„Glasnost“ ist zu einem „Markenzeichen“ der Politik Gorbatschows geworden. Eine genaue Definition, was alles unter „Glasnost“ zu verstehen ist, gibt es bisher nicht. Drei Schwerpunkte lassen sich aber feststellen: 1. Transparenz der Entscheidungsprozesse der Führung; 2. Freiheit der Information, der Medien, der Meinung, des Glaubens, der Kunst und Wissenschaft sowie Demonstrations-und Vereinigungsfreiheit; 3. Glasnost als ethisches Prinzip im Sinne von Wahrhaftigkeit. „Glasnost“ hat sich seit 1985 entwickelt und verändert. Aus dem bloßen Instrument der Wirtschafts-Perestroika wurde eine Voraussetzung für die Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft. „Glasnost“ hat inzwischen fast alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens erreicht, hat zu Differenzierungen, Aufsplitterungen, zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen geführt. Im Mittelpunkt steht jedoch das Ringen um Wahrhaftigkeit. Die ursprünglich von oben gewünschte, zweckbestimmte „Glasnost“ mußte weitgehend jener „Glasnost“ Platz machen, die sich nicht mehr lenken oder regulieren läßt. „Glasnost“ ist damit zu einem „zweischneidigen Schwert“ geworden, das die notwendigen Veränderungen beschleunigen, aber auch die Existenz des gesamten Systems gefährden kann. Seit Ende 1990 begann die sowjetische Führung, die unbequem gewordenen Massenmedien zu behindern. Von Transparenz der obrigkeitlichen Entscheidungen kann man seither auf der zentralen Unionsebene nicht mehr sprechen, dagegen wird in verschiedenen Republiken vehement die uneingeschränkte Pressefreiheit gefordert.
Greift man zum Wörterbuch, so findet man dort unter „Glasnost“: Öffentlichkeit, Offenheit, Publizität. Das scheint klar zu sein. Vergleicht man jedoch, was alles in Ost und West unter „Glasnost“ angeboten oder mit „Glasnost“ bezeichnet worden ist, dann stellt sich heraus, daß es keinen festumrissenen, allgemein anerkannten Begriff von „Glasnost“ gibt. In seinem Buch „Perestroika“ hatte Gorbatschow erklärt: „In der Entwicklung der Glasnost sehen wir eine Methode zur Akkumulierung der völlig verschiedenen Meinungen und Gesichtspunkte, die die Interessen aller Schichten und gesellschaftlichen Gruppen der sowjetischen Gesellschaft widerspiegeln.“ Gorbatschows Aufforderung, „Glasnost“ zu verwirklichen, führte dazu, daß ein „Glasnost“ -Fächer auseinanderklappte. Unter Berufung auf „Glasnost“ wird inzwischen gefordert und/oder praktiziert: 1. Transparenz, Öffentlichkeit der Entscheidungsprozesse in Politik, Wirtschaft, Verwaltung usw.; Informations-, Presse-und Meinungsfreiheit; Glaubens-und Religionsfreiheit; Vereinigungs-und Demonstrationsfreiheit, ein Mehrparteiensystem; Freiheit von Kunst und Wissenschaft; schließlich wird „Glasnost“ als ethisches Prinzip gefordert: Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit.
H. Brahm hat eine andere Art der Gliederung von „Glasnost“ vorgenommen 2). An erster Stelle steht hier die von oben, von Gorbatschow gewünschte „Glasnost“. Sie richtet sich nach zwei Seiten -einmal nach innen, zum anderen an das Ausland. Darüber hinaus hat sich eine „Glasnost“ entfaltet, die eigene Wege geht: in den Massenmedien, im Samisdat, in Vereinigungen und Parteien, bei Wissenschaftlern und Künstlern usw. Diese verselbständigte „Glasnost“ kümmert sich kaum noch um Tabus oder Wünsche der Obrigkeit. Im Juni 1989 stellte ein Deputierter des Volksdeputiertenkongresses fest, „Glasnost“ sei „ein Schwert mit zwei Schneiden“. Gemeint ist damit, daß „Glasnost“ nicht nur ein Schwert der Perestroika sei, sondern auch eine Gefahr für das sowjetische System, denn für die Anhänger der alten Ordnung ist „Glasnost“ ein Damoklesschwert geworden.
I. „Glasnost“ vor Gorbatschow
Es ist unbestreitbar, daß Gorbatschow für „Glasnost“ den Weg freigemacht und damit die grundlegende Umgestaltung der Sowjetunion eingeleitet hat. Das Wort selbst stammt jedoch aus der Zarenzeit. Vor rund hundert Jahren konnte man in der „Großen Enzyklopädie“, die in St. Petersburg herauskam, unter dem Stichwort „Glasnost“ lesen: „Die derzeitige Theorie und Praxis aller konstitutionellen Staaten sieht in Glasnost und Publizität der Regierungstätigkeit, die die wesentlichsten Rechte der Bürger betreffen, eine der wichtigsten Garantien der politischen Freiheit überhaupt. Indem das Volk in den konstitutionellen Staaten durch seine Vertreter aktiven Anteil an allen wichtigen Regierungsmaßnahmen hat, hat es natürlich das Recht auf Kritik und öffentliche Kontrolle, insbesondere gegenüber der Volksvertretung selber.“ 3) Als Vater von „Glasnost“ in Rußland nennen heute die einen Alexander Herzen (18121870), andere Saltykow-Schtschedrin (1826-1889).
Gorbatschow selber bezog und bezieht sich auf Lenin, fordert die Verwirklichung von Lenins „Glasnost“. 1989 erschien im Moskauer Polit-Verlag ein Buch mit Leninsätzen über „Glasnost“ 4) -Es ist eine reine Zitatensammlung und jede kritische Rückfrage, wie es Lenin tatsächlich mit „Glasnost“ gehalten hat, fehlt. Heute kann man auch in sowjetischen Periodika nachlesen, daß Lenin Politik hinter verschlossenen Türen betrieben hat. Im April 1990 veröffentlichte z. B. die Wochenzeitung „Sobesednik“ (sie gehört zur „Komsomolskaja prawda“) Lenins Geheimschreiben vom März 1922 an die Politbüromitglieder 5). In diesem Schreiben, das in der sowjetischen Ausgabe von Lenins „Gesam-melten Werken“ fehlt, forderte Lenin, möglichst viele „Vertreter der reaktionären Bourgeoisie und der reaktionären Geistlichkeit zu erschießen“. Das leninsche „Dekret über die Presse“ leitete im November 1917 die Unterdrückung der nicht-bolschewistischen Presse ein Was Lenin begonnen hatte, führte Stalin fort, selbst das Wort „Glasnost“ verschwand; „Kritik und Selbstkritik“ wurde zur Ersatzformel.
Mitte der siebziger Jahre tauchte „Glasnost“ als Wort wieder auf. Die sowjetische Führung war unsicher geworden; der Glaube an den Marxismus-Leninismus und an die Partei nahm in der Bevölkerung ständig ab. Den von der Partei dirigierten Massenmedien glaubte man nicht mehr. Jeder wußte, daß es ein mehrfaches Zensurnetz in der Zentrale gab. Zur Moskauer Zensur kam die Zensur von unten hinzu. Die örtlichen Machthaber -die Parteisekretäre der Unionsrepubliken -sorgten dafür, daß keine negativen Meldungen aus dem eigenen Machtbereich nach Moskau kamen. Die Nomenklatura von Partei, Staat, Justiz und
Geheimpolizei schirmte sich vor Ort mafiaartig ab. Die Zentrale wußte nicht mehr, was im Riesen-reich geschah, was die Bevölkerung dachte.
Die Verfassung des Jahres 1977 forderte in Art. 9 eine „Erweiterung von Glasnost“ und „die ständige Berücksichtigung der öffentlichen Meinung“. In einem sowjetischen Verfassungskommentar wurde 1982 erklärt, wa eine „Erweiterung von Glasnost“ und „die ständige Berücksichtigung der öffentlichen Meinung“. In einem sowjetischen Verfassungskommentar wurde 1982 erklärt, was man unter „Glasnost“ verstanden haben wollte 7): Zum einen ging es um größere Transparenz der Tätigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Organe, um einen „Informationsstrom von oben nach unten“; zum anderen wollte man die „gesellschaftliche Meinung“ von unten als eine Art „Rückkoppelung“ berücksichtigen.
Der Art. 9 hat faktisch nichts geändert, „Glasnost“ blieb eine propagandistische Leerformel. Gorbatschow stellte später fest: „Alles, was von den Rednertribünen verkündet und in Zeitungen und Broschüren gedruckt wurde, stellte man in Frage. Es kam zum Zerfall der öffentlichen Moral.“ 8)
II. „Glasnost“ als Prozeß und Geflecht
Abbildung 2
Abbildung 2
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Als Gorbatschow 1985 zum Generalsekretär gewählt wurde, besaß er noch keinen ausgearbeiteten Plan für seine „Perestroika“ und „Glasnost“. Er hatte jedoch erkannt, daß er „Glasnost“ für seine Politik brauchte; die Gründe liegen auf der Hand: Die Führung benötigte für ihre Ziele direkte und unverfälschte Informationen von unten -die erste Voraussetzung zur Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen ihr und der Bevölkerung; des weiteren glaubhafte Massenmedien, Vertrauensgewinn im Ausland und damit letztlich auch Anschluß an den hohen Stand der politischen Kommunikation im Westen. Mit dieser Aufzählung ist allerdings dem „Glasnost“ -Prozeß schon vorgegriffen.
Man muß sich klar darüber sein, daß „Glasnost“ in den Jahren 1985/86 nicht gleichgesetzt werden kann mit „Glasnost“ im Jahre 1990. Das Bemühen um den Abbau des Ost-West-Konfliktes durch „Glasnost“ begann erst im Jahre 1987. V. Tretjakow hat diese Entwicklung 1989 im Rückblick folgendermaßen charakterisiert: „Glasnost war anfangs eine rudimentäre, ganz einfach zusätzliche Information darüber, die Dinge besser zu beschleunigen. Dann wurde Glasnost ein analytisches Mittel der historischen Rückschau: Wo waren die Fehler? Und schließlich verwandelte sich Glasnost in eine selbständige und geschlossene Politik, für die die Analyse der Vergangenheit der Hintergrund ist und die Untersuchung dessen, wie man zu einer richtigen Demokratie kommt, die Hauptsache. Diese Glasnost arbeitete sich Schritt für Schritt an unsere sowjetische , alttestamentlichen‘ Tabu-Themen heran, die jahrzehntelang abgesichert waren gegenüber kritischer Beurteilung: Sozialismus, Vielparteiensystem, Oktoberrevolution, Lenin, Molotow-Ribbentrop-Pakt, das Baltikum im Jahre 1940, die Vorgänge 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei und vieles andere.“ 9)
„Glasnost“ wurde zunächst als Kampagne von oben zur Unterstützung einer „Perestroika“ im wirtschaftlichen Bereich begonnen. Seit 1987 schoben sich jedoch diese offiziell gewünschte „Glasnost“ und die sich verselbständigende „Glasnost“ von unten wie geologische Schichten über-und ineinander: Sowohl Medien, Organisationen oder Gruppierungen beanspruchten „Glasnost“ für ihre Interessen wie auch Gläubige, Künstler, Wissenschaftler oder ganze Nationalitäten.
III. „Glasnost“ als Instrument der Wirtschafts-„Perestroika“ (1985/86)
Abbildung 3
Quelle: Prawda, 19. 8. 1990.
Quelle: Prawda, 19. 8. 1990.
Mit „Glasnost“ als einem von oben angeordneten Instrument der wirtschaftlichen Perestroika sollten Mängel aufgedeckt und kritisiert sowie Schuldige benannt werden. Die Zensur wurde etwas zurückgenommen. Meldungen und Artikel über Disziplinlosigkeit, Alkoholismus und Korruption wurden allenthalben veröffentlicht. Die Sowjetbürger konnten aus dieser Massierung ableiten, daß es sich hierbei nicht um Einzelfälle handelte, sondern um allgemein verbreitete Mißstände, die es zu bekämpfen galt. Die Liste der Verstöße gegen die sozialistische Moral wurde immer länger. Auf einmal tauchten auch Artikel über Prostitution und Drogensucht in der Sowjetunion auf.
Gorbatschow hatte ab 1985 zahlreiche Partei-, Staats-, Wirtschafts-und Medienfunktionäre ausgewechselt. Das war ein normaler Prozeß, der sich nach der Wahl eines jeden neuen Generalsekretärs abspielte. Von „Glasnost“ wurde damals noch nicht viel gesprochen. Erst im September 1986 befaßte sich das Leitorgan „Kommunist“ mit dem Thema „Die Stärke von Glasnost“. Die sowjetische Beschwichtigungskampagne nach der Katastrophe von Tschernobyl (26. April 1986) hatte jedoch zunächst die Hoffnung auf glaubhafte Informationen unterhöhlt. Was im Politbüro vor sich ging, blieb weiter unbekannt. Die atheistische Kampagne gegen die Religionsgemeinschaften lief weiter -zumal für 1988 die Millenniumsfeier der Taufe der Kiewer Rus bevorstand. Die Rechtfertigung des Einmarschs in Afghanistan wurde aufrechterhalten. Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit wurde ängstlich in die Zukunft verschoben. Das Feindbild von den „imperialistischen Kriegstreibern“ war noch weitgehend unverändert.
Allerdings waren zur gleichen Zeit zahlreiche „informelle Gruppen“ wie Pilze aus dem Boden geschossen, darunter auch politisch orientierte Gruppen. Als Sacharow im Dezember 1986 nach Moskau zurückkehren durfte, wurde dies als Signal für eine Erweiterung der „Glasnost“ gedeutet. Man kann diese beiden Jahre 1985/86 mit dem „Tauwetter“ unter Chruschtschow vergleichen. Kühn wagten es Künstler, bisherige Tabu-Zonen zu betreten. Das wäre ihnen nicht möglich gewesen, wenn Gorbatschow nicht begriffen hätte, welche Hilfe er von den „Kulturschaffenden“ erwarten konnte. Eine Kommission wurde geschaffen, um bisher verbotene Filme in die Filmtheater zu bringen. Von den Erzählungen, Romanen und Theaterstücken, die bisherige Tabus brachen, sollen nur zwei erwähnt werden. Der kirgisische Schriftsteller T. Aitmatow griff in seinem Roman „Die Richtstätte“ christliche Themen auf. M. Schatrow verglich in seinem Theaterstück „Diktatur des Gewissens“ in Form einer Gerichtsverhandlung die Vorstellungen Lenins mit dem, was danach geschehen war.
IV. „Glasnost“ als Voraussetzung der Demokratisierung (1987/88)
Abbildung 4
Quelle: Krokodil, Nr. 18/89.
Quelle: Krokodil, Nr. 18/89.
Das Januar-ZK-Plenum 1987 läutete für „Glasnost“ eine neue Etappe ein. Die „Perestroika“ der Gesellschaft (nicht nur der Wirtschaft) und „Glasnost“ wurden als Voraussetzung einer „Demokratisierung“ gefordert. „Glasnost“ wurde nun mit Wahrhaftigkeit gleichgesetzt. Ein „neues Denken“ im Sinne einer moralischen Umkehr in der Sowjetunion und ein „neues Denken in der Außenpolitik“ wurden im Frühjahr 1987 eingeleitet. Aus dem „Tauwetter“, dem Rinnsal der ersten Jahre, wurde nun ein Fluß, der bald über die von oben gewünschten Ufer trat. Der offiziell gewährte Freiraum war allerdings noch nicht so groß, daß man von einer wirklichen Demokratisierung sprechen konnte. Noch war man auch mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zu stark beschäftigt. Erst 1988 erreichte „Glasnost“ eine weitere Stufe. Im April wurde der Versuch einer Teilrehabilitierung Stalins verurteilt und auch den Religionsgemeinschaften „Glasnost“ zugesichert. Schließlich bot die XIX. Parteikonferenz Ende Juni 1988 eine so offene Diskussion über die Mißstände im Land, wie sie niemand bis dahin erwartet hatte.
Immer noch befanden sich aber die Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen im Befehlsstrang, von Staatskomitees, immer noch existierte die Zensur. In den Rahmen der von oben gewünschten „Glasnost“ paßten die sich häufenden Berichte über Mißstände in Wirtschaft und Handel; sie wurden ergänzt durch Informationen und Berichte über katastrophale Verhältnisse in Krankenhäusern, Kinderheimen oder Waisen-Verwahranstalten. Das Schutzschild für die Nomenklatura fiel.
Es begann aber auch eine Differenzierung der Printmedien in kühnere und konservative: Die frü5 her eher langweilige Illustrierte „Ogonjok" griff sehr unbekümmert die verschiedensten Mißstände auf. Die mehrsprachig erscheinenden „Moscow news“ näherten sich immer mehr einem westlichen Journalismus. Die Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften verschoben sich zugunsten der kritischen Organe. Wie schwankend der Boden aber noch war, zeigte sich am Beispiel der „Sowjetskaja Rossija“. Sie hatte -im Zuge der Zeit -Mißstände angeprangert und wurde bereits zu den fortschrittlichen Organen gezählt. Am 13. März 1988 veröffentlichte sie jedoch einen Artikel der Leningrader Dozentin N. Andrejewa „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben“. Dieses Anti-Perestroika-Manifest wurde in der Sowjetunion für einen offiziellen Bremsbefehl für „Glasnost“ gehalten, bis die „Prawda“ ihn am 5. April 1988 zurückwies. Der Rundfunk, der weitgehend zur Geräuschkulisse geworden war, verbesserte seine Informationssendungen über das In-und Ausland. Kühne Journalisten forderten, man solle nun endlich auch über die „kapitalistischen“ Länder korrekter und umfassender berichten. Das Fernsehen mit seiner Reihe „Scheinwerfer der Perestroika“ und der Ausstrahlung bisher verbotener Streifen paßte sich der Entwicklung an, ohne jedoch allzu kühne Vorstöße zu wagen. Während also bei den Allunionsmedien sich „Glasnost“ ausbreitete, blieb die Entwicklung in den Unionsrepubliken, Regionen und Städten zurück. Die Ortsgewaltigen übten dort nach wie vor ihre Zensur aus.
Das Signal für eine neue Stufe von „Glasnost“ war die Freigabe des Films von D. Abuladse „Die Reue“. Diese 1984 hergestellte Abrechnung mit der Stalinzeit kam im Januar 1987 in die Theater und wurde zur Sensation. Auf dem Januar-ZK-Plenum 1987 hatte Gorbatschow soeben den Weg zur Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit freigegeben. Diese Vergangenheitsbewältigung entglitt jedoch der zunächst beabsichtigten Kontrolle von oben. Es war bald nicht mehr möglich, alle Mängel und Verbrechen auf Stalin oder Breschnew abzuwälzen So wurde auch nach der Rolle Trotzkis während und nach der Revolution gefragt, Berichte über die Ermordung der Zaren-familie erschienen. Und schließlich konnte man die Frage nach der Bedeutung der orthodoxen Kirche für die Entstehung des russischen Staates, für seine Kultur und Entwicklung nicht mehr der Interpretation der Atheismus-Funktionäre überlassen. O. Mandelstam und B. Pasternak wurden rehabilitiert, A. Rybakows Roman „Die Kinder des Ar-bat“ (eine Abrechnung mit der Stalinschen Verfolgung) wurde zum Bestseller in der Sowjetunion. Dann wagte man sich auch an Werke von im Ausland Verstorbenen. V. Grossmans großer Roman „Leben und Schicksal“ wurde gedruckt und sogar von der „Prawda“ mit allerdings zurückhaltender Wertung besprochen. Aus den Archiven kamen nach und nach die verbotenen Filme ans Tageslicht. Ein Jahr nach Aufführung des Abuladse-Films „Die Reue“ griff A. Proschkin in seinem Film „Der kalte Sommer des Jahres 1953“ das Thema der Demoralisierung der Menschen in der Stalinzeit auf. Eine Bande amnestierter Krimineller terrorisiert -nach dem Tode Stalins -ein einsames Dorf. Zwei politisch Verbannte retten die Dorfbewohner. Der Dokumentarfilm von J. Podmieks „Ist es leicht, jung zu sein?“ leitete eine Reihe von Filmen ein, die sich mit dem Leben der desorientierten Jugendlichen befaßten.
Seit dem Herbst 1987 wurde auch die atheistische Propaganda immer mehr zurückgenommen. Am 29. April 1988 empfing Gorbatschow den Patriarchen Pimen und sicherte den Gläubigen in der Sowjetunion „Demokratisierung“ und „Glasnost“ zu. Die Massenmedien reagierten sofort. Seitdem ist die atheistische Propaganda in Broschüren abgewandert, während die Massenmedien nicht nur über die Millenniumsfeiern, sondern über die verschiedensten Aktivitäten der Religionsgemeinschaften positiv berichteten.
Die „informellen“ Gruppen vermehrten sich, schlossen sich zusammen, bildeten politische Gruppierungen. Gleichzeitig verschärften sich die Nationalitätenkonflikte; die sowjetischen Massenmedien in Moskau berichteten hierüber nur unvollständig, teilweise verfälscht. Gruppen, partei-artige Zusammenschlüsse bis hin zu den Nationalitäten beriefen sich auf „Glasnost“, während man in Moskau immer noch ein Mehrparteiensystem entschieden ablehnte. Das Wahlverfahren für die XIX. Parteikonferenz konnte deshalb nicht demokratisch sein; daher wurde auf der Konferenz teilweise Kritik geübt, die kurz vorher noch Zwangsarbeit oder Einweisung in eine psychiatrische Klinik nach sich gezogen hätte. U. a. forderte ein Parteisekretär die Ablösung des Staatsoberhauptes Gromyko.
Die Proklamierung des „neuen Denkens in der Außenpolitik“ im Frühjahr 1987 leitete einen Abbau des Feindbildes vom kapitalistisch-imperialistischen Westen ein. Mitte Januar 1987 wurden die Störungen von BBC/London eingestellt. Harte Kritik wurde in den Medien geübt, daß man in den vergangenen Jahren verfälschend über Afghanistan berichtet hätte. Fernsehbrücken ins kapitalistische Ausland gewährten einen ersten Einblick über die Grenzen in den Westen hinein.
V. Die Verselbständigung von „Glasnost“ (1988/89)
Abbildung 5
Quelle: Iswestija, 24. 9. 1990.
Quelle: Iswestija, 24. 9. 1990.
Die XIX. Parteikonferenz im Sommer 1988 stand am Beginn der dritten Etappe von „Glasnost“. Nun ging es nicht mehr nur um die Mißstände der Gegenwart und die Schuldigen in der Vergangenheit; in den Vordergrund geriet jetzt die Frage, wie das System selbst verändert werden müsse. „Glasnost“ von oben und verselbständigte „Glasnost“ von unten stießen aufeinander, boten unterschiedliche Lösungen an, bekämpften sich teilweise
Als Übergang zur nächsten Etappe kann man den Dezember 1989 ansehen. Der Volksdeputiertenkongreß erklärte zu diesem Zeitpunkt nicht nur das geheime Zusatzabkommen des deutsch-sowjetischen Vertrages (1939) für null und nichtig, sondern verurteilte auch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Ferner wurde ein Gesetzentwurf über die Presse veröffentlicht. Und schließlich war im Dezember 1989 erkennbar, daß die Kommunistische Partei auf ihre in der Verfassung garantierte Führungsrolle würde verzichten müssen. Der Zusammenbruch des Sozialismus in den „Bruderstaaten“ stand wie ein Menetekel an der Wand. Der Publizist I. Kljamkin sagte dazu in einem Interview, welches das sowjetische Fachorgan „Journalist“ abdruckte, u. a.: „Aber 1989 hat alles auf den Kopf gestellt. Ich meine die Ereignisse in Ungarn und Polen. Jetzt wurde klar, daß die Frage nach der Parteienvielfalt für die herrschende Monopolpartei nicht nur möglich ist bzw. nicht gefährlich, sondern rettend. Unter den Verhältnissen eines totalitären Systems entschied die Partei, sie trug jedoch nicht die Verantwortung. Verantworten mußten sich andere -die örtlichen Organe, die Wirtschaftsleute, kurz, die Ausführenden... Unter den Verhältnissen von Glasnost läßt sich die Verantwortung nicht maskieren, man kann sie nur teilen, und das nur, wenn man gleichzeitig die Macht teilt...“
Doch auch in dieser Etappe ließ die Transparenz der obrigkeitlichen Entscheidungen zu wünschen übrig. Wie und durch wen war z. B. entschieden worden, im April 1989 110 ZK-Mitglieder in Pension zu schicken? Die Rede Gorbatschows vor den „Leitern der Massenmedien“ am 13. Oktober 1989 wurde nicht veröffentlicht. Sie war Warnung und Rüffel zugleich, wie Teilnehmer berichteten. Was in Moskau noch an begrenzter Geheimhaltung praktiziert wurde, war fern der Hauptstadt in der Provinz selbstverständlich: Die Kritik an Wirtschaftsmängeln und sozialen Notständen, die Berichte über korrupte Nomenklatura-Angehörige waren inzwischen alltäglich geworden Schüchtern tauchte nun auch das Frauenproblem auf. Die Veröffentlichung von Meinungsumfragenergebnissen wurde üblich und damit teilweise für die politische Führung bedrohlich. Der Deckel, der bisher nur vorsichtig von der Vergangenheit gelüpft worden war, wurde nun entfernt Denkmäler für die Opfer der Stalinzeit wurden errichtet. Es ließ sich nicht mehr verbergen, was Hitler und Stalin 1939 vereinbart hatten. Vorsichtig wurde am Blattgold des Leninkultes gekratzt: War er nicht Urheber der ganzen Misere gewesen?, wurde gefragt. Der „Große Vaterländische Krieg“ mit den sowjetischen Heldentaten wurde allerdings noch vor Kritik bewahrt.
Die Zeitungen und Zeitschriften bezogen klare Positionen und begannen, sich untereinander zu bekämpfen. Zur „liberalen“ Gruppe gehören u. a. „Trud“, „Argumenty i fakty“, „Sobesednik“, „Moskowskie nowosti“, die Zeitschriften „Ogonjok“, „Nowy mir“, „Druschba narodow“. Eine eher konservative Richtung haben „Prawda“, „Krasnaja swesda“, „Sowjetskaja Rossija“, die Zeitschriften „Nasch sowremennik“, „Molodaja gwardija“ und „Moskwa“. Vergeblich versuchte Gorbatschow, die verschiedenen Flügel auf den von ihm gewünschten Mittelkurs zu zwingen. Ein Versuch im Jahre 1988, durch Auflagebeschränkungen die kühneren Printmedien zurückzudrängen, war am lauten Protest der Betroffenen gescheitert. Auch die Nachrichtensendungen des sowjetischen Rundfunks wurden ehrlicher, das Programm bunter. Nachdem die Störung der bis dahin verketzerten Auslandssendungen eingestellt worden war, hatte der sowjetische Rundfunk eine gefährliche Konkurrenz bekommen. Das sowjetische Fernsehen begann in diesem Zeitraum, durch Neueinrichtung von regionalen Studios das Zentralprogramm zu ergänzen. Die Fernsehübertragung von Sitzungen des Volksdeputierten-Kongresses waren „Straßenfeger“. Kühne Dokumentarfilme, die sich nicht nur mit der Vergangenheit befaßten, Sendungen wie das „Fünfte Rad“ (Leningrad) haben die Glaubwürdigkeit des Fernsehens erhöht. Wie Befragungen zeigen, gilt das Hauptinteresse den Nachrichtensendungen. Aus den baltischen Republiken und aus Georgien kamen allerdings harte Vorwürfe, daß das Zentral-Fernsehen nicht objektiv sei.
Im Schutz von „Glasnost“ wurden die Bilder bisher verfemter Künstler gezeigt (z. B. K. Malewitsch). Zeitschriften wagten den Abdruck von Werken vertriebener Schriftsteller. So begann „Snamja“ im Februar 1988 mit dem Abdruck von G. Wladimows „Die Geschichte vom treuen Hund Ruslan“. Die „Filmtresore“ wurden geräumt bzw. die dort lagernden Filme gezeigt. Die große Film-sensation war jedoch der Film „Die kleine Vera“, weil darin erstmals ein Geschlechtsakt in einem sowjetischen Film gezeigt wurde. Ein Kritiker charakterisierte bissig, was damals als moderner Film in der Sowjetunion galt: „Das ist, wenn ein nacktes Mächen vor einem Stalinbild sitzt und Marihuana raucht.“
Die Religionsgemeinschaften wurden in den Zentralmedien nicht mehr diffamiert, sondern mit deutlichem Wohlwollen berücksichtigt. Die Ein-fuhr von Bibeln wurde gestattet, das litauische Fernsehen strahlte sogar religiöse Sendungen aus. Die katholische Kirche konnte in Lettland und Litauen Kirchenzeitungen herausbringen. Nach wie vor ungeklärt ist die Lage der katholischunierten Kirche in der Ukraine. Hier spielt der Widerstand des Moskauer Patriarchats eine entscheidende Rolle.
Die Nationalitätenkonflikte spitzten sich zu; die Souveränitätsforderungen vor allem der baltischen Staaten beunruhigten Moskau. Der Einsatz von Giftgas durch Sondereinheiten am 9. April 1989 in Tiflis wurde bis zum Dezember 1989 heftig von den Volksdeputierten kritisiert und diskutiert. Volks-fronten entstanden in mehreren Republiken, zogen mit nationalen Symbolen durch die Straßen. Die litauische Kommunistische Partei erklärte sich für selbständig. Sozusagen am anderen Flügel der „Glasnost“ tauchten lautstark russisch-nationalistische Gruppen auf; unter ihnen ist vor allem „Pamjat“ bekannt geworden. Alle diese Richtungen und Strömungen setzten Medien für ihre Ziele ein, teils Samisdat-Erzeugnisse, teils aber auch offiziell zugelassene Medien. Immer wieder wurden bei den Auseinandersetzungen die Zentralmedien beschuldigt, falsch aus den Unionsrepubliken berichtet zu haben.
Die Ausweitung von „Glasnost“ erreichte in diesem Zeitabschnitt auch die Streitkräfte. Es wurde über Soldatenmißhandlungen, Selbstmorde, Desertionen usw. berichtet. Weitgehend abgeschirmt blieben jedoch der KGB und die damalige Außenpolitik. Auch Kritik an der politischen Führung wurde in den Medien nur zögerlich vorgebracht. Die Zensur funktionierte noch. Die Miliz ging ab und zu gegen „informelle“ Gruppen vor und beschlagnahmte Material in den Redaktionen des Samisdat.
Im Zusammenhang mit der auswärtigen Politik der Sowjetunion und ihren Abrüstungsvorschlägen wurden Ende 1988 die Störungen der Auslandssender eingestellt. Die sowjetischen Journalisten bemühten sich um eine möglichst objektive Berichterstattung über das Ausland. Sowjetische Printmedien druckten Texte von einst als „Antikommunisten“ geschmähten Ausländern ab. Die Berichterstattung über die sozialistischen Bruderstaaten schwenkte vom bisher geforderten ständigen Lob auf eine nüchterne Registrierung politischer Vorgänge um.
Gorbatschow bezeichnete in seinem Schlußwort am 4. August 1989 die erste Sitzungsperiode des neuen Obersten Sowjet als „Beginn des Parlamentarismus in der Sowjetunion“. Das war nicht ganz zutreffend, denn im Parlament rangen ja nicht Vertreter verschiedener Parteien miteinander, sondern Mitglieder einer Partei. Seit dem Sommer des Jahres 1989 bildeten sich jedoch überregionale oppositionelle Gruppen unter den Volksdeputierten und den Deputierten des Obersten Sowjet. Innerhalb der Partei bildeten sich Fraktionen, die man als „Plattformen“ bezeichnete. Die Bezeichnung „Fraktion“ wurde nicht verwendet, weil einst unter Lenin die Fraktionsbildung in der Partei strikt untersagt worden war.
Als das Jahr 1989 zu Ende ging, da zeigte sich -als Ergebnis der mutigen Inanspruchnahme von „Glasnost“ -, daß die Kommunistische Partei kein Monolith mehr war. Der Volksdeputierte S. Stankewitsch schrieb in einem Artikel im Jahre 1989 u. a.: „Die wichtigste Frage, zu der die Vertreter der verschiedenen Plattformen unterschiedliche Auffassungen haben, ist die der Macht. Gegenwärtig findet ein Prozeß der Umverteilung der Macht statt, zumindest hat er begonnen. Und natürlich wird das von denen, die lange Zeit diese Macht uneingeschränkt in ihren Händen hielten, nicht gerade begrüßt. Erstmals in der Geschichte unseres Landes steht ihnen eine noch nicht besonders straff organisierte, aber durchaus festumrissene Gruppe von Menschen gegenüber, die erklären, gewillt zu sein, jene Kategorien von Machthabern zwar allmählich und behutsam, ohne überflüssige Hast, aber doch konsequent aus ihren Positionen im gesellschaftlichen System zu verdrängen, da sie diese Positionen nicht rechtmäßig innehaben.“ 1985 hätte diese mutige „Glasnost“ noch die Freiheit gekostet.
VI. „Glasnost“ als zweischneidiges Schwert
Abbildung 6
Quelle: Krokodil, Nr. 9/89. PwcyHoK M. HOBMKOBA
Quelle: Krokodil, Nr. 9/89. PwcyHoK M. HOBMKOBA
Die Übergänge zwischen den „Glasnost“ -Etappen sind fließend. Man könnte diese Etappe auch mit dem Herbst 1989 beginnen lassen, da auf dem ZK-Plenum im September 1989 mit ungewöhnlichem Öffentlichkeitsaufwand die Nationalitätenfrage diskutiert wurde Im Herbst 1989 wurde auch das traditionelle gesellschaftspolitische Lehrfach der marxistisch-leninistischen Philosophie in das allgemeine Fach „Philosophie“ umgewidmet 1989 erschien der „Versuch eines Wörterbuchs des neuen Denkens“, ein Buch, in dem sowjetische und französische Autoren neue Interpretationen politischer Begriffe (wie z. B. Kolonialismus, Sozialismus, Glasnost, Menschenrechte) vorlegten Das Jahr 1990 unterscheidet sich -jedenfalls unter dem Blickwinkel von „Glasnost“ -prinzipiell von den vorhergehenden Entwicklungsabschnitten. Bisher war vieles zugelassen, geduldet oder gestattet worden, was vor 1987 noch als Vergehen oder Verbrechen bestraft worden war. Es gab bis dahin jedoch weder für die neu entstandenen parteiartigen Gruppierungen, noch für die Religionsgemeinschaften, noch für die Medien usw. rechtliche Absicherungen. Die gesetzlichen Regelungen des Jahres 1990 kann man als einen Versuch deuten, „Glasnost“ durch Dämme wenigstens in eine Richtung zu lenken, ehe der „Glasnost“ -Strom total außer Kontrolle gerät. Im Februar 1990 wurde auf dem ZK-Plenum vorgeschlagen, auf den Führungsanspruch der Partei zu verzichten, im März wurden die entsprechenden Verfassungsartikel geändert. Für nichtkommunistische Parteien, für ihre Thesen, Parolen und Medien war damit der Weg freigemacht. Am 1. August 1990 trat in der Sowjetunion das Gesetz „Über die Presse und die anderen Mittel der Masseninformation“ in Kraft Es beseitigte die Vorzensur und verbot die Behinderung der journalistischen Tätigkeit durch Amtspersonen. Darüber hinaus gestattet es die Schaffung von Massenmedien auch durch Privatpersonen. Am 1. Oktober 1990 wurde das lange versprochene Gesetz „Über die Freiheit des Gewissens und der religiösen Organisationen“ verabschiedet Dieses Gesetz garantiert den Gläubigen völlige Gleichstellung mit den Atheisten, den Religionsgemeinschaften die Anerkennung als juristische Personen, ihre gesellschaftliche Betätigung sowie eigenen Besitz usw. Die atheistische Propaganda soll nicht mehr vom Staat unterstützt werden.
„Glasnost“ ist zum zweischneidigen Schwert geworden, das von völlig verschiedenen Gruppen geschwungen wird. Die Massenmedien in den baltischen Republiken kümmern sich schon seit längerer Zeit nicht mehr um die Moskauer Wünsche. Wie die informellen Vereinigungen „Glasnost“ einzusetzen wagen, zeigte sich am 4. Februar 1990, als 200000 Menschen in Moskau demonstrierten. Es war die größte, nicht vom Staat organisierte Demonstration seit der Oktoberrevolution. Die öffentliche Kritik an den Wirtschaftsproblemen, die Berichte über notleidende Sowjetbürger, über Prostitution und das Anwachsen der Kriminalität, über die Umweltzerstörung sowie weitere Veröffentlichungen über Verbrechen der Stalinzeit gehörten 1990 bereits zum Alltag. Auch im militärischen Bereich gab die Zensur einige Fakten zur Veröffentlichung frei, so z. B. über den sowjetischen Waffenhandel. Bei der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit wurde 1990 selbst Lenin nicht mehr ausgespart. Die Zentralmedien umgehen jedoch weiterhin Themen, die mit dem „Großen Vaterländi-sehen Krieg“ und seinen Folgen Zusammenhängen. Dazu gehört vor allem die Annexion des Baltikums oder der sowjetische Griff nach dem iranischen Teil Aserbaidschans.
Der Beitrag der Kunstschaffenden zu „Glasnost“ trägt eher düstere Farben. Helen von Ssachno hat eine Besprechung von drei sowjetischen Romanen zu diesem Thema mit dem Titel versehen: „Trilogie des Untergangs“ Das alles überragende Ereignis ist jedoch die Rückkehr der Werke Solschenizyns. Eine Sensation war im September 1990 der Abdruck eines Entwurfs Solschenizyns für die „Wiedererrichtung Rußlands“ in den beiden Allunionszeitungen „Komsomolskaja prawda“ und „Literaturnaja gaseta“ Die atheistische bzw. an-tireligiöse Propaganda ist aus den Allunionsmedien verschwunden, ebenso das Feindbild der kapitalistischen Mächte. Nur in den Streitkräften wehrt man sich noch dagegen. Die Führung der sowjetischen Streitkräfte konnte bisher auch noch die Auflösung der Politorgane verhindern.
Die innersowjetischen Feindbilder zwischen den politischen Gruppierungen, zwischen den Unionsrepubliken und dem Zentrum, zwischen einzelnen Nationalitäten oder zwischen den liberalen und konservativen Massenmedien vermehren sich hingegen wie Spaltpilze. Diese Feindschaften sind zwar nicht neu, aber im Schutze von „Glasnost“ können sie in den offiziellen und inoffiziellen Medien, in Demonstrationen, ja sogar in blutigen Auseinandersetzungen laut und nachdrücklich artikuliert werden. Sowjetische Karikaturen machen sich darüber lustig, indem sie die Kontrahenten um eine bessere Zukunft als prügelnde Bande darstellen. Die Spaltung der Kommunistischen Partei in mehrere Flügel, der Austritt prominenter Politiker aus der KPdSU bzw. die Begründungen hierfür beweisen, daß der Spaltpilz auch vor der einstmals „führenden Kraft“ nicht haltgemacht hat. Alle 15 Unionsrepubliken erklärten ihre Souveränität.
Die Konfrontation zwischen „liberalen“ und „konservativen“ Printmedien hat sich zugespitzt. Das neue Pressegesetz wurde von kühnen Redaktionen genutzt, um sich selbständig zu machen. So haben sich z. B. „Moskowskie nowosti“ und „Sobesednik“ ganz auf eigene Füße gestellt. Dementsprechend scharf ist auch die „Glasnost“ dieser Organe. Da die Printmedien sich demnächst selbst finanzieren müssen, werden ihre Verkaufspreise angehoben. Die Folge ist ein allgemeiner Auflagen-rückgang. Rundfunk und Fernsehen sollen organisatorisch aus ihrer engen Verklammerung mit der Partei und der Moskauer Zentrale gelöst werden. Beim Rundfunk wird sich das in einer stärkeren Berücksichtigung der Probleme der einzelnen Unionsrepubliken äußern und der Zurückweisung einer zentralen Lenkung. Das Fernsehen wird ebenfalls verstärkt die Wünsche der Unionsrepubliken berücksichtigen. Derzeitige Umbesetzungen bei den höchsten Medienfunktionärspositionen (TASS, Printmedien, Rundfunk und Fernsehen) scheinen ein Versuch der politischen Führung zu sein, ein völliges Auseinanderbrechen zu vermeiden.
Konservative Medien wettern gegen den „Mißbrauch“ von „Glasnost“. Das Akademiemitglied A. Samsonow beklagte in seinem „Prawda“ -Artikel vom 25. November 1990 „Wo liegt die Wahrheit?“, daß Printmedien, Fernsehen, Filme und
Theaterstücke sich zuerst und vor allem mit den „tragischen Seiten der vaterländischen Geschichte“ befassen, daß Lenin angegriffen wird, die Oktoberrevolution in Frage gestellt, die sowjetischen Streitkräfte als „Okkupanten“ des Baltikums bezeichnet werden.
Die gesetzlichen Regelungen des Jahres 1990 haben die Chancen für die Verwirklichung der Meinungs-und Pressefreiheit verbessert. Noch ist sie jedoch nicht erreicht; die Vorzensur ist abgeschafft, die Nachzensur geblieben. Den Redaktionen wird geraten, die einstigen Vorzensoren als „Berater“ zu behalten, um Fehlveröffentlichungen zu vermeiden. Inzwischen ist auch wieder ein Handbuch erschienen, das aufzählt, worüber nicht berichtet werden soll -weil es sich angeblich um Staatsgeheimnisse handelt. Gorbatschow selbst hat seine Person durch eine Verordnung zum Ehren-schutz des Präsidenten abgesichert und die Denkmäler Lenins durch eine Verordnung zum Schutz von historischen Denkmälern.
Die Journalisten fordern -über das Pressegesetz hinaus -ein spezielles Gesetz für ihre Tätigkeit und ihren Schutz. Auch die „Transparenz“ der obrigkeitlichen Entscheidungen ist noch ungenügend. In den „Moskowskie nowosti“ (Nr. 8/90) konnte man lesen: „In den wolkigen Höhen sind jedoch viele Gipfel von dichtem Schleier umhüllt. Vor allem dann, wenn es um die Annahme von Entscheidungen geht. Diejenigen, die die reale Macht im Lande haben, dürften keine Geheimnisse vor dem Partner haben, nachdem das Volk zum Partner der Perestroika geworden ist.“
Während also die einen fürchten, das „zweischneidige Schwert Glasnost“ könne das gesamte System unterhöhlen und das Riesenreich ins Chaos stürzen, fürchten andere, „Glasnost“ sei bereits zum stumpfen Schwert geworden. Statt Worten werden Taten gefordert. Für das bereits erwähnte Buch „Versuch eines Wörterbuchs des neuen Denkens“ hat Leonid Batkin einen Beitrag „Glasnost, Pressefreiheit“ geschrieben Seine kritischen Anmerkungen sollen diese Abhandlung über „Glasnost“ abrunden: „Glasnost ist die wichtigste Voraussetzung für tief-greifende Änderungen in der sowjetischen Gesellschaft. Man darf jedoch, wenn man die gewaltigen Erfolge der Perestroika anerkennt, die von ihr hervorgebrachten Probleme nicht übersehen. Erstens wird Glasnost keineswegs von feststellbaren Fortschritten in anderen sozialen Bereichen, vor allem im Wirtschaftsbereich, begleitet... Zwei-tens ist Glasnost in der UdSSR ziemlich unvollständig geblieben, erfaßt nicht die höchsten Ebenen der Hierarchie und viele äußerst wichtige Probleme... Für eine radikale Perestroika der Gesellschaft ist die Tatsache gefährlich, daß Glasnost, wenn sie für lange Zeit auf dem gegenwärtigen Anfangsstadium festgehalten wird, sich in eine modernisierte Form der Stagnation, in ein , Dampfablassen’ verwandeln kann. Es ist gut, daß die Presse nicht mehr als Stimme von oben, die Direktiven gibt, verstanden wird, die Bürokraten hingegen beachten ihre Kritik nicht.“
VII. Rückschläge für „Glasnost“
Ende 1990, als dieses Manuskript abgeschlossen war, konnte man bereits erkennen, daß Gorbatschow bei den Konservativen Rückhalt suchte. Der Rücktritt des Außenministers Schewardnadse sollte eine Warnung sein. Ende 1990 begann die politische Führung, die unbequemen Massenmedien zu warnen oder zu behindern. Glasnost wurde gestoppt. Von Transparenz der obrigkeitlichen Entscheidungen kann man seither nicht mehr reden. Wer z. B. für den Truppeneinsatz im Baltikum verantwortlich zeichnete, blieb bis heute verborgen.
Am 23. Januar 1991 machte Gorbatschow den Versuch, das Pressegesetz zeitweilig aufzuheben, um die Medien zur „objektiven Berichterstattung“ zu zwingen. Dies ist ihm zwar nicht gelungen, jedoch wurde das sowjetische Fernsehen gezwungen, brav und einseitig im herkömmlichen obrigkeitlichen Sinne zu berichten. Bezeichnend ist, daß das Ziel beim Einsatz der Truppen im Baltikum zuerst ein Griff nach den Massenmedien war.
Der Chef von Rundfunk und Fernsehen, L. Krawtschenko, hat die obrigkeitliche Funktion von Gostelradio öffentlich gerechtfertigt. Der Versuch des Leningrader Fernsehens, sich selbständig zu machen, wurde bisher abgeblockt. Gorbatschows Erlaß vom 8. Februar 1991 hat Gostelradio in eine Allunions-Fernseh-und-Rundfunkgesellschaft verwandelt und sich diese praktisch unterstellt. Erste Versuche, sich in die Angelegenheiten von Print-medien einzumischen, hat es ebenfalls schon gegeben, so z. B. bei der „Iswestija“. Alle Printmedien hängen nach wie vor am „Tropf“ der staatlichen Papierzuteilung.
Die Situation in den Unions-Republiken wird durch die jeweiligen neu gewählten Parlamente bestimmt. Von Moskau will man nicht mehr kommandiert werden. Während in einigen Republiken vehement die Freiheit der Presse gefordert wird, wird in anderen Republiken versucht, nun selber die Medien im eigenen Machtbereich zu kontrollieren
Paul Roth, Dr. phil., geb. 1925; zuletzt Professor für Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität der Bundeswehr München; seit 1. 7. 1990 im Ruhestand. Veröffentlichungen u. a.; SOW-INFORM, Nachrichtenwesen und Informationspolitik der Sowjetunion, Düsseldorf 1980; Die kommandierte öffentliche Meinung. Sowjetische Medienpolitik, Stuttgart 1982; Cuius regio -eius informatio. Moskaus Modell für die Weltinformationsordnung, Graz-Wien-Köln 1984; 5 Jahre Religions-und Kirchenpolitik unter Gorbatschow, München 1990; Glasnost und Medienpolitik unter Gorbatschow, Bonn 1990.
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