Seit 1987 erschüttern immer wieder Unruhen das „Dach der Welt“, das sich seit 1951 unter chinesischer Herrschaft befindet. Offensichtlich lehnt die Mehrheit der Tibeter die chinesische Präsenz entschieden ab. Schwere Menschenrechtsverletzungen, die Ermordung von vermutlich mehr als einer Million Tibetern und die Zerstörung der tibetischen Kultur zwischen 1959 und 1976 haben die Gräben zwischen den beiden Völkern unüberwindbar gemacht. Daran vermochte auch eine liberalere Politik der chinesischen Führung seit 1980 nichts zu ändern. Immerhin hat sich die wirtschaftliche Situation seitdem grundlegend gebessert. In der Frage der Zugehörigkeit Tibets zu China lehnt Peking jeden Kompromiß ab und verweist auf die gemeinsame Geschichte. Die Staatengemeinschaft schließt sich dieser Sichtweise an; sie verweigert der Exilregierung des Dalai Lama ihre Anerkennung. Mehrere unabhängige völkerrechtliche Gutachten kommen hingegen zu dem Schluß, daß China keine wirksamen Gebietstitel auf Tibet erworben hat und die Annektion dem Völkerrecht widerspricht. Zur Untermauerung seiner Ansprüche betreibt China eine aktive Sinisierung und Militarisierung Tibets; es widersetzt sich zudem wiederholten Verhandlungsangeboten des Dalai Lama, obwohl dieser bereits auf die Forderung nach voller staatlicher Unabhängigkeit verzichtet hat. Den Tibetern bleibt somit neben dem Vertrauen in die Stärke der eigenen Kultur die Hoffnung auf die Demokratiebewegung in China.
Hintergründe, Ursachen, Perspektiven
Seit Oktober 1987 erscheint Tibet wieder in den Schlagzeilen der Weltpresse. Damals demonstrierten in der Hauptstadt Lhasa Tausende für staatliche Unabhängigkeit und die Rückkehr des Dalai Lama, ihres geistlichen und weltlichen Oberhauptes. Die überraschte chinesische Volksbefreiungsarmee schlug die Proteste schließlich gewaltsam nieder; etwa 20 Tibeter fanden dabei den Tod. Das harte Vorgehen hielt die Bevölkerung indes nicht von weiteren Protesten ab, die ihren Höhepunkt schließlich im März 1989 fanden, als Peking sogar das Kriegsrecht über Lhasa verhängte und alle Ausländer aus der Stadt verwies. Insgesamt haben die Unruhen der letzten Jahre weit über hundert Todesopfer gefordert — nahezu ausschließlich tibetische Zivilisten.
Was ist der Hintergrund der anhaltenden Proteste der Tibeter? Handelt es sich um eine interne chinesische Auseinandersetzung zwischen Anhängern einer traditionellen Theokratie und einer revolutionär-marxistischen Bewegung oder um einen nationalen Konflikt zwischen zwei Völkern, um Selbstbestimmung und Prinzipien des internationalen Rechts?
Für die Chinesen ist zumindest der völkerrechtliche Status geklärt: „Tibet gehört als unablöslicher Teil zum chinesischen Territorium, was durch die geschichtliche Entwicklung begründet ist. Bereits im siebten Jahrhundert bestand ein reger und freundschaftlicher Verkehr zwischen den Han und der Bevölkerung Tibets. Seit der Yuan-Dynastie im 13. Jahrhundert fällt Tibet offiziell unter die Souveränität von China. Und das politische und religiöse System Tibets wurden von der zentralen chinesischen Regierung legitimiert. Auch im Verlauf der folgenden Jahrhunderte wurde trotz Wechsels der chinesischen Zentralregierung und der lokalen Regierung Tibets sowie der Invasion ausländischer Mächte die Tatsache, daß Tibet zu China gehört, nie angezweifelt.“
I. Historischer Rückblick
Abbildung 3
Karte 2: Tibet als Autonome Region Chinas Quelle: Oskar Weggel, China, Verlag C. H. Beck, München 1981.
Karte 2: Tibet als Autonome Region Chinas Quelle: Oskar Weggel, China, Verlag C. H. Beck, München 1981.
Urmutterder sino-tibetischen Beziehungen ist nach chinesischer Darstellung Prinzessin Wen Cheng aus der Tang-Dynastie. Im Jahre 641 heiratete sie den tibetischen König Songsten Gampo. Laut chinesischer Geschichtsschreibung hat sie neben vielen anderen zivilisatorischen Errungenschaften den Buddhismus nach Lhasa gebracht Dabei wird übersehen, daß Wen Cheng bereits die vierte Frau von König Songtsen Gampo war. Neben zwei einheimischen Adeligen hatte er vier Jahre vor Wen Cheng die nepalesische Prinzessin Bhrikuti Devi geheiratet. Bhrikuti war wie Wen Cheng Buddhistin und damit die erste historisch nachweisbare Person, die Buddhas Lehre in Tibet eingeführt hat.
Bis zum 12. Jahrhundert kamen die meisten Impulse für die kulturelle Entwicklung aus dem Süden. aus Indien. Um 770 begann der große indische Gelehrte Padmasambhava mit der ersten buddhistischen Missionierung. Auf dem Konzil in Samye von 792— 794 setzte er sich gegen die chinesische Zen-Schule durch, die anschließend keine Bedeutung in Tibet mehr erlangte. Die traditionelle Bön-Religion erlebte im 9. Jahrhundert eine Renaissance, doch ein zweiter bedeutender indischer Missionar, Atisha, verhalf dem Buddhismus im 11. Jahrhundert zum endgültigen Durchbruch.
Politisch dominierten seit dem 13. Jahrhundert die Mongolen, die als Yuan-Dynastie von 1279 bis 1368 auch über China herrschten. Doch selbst nach ihrer Vertreibung vom Drachenthron blieben die Mongolen die Herrscher in Tibet; umgekehrt übten die Tibeter großen kulturellen und religiösen Einfluß auf den mongolischen Hof aus. Die tibetische Mon13 golenmission begann 1247 und wurde vor allem von Fürst Kublai Khan ab 1260 begünstigt. Nachdem der buddhistische Elan einige Zeit zum Erliegen gekommen war. zog der tibetische Abt Sonam Gyatsos 1577 erneut an den Mongolenhof und nahm die Missionstätigkeit wieder auf. Das tibetisch-mongolische Verhältnis wird häufig mit den Kaiser-Papst-Beziehungen des Mittelalters verglichen. Eine solche Sichtweise ist jedoch problematisch, denn während der Papst auch eine bedeutende politisch-militärische Macht darstellte, achteten die Mongolen streng auf die Gewaltenteilung: Sie allein waren für die weltliche Macht zuständig und die Tibeter für den geistigen Bereich.
Erst seit 1720 übt das chinesische Kaiserhaus reale Macht in Tibet aus. Damals herrschte in China die Qing-Dynastie. Die Qing-Kaiser gehörten zum Volk der Mandschus aus dem Nordosten des chinesischen Staatsgebietes. Von der Mehrheit der Chinesen wurden sie — ähnlich wie Jahrhunderte zuvor die Mongolen — eher als Fremdherrscher angesehen. Die Tibeter betrachteten die Qing im frühen 18. Jahrhundert als willkommenen Verbündeten gegen die mongolischen Dsungaren, die — im Unterschied zu ihren Vorgängern — die tibetische Kultur nicht respektierten, sondern die Bevölkerung terrorisierten und Tempel sowie Klöster plünderten. Der Kaiser von China schien für die Tibeter weit genug entfernt, um ihn als einen Verbündeten zu gewinnen, der keinen allzu großen Einfluß auf die Innenpolitik nehmen würde. Der Qing-Herrscher nahm den Hilferuf gern auf. Schon bald zeigte sich jedoch, daß er nicht die Absicht hegte, die Tibeter ganz selbstlos gegen die Mongolen zu verteidigen. Statt dessen hinterließ er nach der Vertreibung der Dsungaren seinerseits Truppen in Lhasa.
Zudem ernannte er zwei Gesandte, sogenannte Ambane, die seine Interessen in Lhasa wahrnehmen sollten Die Ambane wurden bald zu einer bedeutenden Macht in Tibet. Sie konnten die Einreise von Ausländern kontrollieren und bei der Ernennung des tibetischen Oberhauptes mitbestimmen. 1904 näherten sich britische Kolonialtruppen unter Colonel Francis Younghusband der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Die Briten fürchteten einen wachsenden Einfluß des russischen Zaren im Norden ihres Empire, denn Petersburg hatte kurz zuvor die zentralasiatischen Territorien erobert. Die Briten zwangen die Tibeter zu einem Vertrag, der ihnen drei Handelsstationen im Süden des Landes zugestand und alle ausländischen Mächte vom „Dach der Welt“ fernhielt. Der amtierende Dalai Lama war bei der Vertragsunterzeichnung nicht anwesend, sondern zunächst in die Mongolei und später an den chinesischen Kaiserhof geflohen. Da die Briten nicht lange in Lhasa blieben, kehrte er 1909 zurück, doch erneut war ihm nur ein kurzer Aufenthalt beschieden. Ein Jahr später floh er in die entgegengesetzte Richtung und suchte im nord-indischen Darjeeling Schutz unter britischer Obhut. Ursache dafür war die Verstärkung des in Lhasa stationierten chinesischen Militärs. Damit sollte die im Laufe der Zeit geschwächte Macht der Ambane neu gefestigt und der Anspruch auf Tibet gegenüber möglichen Konkurrenten wie England oder Rußland deutlich gemacht werden.
Die Restauration der chinesischen Macht währte allerdings nicht lange. Mit dem Ausbruch der bürgerlichen Revolution in China im Jahr 1911 verlor die Qing-Dynastie auch in Tibet ihre Grundlage. Tibetische Verbände erhoben sich im März 1912 und zwangen die chinesischen Soldaten zum Rückzug; der heimgekehrte Dalai Lama konnte die Unabhängigkeit ausrufen. Nicht einmal äußere Insignien wie Flagge und Hymne fehlten bei dem
Akt.
Wenn sich das offizielle China 40 Jahre nach der Proklamation der Volksrepublik bei seinen Ansprüchen auf Tibet noch immer auf die feudalistischen Yuan-und Qing-Dynastien sowie eine Prinzessin der nicht weniger feudalistischen Tang-Dynastie beruft, dann wird deutlich, daß es sich bei den Auseinandersetzungen in Tibet nicht so sehr um ideologische Streitfragen zwischen Kommunisten und traditionellen Buddhisten handelt, sondern um einen nationalen Konflikt.
II. Tibetische Reformbemühungen
Neben dem historischen Argument begründet China seinen Anspruch auf Tibet auch mit dem der sozialen Befreiung. Die Zustände im alten Tibet riefen scheinbar geradezu nach umfassenden Ver-änderungen: „Das alte Tibet war eine Theokratie mit feudaler Leibeigenschaft. Die Lamas und der Adel übten ihre Diktatur durch die Verbindung von politischer und religiöser Macht aus, die in den Händen einer kleinen, unermeßlich reichen Ausbeuterklasse buddhistischer Mönche, Adeliger und der Bürokratie konzentriert war. Diese mächtigen feudalen Stände besaßen alles Land und den größten Teil des Zugviehs, während die Leibeigenen und Sklaven, 95 Prozent der Bevölkerung, keinerlei Produktionsmittel besaßen und weder politische Rechte noch irgendwelche persönliche Freiheit hatten. Die Menschen wurden von einem mörderischen System von Steuern, Abgaben, Schuldzinsen und qualvoller, unbezahlter Fronarbeit erdrosselt. Mit schauerlichen Strafen und Foltermethoden wurde die Bevölkerung niedergehalten“ — so die chinesische Geschichtsschreibung.
Zweifellos war das alte Tibet alles andere als ein theokratischer Musterstaat. Neben einem großen Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche hielten die Mönche auch das Bildungsmonopol sowie wichtige politische Ämter in ihren Händen. Dennoch drängt sich angesichts der chinesischen Charakterisierung geradezu die Frage auf, warum es nicht zu sozialen Unruhen, Aufständen oder zumindest einer Flucht-bewegung gekommen ist. Immerhin gab es seit dem 17. Jahrhundert immer wieder ausgedehnte Besuche von Forschern, Händlern und Missionaren in Tibet, denen sozialer Sprengstoff nicht verborgen geblieben wäre.
Offensichtlich hat der Klerus den Bauern und Nomaden mehr persönliche Freiheiten gelassen, als es die Chinesen wahrhaben wollen, und er hat ihnen die Religion gegeben, die hier im Alltag der Menschen eine so große Rolle spielt, wie kaum irgendwo auf der Erde. Zudem übersieht die chinesische Geschichtsschreibung, daß zu Beginn des Jahrhunderts eine Reformbewegung auftrat, die aus eigenem Antrieb eine Veränderung der überkommenen Verhältnisse vornehmen wollte. Dabei machte sie sich die traditionellen Strukturen so weit als möglich zunutze. Neben Adel und Äbten gab es nämlich eine dritte entschiedene Macht in Tibet, deren Interessen nicht unbedingt mit den anderen übereinstimmten: den Dalai Lama, das geistige und weltliche Oberhaupt. Die Position des Dalai Lama ist eine Besonderheit des tibetischen Buddhismus. Im Gegensatz etwa zum Papst in der katholischen Kirche wird er nicht im fortgeschrittenen Alter von der Spitze der Hierarchie gewählt, sondern im Kindesalter als Wiedergeburt seines Vorgängers ausfindig gemacht. Nur die vierte und fünfte der bislang 14 Wiedergeburten oder Inkarnationen entstammten adeligen Verhältnissen; alle anderen kamen aus einfachen Verhältnissen fernab der Hauptstadt. So starben denn auch vermutlich vier Dalai Lamas eines gewaltsamen Todes, weil sie dem Ränkespiel der Adels-und Mönchselite oder ausländischen Mächten im Wege standen. Wenn der Dalai Lama jedoch das Glück hatte, nicht in jungen Jahren einem Mordanschlag zum Opfer zu fallen und er zudem eine starke Persönlichkeit war, dann konnte er Reformen einleiten und soziale Impulse geben, denn er war keiner bestimmten Dynastie verpflichtet. Eine solche Persönlichkeit war der 13. Dalai Lama (1876— 1933), der das Land 1912 in die Unabhängigkeit geführt hatte In der Folgezeit gab er den Anstoß zur Modernisierung von Armee und Verwaltung, zur Einführung eines Post-und Telegraphendienstes sowie der Verbesserung der medizinischen Versorgung auf dem Land. Für politischen Sprengstoff sorgten seine Versuche, die Macht des Klerus zu beschneiden. Mit einer sogenannten „englischen Schule“ in der Stadt Gyantse wurde das Bildungsmonopol der Klöster 1922 zum ersten Mal in der Geschichte gebrochen. Das Experiment währte indes nur vier Jahre, dann mußte die Schule auf Druck der Mönche schließen.
Der heute amtierende 14. Dalai Lama trat seine Aufgabe am 17. November 1950 im Alter von 15 Jahren an. Mit großem Elan setzte er die Reformbemühungen seines Vorgängers fort, doch blieb ihm nicht viel Zeit. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Ernennung einer Reformkommission, die seine Pläne von der Erneuerung Tibets in die Praxis umsetzen sollte. Sie befreite viele Bauern aus der Schuldknechtschaft, indem sie alle Schulden, die älter als acht Jahre waren, aufhob und bei jüngeren die Zinszahlungen tilgte. Diesmal waren es jedoch nicht nur Adels-und Mönchselite, die sich der Erneuerung widersetzten, sondern auch die Chinesen. Mao Tsetung hatte nach der Proklamation der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 die „Heimkehr Tibets ins chinesische Mutterland“ gefordert. Ein halbes Jahr später machten sich Truppen der Volksbefreiungsarmee auf, dieser Forderung Nachdruck zu verleihen. Am 9. September 1951 erreichten sie die tibetische Hauptstadt Lhasa. Dort zeigten sie keine Neigung, auf den vorhandenen Initiativen zur Reformierung Tibets aufzubauen, die offenbar nicht in das Bild paßten, das die Chinesen zur Rechtfertigung ihres Vorgehens zeichneten.
Die Spannungen eskalierten schließlich im März 1959. In Lhasa verbreitete sich das Gerücht, der Dalai Lama solle nach Peking entführt werden. Tausende von Tibetern zogen darauf zum Palast ihres Oberhauptes, um ihn gegen die Chinesen zu verteidigen. Als eine militärische Konfrontation unvermeidlich schien, floh der Dalai Lama nach Indien. Zwölf Stunden später bombardierte die Volksbefreiungsarmee den Palast und rieb den tibetischen Widerstand vollständig auf. Damit war das alte Tibet für immer vernichtet.
Die tragischen Ereignisse dämpften nicht den Reformwillen des Dalai Lama. 1963 veröffentlichte er eine moderne tibetische Verfassung, die buddhistische Grundsätze mit demokratischen Prinzipien verband. Die Verfassung sieht unter anderem auch vor, daß die Volksversammlung, das oberste Organ, den Dalai Lama von seinen politischen Ämtern entbinden kann
III. Ungeklärte Statusfrage
Über die Rechtmäßigkeit des chinesischen Vorgehens streiten sich Juristen bis heute. Die Tibeter berufen sich bei ihrer Forderung, als eine eigenständige Nation mit dem Recht auf staatliche Unabhängigkeit anerkannt zu werden, unter anderem auf den Vertrag, den die Regierung 1904 mit den englischen Truppen unter Colonel Younghusband abgeschlossen hatte und der von den chinesischen Ambanen nicht unterzeichnet worden war. Damit habe die englische Krone faktisch die Souveränität Tibets anerkannt. Die Chinesen dagegen verweigern den Tibetern die Befugnis zu einer völkerrechtlich so bedeutenden Handlung. Die Engländer zogen sich diplomatisch geschickt aus der Affäre: Sie billigten Tibet keine Souveränität, sondern eine Suzeränität zu, was eine innere Selbstverwaltung bei außenpolitischer Abhängigkeit bedeutet.
Wie problematisch die Anwendung dieser modernen Begriffe auf die Situation im alten Tibet ist, erläutert der Bonner Indologe und Tibetologe Michael Balk: „Es ging nunmehr (d. h. zwischen 1904 und 1914, d. Vf.) um Begriffe wie Suzeränität, Souveränität und Autonomie — Begriffe, die folgendes enthalten: genau festgelegte Grenzen, klar bemessene Befugnisse, eindeutig definierte Hoheitsrechte. Aus der asiatischen Flexibilität in den Dingen des Lebens und der Herrschaft wurde eine europäisch geprägte Bestimmtheit in den Angelegenheiten der Politik und des verbrieften Anspruchs. Es ist charakteristisch für die chinesische Seite, daß die modern formulierten und in modernen Kategorien gemeinten Ansprüche auf und in Tibet begründet werden mit Verhältnissen und Zuständen, die vor jener Zeitenwende — wenn man so will — bestanden haben. Es wird dabei aber bewußt oder nachlässig übergangen, daß jene Verhältnisse, auf die man dabei verwies, von einer ganz anderen Art und von einem ganz anderen Zuschnitt waren als die Ansprüche, die sie begründen sollen.“ Auch andere Wissenschaftler kommen eher zu einer skeptischen Beurteilung des chinesischen Anspruchs auf Tibet.
Am Juli 1987 erklärte hingegen die Bundesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten der GRÜNEN Petra Kelly: „Für die Bundesregierung wie für die gesamte Staatengemeinschaft ist geklärt, daß Tibet völkerrechtlich Teil des chinesischen Staats-verbandes ist.“ 8) Die Erklärung sollte eine geplante Reise von Bundeskanzler Kohl nach Tibet rechtfertigen, die auch von Koalitionspolitikern als unnötige Anerkennung des chinesischen Anspruchs auf Tibet kritisiert worden war Petra Kelly beauftragte daraufhin den wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages mit einer Expertise über die völkerrechtlich wirksame Eingliederung Tibets in den chinesischen Staatsverband. Das Ergebnis der Studie: „Die Staatengemeinschaft geht zwar davon aus, daß Tibet Teil des chinesischen Staatsverbandes ist, doch wurde der Status Tibets nicht geklärt. Zum Zeitpunkt der gewaltsamen Einverleibung Tibets in den chinesischen Staatsverband war es ein eigenständiger Staat. China hat keinen wirksamen Gebietstitel erworben, weil das dem Grundprinzip des aus dem Gewaltverbot hervorgehenden Annexionsverbots entgegensteht. Die Effektivität tatsächlicher Herrschaftsgewalt über ein Gebiet vermag keinen Gebietserwerb zu bewirken, der sich nicht im Rahmen des Völkerrechts hält.“
Schließlich beruft sich China noch auf das „ 17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung“ vom 23. Mai 1951. Damals war eine — vom Dalai Lama nicht autorisierte — tibetische Delegation nach Pe-king komplimentiert worden, um eine Vereinbarung zu unterschreiben, die im ersten Punkt unmißverständlich festlegte: „Das tibetische Volk soll in die große Familie des Mutterlandes — der Volksrepublik China — zurückkehren,“ Gleichzeitig sicherte es den Tibetern auch Autonomierechte zu, so unter Punkt 4: „Die Zentralbehörden werden das bestehende politische System unverändert lassen. Die Zentralbehörden werden außerdem den bestehenden Status, die Funktionen und Befugnisse des Dalai Lama nicht antasten.“ Unter Punkt 7 heißt es: „Religion, Sitten und Gebräuche des tibetischen Volkes sollen respektiert und die Lamaklöster geschützt werden. Die Zentralbehörden werden den Klöstern unverändert ihre Einnahmen lassen.“
Der Dalai Lama verwarf das Abkommen nach seiner Flucht, weil es nicht freiwillig zustandegekommen sei und sich die Chinesen zudem nicht an ihre eigenen Verpflichtungen gehalten hätten.
IV. Menschenrechtsverletzungen und Verfolgungen
Unbestritten sind die schweren Menschenrechtsverletzungen, deren Opfer Tibeter aller Schichten nach der Flucht des Dalai Lama im März 1959 wurden. Mönche, Nonnen und vermeintliche Reaktionäre wurden in Arbeitslager gesteckt, wo Hunderttausende unter unmenschlichen Bedingungen starben. Eine der Überlebenden, Adhi Tapetso, schilderte im April 1989 auf einer Tibet-Anhörung des Deutschen Bundestages ihre Erlebnisse: „Die Mönche und Frauen erhielten dreimal täglich eine Schale mit einer wässerigen Flüssigkeit, angeblich Maissuppe. Schon nach kurzer Zeit waren viele verhungert. Vier von uns wurden ausgesucht, die Schweine der Chinesen zu hüten. Wir haben nur überlebt, weil wir von dem Schweinefutter gegessen haben. Bald wurde uns klar, warum wir für diese leichtere Arbeit eingeteilt worden waren. Der chinesische Kommandant betrachtete uns als seinen Besitz und vergewaltigte uns. Wir konnten uns nicht wehren. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß Tag für Tag zehn Gefangene in dem Klostergefängnis starben. Eines Tages wurden hundert Frauen ausgesucht, um in einem Bleiwerk nahe Dartsedo zu arbeiten . . . Frauen, die noch bei Kräften waren, wurden zu schwerer Arbeit eingeteilt, die Schwächeren mußten in der Landwirtschaft arbeiten. Auf den Feldern der Chinesen ernährten wir uns von Unkraut und Wurzeln. Manche Frauen aßen auch Würmer, Insekten, sogar Kakerlaken . . . Frauen wachten nachts auf und schreien . ich habe Hunger, gib mir etwas, bevor ich sterbe Noch heute höre ich ihre Schreie . . .“
Nahezu alle Klöster wurden zu der Zeit zerstört. Auch für die Menschen außerhalb der Arbeitslager war die Freizügigkeit stark eingeschränkt und Besitz religiöser Gegenstände streng verboten. Zudem wurde die Landwirtschaft grundlegend um-strukturiert. Genossenschaften und Kollektive, die den tibetischen Bauern gänzlich fremd waren, verursachten einen erheblichen Produktionsrückgang. Schließlich zwang die chinesische Verwaltung die Bauern, Weizen statt der anspruchslosen Gerste anzubauen. So war der Boden nach wenigen Ernten ausgelaugt, Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöte waren die Folge.
Am 9. September 1965 proklamierte die chinesische Regierung die sogenannte Autonome Region Tibet. Dieser Akt halbierte das tibetische Territorium; große Teile der tibetischen Bevölkerung lebten plötzlich per Verwaltungsanordnung in chinesischen Provinzen, denn Osttibet wurde aufgeteilt und den chinesischen Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan angegliedert. Wenn die Chinesen heute von Tibet sprechen, meinen sie nur die Autonome Region, in der etwa zwei von sechs Millionen Tibetern leben.
Der Terror gegen die tibetische Bevölkerung steigerte sich noch während der Großen Proletarischen Kulturrevolution, die im August 1966 begann. Im folgenden Jahrzehnt vollendeten die Roten Garden das Werk der Zerstörung in Tibet. Selbst das Tragen eines Rosenkranzes. Blumen auf den Fensterbänken oder das Halten von Haustieren galten als Zeichen reaktionärer Gesinnung und zogen schwere Strafen nach sich.
Am meisten fürchteten die Menschen jedoch die abendlichen Klassenkampfsitzungen. Thamzing genannt, auf denen sie ihre „revolutionäre Gesinnung“ unter Beweis stellen mußten. Pema Thonden, eine Exiltibeterin, die 1979 als eine der ersten nach der Öffnung Tibets ihre Heimat besuchen durfte, berichtet darüber: „Dieses Thamzing — schlimmer als der Tod oder jede Folter — wurde jeden Abend nach Beendigung der Arbeit abgehalten und dauerte bis Mitternacht. Während des Thamzing wurden die Menschen gezwungen, sich gegenseitig zu kritisieren und zu schlagen. Wer sich weigerte, wurde selbst geschlagen. Nachbarn gegen Nachbarn, Schüler gegen Lehrer, Kinder gegen Eltern. Wenn Du an der Reihe warst, Kritik zu üben, mußtest Du ihnen, selbst wenn es Deine Mutter oder Dein Vater war, ins Gesicht spucken und mit aller Kraft treten oder schlagen. Andernfalls drohte Dir, weil Du es nicht mit genügendem Ernst tatest, dasselbe.“
Die Tibet-Bilanz nach dem Tode Maos am 8. September 1976 und der Entmachtung seiner radikalen Erben, der sogenannten „Viererbande“, war erschütternd. Laut Angaben des Dalai Lama, die von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen bestätigt wurden, waren über eine Million Menschen in Arbeitslagern, durch Exekutionen, Massaker oder Hungersnöte ums Leben gekommen. Die Landwirtschaft war für Jahre ruiniert. Von den knapp 4 000 Klöstern, Tempeln und religiösen Kultstätten hatten nur 13 die Zerstörungen überstanden. Lange Zeit war es einfach, diese Verbrechen allein den sogenannten „linksextremen Elementen der Kulturrevolution“ anzulasten, von denen sich heute alle distanzieren. Im Juli 1987 legte die chinesische Führung auf einer Pressekonferenz in Lhasa jedoch erstmals eine detaillierte Statistik der Zerstörungen vor. Danach geschah die Zerstörung des größten Teils aller Kultstätten und die Verfolgung der Mönche schon vor der Kulturrevolution
Diese einem Völkermord gleichenden Verfolgungen zwischen 1959 und 1976 sind einer der wichtigsten Gründe, warum die Tibeter der chinesischen Herrschaft trotz mancher Liberalisierungen ablehnend gegenüberstehen und mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit eintreten.
V. Liberalisierungen und wirtschaftliche Verbesserungen
Als Zäsur in der jüngeren tibetischen Geschichte gilt der Juni 1980. Damals besuchte der KP-Generalsekretär Hu Yaobang das Land. Hu, dessen Tod 1989 der Auslöser für die friedlichen Massenproteste war, zeigte sich vom Umfang der Zerstörungen selber überrascht und gestand in einem internen Papier ein. dß die Situation schlimmer sei als vor 1959. Einen Monat nach seinem Besuch wurde der Generalsekretär der Autonomen Region, Ren Rong, von seinem Amt entbunden, weil erden radikalen Mao-Nachfolgem nahestand. Die örtlichen Funktionäre mahnte Hu Yaobang: „Da die tibetische Kultur sehr alt und reichhaltig ist, verdient sie es, gewissenhaft studiert und entwickelt zu werden. Auffassungen, in denen sich eine Geringschätzung der tibetischen Kultur ausdrückt, sind falsch.“
Konkret verfügte die Parteiführung eine Abgaben-freiheit für die Bauern, die — mit Unterbrechungen — bis heute gilt. Außerdem ist eine begrenzte Privatinitiative wieder erlaubt. Dies hat zu einer spürbaren Verbesserung der Ernährungssituation geführt. Nach chinesischen Angaben hat sich die Getreideproduktion heute gegenüber 1959 verdreifacht und der Viehbestand verdoppelt. Die Einkünfte der Bauern und Nomaden konnten sich zwischen 1979 und 1985 verdoppeln.
Bemerkenswerte Erfolge verzeichnen die Chinesen auch beim Aufbau einer Industrie, die es im alten Tibet nicht gab. Obwohl die Infrastruktur nach wie vor unzureichend ist und die hohen Transportkosten nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten kaum vertretbar sind, existieren in Tibet etwa 250 kleine und mittlere Industriebetriebe. Sie umfassen die Bereiche Elektrizität, Bergbau, Bauwesen, Wollspinnerei, Papierherstellung, Nahrungsmittelproduktion und andere. Überleben können sie jedoch nur dank der Subventionen aus der chinesischen Hauptstadt. Insgesamt beliefen sich die Zuschüsse der Regierung nach eigenen Angaben zwischen 1979 und 1986 auf 5, 9 Milliarden Yuan; das entspricht knapp fünf Milliarden DM.
Auch auf dem Bildungssektor wartet Peking mit respektablen Zahlen auf: Heute gibt es in Tibet drei Hochschulen, 14 Fachschulen, 64 Mittelschulen und 2 380 Grundschulen. 27 Millionen Yuan wurden für die Restaurierung von 234 Klöstern und Tempeln bereitgestellt Religionsfreiheit und Freizügigkeit sind offiziell wiederhergestellt, und so pilgern Jahr für Jahr Tausende zu den heiligen Städten in Lhasa. Auch den Pilgern kommt das in den fünfziger Jahren errichtete Straßennetz zugute, das 23 000 Kilometer umfaßt und Tibet mit den chinesischen Provinzen Sichuan, Qinghai und Sinkiang sowie mit Nepal verbindet.
VI. Schattenseiten
Ungeachtet der Liberalisierungen und ökonomischen Fortschritte sehen Exiltibeter die Identität ihres Volkes jedoch weiterhin bedroht. Sie verweisen beispielsweise darauf, daß sich die Religionsfreiheit auf äußere Formen und Riten beschränkt. Die tiefen Inhalte der buddhistischen Lehre, für deren Studium die Mönche früher Jahrzehnte benötigt haben, können nur schwer weitergegeben werden, denn nahezu alle alten Lehrer sind tot oder im Ausland. Zudem fehlt es den Klöstern an einer wirtschaftlichen Grundlage, um all die interessierten Novizen aufzunehmen. Ihre Ländereien sind enteignet, und die Gläubigen besitzen selbst kaum mehr als das Nötigste zum Überleben.
Andere Schattenseiten fallen jedem Tibetreisenden sofort ins Auge: Chinesen dominieren alle wichtigen Positionen in Lhasa und den anderen größeren Städten. In der Verwaltung, im Fremdenverkehrsbüro, auf der Post oder in der Bank — wer etwas zu sagen hat, ist zumeist Chinese. Offensichtlich wird an der Sinisierungspolitik, der Ansiedlung von Chinesen — ungeachtet aller anderslautenden Erklärungen — festgehalten. Die Angaben für die Chinesen in der Autonomen Region schwanken je nach Quelle zwischen 155 000 und 400 000. Mindestens 60 000 leben in der Hauptstadt Lhasa, wo die Tibeter mit 40 000 Menschen bereits zur Minderheit geworden sind. In Osttibet ist die Sinisierung am weitesten fortgeschritten. In der ehemaligen tibetischen Provinz Kham im Südosten stellen beide Bevölkerungsgruppen etwa 2, 5 Millionen Menschen, im nördlich gelegenen Amdo.der Heimat des amtierenden Dalai Lama, leben etwa 2, 5 Millionen Chinesen neben 800 000 Tibetern. In den Grenzen des historischen Tibet leben insgesamt mindestens sechs Millionen Chinesen; die Tibeter stellen also allenfalls noch die Hälfte der Bevölkerung in ihrem eigenen Land In dieser Entwicklung sehen Exiltibeter die größte Gefahr für das tibetische Volk. In den vergangenen Jahren häuften sich zudem Fälle von Zwangssterilisierungen tibetischer Frauen. Vor allem Nomadenfrauen werden — oft sogar ohne ihr Wissen — von mobilen chinesischen Ärzteteams sterilisiert
In all den Zahlen über die Bevölkerungsverteilung sind die chinesischen Soldaten nicht einmal enthalten. Sie entziehen sich jeder Erfassung und die Spekulationen bewegen sich zwischen einer viertel und einer halben Million. Für jeden Reisenden auf dem „Dach der Welt“ ist es offensichtlich, daß es sehr viele sein müssen, denn im Großraum Lhasa bestimmen sie das Straßenbild. Ihr Einsatz bei den Demonstrationen hat gezeigt, daß sie auch innenpolitische Ordnungsfunktionen erfüllen müssen. Ein großer Teil ihrer Waffen eignet sich jedoch nicht zur Niederschlagung von Demonstrationen. So hat die Volksbefreiungsarmee nahe des Orts Nagchu. 320 Kilometer nördlich von Lhasa, 90 Mittelstreckenraketen verschiedener Reichweite stationiert. An anderer Stelle gibt es Interkontinentalraketenbasen. Nur 60 Kilometer westlich von Lhasa befinden sich J-7 Jagdflugzeuge mit einer Reichweite von 900 Meilen Die meisten dieser Waffen sind nach Indien oder Vietnam gerichtet; möglicherweise sollen sie Chinas Anspruch als asiatische Großmacht untermauern, auch wenn kaum jemand an ihren Einsatz glaubt.
VII. Verhandlungsperspektiven
Nachdem es in den internationalen Gremien jahrzehntelang ruhig um Tibet war, ist seit Mitte der achtziger Jahre Bewegung in die Diplomatie gekommen. Zwar hatte die UN-Vollversammlung gegen den Widerstand der UdSSR das Tibet-Problem 1959, 1961 und 1965 erörtert, doch mehr als eine unverbindliche Verurteilung des chinesischen Vorgehens sowie eines hilflosen Appells, die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht zu achten, kamen dabei nicht heraus. Heute ist China an westlichen Technologien und einer engen Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland interessiert. Dies eröffnet den Tibetern neue Möglichkeiten, auf ihre Anhegen hinzuweisen.
Auch wenn kein westlicher Staat offiziell die tibetische Exilregierung anerkennt oder sonstwie unterstützt, treten viele einzelne Abgeordnete aller politischen Richtungen sowie andere Vertreter des öffentlichen Lebens für die Menschen-und Völkerrechte in Tibet ein. Der amerikanische Kongreß, das Europäische Parlament, der Deutsche Bundestag und andere nationale Parlamente haben sich in den letzten Jahren — nicht zuletzt unter dem Eindruck der anhaltenden Unruhen — für einen Dialog zwischen der Volksrepublik China und Vertretern des tibetischen Volkes ausgesprochen.
Um den Chinesen auf dem Weg dorthin entgegen-zukommen, hat der Dalai Lama in einer Rede vor dem Europäischen Parlament vom 15. Juni 1988 erstmals auf die Forderung nach voller staatlicher Unabhängigkeit verzichtet. Konkret bot er an: „Gesamttibet soll in Assoziierung mit der Volksrepublik China eine sich selbst regierende, demokratisch-politische Einheit werden, die sich mit der Zustimmung des Volkes auf Recht gründet und sich für das Allgemeinwohl sowie für den Schutz der Bevölkerung und der Umwelt verpflichtet. Die Regierung der Volksrepublik China könnte auch weiterhin für Tibets Außenpolitik verantwortlich bleiben.“ Diese Vorschläge stießen bei vielen jungen Tibetern auf erbitterte Ablehnung, denn sie sehen darin eine Aufgabe von Verhandlungspositionen, noch bevor es überhaupt zu Verhandlungen gekommen sei.
Die Konzessionsbereitschaft des Dalai Lama zielte vor allem darauf ab, die Chinesen im Gegenzug zu einer Beendigung der Militarisierungs-und Sinisierungspolitik zu bewegen. Im Oktober 1988 signalisierte Peking die Bereitschaft zu direkten Verhandlungen mit dem Dalai Lama, doch wurde die Teilnahme von Mitgliedern des Exilparlaments als unannehmbar abgelehnt, weil das eine Anerkennung dieser Vertretung bedeutet hätte. Schließlich wurde Genf als Ort für die Verhandlungen festgelegt, die im Januar 1989 beginnen sollten. Der erste direkte Kontakt zwischen dem Dalai Lama und der chinesischen Führung seit 30 Jahren schien also in greifbarer Nähe und beide Seiten konnten sich von den Verhandlungen einiges versprechen. China sah darin eine Möglichkeit, die internationalen Proteste gegen das harte Vorgehen bei den Unruhen einzudämmen und die Exiltibeter hofften auf eine Beruhigung der Lage in ihrer Heimat.
Doch wenige Wochen vor dem historischen Dialog sagten die Chinesen überraschend und ohne Begründung ab. Unmittelbar danach kam es erneut zu schweren Ausschreitungen in Lhasa. Seit der Niederschlagung der friedlichen Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens sind die Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung des Tibet-Problems weiter gesunken, denn ähnlich wie in Peking verfolgt die Parteiführung in Tibet eine harte Linie. Das bereits im März 1989 verhängte Kriegsrecht über Lhasa war nahezu ein Jahr in Kraft. Touristen und sonstige ausländische Besucher blieben monatelang weitgehend ausgesperrt, denn sie hatten häufig Botschaften und Berichte der Tibeter ins Ausland gebracht oder die Unabhängigkeitsbewegung auf andere Art gestärkt.
Ein anonym gebliebener Leiter einer der wenigen Reisegruppen schilderte die Situation ein halbes Jahr nach Verhängung des Kriegsrechts: „Lhasa selbst befindet sich im Belagerungszustand. Zwar hatte es schon immer an der Einfahrt zur Stadt einen Kontrollposten gegeben, doch heute patroullieren hier schwer bewaffnete Armee-Einheiten und unterziehen jedes Fahrzeug einer gründlichen Kontrolle. Auch Busse mit ausländischen Touristen werden kontrolliert, mitunter sogar an Kreuzungen in der Stadt selbst . . . Die Präsenz der Militärmacht wird den Touristen auch dann vor Augen geführt, wenn vor dem Hotel über hundert Soldaten mit martialisch klingendem Gebrüll exerzieren. Den nachhaltigsten Eindruck von der Lage in Tibet erhält der Reisende beim Besuch der Klöster von Lhasa und der Umgebung. Ein Gürtel weißer chinesischer Militärzelte umgibt die drei großen Klöster Sera, Drepung und Ganden. Soldaten kontrollieren jeden, der sie betreten oder verlassen möchte . . . Die Chinesen in Uniform haben sich offenbar auf einen langen Aufenthalt eingerichtet.“
Doch auch der Widerstand ist allgegenwärtig, wie dieser Augenzeugenbericht ausführt: „Die Grenzen chinesischer Macht werden jedoch spürbar, wenn der Fremde das auf dem Barkhor (der heiligste Bezirk im Zentrum von Lhasa, d. Vf.) gekaufte Souvenir auspackt und dann einen Zettel in englischer Sprache vorfindet: . Down with Chinese Imperialism’. Auf primitiv gedruckten Blättchen wird ein Bekenntnis zum Dalai Lama und gegen die chinesische Okkupation abgelegt . . . Der Mut der Tibeter erstaunt immer wieder, denn das Risiko, daß diese Aktivitäten von einem staatlichen Reiseführer entdeckt werden, ist recht groß.“
Auf diplomatischem Gebiet bemühen sich die Tibeter um eine engere Zusammenarbeit mit der chinesischen Demokratiebewegung im Exil. Im Mai 1990 fand auf Initiative der Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Gesellschaft für bedrohte Völker in der Nähe von Hamburg zum erstenmal ein sino-tibetischer Dialog statt, der exponierte Vertreter beider Völker an einen Tisch geführt hat, um tiefsitzende Vorurteile auszuräumen. Bei der chinesischen Demokratiebewegung stoßen die Tibeter auf mehr Verständnis, denn deren Vereinigung, die „Föderation für ein Demokratisches China“ (FDC) mit Sitz in Paris hat in einem Manifest unter anderem eingestanden, „daß die chinesische demokratische Kraft den Willen der Tibeter nach Demokratie und Freiheit bislang ignoriert hat. Das Tibet-Problem und andere Nationalitäten-konflikte müssen unter Wahrung der Menschenrechte, des Rechtssystems, der Freiheit und Demokratie gelöst werden.“
Der größte diplomatische Erfolg für die Tibeter war jedoch die Verleihung des Friedensnobelpreises an den Dalai Lama im Dezember 1989. Dadurch erhielt der von ihm verfochtene gewaltfreie Kampf die internationale Anerkennung, die ihm Staatsmänner so hartnäckig verweigern, um die chinesische Führung nicht zu verärgern. Das offizielle China reagierte mit Empörung. Das Außenministerium verurteilte die Verleihung als „offene Unterstützung für den Dalai Lama und die Bestrebungen der von ihm geförderten tibetischen Separatisten, die nationale Einheit des Landes zu untergraben und China zu spalten“ Peking drohte Norwegen sogar mit einem Abbruch der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das Nobelpreiskomitee antwortete auf die Kritik seinerseits mit ungewöhnlich harten Worten: „Seit Adolf Hitler 1935 Wutanfälle wegen der Zuerkennung des Preises an den Friedenskämpfer Carl von Ossietzky bekam, hat kein Land derartig heftig reagiert, wie China es jetzt in Verbindung mit dem Dalai Lama tut. Die Chinesen befinden sich so gesehen in guter Gesellschaft“, erklärte der Vorsitzende des Komitees, Egil Aarvik
In seiner Rede zur Nobelpreisverleihung entwarf der Dalai Lama seine Vorstellungen von einem zukünftigen Tibet: „Mein Traum ist es, die gesamte tibetische Hochebene in ein freies Sanktuarium umzuwandeln, in dem Menschen und Natur in Frieden miteinander leben können. Tibet wäre ein Ort, an dem Menschen aus aller Welt nach der wahren Bedeutung des inneren Friedens suchen können, weit entfernt von den Spannungen und dem Druck des größten Teils der übrigen Welt. Tibet könnte in der Tat ein kreatives Zentrum für die Förderung und die Entwicklung des Friedens werden.“
Bis dahin ist es indes noch ein weiter Weg und die Frage ist zunächst, wie es kurzfristig auf dem „Dach der Welt“ weitergeht. Eine genaue Prognose kann niemand erstellen. Schon morgen können neue Unruhen ausbrechen, und ohne das Militär kann die Volksrepublik China die Herrschaft über Tibet nicht aufrecht erhalten. Es ist den Chinesen in vierzig Jahren nicht gelungen, von einem nennenswerten Teil der tibetischen Bevölkerung akzeptiert zu werden. Dennoch wird sich China in absehbarer Zeit nicht aus Tibet zurückziehen — ungeachtet aller tibetischen Proteste. Auf unmittelbare politische Unterstützung können die Tibeter ohnehin nicht hoffen, denn kein Staat will einen Konflikt mit der mächtigen Volksrepublik riskieren. Das haben auch die halbherzigen Reaktionen auf das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens gezeigt.
Um den Konflikt zu entschärfen, muß Peking zu Konzessionen bereit sein und beispielsweise den Zustrom von Chinesen nach Tibet eindämmen. Selbst eine Rückbesinnung auf die im 17-Punkte-Abkommen von 1951 garantierten Autonomieregelungen käme den Tibetern entgegen, denn bis heute bleiben die Chinesen hinter den damals selbst formulierten Zielsetzungen zurück. Solche Maßnahmen bedeuteten nicht, daß China seinen Anspruch auf Tibet infrage stellt; sie würden gleichwohl zu einer spürbaren Verbesserung für die Menschen in Tibet führen. Hoffnungen setzen die Tibeter natürlich auf die chinesische Demokratiebewegung. Das weitere Schicksal des Landes ist also eng verknüpft mit der Entwicklung in Peking — und darüber wagt niemand eine Prognose.
Klemens Ludwig, geb. 1955; langjähriger Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen; freiberuflicher Journalist und Publizist. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Korinna Horta) Osttimor — Das vergessene Sterben, Reihe Pogrom, Göttingen 1985; Bedrohte Völker. Ein Lexikon nationaler und religiöser Minderheiten, München 1985; Lebenslieder — Todesklagen. Ein Lesebuch vergessener Völker, Wuppertal 1988; Tibet. Eine Länderkunde, München 1989; (zus. mit Michael Has und Martina Neuer) Der neue Tourismus. Rücksicht auf Land und Leute, München 1990; (zus. mit Petra Kelly und Gert Bastian) Tibet klagt an. Zur Lage in einem besetzten Land. Wupperal 1990.
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