Studenten in der Wende? Versuch einer deutsch-deutschen Typologie vor der Vereinigung
Rainer Brämer/Ulrich Heublein
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Zusammenfassung
Nach Ausweis einer im Frühjahr 1990 in beiden deutschen Staaten durchgeführten empirischen Erhebung ist im Bereich der Hochschulen die Ausgangslage für den deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß u. a. durch die Existenz nicht unbeträchtlicher Unterschiede im Sozialtypus der Studierenden gekennzeichnet. Den Verhältnissen in der Bundesrepublik eher skeptisch gegenüberstehend, will speziell der ostdeutsche akademische Nachwuchs seine DDR-Identität sowie vor allem einige damit verbundene soziale Strukturelemente soweit wie möglich bewahrt wissen. Dem entspricht der Befund, daß sich DDR-Studierende durch eine deutlich höhere soziale Sensibilität, Hilfsbereitschaft und Gruppenorientierung auszeichnen als ihre bundesdeutschen Kommilitonen. Sie suchen stärker die Anerkennung und Zuwendung anderer und sind zugleich weniger durch individuelle Leistungs-und Karriereambitionen geprägt. Auf kulturellem Gebiet offenbart der DDR-Intelligenznachwuchs vergleichsweise hohe Ansprüche, die er jedoch weniger in eigener aktiver Betätigung als auf rezeptive Weise zu befriedigen sucht. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Beschäftigung mit Literatur. Aus der Art der bevorzugten Titel geht hervor, daß für die akademische Jugend der DDR das Lesen offenbar die Funktion eines oppositionellen Refugiums hatte. In der Umbruchphase verlagerte sich der Interessenakzent mehr und mehr auf die Aufarbeitung der Vergangenheit, während zugleich — und das gilt für fast alle Indikatoren der Erhebung — DDR-spezifische Orientierungen an Intensität abnehmen zugunsten einer — freilich keineswegs widerspruchsfreien — Öffnung gegenüber westlichen Werten.
I. STUDENT 90: Junge Intelligenz im Umbruch der Werte
Noch ein halbes Jahr nach der Wende, im Frühjahr 1990, stand die studentische Jugend der DDR ebenso wie die der Bundesrepublik der neuen nationalen Perspektive mehr oder weniger reserviert gegenüber. Auf ihre „Verbundenheit“ mit dem jeweils anderen deutschen Staat befragt, mochten sich hüben wie drüben nur 10 % der Studierenden „stark“ oder „sehr stark“ dazu bekennen, knapp die Hälfte besetzte diesen Indikator ausdrücklich negativ (Tabelle Mit dem jeweils eigenen deutschen Teilstaat dagegen fühlten sich in der Bundesrepublik 41 % , in der DDR sogar 60 % stark verbunden. Eine ähnlich große Quote von DDR-Studenten (57%) befürwortete dementsprechend auch einen deutsch-deutschen Annäherungsprozeß, in dem die staatliche Eigenständigkeit der DDR gewahrt worden wäre (Vertragsgemeinschaft oder Konföderation). Noch größer war der Prozentsatz derjenigen, die grundlegende sozialpolitische Strukturen der DDR erhalten sehen wollten, allen voran den gesicherten Ausbildungsplatz (94 %), die Beibehaltung der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch (88% ohne nennenswerte Geschlechterunterschiede), ein kostenloses Studium (86%) und, unerwartet zweitrangig, die Vollbeschäftigung (67%).
Abbildung 7
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 58 % 54 % 52 % sehr wichtig/wichtig 56 % 60 % 57 % sehr wichtig/wichtig 36 % 31 % 31 % kaum/überhaupt nicht wichtig 10 % 11 % 13 % kaum/überhaupt nicht wichtig 14 % 10 % 10 % kaum/überhaupt nicht wichtig 22 % 23 % 30 % „Ein Leben voller Abwechslung, Spannung und Abenteuer haben" „Die Freuden des Lebeߍ
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 58 % 54 % 52 % sehr wichtig/wichtig 56 % 60 % 57 % sehr wichtig/wichtig 36 % 31 % 31 % kaum/überhaupt nicht wichtig 10 % 11 % 13 % kaum/überhaupt nicht wichtig 14 % 10 % 10 % kaum/überhaupt nicht wichtig 22 % 23 % 30 % „Ein Leben voller Abwechslung, Spannung und Abenteuer haben" „Die Freuden des Lebeߍ
Auf der anderen Seite läßt sich für den akademischen Nachwuchs der DDR im Vergleich mit der Situation vor der Wende zum Teil auch eine deutliche Umorientierung auf westliche Perspektiven und Werte feststellen. So sank von Anfang 1989 bis Anfang 1990 die selbsterklärte Verbundenheit mit der Sowjetunion von 31 % auf 6% 1), die ebenfalls in beiden Jahren abgefragte Zuversicht im Hinblick auf den Erfolg der sowjetischen Perestroika nahm sogar von 68% auf 16% ab. Demgegenüber stieg der Anteil derjenigen, die die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten optimistisch beurteilen, von 41 % auf 69 %.
Abbildung 8
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 59 % 55 % 35 % sehr gern/gern 80% 74 % 48 % sehr wichtig/wichtig 38 % 28 % 39 % kaum/überhaupt nicht wichtig 13 % 19 % 34 % wenig/überhaupt nicht gern 8 % 12 % 27 % kaum/überhaupt nicht wichtig 35 % 47 % 36 % „Kunstwerke erleben und verstehen“ „Schöngeistige Bücher lesen“ „Mich selbst künstlerisch-mu?
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 59 % 55 % 35 % sehr gern/gern 80% 74 % 48 % sehr wichtig/wichtig 38 % 28 % 39 % kaum/überhaupt nicht wichtig 13 % 19 % 34 % wenig/überhaupt nicht gern 8 % 12 % 27 % kaum/überhaupt nicht wichtig 35 % 47 % 36 % „Kunstwerke erleben und verstehen“ „Schöngeistige Bücher lesen“ „Mich selbst künstlerisch-mu?
Greifbarer noch wird der wendeinspirierte Orientierungswandel von Ost nach West anhand jener Wertindikatoren, deren Besetzung in der Bundesrepublik gelegentlich Wahlen entscheiden kann. Mit einem breiten Spektrum möglicher Lebensziele konfrontiert, klassifizierten im Frühjahr 1990 45 % der DDR-Befragten das Ziel „viel Geld verdienen“ mit „sehr wichtig“ und „wichtig“ — im Gegensatz zu nur 28% ein Jahr zuvor. Unter den männlichen Studierenden stieg diese Quote sogar von 29 % auf 51%. Damit hat sich der Anteil derjenigen, die (nicht zuletzt sich selbst) offen einen gewissen pekuniären Materialismus zugestehen, in der DDR in kurzer Zeit um mehr als die Hälfte über den offenbar in beiden deutschen Staaten üblichen Normal-wert von knapp 30% vergrößert (Tabelle 2). Ähnliche Veränderungen finden sich auch beim Lebensziel „einen hohen materiellen Wohlstand erreichen“, das nunmehr von 44% der DDR-Studenten gegenüber 36% im Jahre 1989 (und 24% in der Bundesrepublik) für wichtig gehalten wird. Noch eindeutiger sind die Zahlen, wenn man die Geld-frage etwas behutsamer formuliert. So belegt die Ambition „gut zu verdienen“ unter 11 zur Auswahl gestellten Berufszielen bei DDR-Studierenden mit einer Zustimmungsquote von 77% den dritten Platz, unter ihren bundesdeutschen Kommilitonen mit nur 50% Zustimmung dagegen erst Platz sechs.
Abbildung 9
DDR Angaben iin Prozent 1. Anerkannter Fachmann werden 2. Selbständigkeit 3. Sich nie treiben lassen 4. Anderen unaufgefordert Hilfe leisten 5. Familienorientierung 6. Gut verdienen 7. Kreativ sein 8. Den Dingen auf den Grund gehen 9. Für andere da sein 10. Hoch geachtet werden 11. Von nichts abbringen lassen 12. Freuden des Lebens genießen 13. Autorität besitzen 14. Kunstwerke erleben 15. Sich für sozial Benachteiligte einsetzen 16. Ein abwechslungsreiches Leben führen 17. Zu viel Geld kommen 18. Eine leit팀ޑ
DDR Angaben iin Prozent 1. Anerkannter Fachmann werden 2. Selbständigkeit 3. Sich nie treiben lassen 4. Anderen unaufgefordert Hilfe leisten 5. Familienorientierung 6. Gut verdienen 7. Kreativ sein 8. Den Dingen auf den Grund gehen 9. Für andere da sein 10. Hoch geachtet werden 11. Von nichts abbringen lassen 12. Freuden des Lebens genießen 13. Autorität besitzen 14. Kunstwerke erleben 15. Sich für sozial Benachteiligte einsetzen 16. Ein abwechslungsreiches Leben führen 17. Zu viel Geld kommen 18. Eine leit팀ޑ
Wie immer man diese (real-) materialistische Wendung der DDR-Studentenschaft interpretieren mag — ob als Reflex auf eine plötzlich unsicher gewordene Zukunft, als verständliche Folge eines lang angestauten Konsumdefizits, als Kompensation weitgehender ideeller Werteverluste oder als schlichte Desorientierung infolge westlich inspirierter Wahlkampfparolen —, in jedem Fall läßt sich ein gewisser Widerspruch zwischen der fast schon demonstrativen politischen Reserve gegenüber der bundesrepublikanischen Gesellschaft und der überproportionalen Hinwendung zu einem ihrer legitimatorischen Grundpfeiler nicht übersehen. Man kann nun diesen Widerspruch aus bundesdeutscher Sicht mit Häme zur Kenntnis nehmen und nur noch genüßlich darauf warten, wie das im Frühjahr noch zu Protokoll gegebene DDR-Bewußtsein der „sozialistischen Kaderreserve“ von der inzwischen erfolgten DM-Invasion zermahlen wird. Wem indes umgekehrt der übergangslose Abschied der DDR-Bevölkerung von 40 Jahren kollektiver Geschichte und individuellem Schicksal, die totale Verdrän-gung dessen, was dort von den Betroffenen ja auch selber gedacht und gemacht wurde, zunehmend unheimlich erscheint, der wird sich vielleicht lieber mit solcherart offenen Widersprüchen als mit einer allzu glatten Wendementalität konfrontiert sehen wollen.
Denn die hektische Vereinigung der beiden deutschen Staaten deckt mit dem von ihr produzierten Anpassungsdruck und den damit verbundenen Bergen von Unsicherheit und Angst viele Probleme des Umbruchs zu, die in Wirklichkeit keineswegs gelöst sind und uns mit Sicherheit noch langfristig beschäftigen werden. Diese Probleme liegen nicht nur, wie man derzeit immerhin zu bemerken beginnt, auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, sondern auch im Bereich geistig-kultureller Orientierungen und Wertvorstellungen. Daß sie gerade bei der jungen Hochschulintelligenz so offen zu Tage treten, ist kein Zufall.
Sie nämlich hatte im Zuge der Abnabelung von der SED-Bevormundung und verstärkt in der ersten Phase des Umbruchs gerade erst eine gewisse eigenständige politische Identität gewonnen die sie nun offenbar nicht umstandslos aufzugeben bereit ist. Der Prozeß der sukzessiven politischen Verselbständigung der DDR-Studentenschaft ist in den empirischen Datensammlungen des Leipziger Zentral-instituts für Jugendforschung im Detail dokumentiert, zuletzt in der partiell bereits die Grenzen des damals Erlaubten tangierenden Repräsentativerhebung „STUDENT 89“ vom Frühjahr letzten Jahres. Hieran hat sich in den Monaten März bis Mai dieses Jahres eine weitere Querschnittstudie STUDENT 90 angeschlossen, deren Fragebogen kurzfristig und in modifizierter Form auch in der Bundesrepublik eingesetzt worden sind. Auf diese Weise ist STUDENT 90 zur ersten gesamtdeutschen Vergleichsstudie von Lebenseinstellungen und -Bedingungen im akademischen Bereich avanciert, aus der im übrigen auch die eingangs zitierten Daten stammen. Zwar konnte infolge der nur kurzen Vorbereitungszeit in einer sich fast täglich verändernden politischen Situation keine hundertprozentige Repräsentativität der befragten Stichproben realisiert werden. Doch gibt es andererseits keine wesentlichen Gründe dafür, die Antworten der insgesamt 572 bundesdeutschen und 1462 DDR-Befragten für unrepräsentativ zu halten, zumal ihre Fächer-und Geschlechterverteilung — sowie in der DDR auch die Verteilung auf insgesamt neun Studienorte — in etwa den jeweils durchschnittlichen Gegebenheiten entspricht.
Den Initiatoren der Vergleichsstudie ging es neben der Klärung methodischer Fragen des deutsch-deutschen Vergleichs ursprünglich in erster Linie um den Versuch einer Dokumentation wesentlicher Unterschiede und Gemeinsamkeiten der studentischen Kulturen in beiden deutschen Staaten. Im Zuge der sich verändernden politischen Verhältnisse sowie der fortschreitenden Datenauswertung tritt jedoch immer mehr das Interesse in den Vordergrund, die für die geistige Situation in einem geeinten Deutschland an Bedeutung nicht zu unterschätzende Auseinandersetzung der DDR-Intelligenz mit dem ihr aufgezwungenen Orientierungswandel am Beispiel des studentischen Nachwuchses in seiner objektiven wie subjektiven Dialektik zu erfassen und zu verstehen. Dabei spielen neben den bereits an anderer Stelle skizzierten politischen Einstellungen der Befragten vor allem grundsätzliche Wertvorstellungen und kulturelle Orientierungen eine Rolle. In welchem Maße sich innerhalb der akademischen DDR-Jugend nicht nur Anpassungsprozesse vollziehen, sondern im Widerstreit von Beharrung und Aufbruch auch eigenständige geistig-kulturelle Orientierungs-und Verhaltensmuster herausbilden, das dürfte vor allem auch für den damit in nächster Zeit konfrontierten bundesdeutschen Intelligenznachwuchs eine nicht unwichtige Frage sein.
Angesichts dieser Fragestellung spielen die in der westdeutschen Parallelerhebung gewonnenen Einsichten lediglich die Rolle einer spezifischen Interpretationsfolie, die den Wandel der DDR-Orientierungen in ihrer Spezifik auszuleuchten hilft. Überdies ist einschränkend darauf hinzuweisen, daß wir uns angesichts unserer geringen personellen Auswertungskapazitäten einstweilen auf die Interpretation der statistischen Grundauswertung beschränken mußten. Die zweifellos ebenfalls sehr interessanten Fächer-und Geschlechterdifferenzierungen müssen bis auf wenige Hinweise ebenso wie weitergehende statistische Analysen späteren Veröffentlichungen Vorbehalten bleiben.
II. Soziales Engagement: Aus der Not eine Tugend?
Abbildung 2
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 28 % 45 % 28 % sehr stark/stark 77 % 50 % kaum/überhaupt nicht wichtig 32% 18% 35% schwach/gar nicht 6 % 18 % Für wie relevant halten Studierende das Ziel „sehr gut verdienen, zu viel Geld kommen“? Wie stark streben Sie das Ziel „gut verdienen“ im zukünftigen Berufsleben an?
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 28 % 45 % 28 % sehr stark/stark 77 % 50 % kaum/überhaupt nicht wichtig 32% 18% 35% schwach/gar nicht 6 % 18 % Für wie relevant halten Studierende das Ziel „sehr gut verdienen, zu viel Geld kommen“? Wie stark streben Sie das Ziel „gut verdienen“ im zukünftigen Berufsleben an?
Wenn in den letzten Monaten von Intellektuellen hüben und drüben immer wieder die Frage nach dem „Bewahrenswerten“ der DDR-Gesellschaft gestellt wurde, so betrafen die Antworten hierauf in erster Linie den Bereich des Sozialen in all seinen Dimensionen — von den sozialpolitischen Leistungen des Staates bis zum konkreten sozialen Umgang der Menschen miteinander. Vor allem der informelle Kontakt mit Freunden zeichnete sich aus hiesiger Sicht durch ein relativ hohes Maß an sozialer Sensibilität, Dichte und Fürsorglichkeit aus, die gelegentlich die Frage provozierte, ob da in der DDR womöglich tatsächlich ein „neuer sozialistischer Mensch“ entstanden sei.
Auch in STUDENT 90 zeichnen sich die Befragten aus der DDR durchgängig durch eine stärkere Zustimmung zu den per Fragebogen präsentierten sozialen Werthaltungen aus als ihre westlichen Kommilitoninnen und Kommilitonen (Tabelle 3). Bei der Bewertung dieser Ergebnisse ist freilich zu berücksichtigen, daß sich hierin weitgehend Selbstansprüche dokumentieren, die überdies in der Vergangenheit ideologisch stark überfrachtet waren. Diese Überfrachtung spiegelt sich nicht zuletzt in manchen allzu moralisierend-suggestiven Frageformulierungen, die wir aus Gründen der Vergleichbarkeit aus früheren Erhebungen übernommen haben. Von daher ließen sich manche der in Tabelle 3 dokumentierten deutsch-deutschen Unterschiede unter Umständen allein schon mit stärkeren westlichen Aversionen gegenüber „sozialem Schmus“ erklären. Daß dies nicht ganz so sein kann, machen einige charakteristische Differenzierungen deutlich. So findet die Suggestivformel „den Menschen gegenüber einfühlsam, verständnisvoll, aber keineswegs unkritisch sein“ trotz der ihr offenkundig innewohnenden pädagogischen Intentionen eine erstaunlich allseitige Zustimmung von um die 90%. Umgekehrt öffnet sich die Schere zwischen den Beteiligten aus Ost und West erst dann nachhaltig, wenn die soziale Zuwendung ausdrücklich mit Einschränkung und Verzicht auf eigener Seite in Verbindung gebracht wird. Erhält gar das suggerierte soziale Engagement (wie etwa in der Formel von der sozialen Benachteiligung) einen leicht politischen Akzent, sinkt auch unter DDR-Studierenden die Zustimmung rapide, ohne daß indes die grundsätzliche Differenz zum hiesigen Niveau (selbstzugeschriebener) sozialer Aspiration verschwindet.
Diese durchaus ernstzunehmende ost-westliche Differenz läßt sich auf verschiedene Weise erklären. Zum einen war das Postulat kollektiver Solidarität (insbesondere allerdings mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten anderer Länder) 40 Jahre lang ein Kernelement sozialistischer Ideologie und Propaganda. Demnach könnte man Tabelle 3 nicht zuletzt als einen einschlägigen Beleg für den Erfolg sozialistischer Erziehung heranziehen. Die Gegen-interpretation hierzu deutet die größere Dichte sozialer Beziehungen in der DDR als notwendiges Korrelat der allseitigen Besetzung der Öffentlichkeit durch den zentralistischen Staat. Die öffentliche Unterwerfung jedes Intelligenzangehörigen unter die Bekenntnisgebote und Direktiven von oben hat danach hinter den mehrheitlich mitgetragenen öffentlichen Inszenierungen im Gegenzug ein enges informelles Geflecht entstehen lassen — weniger vermutlich als Hort kollektiven Widerstandes als vielmehr als Medium funktionaler Korrekturen und psychologischer Entlastung. Insofern hätte also die DDR-Intelligenz mit der Entfaltung eines sozial reichen und sensiblen Privatlebens gewissermaßen aus der Not kollektivistischer Programmatik eine mehr oder weniger untergründige Tugend gemacht.
Eine dritte Interpretation stützt sich auf die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem Reichtum und sozialer Vereinzelung, wie sie insbesondere durch die Veränderung der gesellschaftlichen Rollen und Umgangsformen der Individuen in den letzten vier Jahrzehnten bundesrepublikanischer Geschichte bestätigt zu werden scheint. Zweifellos ist die ökonomisch bedingte Individualisierung der Lebenszusammenhänge in der DDR bei weitem nicht so vorangeschritten wie in der Bundesrepublik. Das gilt sowohl für die Produktions-wie für die Konsumformen. Notgedrungenerweise war deshalb auf den einzelnen Ebenen dieser Gesellschaft soziale Nähe leichter gegeben, und das nicht nur in der Ideologie, sondern auch in der alltäglichen Praxis.
Hierzu paßt es, daß unverändert fast drei Viertel des DDR-Intelligenznachwuchses auf eine berufliB ehe Tätigkeit hofft, die „enge persönliche Kontakte zu den Kollegen“ ermöglicht. Zwei Drittel erwarten darüber hinaus auch von ihren Lebenspartnern, daß sie „zu vielen anderen gern engen Kontakt halten“ Allerdings erwecken diese stark bejahten Statements auch den Eindruck, daß sich der selbst-zugeschriebene Gemeinschaftssinn der Betroffenen womöglich stark auf das persönliche Umfeld beschränkt.
Beides, die These von der informellen Entlastungsgemeinschaft ebenso wie die vom Entsolidarisierungseffekt prosperierender Ökonomien, fordert die Prognose heraus, daß mit dem Zerfall des alten Herrschaftssystems und dem Einbruch westlicher Freiheiten und Wirtschaftsformen das hohe Niveau sozialer Verbindlichkeitsansprüche tendenziell in Richtung auf westliche Verhältnisse abgebaut wird. Tatsächlich weist Tabelle 3 in drei von vier Indikatoren einen Zustimmungsverlust von rund 10% innerhalb eines Jahres auf. Diese bei ähnlichen Fragen zum Teil noch größere Schwundquote erschüttert die These vom Erfolg der Kollektiverziehung insofern, als grundlegende innere Handlungsdispositionen, auf deren Aufbau Erziehung ja bekanntlich zielt, jedenfalls nicht so rasch abgebaut werden sollten, insbesondere wenn sich die Betroffenen nach wie vor in einem akademischen Schonraum befinden. Der relative Bedeutungsverlust sozialer Wertorientierungen, habe er nur im Bekenntnisüberbau oder auch in der Wirklichkeit stattgefunden, muß also primär mit den veränderten Lebensbedingungen, dem Systemzerfall, den Bedrohungen und Verlockungen des ökonomischen Um-bruchs Zusammenhängen.
Da ein Ende dieser gesellschaftlichen Veränderungen einstweilen noch nicht abzusehen ist. dürfte sich die Bereitschaft der DDR-Studierenden zu sozialem Engagement einstweilen eher noch weiter verringern — es sei denn, der ökonomische Druck auf den studentischen Nachwuchs nimmt derart zu, daß ein gegenteiliger Effekt eintritt. In diesem Falle könnte dann auch die bislang dokumentierte politische Handlungsbereitschaft, die speziell hinsichtlich der studentischen Interessenvertretung weit höher als in der Bundesrepublik liegt, greifen — ein Prozeß, der für die akademische Jugend der DDR eine ähnliche Bedeutung erlangen könnte wie die 68er-Bewegung für die Studenten in der Bundesrepublik.
Die gegenteilige Entwicklung ist freilich auch schon angelegt: der völlige Rückzug ins Privatleben. Bereits jetzt gibt es in der DDR mehr als doppelt so viel Verheiratete (8%) unter unseren Befragten als in der Bundesrepublik (3%), und auch der Anteil der unverbrieften Lebensgemeinschaften liegt dort höher (18 % gegenüber 15 %). Ähnlich ist es bei der Kinderzahl: Hier haben 5 % der von uns befragten DDR-Studierenden mittleren Semesters bereits ein und 1 % sogar mehr als ein Kind gegenüber 2% und 0% in der Bundesrepublik. Dabei fällt zusätzlich ins Gewicht, daß die DDR-Befragten im Schnitt erheblich jünger sind als ihre westdeutschen Kommilitoninnen und Kommilitonen, in vergleichbar höheren Jahren aber noch erheblich stärker familiär gebunden sind Hieraus wird deutlich, in welchem Maße privatistische Auswege aus kritischen Umbruch-Situationen bereits vorgeprägt sind.
Dementsprechend schreiben Studierende aus der DDR der Gründung einer Familie mit Kindern eine wesentlich größere Bedeutung zu als diejenigen aus der Bundesrepublik (Tabelle 4). Noch höher steht in der DDR-Werthierarchie der Wunsch, „einen treuen Partner zu haben“. Leider liegen hierzu keine bundesdeutschen Vergleichsdaten vor; aber die Zahlen sprechen für sich, wenn 1990 wie 1989 96 % der DDR-Studierenden dieses Ziel für wichtig und 82% sogar für sehr wichtig halten. Darüber hinaus meinen 90 %, daß eigene Kinder von großer Bedeutung für ihr Leben sind, und 74 % sehen ohne Kinder sogar ihr Lebensglück in Gefahr.
Der auch im Westen seit längerem bekannte und in diesen Zahlen nur noch einmal bestätigte Hang zum Rückzug in die Nische privaten Glücks war bislang sicherlich nicht zuletzt eine Reaktion auf die Beschneidung anderer wesentlicher Handlungs-und Entfaltungsspielräume gerade dieses Teils der DDR-Jugend. Inwieweit man hieraus schließen kann, daß eine übergroße Orientierung auf das Private auch in Zukunft einer politischen Emanzipation der Studierenden entgegensteht, läßt sich anhand reiner Befragungsdaten allerdings nicht entscheiden.
III. Individuelle Ambitionen: Konkurrenz neuen Typus?
Wie immer man die in STUDENT 90 dokumentierte höhere Bereitschaft zu sozialen Kontakten und Bindungen, zu sozialer Einfühlsamkeit und Hilfsbereitschaft auch deuten mag: In jedem Fall stellt sich aus der Sicht einer in höchstem Maße auf die Erzeugung und Befriedigung individueller Konsumbedürfnisse abgestellten Gesellschaft wie der der Bundesrepublik an dieser Stelle die Frage, ob die relativ hochentwickelte soziale Sensibilität der DDR-Bürger womöglich mit einem Verlust an Individualität, Selbstverwirklichungsanspruch bzw. Genußfähigkeit verbunden ist. Oder auf unsere studentischen Untersuchungssubjekte bezogen: Entsprechen ihren hohen sozialen gleichrangige individuelle Ambitionen, oder geht die Entfaltung des einzelnen gewissermaßen im kollektiven Über-Ich unter?
Ein wichtiger Indikator für die Beantwortung dieser Frage ist zweifellos das (deklarierte) Selbständigkeitsstreben der Befragten. Die hierzu in STUDENT 90 gestellten Fragen geben überraschenderweise keine nennenswerten Unterschiede zwischen DDR-und BRD-Jungintelligenz zu erkennen. So wird das Prinzip „Mein Leben vollständig selbständig und eigenverantwortlich gestalten“ hüben wie drüben von einer übergroßen studentischen Mehrheit als wichtig (DDR 84%, BRD 85%) und nur von einer verschwindenden Minderheit als unwichtig angesehen (DDR und BRD jeweils 3%)
Auch die unbedingte Wahrung einer eigenen Auffassung („nicht von dem abbringen lassen, was ich selbst für richtig halte“) wird beiderseitig relativ hoch besetzt (DDR 71 %, BRD 73%)
Die Eigenständigkeit des Individuums ist also für DDR-Studierende trotz (oder wegen) der bis vor kurzem von allen Seiten ausgeübten Anpassungszwänge ein unbestrittener Wert. Ob das allerdings schon die Ausprägung ichstarker Individuen garantiert, steht dahin. Zu Zweifel hieran geben jedenfalls jene Fragebogenpassagen Anlaß, in denen das Anerkennungsbedürfnis des einzelnen abgefragt wird (Tabelle 5).
So messen Studierende aus der DDR dem Wunsch „von anderen hochgeachtet sein“ einen doppelt so hohen Stellenwert zu wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der Bundesrepublik: Hält dort mit 70 % die große Mehrheit der Befragten die Anerkennung durch andere für wichtig, so ist es hier nur eine Minderheit von 34 %. Ähnlich drastische Differenzen kennzeichnen die Bewertung des Ziels „bei anderen Autorität besitzen“, das in der DDR von 57 % für wichtig und nur von 12 % für unwichtig gehalten wird, während es bundesdeutsche Studierende eher für unwichtig (38%) als für wichtig (25%) erachten. Zwar lassen diese wie einige andere Indikatoren für das selbst zugestandene Anerkennungsbedürfnis bei DDR-Studenten seit 1989 eine leicht sinkende Relevanz erkennen. Dennoch bleiben die Ost-West-Unterschiede in diesem Punkt eklatant.
Wenn man nicht von vornherein die bundesdeutsche Merkmalsausprägung für das Maß aller Dinge hält, läßt sich auch dieser Befund durchaus unterschiedlich bewerten. Folgt man dem bislang entwikkelten Gedankengang, so erklärt das starke Angewiesensein des DDR-Intelligenznachwuchses auf Anerkennung zwar dessen hohe soziale Ambitionen (und umgekehrt), läßt sich aber gleichwohl auch als Zeichen einer gewissen Ichschwäche inter-pretieren. Trotz ausgeprägter Selbständigkeitsmaxime wird der Wert der eigenen Person offenbar in hohem Maße von anderen abhängig gemacht, das Fremdbild bereitwillig ins Selbstbild übernommen Als mögliche Ursachen hierfür ließen sich leicht der autoritäre Paternalismus sozialistischer Kaderherrschaft oder auch die durchgängige Diskrepanz zwischen öffentlichen und privaten Wertmaßstäben ausmachen, die dem einzelnen kaum eine Chance ließen, seinen eigenen Wert verbindlich festzumachen bzw. überhaupt zu erfahren. Umgekehrt läßt sich das geringe Anerkennungsbedürfnis der bundesdeutschen Studierenden möglicherweise aber auch als Ausdruck einer sozial abgeschotteten Selbstverwirklichungsegozentrik, einer Unfähigkeit oder gar Angst, sich auf andere und deren Urteil über einen selber einzulassen, deuten. Was den geringen Stellenwert der Autorität im studentischen Selbstkonzept West betrifft, so spiegelt sich hierin aus dieser Sicht lediglich ein insgesamt aufgeklärteres Bewußtsein unserer Gesellschaft wider, demzufolge Unterordnungsbeziehungen sich zunehmend nur noch „sachlich“ legitimieren lassen. In diesem Falle müßte man das Bedürfnis nach gehobener Anerkennung statt im personal-autoritär hierarchisierten Sozialverhältnis in dessen funktionaler Variante, der (schein) objektivierten Kompetenzhierarchie, aufspüren.
In der Tat weist Tabelle 5 für das in diese Richtung gehende Lebensziel „anerkannter Fachmann im* Beruf werden“ auch auf Seiten der westdeutschen Studierenden eine mehrheitliche Zustimmungsquote auf. Mit 71 % liegt sie in etwa in der Größenordnung des Bedürfnisses der DDR-Studentenschaft nach unmittelbarer Achtung und Autorität. Diese nun wiederum besetzt die Identifikationsfigur „Fachmann“ nochmals um 20% höher, sucht also auch auf dem Feld sachlicher Beziehungen in erhöhtem Maße nach Anerkennung. Die Differenz zwischen den beiden deutschen Studentenschaften ist damit zwar nicht mehr so groß wie in den ersten Zeilen der Tabelle, und es fragt sich natürlich auch, ob die DDR-Popularität des Fachmannkonstrukts nicht teilweise auch eine verständliche Abwehrreaktion gegen das propagierte Parteilichkeitspostulat vergangener Zeiten darstellt Dennoch muß die fast hundertprozentige Akzeptanz dieser tendenziell eher technokratischen Rollenzuweisung im sozialen Beziehungsfeld zu denken geben, findet hiermit doch die ohnehin schon bedenkliche Tendenz einer neuen, „sachlich“ begründeten Hierarchisierung unserer hochtechnisierten Gesellschaft in der neu hinzuwachsenden Intelligenz eine nachhaltige Verstärkung.
Allerdings wird man den Vorsatz, ein anerkannter Fachmann in seinem Beruf werden zu wollen, nicht umstandslos als Wunsch nach einer sozial hervorgehobenen Stellung interpretieren können. Speziell in der DDR hatte der Expertenstatus mit seinen mehr oder weniger großen professionellen Freiräumen zweifellos auch eine soziale Abgrenzungs-und Schutzfunktion, indem er seinen Träger tendenziell von den mit vertikalen Apparatekarrieren verbundenen Anpassungszwängen entlastete. Dieses spezifische Karrieredilemma spiegelt sich nicht zuletzt in einem Indikator wieder, der in den letzten Jahren immer wieder in soziologischen Fragebögen aufgetaucht der nach der Bereitschaft, in Frage „eine leitende Funktion einzunehmen“.
Vergleicht man zunächst nur die von STUDENT 90 hierzu bereitgestellten Daten (Tabelle 6), so ist der Aufstiegswille der Studierenden in der Bundesrepublik mit 52 % deutlich höher als in der DDR mit nur 42 % Leiterambitionen Von daher ist also allein schon die Wahrscheinlichkeit, daß das Expertenideal West in Zusammenhang mit sozialen Aufstiegsambitionen steht, für die Bundesrepublik größer als für die DDR.
Tatsächlich läßt sich überdies zwischen dem Leitungs-und dem Fachmannindikator hüben eine deutlich positive, drüben aber eine schwach negative Korrelation (im Fächervergleich) nachweisen. Das berechtigt zu dem Schluß, daß das höhere Anerkennungsbedürfnis der studentischen DDR-Jugend jedenfalls nicht mit stärkeren Hierarchisierungsvorstellungen als bei uns verbunden ist.
Dieser Befund wird durch den historischen Vergleich allerdings ein wenig modifiziert. Bei ähnlicher Frageformulierung zeigten sich nämlich 1969 noch 49 % der DDR-Studierenden bereit, nach Studium und Einarbeitungszeit eine Leitertätigkeit auszuüben. 1979 war diese Quote auf 26% und 1989 sogar auf 23 % gesunken. Im zunehmend erstarrten Honecker-Regime war es offenbar immer unattraktiver geworden, in die etablierten Führungsschichten aufzusteigen, der DDR-Intelligenz-nachwuchs kaprizierte sich bevorzugt auf das horizontal gegliederte Nischenfeld fachlicher Spezialisierung.
Trifft diese These zu, so sollte man annehmen, daß mit dem Zusammenbruch der alten Apparate-hierarchie die Möglichkeiten persönlichen Aufstiegs relativ rasch wiederentdeckt werden. In der Tat hat sich die individuelle Aufstiegsbereitschaft in dem halben Jahr seit der Wende bereits verdoppelt (Tabelle 6). Der „Normalisierungsprozeß“ auf diesem Gebiet scheint also in vollem Gang zu sein. Nach Ausweis der historischen Daten endet er womöglich bei einem dem bundesdeutschen ähnlichen Niveau der Bereitschaft zur Übernahme von Führungspositionen.
Fungieren hier also doch bundesdeutsche Verhältnisse als letztes Maß und Ziel? Einstweilen suchen die mehr oder weniger unverändert hohen Bedürfnisse der DDR-Jungintelligenz nach Anerkennung ihre Befriedigung noch stärker in horizontaler statt in vertikaler Richtung. Aber die Tendenzen sind verwirrend, wie sich an weiteren Fragekonstellationen zum Thema „Ambitionen“ zeigen läßt.
So gehen Studierende aus der DDR offenbar weitaus zielbewußter an ihre Lebensgestaltung heran als diejenigen aus der Bundesrepublik. Das Prinzip „Aus meinem Leben etwas machen, mich nie treiben lassen“ jedenfalls sehen sie zu 84 % als wichtig an (1989: 86%), während von den westdeutschen Befragten sich nur 52 % ausdrücklich hierzu bekennen Ähnliches gilt auch für den Beruf: Jungaka-demiker aus der DDR wollen weit häufiger, nämlich zu 88 %, ihr „Leistungsvermögen voll ausnutzen“, während dieses Ziel von unseren Studenten nur zu 73 % befürwortet wird.
Andererseits werden diese Vorsätze in der DDR (vgl. Tabelle 6) nur zu 23 % dahingehend konkretisiert, daß die Befragten schon im Rahmen des Studiums „in fachlicher Hinsicht Überdurchschnittliches leisten wollen“ (BRD 38%). Hier zeigt sich im Vergleich eine ähnliche Umkehr der Verhältnisse wie zwischen dem Experten-und dem Leitungsanspruch, wobei übrigens in beiden Erhebungen auffällt, daß die Bereitschaft, Überdurchschnittliches zu leisten, im Schnitt erheblich kleiner ist als diejenige, eine Leitungsfunktion auszuüben Auch was die intellektuellen Ambitionen betrifft, stehen die DDR-Studierenden deutlich zurück: „Den Dingen auf den Grund gehen, Erklärungen suchen“, erachten 74 % der in der DDR Befragten statt 82 % in der Bundesrepublik für wichtig; kreativ sein wollen in der DDR 76 % statt 81 % bei uns, in Hinblick auf den Beruf bekennen sich hierzu sogar nur 58 % der dortigen in Vergleich zu 71 % der hiesigen Studierenden.
Nun läßt sich für diese DDR-spezifische Reserve gegenüber besonderen beruflichen Ansprüchen ebenso leicht eine Erklärung finden wie für die geringe Neigung, Leiter werden zu wollen. Denn zweifellos war es in einer von einseitigen-ideologischen Denkmustern beherrschten DDR nicht immer opportun, „den Dingen auf den Grund zu gehen“, originelle Einfälle zu haben oder einfach nur Überdurchschnittliches leisten zu wollen, speziell wenn Gegenstand und Ziel dieser Ambitionen nicht ausdrücklich von oben abgesegnet waren und/oder die Kaderbiografie schon im Detail vorgeplant war. Dementsprechend haben diese und ähnliche Indikatoren seit dem Sturz des SED-Regimes in der Regel einen mehr oder weniger signifikanten Zustimmungszuwachs erfahren — wenn auch nicht in dem Ausmaß wie das Ziel, eine Leitungsfunktion auszuüben..
Alles in allem läßt sich damit auf eine für das Zusammenwachsen von DDR-und BRD-Studentenschaft nicht unwichtige Frage, nämlich die nach ihrer potentiellen Karrierekonkurrenz, derzeit keine eindeutige Antwort geben. Sicher werden Studierende aus Ost und West künftig in hohem Maße um dieselben Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten konkurrieren. Aber wer dabei die größere Hartnäckigkeit beweist, ist einstweilen offen: Einerseits ist der Intelligenznachwuchs der DDR im Mittel weniger leistungs-und karriereambitioniert, auch wenn die Tendenz der letzten Monate in die von der Bundesrepublik vorgegebene Richtung weist; an-, dererseits zeichnet er sich durch eine unverändert hohe Strebsamkeit und den Willen aus. im Beruf durch fachmännisch-solide Arbeit Anerkennung zu erwerben. Nimmt man noch die eingangs referierten finanziellen Wunschvorstellungen und die hoch-entwickelte soziale Sensibilität hinzu, so kann bundesdeutschen Karrierestudenten in der DDR-Nachwuchsintelligenz durchaus eine Konkurrenz von neuem Typus erwachsen, die sich den zur Zeit noch ungewohnten Marktgesetzen vermutlich rasch anpassen kann.
IV. Eine deutsch-deutsche Gemeinsamkeit: Genießen und Geselligkeit
Abbildung 4
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 81 % 76% 55 % kaum/überhaupt nicht wichtig 10 % 12 % kaum/überhaupt nicht wichtig 25 % Tabelle 4: Bedeutung von Familie und Kindern Eine Familie mit zwei oder mehreren Kindern haben Eine Familie mit einem oder mehreren Kindern haben“ sehr wichtig/wichtig
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 81 % 76% 55 % kaum/überhaupt nicht wichtig 10 % 12 % kaum/überhaupt nicht wichtig 25 % Tabelle 4: Bedeutung von Familie und Kindern Eine Familie mit zwei oder mehreren Kindern haben Eine Familie mit einem oder mehreren Kindern haben“ sehr wichtig/wichtig
Wenn diese Befunde womöglich dem bekannten Vorurteil von den „Arbeitsbienen“ aus der DDR Vorschub leisten, so machen die folgenden Daten deutlich, daß es auch für die DDR-Studierenden neben der zweifellos hochbewerteten Arbeit eine Sehnsucht nach Abenteuer, Abwechslung, Lebensfreude und erfüllter Freizeit gibt.
Dabei läßt sich sogar mit Erstaunen registrieren, daß weder der gesteigerte soziale Existenzdruck noch bestehende ehrgeizige Ambitionen es vermochten, das Niveau hedonistischer Wertorientierungen der DDR-Studenten unter den hohen Pegel der bundesdeutschen Jungakademiker zu senken (Tabelle 7). Die Interpretation dieser auf Genuß bedachten Strebungen beider Studentenschaften ist zunächst insofern offen, da sich hinter ihnen sowohl ein Drang nach Luxus und dem Verfügen über reiche materielle Ressourcen als auch ein Bedachtsein auf geistige Bereicherung, auf mehr Erlebnisse und Erfahrungen verbergen könnte. Doch scheidet beim näheren Blick die erste Variante schon aus dem Grund aus, weil studentische Lebensbedingun-B gen nur in den seltensten Fällen Verschwendung und luxuriösen Komfort möglich machen. Vielmehr scheint aufgrund dieser objektiven Lage eher umgekehrt ein bewußtes Bekenntnis zu einem einfachen Lebensstil Eingang in das Selbstverständnis studentischer Kultur gefunden zu haben. Damit wäre jedenfalls eine Erklärung dafür gegeben, warum die Frage, ob sie „auf nichts Angenehmes in ihrem Leben verzichten wollen“, beim akademischen Nachwuchs so vergleichsweise schlecht abschneidet. Sie hat etwas vom Ruch des Materiellen an sich, auf der Basis ihres Selbstverständnisses scheint ein Verzicht nicht allzu schwer zu fallen.
Logischerweise folgt daraus die Vermutung, daß sich die starken hedonistischen Motivationen der Studierenden in Ost wie West vorrangig durch eine immaterielle Dimension auszeichnen. Nachweisen läßt sich das zumindest für die DDR-Studentenschaft. Denn in der Tat sind es rund 80% von ihnen, die „in der Freizeit etwas tun möchten, wo man sich selbst ausprobieren kann“, die eine Hobby-Betätigung anstreben, „in der man aufgeht und an der man Freude empfindet“.
Von daher kann es auch nicht verwundern, daß das Reisen solch eine große Rolle an den ostdeutschen Hochschulen spielt. 90% der DDR-Studenten äußern in dieser Hinsicht ein starkes Bedürfnis. Gerade vor dem Hintergrund des mit 82 % ähnlich großen Interesses ihrer westdeutschen Kommilitonen wird deutlich, daß der Drang zu Reisen (nur 8 % der DDR-Studenten erklärten im Frühjahr dieses Jahres, während ihrer Ferien keinesfalls ins Ausland verreisen zu wollen) bei den jungen ostdeutschen Studierenden nicht ausschließlich als eine Kompensation ihrer jahrelang erzwungenen Enthaltsamkeit von vielen Teilen Europas zu verstehen ist. Die Welt entdecken zu wollen, die Lebensweise anderer Völker kennenzulernen, in die Ferne zu reisen — das offenbart sich als ein wichtiges gemeinsames Moment der unterschiedlichen studentischen Kulturen.
Dieses Bedürfnis nach Abwechslung, Schönheit und Genuß stellt sich immer mehr als Widerpart zu der überanstrengten Ambitioniertheit vor allem der jungen Akademiker östlich der Elbe dar. Der Leistungsgedanke, früher durchaus auch im Freizeitbereich zuhause, scheint mit der Ausprägung anderer Ambitionen stärker aus diesem verdrängt worden zu sein. Denn ein Bemühen um „Anerkennung auf dem Hobby-Gebiet“ ist nur noch für ein Drittel der Studentenschaft der DDR in stärkerem Maße relevant. vor einem Jahr war es noch die Hälfte.
Dieses hedonistisch akzentuierte Konzept von Freizeit-und Lebensgestaltung steht nicht unbedingt im Widerspruch zur ausgeprägten sozialen Motivation der Studierenden, weil die Geselligkeit, das Zusammensein unter Freunden und Bekannten, einen ganz hohen Stellenrang in der studentischen Kultur wieder beider Teile Deutschlands einnimmt. Das Bedürfnis, sich mit Freunden in seiner Freizeit zu treffen, ist bei über 90% der Studenten in Ost wie West stark ausgeprägt, zwei Drittel auf DDR-Seite sagen sogar von sich, „immer Menschen um sich haben, nie allein sein“ zu wollen.
So frappierend auch die Gemeinsamkeiten in den Bedürfnisstrukturen sind, die Wege und Mittel zu deren Befriedigung sind dann doch verschieden. Das beginnt schon mit dem Befund, daß bundesdeutsche Studenten mehr Zeit für solcherart geselB liges Beisammensein aufbringen. Deutlich über ein Drittel nimmt sich dafür durchschnittlich fast zwei Stunden am Tag, unter einer Stunde ist es gerade noch ein Viertel. Bei den Studierenden aus der DDR ist die Sachlage genau umgekehrt. Noch nicht einmal ein Fünftel hat dafür durchschnittlich fast zwei Stunden am Tag Zeit, über die Hälfte sogar weniger als eine Stunde. Die Ursachen sind letztlich in den bisher unterschiedlichen Studienbedingungen zu suchen: Fester Lehrplan, Internat als Hauptwohnform und beständige Seminargruppen durch alle Semester hindurch machen geselliges Beisammensein mit den Kommilitonen zu einer Art permanenter Nebenbeschäftigung.
Des weiteren ist bei den bundesdeutschen Studierenden ein weitaus häufigerer Gaststättenbesuch zu konstatieren, auf durchschnittlich sieben Besuche in vier Wochen bringen sie es, die ostdeutschen kommen auf vier In der DDR wird das aber ausgeglichen durch den Besuch von Studenten-klubs, in denen sich die Studierenden durchschnittlich dreimal in vier Wochen aufhalten Ohne schon mögliche Auswirkungen dieser etwas verschiedenen Orte studentischer Geselligkeit auf die Kommunikationsbeziehungen und -inhalte festmachen zu können, liefert ein solcher Befund einen ersten Hinweis auf unterschiedliche Formen kulturellen Verhaltens.
V. Literatur als oppositionelles Refugium
Abbildung 5
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 71 % 70 % 34 % sehr wichtig/wichtig 64 % 57 % 25 % sehr wichtig/wichtig 87 % 90 % 71 % kaum/überhaupt nicht wichtig 5 % 8 % 24 % kaum/überhaupt nicht wichtig 9 % 12 % 38 % kaum/überhaupt nicht wichtig 4 % 0 % 9 % „Von anderen hochgeachtet sein“ „Bei anderen Autorität besitzen“ „Anerkannter Fachmann i?
DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 DDR-Studierende 1989 DDR-Studierende 1990 BRD-Studierende 1990 sehr wichtig/wichtig 71 % 70 % 34 % sehr wichtig/wichtig 64 % 57 % 25 % sehr wichtig/wichtig 87 % 90 % 71 % kaum/überhaupt nicht wichtig 5 % 8 % 24 % kaum/überhaupt nicht wichtig 9 % 12 % 38 % kaum/überhaupt nicht wichtig 4 % 0 % 9 % „Von anderen hochgeachtet sein“ „Bei anderen Autorität besitzen“ „Anerkannter Fachmann i?
Weitere Hinweise dafür sind im Bereich künstlerischer Ambitionen und Tätigkeiten zu entdecken. Auch hier gilt es zunächst, Gemeinsames zu konstatieren: Für beide Studentenschaften gehört die Kunst zu jenen unverzichtbaren Instrumenten, mit denen sie die Welt entdecken und ihren Erfahrungshorizont ausweiten.
Doch schon in der konkreten Interessenstruktur und im Kunstgebrauch selbst sind beträchtliche Unterschiede festzustellen. Einige davon macht Tabelle 8 deutlich. Wie bei vielen Wertorientierungen sind die Ambitionen des studentischen Nachwuchses in der DDR auch hinsichtlich kultureller Betätigungen nicht gerade gering. Hinzu kommt, daß fast zwei Drittel von ihnen starkes Interesse an dem Besuch von Galerien und Kunstausstellungen haben und daß für 94% Musikhören, das'von allen Freizeittätigkeiten den Spitzenplatz einnimmt, wichtig ist. Allerdings ist das Interesse an eigener künstlerisch-musischer Betätigung gesunken. Von einem Drittel auf fast die Hälfte der ostdeutschen Studierenden stieg der Anteil jener, die dem Versuch eigener künstlerischer Produktion gleich welcher Form und Qualität nichts abgewinnen können; so bleibt nicht viel mehr als ein Viertel von ihnen, die sich zu solchen Ansprüchen an die eigene Aktivität bekennen. Die Ursachen für ein solches Absinken werden nicht allein in der bisher geringen Wertschätzung musischer Fächer an den Schulen oder in dem — im Vergleich zu ihren westdeutschen Kommilitonen — allgemein weniger ausgeprägten Streben nach kreativen Leistungen zu suchen sein, sondern auch in der Umbruchsituation an den Hochschulen, die eher eine gewisse Konzentration auf politische als auf künstlerische Aktivitäten nahelegt. Geradezu als Gegenstück erscheint dann, daß schon in der Interessenstruktur der Jungakademiker eine stärkere Rezeptionslastigkeit der studentischen DDR-Kultur zu verzeichnen ist. Diesem Vorziehen des „Kultur-Konsums“ gegenüber eigener „Kultur-Produktion“ entsprechen auch die Aktivitätsniveaus künstlerischer Tätigkeiten im deutsch-deutschen Vergleich. Vom Fotografieren bis hin zum Verfassen persönlicher Texte wie Gedichte, Briefe oder Tagebuch, überall erweisen sich die bundesdeutschen Studenten als regsamer. Die bemerkenswertesten Unterschiede sind beim Musizieren zu verzeichnen, hierin üben sich 42 % der westdeutschen Jungakademiker, aber nur 27 % der ostdeutschen, und bei der Beschäftigung mit persönlichen Texten, das ist 57% der bundesdeutschen, aber nur 41 % der DDR-Studierenden zur Gewohnheit geworden
Im Gegensatz dazu dominieren bei den DDR-Studierenden wieder kunstrezeptive Tätigkeiten. So gehen sie im vierwöchentlichen Durchschnitt zweimal ins Kino; innerhalb eines Vierteljahres gehen 60% mindestens einmal ins Theater; Konzertbesuche sowohl mit klassischer als auch mit Rockmusik stehen im selben Zeitraum bei einem Drittel mindestens einmal auf dem Programm; und um Kunst-ausstellungen und Galerien machen innerhalb dieser drei Monate nur 40% einen Bogen.
Schon aufgrund dieser Zahlen kann mit Sicherheit angenommen werden, daß das Mehr an Zeit, das die DDR-Studenten wöchentlich für geistig-kulturelle Betätigung aufwenden, vor allem für eine intensivere Kunstrezeption genutzt wird. Ein Drittel von ihnen erübrigt in der Woche mehr als fünf Stunden für Kunst (0 Stunden = 5%), aber nur ein Fünftel der Bundesdeutschen kommt auf solch eine Stundenzahl (0 Stunden = 14 %). Den größten Anteil hat die hohe Leserate bei Belletristik. Seit Jahren schon ist sie relativ konstant, ein Studierender in der DDR liest im Durchschnitt in vier Wochen zwischen zwei und drei Büchern (genau 2, 3). Fast ein Fünftel des studentischen Nachwuchses kommt sogar auf vier und mehr Bände.
Mit dieser Quote kommt dem Lesen von Belletristik innerhalb der hier gezeichneten Konturen studentischer DDR-Kultur ein besonderer Platz zu. So stehen in den Bücherborden ostdeutscher Studentenzimmer im 4. Semester immerhin durchschnittlich 125 Bände Belletristik, in westdeutschen Regalen dagegen nur 77. Die kulturelle Betätigung von bundesdeutschen Studierenden wird stärker durch Eigenaktivität geprägt
Das hohe Leseinteresse der DDR-Studierenden kann nicht nur auf hedonistische oder Bildungsgründe zurückgehen, wie ein Blick auf die Inhalte der Lektüre zeigt. Bei der Studie STUDENT 89 wurde den Studenten an den ostdeutschen Hochschulen die Frage vorgelegt, welches literarische Werk sie in letzter Zeit am stärksten beeindruckt hat.
Das Spektrum ist beachtlich, von einseitiger oder gar anspruchsloser Lesekost kann wahrlich nicht die Rede sein. Autoren einer allein auf Spannungs-und Unterhaltungseffekte bedachten Literatur scheinen bei den Studenten keinen guten Absatz zu haben. Auch bei Beachtung des zum damaligen Zeitpunkt aktuellen Buchangebots, das sich natürlich in den Angaben widerspiegelt, zeigen sich einige bemerkenswerte Tendenzen Auffallend ist, daß neben großen Autoren des 20. Jahrhunderts wie Remarque, Hesse und Stefan Zweig jene Schriftsteller an der Spitze standen, die sich in ihren Werken kritisch mit dem Sozialismus oder gar der DDR auseinandersetzen. Allein ein Fünftel der Studierenden nannte Bücher, die primär eine solche Geisteshaltung offenbaren. Namen wie Tschingis Aitmatow, Stefan Heym oder Volker Braun wurden besonders häufig genannt. Auch viele weitere von den jungen Akademikern aufgeführte Bücher enthalten kritische gesellschaftliche Analysen, neue Weltentwürfe, Auseinandersetzungen mit geistiger Entmündigung und einer erstarrten, inhaltsleeren Ästhetik der Macht. In ihrer Tendenz sind die meisten Bücher, die von den Studenten als wichtig bewertet wurden, auf eine Verteidigung des Individuums und seiner „condition humaine“ gegen den Zugriff antihumaner Interessen und Kräfte gerichtet, Ihre Wirkung auf die junge Intelligenz kann daher letztlich nur eine subversive gewesen sein, eine Art geistige Unterminierung des alles und jeden vereinnahmenden SED-Regimes. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder „Die Blechtrommel“ von Günter Grass können als Beispiele aus einer langen Liste dienen. Nicht ohne Grund sind sie erst sehr spät, Ende der achtziger Jahre, in der DDR aufgelegt worden. Beachtenswert ist weiterhin eine gewisse Favorisierung der DDR-Literatur. Ein Fünftel der Studentenschaft entschied sich für ein Werk eines in Ostdeutschland lebenden Autoren. Vermutlich fanden sie dort ihre Probleme und Gedanken besonders authentisch formuliert. Westliche Gegenwartsautoren wurden demgegenüber nur von 18%, sowjetische Schriftsteller von 11% des akademischen Nachwuchses angeführt
Wenn man den Ablösungsprozeß der Studentenschaft von der SED und ihrer Politik spätestens seit Mitte der achtziger Jahre in Betracht zieht muß man der von den Studenten rezipierten Literatur eine für sie identitätsstiftende Kraft zuweisen. Konnte sich doch in ihr ein kritisches Potential an Denken über dieses Land und diese Gesellschaft sowie ein Drang nach neuen Lebensformen äußern, was so an anderer Stelle in der DDR kaum möglich war. Damit wurde gerade die Belletristik zu einer wichtigen geistigen Nahrung für die akademische Jugend, mit der sie die Welt entdecken und dem provinziellen und einseitigen Denken im eigenen Land entfliehen konnte.
Natürlich erfüllte diese Literaturrezeption damit auch eine kompensatorische Funktion, trug neben der geistigen Mobilisierung zu einem Verbleiben im Kontemplativen bei. Doch gerade im Rückblick auf den Herbst 1989 wird deutlich, daß die Literatur nicht unerheblich zur Ausbildung eines Veränderungswillens beigetragen hat. Kann die Literatur unter den veränderten Verhältnissen diese Bedeutung behalten? Oder wird es im Rezeptionsverhalten der Studierenden eine Umorientierung geben? Bei STUDENT 90 wurde gefragt, ob und welche Kunstwerke bei der geistigen Erneuerung nach der Wende eine wichtige Rolle spielen könnten. Überraschenderweise haben nur 57 % der Befragten dies bejaht. Das ist ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu 1989, als rund 80% spontan ein für sie bedeutsames Werk anführen konnten. Aber vielleicht könnte das schon ein erster Hinweis darauf sein, daß die Kunst ihren wichtigen Stellenwert als teilweise oppositionelle Kraft schon etwas eingebüßt hat. Nicht überraschen kann dagegen bei den kulturellen Traditionen der DDR-Studentenschaft, daß der weitaus größte Teil der Nennungen auf literarische Werke entfiel.
Daraus wird deutlich, daß für die jungen Akademiker die DDR kein abgeschlossenes Kapitel ist, sie können und wollen die Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Ohne eine Aufarbeitung dessen, was hier geschah, ist eine Umorientierung und der Aufbau einer neuen Identität nicht zu vollziehen. Anders läßt sich das starke Interesse an Werken wie Walter Jankas „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ kaum erklären. Viele Studierende suchen eine Antwort auf die Frage: Wie konnte es zu einem stalinistischen Regime in der DDR kommen? Weiße Flecken sollen nicht in Vergessenheit geraten, sondern aufgefüllt werden. Die Neigung zur Verdrängung scheint auf die Studentenschaft noch nicht übergegriffen zu haben.
Noch etwas ist bemerkenswert: Die Studierenden sehen die Aufgabe, Vergangenes zu durchleuchten, um eine neue Identität zu entwickeln, vor allem in die Hände von DDR-Autoren gelegt. 61 % aller Nennungen entfallen auf diese. So wird von ihnen nicht das gefährlich überhebliche Bild von außen, sondern die authentische Sicht von innen heraus gefordert. Auch nach der Vereinigung hat DDR-Literatur damit eine nicht zu unterschätzende Funktion.
Angesichts der dargestellten Fülle widersprüchlicher Daten fällt es schwer, ein Resümee zu ziehen. Statt dessen sollen die hier diskutierten Wertorientierungen der DDR-sowie der bundesdeutschen Studierenden in der Rangordnung ihrer Zustimmungsquoten in eine vergleichende Ordnung gebracht werden (Tabelle 9). Diese verweist nicht nur auf wesentliche Einstellungsdifferenzen, sondern offenbart in aller Deutlichkeit ein grundsätzlich unterschiedliches Selbstverständnis der studentischen Persönlichkeit in beiden Teilen Deutschlands,
Wie speziell die unterschiedlich besetzten Spitzen-positionen von Tabelle 9 zeigen, verstehen sich die jungen Akademiker in der Bundesrepublik — abgesehen von ihren hohen intellektuellen Ansprüchen — in erster Linie als autonome Individuen. Eigenständigkeit, Abgrenzung von der Umwelt, Abwehr sozialer Verbindlichkeiten sind ihnen wichtig. Dagegen kennzeichnet ihre ostdeutschen Kommilitonen vorrangig eine soziale Selbstdefinition. Die Struktur ihrer Wertorientierungen zeugt von einer größeren Abhängigkeit von ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld.
Interessanterweise widerspiegelt sich diese deutsch-deutsche Differenz auch bei der Erarbeitung des vorliegenden Beitrags. Gab es ohnehin schon zwischen den Autoren mehr Unterschiede im Begriffs-verständnis als ursprünglich erwartet, so häuften sich diese besonders, wenn das Verhältnis von Sozialem und Individuellem berührt war. Während der DDR-Autor das Soziale dem Individuellen eher übergeordnet sah, ging der BRD-Autor tendenziell stärker von einer Nebenordnung oder gar Polarität dieser Begriffe aus. Oder um es am konkreten Text-beispiel zu veranschaulichen: Während der eine Autor Kinderwunsch und Partnerorientierung mehr unter dem Aspekt eines bewußten Eingebundenseins in einen sozialen Verantwortungskontext interpretierte, war der andere eher geneigt, eine hohe Familienorientierung auch als Indiz für einen privatistischen Rückzug aus der Gesellschaft zu werten.
Solche Differenzen — die sich bei Studierenden und Autoren gleichermaßen gezeigt haben — sind nicht nur auf unterschiedliche akademische Traditionen zurückzuführen. Hinter ihnen verbergen sich auch unterschiedlich konstituierte menschliche Beziehungen in beiden Gesellschaften, die in der Tat soziale Einbindung und individuelle Behauptung jeweils anders gewichten.
Rainer Brämer, Dr. rer. nat., Diplom-Physiker, geb. 1943; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe DDR am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Lehrbeauftragter für Bildungs-und Wissenschaftssoziologie an der Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Anspruch und Wirklichkeit sozialistischer Bildung — Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens in der DDR, Marburg 1983; (zusammen mit Georg Nolte) Die heile Welt der Wissenschaft — Zur Empirie des „Typischen Naturwissenschaftlers“, Marburg 1983; (Hrsg.) Im Osten nichts Neues? Naturwissenschaft und Technik in der DDR, in: Wechselwirkung, (1985) 25; zahlreiche Aufsätze zur Soziologie des Bildungswesens in der DDR. Ulrich Heublein, Dr. phil., Diplom-Journalist, geb. 1958; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Studentenforschung am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Individualisierung und optimale Gestaltung von Studienanforderungen, in: Leistungsentwicklung im Studium, Leipzig 1989; Leistungsorientierte Persönlichkeitsentwicklung im Studium, in: 7. Lehrbrief Soziologie für das Hochschulfernstudium, Leipzig 1989; Forschungsberichte zu den Themen nationale Stereotype, soziale Lagen von jungen Wissenschaftlern, kulturelles Verhalten von Studenten.