRI Yearbook 1989, Oxford u. a. 1989, S. 198 f.
Tabelle 3: Rüstungsexporte der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen führenden Exportländern (1984— 1988, in Mio. US-Dollar zu konstanten Preisen von 1985) Quelle: SIPRI Yearbook 1989, Oxford u. a. 1989, S. 198 f.
In den vergangenen Jahren häuften sich Betrachtungen über den Machtrang der Bundesrepublik. Wurde sie zuvor stets in die große, aber unbestimmte Gruppe der „mittleren Mächte“ eingeordnet, so erscheint sie nun in einigen Titeln einerseits als „heimliche Großmacht“ (Czempiel) oder gar als „Weltmacht“ — wenn auch „wider Willen“ — (Hacke), andererseits beklagt man ihre „Machtvergessenheit“ (Schwarz). So vage und spekulativ diese Etikettierungen auch sein mögen, sie spielen für das weltpolitische Denken in unserer Zeit noch immer eine zu große Rolle, als daß man sie übergehen könnte 1. Spieglein, Spieglein an der Wand . . . Wie mächtig ist die Bundesrepublik?
Die Bundesrepublik entstand zwar im Kalten Krieg als ein von den USA abhängiges Land der westlichen „Containment“ -Strategie gegenüber der sowjetischen Bedrohung, erlebte jedoch schon frühzeitig einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung, der als das „Wirtschaftswunder“ bekannt wurde. Unter diesen Umständen lag es nahe, eine „Fragmentierung“ der Macht (Hanrieder) zu konstatieren oder, bildhafter ausgedrückt, die Bundesrepublik als „ökonomischen Riesen“ und „politischen Zwerg“ zu charakterisieren
Mit der Zunahme westdeutscher Wirtschaftskraft stellte sich dann die Frage, ob es sich bei der Bundesrepublik etwa um eine „Leitökonomie“ im Sinne Perroux’ handele. Eine „conomie dominante“ zeichnet sich dadurch aus, daß sie einen ungleich stärkeren Einfluß auf ihre Wirtschaftspartner ausübt als umgekehrt und für deren binnenwirtschaftliche Entwicklung entscheidende Parameter setzen kann
Vergleicht man die Entwicklung der weltwirtschaftlichen Position der Bundesrepublik mit der der USA als unbestrittener ökonomischer Führungsmacht der Nachkriegszeit, so fällt in der Tat ein relativer Positionsverfall der USA und ein Positionsgewinn der Bundesrepublik ins Auge (Tabelle 4). Im Weltexport hat die Bundesrepublik die USA inzwischen überflügelt, ebenso übersteigen mittler-weile die bundesdeutschen Investitionen in den USA die amerikanischen in der Bundesrepublik. Die Dominanz der USA ist allerdings in der internationalen Währungsund Finanzpolitik deutlich spürbar geblieben. Zwar ist die DM schon seit Ende der fünfziger Jahre — neuerdings zum Teil versteckt in der ECU (European Currency Unit/Euro-päische Währungseinheit) — zur zweitwichtigsten Weltwährung (auch Reservewährung) geworden, doch deckt der US-Dollar immer noch knapp die Hälfte der Weltdevisenreserven ab. Trotz der Wechselkursfreigabe setzt die Zins-und Kursentwicklung in den USA weiterhin schwer überwindbare Rahmenbedingungen für die westeuropäische Wirtschaft. Daran konnte auch die Einrichtung des Europäischen Währungssystems 1979 bisher nicht rütteln.
Unbestritten gehört die Bundesrepublik also aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke, des Gewichts ihrer Exporte und ihrer Währung zu den fiihrenden Wirtschaftsmächten: Wo immer ein „Klub“ über die Weltwirtschaft berät und entscheidet, besitzt die Bundesrepublik einen festen Platz, vor allem unter den „Sieben“ des Weltwirtschaftsgipfels. Eine „Leitökonomie“ im Weltmaßstab ist sie aber deswegen noch lange nicht. Diese Position nimmt nach wie vor die USA ein.
Schon eher könnte diese Aussage für den westeuropäischen Wirtschaftsraum zutreffen. Die Bundesrepublik ist die stärkste Volkswirtschaft in der EG: Sie erwirtschaftet mehr als ein Viertel des EG-Bruttosozialproduktes sowie der Exporte innerhalb der EG und verfügt über ein knappes Drittel der EG-Währungsreserven und des ECU. Konjunktur-, Zins-und Währungsentwicklung in der Bundesrepublik haben damit sehr wohl asymmetrische Auswirkungen auf die übrigen EG-Länder, die diese zu nicht-reziproken Anpassungsreaktionen veranlassen können.
Entscheidend dürfte aber sein, ob die Bundesrepublik in der Lage ist, diese Wirtschaftskraft zur Herbeiführung gewünschter Entscheidungen in anderen Pölitikfeldern machtpolitisch umzumünzen und damit die Fragmentierung der Macht zu überwinden. Natürlich verbindet sich mit wirtschaftlicher Stärke immer auch politischer Einfluß, doch fehlen der Bundesrepublik nicht zuletzt die militärischen Attribute, die diesem Einfluß Nachdruck verleihen könnten. So hat sich im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und den USA die sicherheitspolitische Abhängigkeit erhalten, auch wenn die Bundesrepublik zum wohl wichtigsten militärischen Partner der USA in Europa aufgestiegen ist. Solange die militärische Sicherheit Westeuropas auf nuklearer Abschreckung beruht, wird sich daran auch nichts ändern. Gehört die Bundesrepublik in der Weltwirtschaft zum „Klub“, so entscheiden die Supermächte die Geschicke der internationalen Sicherheit weithin unter sich — unilateral oder auf Zweier-Gipfeln.
Zwei Einschränkungen gelten dennoch: Die Wirkung der militärischen Abhängigkeit wandelt sich mit dem „Ost-West-Klima“. Steht das Barometer auf „Entspannung“, ist die Bundesrepublik eher in der Lage, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen; kühlt das Klima sich ab, überlagert die „Sicherheit“ die anderen Politikfelder und macht so der Bundesrepublik ihre Abhängigkeit bewußt, daß sie sich wieder stärker an die USA und deren Politik anlehnt. Wurde die Entscheidung über die „Nachrüstung“ mit Mittelstreckenwaffen in einer Zeit der Krise zwischen Ost und West trotz heftiger innenpolitischer Widerstände durchgesetzt, so ist die Bundesrepublik in der gegenwärtigen Phase zunehmender Entspannung nicht bereit, die auf ihrem Territorium stationierten Kurzstreckenwaffen nach den Wünschen der USA umstandslos zu „modernisieren“. Allerdings sind die USA auch in Spannungszeiten nicht mehr in der Lage, ihre sicherheitspolitische Hegemonie in ökonomischen Konflikten als Trumpf auszuspielen. Im Jahre 1963 gelang es den USA noch, durch Druck auf die Bun-desrepublik ein deutsch-sowjetisches Röhrengeschäft zu verhindern. Zu Beginn der achtzigerJahre konnten die Westeuropäer hingegen gemeinsam ein Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion gegen die Sicherheitsbedenken und den Druck der westlichen Vormacht durchsetzen. Ein anderes Beispiel: Während des Vietnamkrieges war die Bundesrepublik bereit, den unter Druck geratenen US-Dollar aus sicherheitspolitischen Erwägungen zu stützen und dabei hohe Verluste hinzunehmen; inzwischen zeigt sie sich jedoch nicht mehr geneigt, dem Drängen der USA auf Schonung der amerikanischen Handelsbilanz nachzugeben. Allerdings gehört die Bundesrepublik bei Handelskonflikten zwischen den USA und der Europäischen Gemeinschaft stets zu den Befürwortern von Kompromissen, die den Interessen der USA entgegenkommen.
Genausowenig wie eine globale Weltmachtrolle übt die Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft eine politische Hegemonie aus. Die Entscheidungsmechanismen der EG stehen einer einseitigen Interessendurchsetzung ebenso entgegen, wie das ökonomische Übergewicht der Bundesrepublik durch ihren minderen sicherheitspolitischen Status gegenüber Frankreich und Großbritannien ausgeglichen wird. Ohne eine Abstimmung mit diesen wichtigsten europäischen Partnern können Initiativen oder Korrekturen der Europapolitik nicht er-B folgreich sein. Der Blick auf die EG wirft vielmehr die generelle Frage auf, ob der internationale Status der Bundesrepublik überhaupt unabhängig von ihren integrativen Verflechtungen bestimmt werden kann. So wenig ihr weltwirtschaftliches Gewicht zu unterschätzen ist. so sehr verdankt es sich der integrativen Einbindung in die westeuropäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die EG ist nicht nur ein sicherer Absatzmarkt der westdeutschen Industrie; ohne den politischen Rahmen der Gemeinschaft und die über ihn vermittelten Ausgleichsmöglichkeiten (etwa in der Regional-oder Sozialpolitik) würde die bundesdeutsche Politik wegen der permanenten Exportüberschüsse wahrscheinlich unter erheblichen Anpassungsdruck geraten. Auch in der Weltwirtschaft steht die Bundesrepublik nur als Teil der EG aufgleichem Fuß mit den beiden anderen Wirtschaftszentren USA und Japan. Und nur im EG-Verbund kann sie verhindern, daß in Wirtschaftskonflikten mit den USA ihre besondere militärische Abhängigkeit den Ausschlag gibt Die Bundesrepublik als Einzelstaat in den Rang einer „Macht“ — welchen Zuschnitts auch immer — zu erheben, muß daher unter den Bedingungen der westeuropäischen Integration zunehmend als Anachronismus, als „altes Denken“, erscheinen. 2. Ach wie gut, daß niemand weiß . . . Die Bundesrepublik als „Handelsstaat“
Es mag das Verständnis der Außenpolitik der Bundesrepublik erleichtern, wenn man sich — als analytische Hilfskonstruktion — das internationale System so vorstellt, als ob es aus „zwei Welten“ bestünde Zum einen handelt es sich um eine „staatszentrierte Welt“, in der territoriale und militärische Probleme sowie das Streben nach Macht vorherrschen. Zum anderen läßt sich das internationale System auch als „multizentrische Welt“ denken, in der es neben den Staaten noch andere wichtige Akteure gibt und in der ökonomische (und vermehrt auch ökologische) Probleme sowie die Orientierung an regionaler bzw. globaler Interdependenz im Vordergrund stehen. Während das Deutsche Reich zwischen 1870 und 1945 — mit gewissen Abstrichen in der Weimarer Zeit — sich an der „staatszentrierten Welt“ der internationalen Politik orientierte und dementsprechend als „Machtstaat“ auftrat, stand dieser Weg der Bundesrepublik (wie auch Japan) als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges nicht mehr offen. Ihre geostrategische Lage im globalen Macht-und Systemkonflikt zwischen Ost und West erlaubte es ihr zwar viel weniger als Japan, sich aus der machtorientierten Welt mit ihren sicherheitspolitisch-militärischen Erfordernissen auszuklinken. ihre eigentliche „Bestimmung“ und Stärke fand sie jedoch als „Handelsstaat“ in der durch Interdependenz geprägten Welt. Drastischer hat dies einst Hans-Peter Schwarz ausgedrückt, als er den „homo oeconomicus" als bundesdeutsche Lieblingsrolle entdeckte und sie als „Frucht der Katerstimmung eines Berserkers“ erklärte, „der seinen Machtrausch ausgeschlafen und sich hinfort zum friedlichen Geldscheffeln'entschlossen hat“
Um das Ergebnis zugespitzt zusammenzufassen: Aus dem „Schatten“ einer expansionistischen Ver-, gangenheit heraus hat die Bundesrepublik die „Chance“ der Rehabilitierung durch Integration ergriffen und sich vom machtstaatlichen „Saulus“ zum interdependenzorientierten „Paulus“ gewandelt. Ihrer militärischen Gefährlichkeit beraubt, hat sie auf ihre ökonomische Stärke gesetzt. Wohlfahrtsorientierung und Interdependenzorientierung gehen dabei Hand in Hand. So betreibt die Bundesrepublik ihre Außenpolitik vor allem — aber keineswegs ausschließlich — in der Rolle und im Stil eines „Kaufmanns“. Der Kaufmann muß zwar um seine äußere Sicherheit besorgt sein, die zur Wahrung und Mehrung seines Wohlstandes unabdingbar ist, sucht aber, wo immer möglich, die Entspannung. unter der seine Geschäfte besonders gut gedeihen. Sein Bild von der Welt ist nicht von Einflußsphären geprägt, sondern vom Weltmarkt. Diesen liberalen Weltmarkt, der seine wirtschaftliche Stärke fördert und belohnt, verteidigt er allerdings entschieden gegen weitreichende Regulierungs-und Umverteilungsversuche. Schließlich verzichtet er sowohl auf demonstratives machtstaatliches Auftreten als auch auf eine konsequente Menschenrechtspolitik, um seine Geschäftspartner nicht zu verprellen. Außenminister Genscher, seit nunmehr 15 Jahren an der Spitze des Auswärtigen Amtes, kann als die Personifizierung dieser Außenpolitik gelten. Es nimmt daher nicht Wunder, daß der „Genscherismus“ den „Machtstaatlern“ diesseits und jenseits des Atlantiks ein besonderer Dorn im Auge ist
Wenn in Publikationen der achtziger Jahre dennoch von einer Groß-oder Weltmachtrolle der Bundesre- publik die Rede ist, so ist dies nicht allein eine teils überzogene, teils veraltete Vorstellung. Es spiegeln sich darin vielmehr einerseits die Wahrnehmung, daß die vormals unbestrittene Führungsposition der USA allmählich relativiert wird, und andererseits die Forderung, die Bundesrepublik müsse zusammen mit anderen Staaten nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch politisch-militärisch die USA in ihrer Weltordnungsrolle entlasten. Dies verleitet einige Autoren außerdem zu der Mahnung, die Bundesrepublik müsse ihre lange geübte machtpolitische Zurückhaltung, ihre „Zahmheit“ und „Machtvergessenheit“ aufgeben und statt dessen sowohl eine (wenn auch „verantwortliche“) Macht-politik betreiben als auch die bisher vernachlässigten militärischen Instrumente der Außenpolitik beleben Diese Autoren müssen sich jedoch die Frage gefallen lassen, ob sie damit nicht die historischen Grundlagen und Erfahrungen der bundesdeutschen Außenpolitik übergehen: den „Schatten der Vergangenheit“ und die — im Sinne der Friedensfähigkeit der Deutschen — daraus gezogenen Konsequenzen ebenso wie die „Chancen der Integration“ und der Interdependenzorientierung. Unbestritten hat mit dem Einfluß der Bundesrepublik auch ihre weltpolitische Verantwortung zugenommen. Will sie aber nicht mit eben den Grundorientierungen brechen, denen sie diese Stellung im internationalen System und darüber hinaus auch ihre innenpolitische Stabilität verdankt, kann die Wahrnehmung dieser Verantwortung nicht in einer Hin-wendung zur militärischen Machtpolitik liegen, sondern in der Förderung von Sicherheit, Wohlfahrt und zivilisierter Herrschaft in multilateraler und möglichst beziehungsfeldübergreifender Abstimmung sowie durch eine Politik der kooperativen Verregelung der internationalen Beziehungen.
Drei Prozesse zeichnen sich in der Gegenwart und für die Zukunft in Europa ab, die für die bundesdeutsche Außenpolitik und die Stellung der Bundesrepublik im internationalen System grundlegend sind: der behutsame, nationale Alleingänge vermeidende Umgang mit der Teilung Deutschlands, der keine Option von vornherein ausschließt; die weitere Vertiefung der europäischen Integration im Rahmen der EG und deren Offenhaltung sowohl für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) als auch — langfristig gesehen — für mögliche Beitrittskandidaten in Zentral-und Osteuropa; schließlich die durch die sowjetische Reformpolitik eingeleitete Entschärfung des Ost-West-Gegensatzes, die sowohl eine Entmi-litarisierung und eine Zunahme der Kooperation in sämtlichen Politikfeldern der Ost-West-Beziehungen als auch einen wachsenden innen-und außen-politischen Spielraum der Staaten des östlichen Bündnisses verspricht. Neue Chancen einer „nationalen“ Politik der Wiedervereinigung, deren Nutzung durch die Bundesrepublik bzw. die Bundesregierung hier und da angemahnt worden ist, liegen trotz des vor kurzem noch für unvorstellbar gehaltenen Wandels in der DDR ebensowenig im Bereich realistischer Handlungsmöglichkeiten wie eine Rückkehr zu einer ausschließlichen Westbindung, die Arnulf Baring erst kürzlich zur Heilung „unseres neuen Größenwahns“ glaubte empfehlen zu müssen Vielmehr bietet sich die Gelegenheit, parallel zur europäischen Integration im Rahmen der EG eine koordinierte gesamteuropäische Annäherung und Verflechtung zu fördern, die mit dem Abschluß des Wiener KSZE-Folgetreffens neue Impulse empfangen hat und die auch der wechselseitigen Öffnung und Durchdringung der beiden deutschen Staaten zugute kommen wird.
Die Gestalt des zukünftigen Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und der DDR läßt sich heute noch nicht näher bestimmen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist von einer verstärkten Orientierung der DDR auf Kooperation mit der Bundesrepublik und den westeuropäischen Staaten, einschließlich der Europäischen Gemeinschaft, auszugehen, die dabei ihre Selbständigkeit als Völkerrechtssubjekt nicht aufgeben wird. Der von Bundeskanzler Kohl am 28. November 1989 vorgelegte Zehn-Punkte-Plan greift weit über die sich im Flusse befindliche politische Bewußtseinsbildung in der DDR selbst, aber auch über die europäischen Ordnungsvorstellungen der westlichen Führungsmächte und der Sowjetunion hinaus — jedenfalls mit der darin präzisierten Zielsetzung einer staatli-eben Einheit auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland, der DDR sowie Berlins. Andere Elemente des Zehn-Punkte-Plans dürften demgegenüber mit der von der DDR-Regierung unter Hans Modrow angedeuteten Konzeption einer „Vertragsgemeinschaft“ deutlicher konvergieren und reale Aussichten für eine konstruktive Vernetzung und Verregelung deutsch-deutscher Beziehungen in einer Vielzahl von Politikfeldem bieten. Die „Wiedervereinigungs“ -Perspektive des Kohl-Plans kann sicher nicht einfach in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen werden. Sie beruht letztlich auf der Spekulation, daß sich die DDR auch unter einer frei gewählten Regierung nicht so werde stabilisieren können, daß sie von künftigen Wellen der Massenauswanderung in die Bundesrepublik verschont bleiben wird. Gelingt der DDR diese Binnenstabilisierung nicht, wird die Anziehungskraft der Option eines „Anschlusses“ an die Bundesrepublik — in welcher Form auch immer — unwiderstehlich werden. Dann wird ihr auch von widerstrebenden Nachbarn Deutschlands wenig entgegengesetzt werden können.
Für den „Handeisstaat“ Bundesrepublik Deutschland sind die oben skizzierten internationalen Rahmenbedingungen besonders dann vorteilhaft, wenn die militärischen Bedrohungsvorstellungen im Ost-West-Verhältnis an Bedeutung verlieren und damit die sich aus seiner geostrategischen Lage und militärischen Beschränkung ergebende sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA abnimmt. Die der militärischen Sicherheitspolitik im Ost-West-Verhältnis geschuldeten direkten, mehr aber noch die indirekten Wohlfahrtseinbußen könnten sich dann langfristig sogar in Wohlfahrtsgewinne verwandeln. Andererseits treten dann auch die externen Kosten der Rolle als „Handelsstaat" und die vor allem globalpolitischen Defizite einer an dieser Rolle orientierten Außenpolitik schärfer sichtbar zutage. Als „Handelsstaat“ trägt die Bundesrepublik Mitverantwortung für Sozialkatastrophen wie Kriege und Flüchtlingsströme, für Hunger und Armut vor allem in der Dritten Welt. Auch als agrarischer und industrieller Umweltverschmutzer sowie Energie-verschwender hat es die Bundesrepublik bislang am gebotenen und ihr auch möglichen Einsatz fehlen lassen, um die Zunahme globaler Umwelt-und Klimabelastungen zu bremsen und zur Rettung der globalen Ökosphäre beizutragen. Schließlich wird sich die Bundesrepublik deutlicher als bisher gefordert sehen, ihr Selbstverständnis als demokratischer Rechts-und Sozialstaat auch in ihrem Verhältnis zum internationalen Umfeld geltend zu machen: Sicher kann es sich nicht um eine ideologisierte Außenpolitik nach dem Motto: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ handeln. Aber ein Mindestmaß an Risiko-und Opferbereitschaft, um Bewegungen für eine Zivilisierung von Herrschaft im Sinne von Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Ausgleich — durch entschiedenes Auftreten gegenüber repressiven Regimen zu unterstützen, sollte der bundesdeutschen Politik zur Selbstverständlichkeit werden.
Die vorstehenden Ausführungen erlauben drei kurz gefaßte Schlußfolgerungen: 1. Auf die Frage, ob die Bundesrepublik den Status einer Weltmacht habe, kann die Antwort nur eindeutig negativ ausfallen. 2. Unbeschadet ihrer zweifellos gegebenen wirtschaftlichen Überlegenheit kann ihr die Qualität einer europäischen Hegemonialmacht ebenfalls nicht zugesprochen werden, da der internationale Status der Bundesrepublik mehr und mehr nur als Teil der Europäischen Gemeinschaft bestimmbar ist. 3. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung stellt sich die Bundesrepublik vor allem als ein international kooperierender demokratischer Handelsstaat dar. So sehr diese handelsstaatliche Identität einen friedenspolitischen Gewinn gegenüber der machtstaatlichen Vergangenheit einschließt, so mangelhaft wird die Verantwortung für die aus dieser Identität resultierenden externen Kosten wahrgenommen. Die westdeutsche Politik und Gesellschaft müssen erst noch lernen, diese Kosten zu internalisieren und die Kosten des Nicht-Lernens in ihre Rechnung einzubeziehen.
Volker Rittberger, Ph. D., geb. 1941; o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Evolution and International Organization, Den Haag 1973; (mit D. S. Lutz) Abrüstungspolitik und Grundgesetz, Baden-Baden 1976; (Hrsg.) Science and Technology in a Changing International Order, Boulder 1982; Mit Kriegsgefahren leben, Opladen 1987; Europäische Sicherheit, Wien 1987; (mit M. Efinger und M. Zürn) Internationale Regime in den Ost-West-Beziehungen, Frankfurt 1988;
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