Zur Neukonstellation der Mächte in Europa. Transformation der Bündnisse -Rüstungskontrolle -Sicherheit
Heinz Magenheimer
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Zusammenfassung
Die militärische und politische Auflösung des Warschauer Paktes bringt eine wesentliche Minderung der bisher vom östlichen Bündnis ausgehenden Bedrohung, gleichzeitig bewegen sich die Staaten Ostmitteleuropas in Richtung militärischer Neutralität; sie müssen sich, ob gewollt oder nicht, zunächst mit der Rolle von Pufferstaaten abfinden. Wenn auch die UdSSR auf absehbare Zeit eine militärische Weltmacht bleibt, trifft dieser Status auf die übrigen Sektoren nicht zu. Auf Grund der enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Instabilitäten kann sie nur den Rang einer europäischen Großmacht beanspruchen. Die Wiederaufnahme einer offensiven Außen-und Militärpolitik erscheint derzeit so gut wie undurchsetzbar. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-I-Vertrag), anläßlich des Pariser Gipfel-treffens am 19. November 1990 unterzeichnet, bedeutet das größte Abrüstungsvorhaben der jüngeren Geschichte, das aber vor einer Aushöhlung bzw. Umgehung bewahrt werden muß. Vorerst kann die Sicherheit Europas nur von bereits bewährten Institutionen gewährleistet werden, wobei das geopolitische Gewicht der einzelnen Nationen vorrangig für die künftige Neukonstellation Europas sein dürfte.
I. Einführung
Die politischen Umwälzungen in Ostmitteleuropa 1989/90, die deutsche Einheit und der Pariser KSE-Vertrag vom 19. November 1990 sind die wichtigsten Marksteine, die eine Neukonstellation der Mächte unter sicherheits-und geopolitischen Aspekten bewirkt haben. Bezeichnenderweise ist es der französische Historiker Jacques de Launay gewesen, der im Herbst des Vorjahres die Zurück-gewinnung der vollen Souveränität Deutschlands als das Ende des Zweiten Weltkrieges bezeichnet hat; die schlechte Nachricht sei jedoch: „Die Sieger sind Deutschland und Japan“
Diese für viele andere beispielhafte Einschätzung der Konstellation in Europa, die man durchaus auch mit einem neuen militärischen Lagebild vergleichen kann, wirft zahlreiche Fragen auf den einzelnen Ebenen, aber auch in einzelnen Politikfeldern auf: Welchen Einfluß hat die Neuverteilung der Gewichte für die Zukunft der Bündnisse? Welchen Beitrag kann die Rüstungskontrolle für die Verbesserung der Stabilität und der Sicherheit leisten? Hinken nicht die Abrüstungsschritte hinter der „Realpolitik“ her? Welche Konsequenzen hat eine schrittweise zerfallende Sowjetunion für die Neuorientierung der Staaten Ostmittel-und Südosteuropas? Kann Deutschland als neues geopolitisches Schwergewicht Mitteleuropas den Einigungsprozeß Europas beschleunigen? Wo liegen überhaupt die politisch-militärischen Grenzen Europas
II. Zur Zukunft der Militärbündnisse in Europa
Seit dem Herbst 1989 hat die Sowjetunion des öfteren die unverzügliche Auflösung beider Pakt-gruppen vorgeschlagen; sie befindet sich hiermit in der Rolle eines Maklers, der unter immer ungünstigeren Bedingungen sein Angebot erneuert. Der immer massiver werdende Druck der Staaten Ostmitteleuropas in Richtung Aufkündigung der Mitgliedschaft im Warschauer Pakt führte Anfang November 1990 zur Ankündigung des Zentralkomitees der KPdSU einer baldigen Auflösung des Oberkommandos und des vereinigten Stabes in Moskau. Die laufenden sowjetischen Truppenrückzüge aus der CSFR und Ungarn, die Ende Juni 1991 ihren Abschluß finden sollen, sowie die radikale Änderung bzw. Abschwächung der bisherigen Bedrohungsbilder bringen vor allem Polen, die CSFR und Ungarn in die Lage einer Äquidistanz zwischen NATO-Europa und der UdSSR. Dieses neue „Zwischeneuropa “ wird somit immer mehr zu einer geopolitischen Pufferzone. Die Möglichkeit einer künftigen blockfreien Großregion zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer erscheint durchaus realistisch.
Die seit dem 13. Januar erheblich verschärfte Lage in den baltischen Republiken rief insbesondere in Prag Erinnerungen an den August 1968 wach, so daß man Polen und Ungarn vorschlug, gemeinsam unverzüglich den Austritt aus dem östlichen Bündnis zu vollziehen. In Reaktion auf den Wunsch, die Militärorganisation des Warschauer Paktes noch vor dem vorgesehenen Zeitpunkt (30. Juni 1991) aufzulösen, wurde auf Vorschlag des sowjetischen Staatspräsidenten der 1. April festgelegt und auch eingehalten. Die Auflösung des politischen Bündnisses soll spätestens bis zum März 1992, dem Beginn des KSZE-Folgetreffens in Helsinki, vollzogen sein
Allerdings erscheint es wenig aussichtsreich, Ungarn, der SFR und Polen Chancen auf eine Voll-mitgliedschaft in der NATO einzuräumen. Auch der erfolgte Beitritt Ungarns als „assoziiertes Mitglied“ des Europarates wird daran mittelfristig nichts ändern. Die mehrmals unternommenen Versuche, über Regionalabkommen in Ostmitteleuropa zu einer eigenständigen Kooperation in der Sicherheitspolitik zu kommen, sind auf Grund zahlreicher politischer Konflikte (man denke nur an die Kontroverse um die Minderheit der 600 000 Ungarn in der Slowakei) mit Vorbehalten verse-hen. Daneben lassen die Bemühungen Polens, sich Westeuropa bzw.der EG anzunähern, die Absicht erkennen, die geopolitischen Nachteile der „Pufferzone“ zu überwinden Auf jeden Fall sieht Polens Verteidigungsminister in der militärischen Neutralität den gegebenen Status Warschaus für die nächsten Jahre, wobei sich eine verstärkte Zusammenarbeit in Mitteleuropa von selbst anbiete
Von NATO-Seite wurde Anfang April Tendenzen von Polen und der SFR entgegengetreten, sich um eine Mitgliedschaft in der NATO zu bemühen.
Man erkennt hier ein sich neu knüpfendes Netz von Interaktionen und gegenseitigen Abhängigkeiten, das vorerst vom Streben nach weiterer Emanzipation der Staaten Ostmitteleuropas von Moskau und nach Beschleunigung des sowjetischen Truppenabzuges aus Polen und der Bundesrepublik Deutschland geprägt wird. Im internationalen Beziehungsgeflecht erhalten die jüngsten Annäherungsschritte zwischen Polen und der Ukraine bzw. Weißrußland eine zukunftsweisende Qualität, wobei es sich gleichsam um zwischenstaatliche Aktionen über den Kopf der Unionsregierung in Moskau hinweg handelt Außerdem steht die Wiedergewinnung von wirtschaftlicher Leistungskraft im Mittelpunkt der Reformbemühungen der Staaten Osteuropas, so daß die ökonomischen Faktoren deutlich die sicherheitspolitischen Beziehungen überlagern.
Der Beobachter steht vor der Erscheinung, daß die östlichen Systeme in den „Sog der geschichtlichen Veränderungen“ 8) geraten sind, so daß man sich fragen muß, ob die Entscheidungen auf den einzelnen Feldern nicht hinter der politischen Realität herhinken. Dies gilt vor allem für den Prozeß der Rüstungskontrolle, der ab dem März 1989 immer mehr die Züge eines Abrüstungswettlaufs angenommen hat.
Man kann sich durchaus der Ansicht einiger Kommentatoren anschließen, wonach das östliche Bündnis -nunmehr eine „leere Hülse“ 9) -vor dem endgültigen Zerfall stehe und daß auch eine politische Wiederbelegung der bilateralen Bündnisse zwischen Moskau -vor dem endgültigen Zerfall stehe und daß auch eine politische Wiederbelegung der bilateralen Bündnisse zwischen Moskau und den einzelnen Staaten Ostmitteleuropas kaum denkbar erscheine. Im Gegenteil: Es drohen Spannungen zwischen der UdSSR und Polen, da sich beide Staaten nicht auf ein Transitabkommen für die Rückführung der sowjetischen Verbände aus dem Gebiet der ehemaligen DDR einigen konnten. Die Absicht der polnischen Regierung, den Abzug sämtlicher sowjetischen Truppen aus Polen bis zum Jahresende 1991 zu erwirken, wurde damit sichtlich gefährdet, womit auch die Wünsche Polens hinsichtlich einer Abgeltung der Stationierungskosten ohne Resonanz blieben Anfang Februar 1991 drohte die Regierung in Warschau, daß man Transitgenehmigungen nur erteilen würde, wenn mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland auch der aus Polen einherginge; Polen bestand auf einer Abgeltung von 1 Mrd. DM. Gemäß sowjetischen Plänen sollen 1991 150000 Mann und 440000 t Material aus der ehemaligen DDR abgezogen werden. Zwischen Polen und der UdSSR bahnte sich ein Kompromiß an. Der Truppenrückzugsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR wurde seitens Moskaus am 2. April 1991 ratifiziert.
Es bestehen ferner Differenzen zwischen Moskau und der ÖSFR bzw. Ungarn, da noch keine Einigung über die Abgeltung der enormen Umwelt-schäden vorliegt, die von den lokalen Behörden erst nach Abzug der sowjetischen Verbände aus den bisherigen Standorten entdeckt worden sind. Die Zahlungsunwilligkeit der UdSSR wird mit der kostenlosen Überlassung militärischer Anlagen an die beiden Staaten begründet. Eine Abordnung des Obersten Sowjet unterstrich bei einem Besuch in Polen Anfang Januar die sowjetische Haltung sehr deutlich damit, daß man den Truppenabzug aus der ÖSFR und Ungarn überhastet durchgeführt hätte, was ein Fehler gewesen wäre. Dennoch kann man der Einschätzung zustimmen, daß mit Beendigung der sowjetischen Truppenrückzüge aus diesen beiden Staaten Ende Juni 1991 das verbleibende Potential der UdSSR in Deutschland und in Polen dermaßen begrenzt ist, daß man von keiner strategischen Bedrohung Mittel-und Westeuropas mehr sprechen kann
Anfang Februar 1991 lag folgender Stand der sowjetischen Stationierungskräfte vor:
Operative Gruppe Anzahl „Westgruppe der Streitkräfte“ /Deutschland: ca. 350000 Mann „Nördliche Gruppe der Truppen“ /Polen: 48 000 Mann „Zentrale Gruppe der Truppen“ /ÖSFR: 18 000Mann „Südliche Gruppe der Truppen“ /Ungarn: 28 000Mann Insgesamt: 444 000Mann In Anbetracht des ursprünglichen Streitkräftestandes vor Beginn der Reduktionen (ca. 583000 Mann) ergibt dies eine Verminderung um 23, 8 Prozent. Im Vollzug des Pariser KSE-I-Vertrages (Konventionelle Streitkräfte in Europa) wird es in den Folgeverhandlungen bis 1992 darauf ankommen, für jedes Land der 22 Konferenzteilnehmer verbindliche Mannschaftshöchstgrenzen der Streitkräfte festzulegen. Ein gewisses Fragezeichen liegt noch in der mangelnden Bereitschaft von Teilen des Obersten Sowjet der UdSSR, den KSE-I-Vertrag in der vorliegenden Fassung rasch zu ratifizieren.
In einigen Staaten Ostmitteleuropas haben sich ab Mitte 1990 Veränderungen in der Struktur und Dislozierung der eigenen Streitkräfte bemerkbar gemacht. So kam es in Polen und in der SFR zu einer erheblichen Senkung des Streitkräfteumfanges (auf etwa 300000 Mann in Polen und auf 150000 Mann in der SFR), darüber hinaus zu einer Neudislozierung der Großverbände auf Grund der prinzipiellen Änderung des Bedrohungsbildes: Die Armee der SFR begann mit der Auflösung des bisherigen operativen Schwergewichts gegenüber Süddeutschland und mit einer gleichmäßigen Verteilung der Verbände entlang der Landesgrenzen Bis Ende 1991 soll eine Truppenverteilung von 61 Prozent zu 39 Prozent in den tschechischen Ländern bzw. in der Slowakei erreicht sein (bisher 84 Prozent: 16 Prozent) In Polen erfolgte im Zuge einer Neugliederung ein ähnlicher Vorgang, der sich einerseits auf die neue Militärdoktrin stützte, andererseits als Maßnahme gegen eine befürchtete Massenfluchtbewegung in Millionenhöhe aus der Sowjetunion gedacht war Überd Prozent) 13). In Polen erfolgte im Zuge einer Neugliederung ein ähnlicher Vorgang, der sich einerseits auf die neue Militärdoktrin stützte, andererseits als Maßnahme gegen eine befürchtete Massenfluchtbewegung in Millionenhöhe aus der Sowjetunion gedacht war 14). Überdies trug die Verlegung des bisherigen Hauptquartiers des sowjetischen „TVD West“ („Schauplatz strategischer Kriegshandlungen“) von Legnica (Liegnitz) in Schlesien nach Westrußland der geänderten Lage Rechnung.
Auf NATO-Seite sind demgegenüber weniger spektakuläre Vorgänge zu verzeichnen. Anläßlich der Herbsttagung der Verteidigungsminister und Außenminister im Dezember 1990 kam der Wunsch nach Stärkung des „europäischen Pfeilers“ der NATO, also der EUROGROUP, des weiteren die Absicht zur Aufnahme baldiger Verhandlungen über den Abbau atomarer Kurzstrekkenraketen und nuklearfähiger Artillerie mit der UdSSR zum Ausdruck. Die bis zum Sommer 1991 auszuarbeitende neue NATO-Strategie läuft zum einen auf eine Neuverteilung der Aufgaben unter Einbeziehung Frankreichs, zum anderen auf ein geändertes operatives Konzept hinaus. Im Prinzip ist man sich einig, vom Begriff des „Schutzbündnisses“ gegenüber dem Warschauer Pakt abzugehen und der Stabilität in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht Vorrang einzuräumen, auch zugunsten der Staaten Ostmitteleuropas. Immerhin brachte die Pariser Erklärung der 22 Staaten vom 19. November 1990 bereits den gegenseitigen Verzicht auf Androhung bzw. Anwendung von Gewalt. Die amerikanische Seite will außerdem der „Westeuropäischen Union“ eine gewisse Aufwertung zubilligen, was mit der EG-Erklärung von Rom von Mitte Dezember korrespondiert, alle nichtmilitärischen Aspekte der Sicherheit Europas künftig wahrzunehmen. In Anbetracht der laufenden Truppenabzüge aus der Bundesrepublik und der militärischen „Ausdünnung“ infolge der Reduktion der Bundeswehr (einschließlich der ehemaligen NVA) auf 370000 Mann steht die Errichtung von multinationalen Korps zu erwarten 15). Die US-Kräfte werden nach Rückkehr aus der Golfregion gemäß den ursprünglichen Plänen reduziert.
Auf operativer Ebene soll es nach den Vorstellungen hoher NATO-Befehlshaber zu einer „dreistufigen“ Organisation kommen: 1. Gemischtnationale Bereitschafts-und Dekkungskräfte („Guard Forces“) mit hoher Einsatzbereitschaft als Teile des Korps zum unverzüglichen Einsatz an bedrohten Abschnitten in Europa-Mitte. 2. Schnelle Eingreiftruppen („Rapid Reaction Forces“), die in kurzer Zeit zur Erfüllung von Aufträgen in bedrohten Räumen außerhalb Mittel-europas sowie zur Verstärkung der vorne kämpfenden Kräfte in Europa-Mitte heranzuziehen sind. 3. Die gekaderten Hauptverteidigungskräfte, d. h. die gepanzerten Großverbände, stellen weiterhin die Hauptkräfte der Zentralregion und werden in verminderter Zahl in der Tiefe des Territoriums nach Mobilmachung verfügbar sein 16).
Damit kann man das ehemalige Konzept der „Vorneverteidigung“ als hinfällig betrachten. Allenfalls ist mit einer „Forward presence“ zu rechnen. Mit der deutschen Einheit vom 3. Oktober 1990 ist Deutschland kein „Frontstaat“ mehr; die NATO besitzt in der Oder-Neiße-Linie eine strategisch stark verkürzte, leicht zu verteidigende Ostgrenze, so daß sich das bisherige Modell der „Schichttorte“, der Schulter an Schulter eingesetzten NATO-Korps, als überholt erweist. Mit dem vorgesehenen Abzug der letzten sowjetischen Verbände aus Deutschland 1994 erscheint ein neues operatives Konzept erforderlich, das sich vermehrt auf die „Gegenkonzentration“ der aus der Tiefe des Raumes heranzuführenden mechanisierten und luftbe-weglichen Großverbände stützt Großes Augenmerk wird dem Nachweis zu widmen sein, daß dieses operative Konzept für die Nachbarstaaten bzw.der UdSSR defensiven Charakter hat: Man wird den zahlreichen mobilmachungsabhängigen Verbänden kaum die Fähigkeit zu raumgreifenden Offensiven zusprechen können, noch dazu unter den Einschränkungen der KSE-Regelung.
III. Wohin treibt die Sowjetunion?
Eine Kardinalfrage besteht nach wie vor in der Einschätzung der UdSSR als eines Imperiums, das zwar militärisch noch immer Weltmacht sein will, ansonsten aber bestenfalls den Status einer klassischen Großmacht beanspruchen kann. Es spricht viel dafür, daß das Militärisch-Nukleare nicht mehr ausreicht, um künftig als eine den USA gleichberechtigte Weltmacht behandelt zu werden -Die auch in sowjetischen Kreisen gebrauchte Bezeichnung „Obervolta mit Raketen für die Eindimensionalität der Machtstellung Moskaus ) charakterisiert ein Verhalten, das angesichts der Ereignisse seit Herbst 1989 nur mehr auf Schadensbegrenzung ausgerichtet ist. Am ehesten trifft die Einschätzung zu, wonach Gorbatschow nur mehr zwischen zwei Sackgassen wählen könne, nämlich zwischen einem Militärputsch oder einem Rückfall in die Autokratie. Eine gewichtige Einschätzung lautet auch: Was Gorbatschow auch tut -es ist zu spät
Die offenkundigen Mißerfolge der heißumkämpften Wirtschaftsreform veranlaßten sogar den ehemaligen Wirtschaftsberater des Staatspräsidenten, Stanislav Schatalin, zu dem Vorschlag, Gorbatschow möge zurücktreten, falls es ihm nicht gelänge, die KPdSU zu entmachten und einen brauchbaren Unionsvertrag vorzulegen 21). Es liegt auf der Hand, daß der ab November 1990 spürbare Rechtsruck zugunsten der Ultrakonservativen in Partei, Staat, Armee wie auch im KGB, der seit dem 1. Februar 1991 sogar Kontrollfunktionen in den Wirtschaftsbetrieben ausübt, dem weitverbreiteten Ruf nach Beseitigung der chaotischen Zustände im Versorgungswesen und der Bekämpfung des organisierten Verbrechens entgegenkommt. Ob jedoch dadurch die Autorität des Staatspräsi-denten zunimmt, ist mehr als fraglich. Schon aus Meinungsumfragen ergab sich, daß im November 1990 nur mehr Prozent seiner Politik zustimmten. Bereits Ende Oktober 1990 wurde eine Studie Tatjana Saslavskajas bekannt, wonach die Sowjet-bürger jegliches Vertrauen in die politische Führung verloren hätten
Die Annahme des neuen Unionsvertrages ist ebenfalls mehr als fraglich, nachdem sich bis zum 12. Dezember 1990 sämtliche Teilrepubliken und viele autonome Republiken für unabhängig erklärt haben Der Rücktritt von Außenminister Schewardnadse Mitte Dezember, die Bestellung des als erzkonservativ geltenden Innenministers Boris Pugo, ferner dessen Stellvertreters Generalleutnant Boris Gromow sowie die Ernennung des ehemaligen Finanzministers Valentin Pawlow zum Ministerpräsidenten (14. Januar 1991) zeigten die Veränderungen in Richtung einer Stärkung der „alten Kräfte“ auf; dies ging mit einem erheblichen Kompetenzenzuwachs Gorbatschows einher. Die Kampagne gegen Boris Jelzin unterstreicht diese Positionsveränderungen. Nicht zuletzt wurde der Rücktritt Schewardnadses darin gesehen, daß man ihm seitens der Armeeführung die Verlegung von mehr als 16000 Kampfpanzern und 19350 Artilleriegeschützen hinter den Ural (im Rahmen des Truppenabbaus in Europa) nur bruchstückhaft und im nachhinein mitgeteilt hatte, was als Desavouierung empfunden werden konnte
Der zunehmende Einfluß des KGB, der sogar im Januar die Überwachung der aus Deutschland zurückkehrenden Verbände übernommen haben soll, sowie die Vorgänge im Baltikum lassen darauf schließen, daß die sowjetische Führung ihren bekannten Standpunkt geltend macht, innerhalb der Staatsgrenzen auch vor militärischer Gewaltanwendung nicht zurückzuschrecken. Steht nun die Sowjetunion, wie Lew Kopelew befürchtet, vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges? All dies bestätigt offenbar die These, daß Armeen, die sich auf dem Rückzug befinden, politisch gefährlich sind Auf jeden Fall spricht viel dafür, daß „Perestrojka“ und „Glasnost“ einen kaum wettzumachenden Rückschlag erlitten haben. Gemäß der Einschätzung von Jurij Afanassijew von Anfang Februar sei die Reformpolitik Gorbatschows gescheitert und kein Ausweg in Sicht. Auch die äußerst dramatische Bestandsaufnahme, die Alexander Solschenizyn in seinem jüngsten Manifest vorgelegt hat, läßt an Deutlichkeit nichts vermissen, wenn er davon spricht, daß das sowjetische Großreich unmittelbar vor dem Zusammenbruch stehe: „Ein großes Imperium zu unterhalten heißt, das eigene Volk auszurotten . . . Heute ist deutlich zu sehen, daß wir eine friedliche Zukunft nur dann erhoffen können, wenn diejenigen Völker, die sich zu einem eigen-staatlichen Leben von uns lösen wollen, dies auch tun.“ In Anlehnung an seine Aussagen kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß der Transformationsprozeß der UdSSR, wenn überhaupt, dann nur ohne Gewaltmaßnahmen zu verwirklichen ist.
Die aktuelle Entwicklung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die UdSSR eine historisch einzigartige Machteinbuße im Äußeren wie im Inneren erlitten hat Auch das Festhalten an den sehr hohen Wehrausgaben der Vergangenheit ist als Krisensymptom, als Symptom der Anpassungsunfähigkeit anzusehen. Die Bewilligung des Wehr-budgets für 1991 in der Höhe von 96, 53 Mrd. Rubel (d. h. ein Zuwachs von über 25, 5 Mrd. Rubel gegenüber 1990) bedeutet nicht nur eine indirekte Offenlegung bisher „versteckter“ Budgetposten, sondern besitzt eine unangenehme Signalwirkung nach innen und außen Nach den Angaben des Wirtschaftswissenschaftlers Oleg Bogomolow soll der Anteil der Wehrausgaben am Volkseinkommen 1990 sogar 25 Prozent erreicht haben wogegen die bisherigen Schätzungen 18-20 Prozent ausgemacht haben.
Die nominelle Zunahme der Wehrausgaben stellt aber sehr wahrscheinlich keinen Realzuwachs dar, sondern weist auf die Erhöhung des Anteils infolge eines geschrumpften Volkseinkommens hin. Es erscheint jedenfalls aber unvorstellbar, daß ein solcherart verarmtes Land eine derart enorme Belastung längere Zeit hindurch ertragen kann. Befände man sich noch in den Tagen des Kalten Krieges, könnte man versucht sein, an den Erfolg der westlichen „Ausblutungsstrategie“ zu glauben! Immerhin konnte man noch im Rahmen einer Konferenz des „Militärbulletins“ zum Thema „Rüstungskonversion“ im Frühjahr 1990 vernehmen, daß sich der Kurs der USA im Zuge des Rüstungswettlaufes letztlich bewährt hätte, die sowjetische Wirtschaft „auszubluten“
In diese Vorstellungswelt paßt auch die Äußerung von Ministerpräsident Pawlow vom 12. Februar 1991, wonach der Westen versucht habe, durch Geldtransaktionen größten Stils die Sowjetunion wirtschaftlich zu ruinieren und damit den Staats-präsidenten zu entmachten. Eine solche Denkweise belastet nicht nur die Entspannungspolitik, sondern entspricht auch dem Verhaltensmuster, die Schuld für Fehlschläge im Inneren äußeren Mächten zuzuweisen.
Die katastrophale Lage der sowjetischen Volkswirtschaft, der Verlust des geopolitischen Vorfeldes in Ostmitteleuropa und nicht zuletzt die zentrifugalen Kräfte in der UdSSR selbst gewähren der sowjetischen Führung so gut wie keinen Spielraum mehr, will man die angestrebte Konföderation nicht gefährden. Noch im Dezember 1988 hatte Gorbatschow vor der UN-Vollversammlung die „Freiheit der Wahl“ eines jeden Volkes zugestanden; noch am 6. Juli 1989 hatte er vor dem Europarat die „Breschnew-Doktrin“ widerrufen Die Ereignisse im Baltikum im Winter 1990/91 zeigen jedoch, daß die sowjetische Führung noch weit davon entfernt ist, die „Freiheit der Wahl“ innerhalb der Staatsgrenzen zuzulassen und sich der Anwendung oder Androhung von Gewalt im „eigenen Haus“ zu enthalten. Von der Errichtung eines „gemeinsamen Hauses Europa“ kann unter diesen Vorzeichen noch keine Rede sein. Die UdSSR steht somit vor einer endgültigen Wege-marke -nämlich ihren bisherigen Sonderweg aufzugeben oder aber die offenkundige „Abkoppelung“ von Europa fortzusetzen Unter diesen Aspekten spricht einiges dafür, ein „gemeinsames Haus Europa“ zunächst ohne die Sowjetunion zu planen und sich hierbei mit den historisch-kulturellen Grenzen Ost-, Nordost-und Südosteuropas zu begnügen Eine solche Auffassung ist auch bei den Überlegungen zur künftigen Sicherheitsordnung Europas zu berücksichtigen.
IV. Der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-I) und die Zukunft der Abrüstung
Das in erstaunlich kurzer Zeit (seit dem 9. März 1989) erarbeitete Vertragsdokument KSE-I, das anläßlich des Pariser Gipfeltreffens am 19. November 1990 unterzeichnet worden ist, kann als größter und zugleich „echter“ Abrüstungsvertrag der Zeitgeschichte gelten: Es handelt sich um die Festlegung von zahlenmäßiger Parität bei fünf Haupt-waffensystemen beider Paktgruppen, wobei diese Parität erheblich unter dem Ist-Stand der meisten betroffenen Staaten bei Vertragsabschluß liegt. Die Reduktionen sollen spätestens 40 Monate nach dem Inkrafttreten des Vertrages beendet sein. Wie der sowjetische VKSE-Botschafter Grin-jevskij nach der Paraphierung emphatisch erklärte, hätte keine Schlacht der Weltgeschichte so viele Kampfpanzer, Artilleriegeschütze und Flugzeuge zerstört, wie man es in den letzten Tagen der Verhandlungen in Wien erreicht hätte
Immerhin haben die Wiener Verhandlungen einen Vertrag zustande gebracht, dessen Materie politisch-militärisch so kompliziert gestaltet ist, daß die seit 1973 tagende MBFR-Konferenz über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen am 2. Februar 1989 ihre Tätigkeit ergebnislos eingestellt hat. Der offenbar besonders auf östlicher Seite vorhandene politische Wille, möglichst bald zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen, schuf dann eine Dynamik, die auch durch sowjetische Irritationen über die unerwartet rasche Vereinigung Deutschlands nicht gebrochen werden konnte. Daß beide Seiten zu tragbaren Kompromissen bereit waren, zeigt die Einigung bei so komplizierten Sachfragen wie etwa der Zuordnung der „leichten Panzer“ und der Erfassung sämtlicher Kampfflugzeuge auf beiden Seiten unter Berücksichtigung der umstrittenen Abfangjäger der sowjetischen Heimatluftverteidigung (PVO). In der heiklen Frage der landgestützten Marineflugzeuge wurde eine Kompromißformel gefunden, wonach keine Seite mehr als 430 derartige Marineflugzeuge besitzen dürfe
Die leitende Intention der Verhandlungen bestand darin, gerade die Zahl derjenigen Hauptwaffensysteme (Kampfpanzer, gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, Artilleriewaffen, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber) wesentlich zu vermindern, denen man die größte Wirkung bei raumgreifenden Offensiven zuerkannte. Da man sich darüber im klaren war, daß Angriffsfähigkeit im operativen Sinne nicht zur Gänze unterbunden werden konnte, wollte man zumindest „Invasionsfähigkeit“ auf operativ-strategischer Ebene verhindern. Zu diesem Zweck sieht der Vertrag u. a. folgendes vor 1. Radikale Beschränkung des Übergewichts der sowjetischen Kräfte mittels der „Hinlänglichkeitsregel“, d. h. Reduzierung der Waffensysteme eines Staates auf rund ein Drittel der Waffensysteme beider Paktgruppen zusammen (de facto liegen die Anteilsquoten zwischen 33, 3 und 37, 8 Prozent). 2. Verhinderung bedrohlicher Kräftekonzentrationen durch Festschreibung von Obergrenzen bei den Hauptwaffensystemen in einzelnen Unterzonen, in die man Europa zwischen dem Atlantik und dem Ural-Fluß unterteilt hat. 3. Gegenseitige Übermittlung sämtlicher relevanter militärischer Daten durch Offenlegung von Dislozierung, Stärke und Art der Truppenteile, der militärischen Einrichtungen, der Depots und Ausbildungsstätten sowohl der aktiven als auch der teilaktiven Verbände; die Informationspflicht erstreckt sich bis zur Ebene Brigade/Regiment, in besonderen Fällen bis zur selbständigen Fliegerstaffel. 4. Geregeltes Verfahren zur Reduktion der Streitkräfte. 5. Ausgefeiltes, detailliertes Kontrollverfahren.
Die Obergrenzenregelungen in Europa pro Staatengruppe (Paktgruppe) lauten: Kampfpanzer: 20 000, davon 16 500 in aktiven Truppenteilen; Gepanzerte Kampffahrzeuge: 30 000, davon 27 300 in aktiven Truppenteilen; Artilleriewaffen (Geschütze, Mehrfach-Raketenwerfer, Granatwerfer): 20000, davon 17000 in aktiven Truppenteilen; Kampfflugzeuge (Jäger, Jagdbomber, Erdkampf-flugzeuge, Aufklärer, ECM-Flugzeuge): 6800 (keine Ünterscheidung); Angriffshubschrauber: 2000 (keine Unterscheidung).
Wie wichtig man die Beschränkungen in der Zentralzone im engsten Sinne, d. h. in der ehemaligen MBFR-Reduzierungszone unter Einschluß Un-garns, genommen hat, zeigen die verbindlichen Obergrenzen: Kampfpanzer: je 7500; gepanzerte Kampffahrzeuge: je 12250; Artilleriewaffen: je 5000. Schon aus diesen Einschränkungen wird deutlich, daß der ehemalige Warschauer Pakt -d. h. die Streitkräfte Polens, der SFR und Un-garns samt den noch vorhandenen Stationierungstruppen -im Vergleich zur NATO erheblichere Reduzierungen vornehmen muß: So verfügten im Februar 1991 die sowjetischen Truppen in Deutschland und in Polen über ca. 4600 Kampf-panzer während die nationalen Streitkräfte Polens, Ungarns und der SFR an die 7900 Kampfpanzer aufwiesen. Dies bedeutet, daß unter Vorwegnahme eines kompletten Abzugs der sowjetischen Truppen aus der SFR und aus Ungarn noch immer ca. 12 500 Kampfpanzer in den ehemaligen „Vorfeldstaaten“ verbleiben, die gemäß KSE-I-Regelung auf 7500, d. h. um 40 Prozent, reduziert werden müssen. Hält man sich vor Augen, daß der Warschauer Pakt noch Ende 1988 in den vier Vorfeldstaaten unter Einschluß der DDR über fast 19600 Kampfpanzer verfügt hat wird der enorme Abrüstungsdruck allein bei diesem Waffensystem infolge des KSE-I-Vertrages sichtbar. Auf jeden Fall entfällt auf die UdSSR der größte Anteil der Reduzierungsverpflichtungen.
Auf Grund einer Einigung der Warschauer Pakt-Staaten Anfang November 1990 über eine paktinterne Quotenregelung bei den Hauptwaffensystemen stehen Polen, der SFR und Ungarn folgende Obergrenzen zu
Addiert man nur die Panzerquoten der drei Staaten (4000) und berücksichtigt man die gemeinsame zulässige Obergrenze in Mitteleuropa („Kernzone“), so darf die UdSSR in dieser Zone maximal 3 500 Kampfpanzer gegenüber derzeit 4 600 belassen. Dies bedeutet aber, daß auch Polen, die SFR und Ungarn ganz erhebliche Abrüstungsschritte vornehmen müssen, um die gesetzten Anteile zu erreichen. (So müssen etwa Polen und Ungarn ihre Panzerstärken um ca. 40 Prozent vermindern, die SFR gar um über 60 Prozent!) Auch bei den übrigen Waffensystemen des Heeres sind weitgehende Verminderungen erforderlich.
Auf NATO-Seite war es ebenfalls zu einer internen Quotenregelung gekommen, wobei sich die Bundesrepublik Deutschland in einer politischen Erklärung vom 15. November 1990 als einziger Staat sogar zur Verminderung der personellen Obergrenzen (unter Einschluß der Restteile der Nationalen Volksarmee) verpflichtet hat. Deutschland nimmt nach der UdSSR die umfangreichsten Reduzierungen vor, was sich nicht zuletzt aus den übernommenen hohen Beständen der NVA ergibt. Bis 1994 soll der Gesamtbestand auf 370000 Mann, der Bestand der Land-und Luftstreitkräfte auf 345 000 Mann verringert werden. Bei den Waffensystemen sind für Deutschland folgende Höchststärken zulässig
Die kleineren NATO-Staaten müssen im wesentlichen keine Abstriche hinnehmen; die USA und Großbritannien haben etwas mehr Reduzierungen vorzunehmen, wobei ungewiß bleibt, ob nicht ein Teil der aus Westeuropa in den Mittleren Osten verlegten Verbände nach dem Ende des Golf-krieges umgehend in ihre Heimatländer befördert wird und als „Reduzierung“ gilt.
Was der KSE-I-Vertrag offenläßt, sind Obergrenzen für jeden einzelnen Vertragsstaat, die in den Folgeverhandlungen (KSE-Ia) bis März 1992 festzulegen sein werden, sowie Maßnahmen zugunsten von struktureller Nichtangriffsfähigkeit (vor allem auf operativer Ebene) und von defensiven Militär-doktrinen. Die bisher sichtbaren Ansätze zur Umrüstung auf defensive Strukturen haben vorwiegend die Divisionsgliederungen -etwa in der sowjetischen und polnischen Armee -berührt; von grundsätzlichen Änderungen in Organisation, Bewaffnung und Ausbildung zur Stärkung der „Verteidigerüberlegenheit“ ist auf beiden Seiten bisher jedoch nur wenig zu merken.
Zur Gefahr der Vertragsumgehung bzw. -Verletzung: Dies betrifft vor allem die nicht gemeldete Verlegung von sowjetischem Kampfgerät größeren Umfanges aus dem Vertragsgebiet hinter den Ural, des weiteren die Zuordnung von mindestens drei MotSchützendivisionen im Militärbezirk Leningrad zur Marineinfanterie (die nicht unter die Reduktion fällt) sowie die erstaunlich niedrigere Zahl von 895 Verifikationsobjekten gegenüber einer erwarteten Anzahl von etwa 1600. Westliche Politiker und Experten sind sich in der Bewertung dieses Vorganges nicht einig
Seit Anfang 1990 -in größerem Umfang jedoch erst im Herbst 1990 -war die sowjetische Militär-führung bemüht, Kampfpanzer, Schützenpanzer und Artilleriegeschütze aus dem KSE-Mandatsgebiet hinter den Ural zu verlegen. Gegenüber der offiziellen Anzahl von insgesamt 41580 im Januar 1989 vorhandenen Kampfpanzern sank diese im August 1990 auf ca. 24900 und in erstaunlicher Eile bis zum 19. November 1990 auf 20694. Damit entgingen fast 21000 Kampfpanzer dem KSE-Vertrag. Von dieser Anzahl habe man nach amtlicher Mitteilung 4100 als „Altmetall“ ausgesondert, während 16400 den Truppen jenseits des Ural zugeführt worden wären. Im Falle der Artillerie betrug die Anzahl der hinter den Ural verlegten Waffen 19350 (bei einem Stand von 33 180 im Juni 1990). Bei den Kampfflugzeugen lag die entsprechende Anzahl bei 860
Die sowjetische Argumentation lief auf zweierlei hinaus: Zum einen wisse man nicht, wie man in der vorgegebenen Zeit von 40 Monaten die Zerstörung der zur Beseitigung bestimmten Waffen technisch bewerkstelligen könne; zum anderen habe man die Zeit bis zum Vertragsabschluß korrekterweise für Truppenabzüge nützen dürfen. Außerdem sei es unerwünscht, neuwertiges Material zu vernichten, veraltetes hingegen im Bestand zu belassen. Auch die Zuordnung von drei Divisionen zur Marineinfanterie wäre vor dem 19. November erfolgt. Die Anzahl von nur 895 Verifikationsobjekten erkläre sich daraus, daß man die in Frage kommenden Waffenbestände aus den entsprechenden Objekten entfernt habe.
Streng genommen stellen die sowjetischen Verlegungen hinter den Ural keine Vertragsverletzung dar, kommen aber einer Aushöhlung des Vertrages gleich, da sie dem Sinn und den Zielsetzungen der KSE-Verhandlungen zuwiderlaufen. Die Reaktion der NATO-Staaten und auch einiger ostmitteleuropäischer Staaten bestand darin, von der UdSSR eine Offenlegung der Vorgänge und Zahlen zu fordern; ansonsten läge eine Ratifizierung in weiter Ferne (Diese Offenlegung ist bis zum Ablauf der festgelegten Frist von drei Monaten nur teilweise erfolgt.)
Es wird somit auf die Fortschritte der Folgeverhandlungen bei KSE-Ia und VSBM (Vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen) ankommen, inwieweit die UdSSR in zusätzliche wirksame Bindungen einbezogen werden kann. In erster Linie sollten solche Maßnahmen beschlossen werden, die bereits einleitende Schritte zur Vorbereitung von Offensiven, auch kleineren Ausmaßes, verhindern bzw. erschweren. Dazu kann z. B. das grundsätzliche Verbot zählen, jemals wieder sowjetische Truppen in Ostmitteleuropa zu stationieren; des weiteren kämen Instrumente zur Überwachung solcher Maßnahmen in Betracht, die der Aufstellung, Mobilmachung, Auffüllung und Ausbildung von Reserveverbänden dienen. Außerdem könnte man Maßnahmen zur Überwachung der Rüstungsproduktion und der jenseits des Ural dislozierten Verbände beschließen, und letztlich wäre die Errichtung von truppenfreien Grenzzonen ins Auge zu fassen Auf jeden Fall bleibt die Sowjetunion, auch wenn sich die strategisch-operativen Optionen seit 1989 entscheidend zu ihren Ungunsten geändert haben, vorderhand die stärkste Militärmacht in Europa.
V. Überlegungen zur Gestaltung der Sicherheit in Europa
Vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit 1989 wurden zahlreiche Vorstellungen über die oft zitierte „Architektur der europäischen Sicherheit“ präsentiert, die im wesentlichen von drei Kriterien ausgingen: 1. Erhaltung bzw. Verbesserung der Sicherheit in Europa; 2. Umwandlung des westlichen Bündnisses in eine „Stabilitätsgemeinschaft“ (wobei nicht mehr vom Warschauer Pakt als mili-tärischem Gegner ausgegangen wird); 3. Einstellen auf neue Formen der Konfliktaustragung in Europa, etwa bei Minderheitenkonflikten oder bürgerkriegsähnlichen Abläufen. In diesem Zusammenhang wurde kürzlich der Vorschlag zur Schaffung einer europäischen „Entwicklungsallianz“ unterbreitet
Da zu den Vorstellungen über die Organisation der Sicherheit zahlreiche Vorschläge vorliegen, die im Grunde genommen auf drei Organisationsrahmen hinauslaufen, werden hier nur diese drei gegenübergestellt: 1. NATO, entweder in der bisherigen Form oder um einige Staaten erweitert; 2. KSZE, etwa in Form einer „kooperativen Sicherheit“; 3. Westeuropäische Union in Ergänzung oder parallel zur EG. 1. Die Befürworter der NATO in der bisherigen Form berufen sich vor allem auf den Umstand, daß dieses Bündnis seit mehr als 40 Jahren seine Aufgabe erfüllt und durch seine konsequente Haltung wesentlich zu einem Nachgeben der UdSSR in der Außen-und Militärpolitik beigetragen habe, etwa in der INF-Kontroverse. Demgegenüber wenden manche Beobachter ein, daß die Bemerkung Lord Ismays, die NATO sei dazu da, „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten“, angesichts der veränderten Weltlage, des verblassenden Bedrohungsbildes und der deutschen Einheit nicht mehr gelten könne. Die Eindämmung des vereinigten Deutschland könne nicht mehr-der NATO, sondern nur mehr einem gesamteuropäischen Integrationsprozeß zufallen
Für die Steuerung dieses Integrationsprozesses besitze die NATO jedoch so gut wie keine Instrumente; sie sei zwar für die Fortführung des Rüstungskontrollprozesses von Nutzen, man müsse aber nach der zu erwartenden endgültigen Auflösung des Warschauer Paktes davon ausgehen, spätestens 1992 nur mehr einzelnen Staaten als Verhandlungspartnern gegenüberzusitzen. Angesichts mangelnder Bündniskohäsion (die überdies bereits durch den Golfkrieg arg strapaziert worden ist) bedürfe es allianzübergreifender Sicherheitskonstruktionen 2. Da die NATO als Stabilitätsbündnis -wie eingangs dargelegt -infolge des Vorrangs der immensen wirtschaftlichen und technologischen Bedürfnisse Ostmitteleuropas nicht der kompetente Ansprechpartner ist, scheint das Abstützen auf die KSZE größere Vorteile zu bieten. Immerhin kann dieses Forum auf beachtenswerte Erfolge in der Einbeziehung der USA und der Sowjetunion in die Sicherheitsprobleme Europas sowie in der Erarbeitung von vertrauens-und sicherheitsbildenden Maßnahmen verweisen („Wiener Dokument“ vom 17. November 1990). Falls die Agenden der 22 NATO-und Warschauer-Pakt-Staaten ab 1992 von den 34 KSZE-Staaten übernommen werden, spricht einiges dafür, die Kompetenzen dieser neuen „Sicherheitsgemeinschaft“ zu erweitern und zu stärken Allerdings kommt dem durch die Charta von Paris vom 21. November 1990 beschlossenen „Konfliktverhütungszentrum“ in Wien vorerst nur eine bescheidene Rolle zu. Erst ein Zuwachs von Kompetenzen in Richtung eines Konfliktregelungszentrums mit einem wirksamen Streitschlichtungsverfahren bei Konflikten sowohl zwischen den Staaten als auch im Inneren von Staaten könnte Abhilfe schaffen. Hierbei erscheint die Frage von Sanktionen zur Durchsetzung von Beschlüssen ungeklärt.
Ein solches Konfliktregelungszentrum wäre in Anbetracht der zahlreichen virulenten lokalen Konflikte in Ostmittel-und Südosteuropa von großem Vorteil. Abgesehen von den Nationalitätenkämpfen in der UdSSR muß z. B.der Zerfall des jugoslawischen Staates und die Herausbildung neuer politischer Einheiten auf dem Balkan als für Mitteleuropa problematischstes Szenarium eingestuft werden. Daß einflußreiche Kreise in Belgrad die Sezessionsbewegungen Sloweniens und Kroatiens nicht als rein innerstaatlichen Vorgang betrachten, beleuchten die Aussagen des ehemaligen jugoslawischen Generalstabschefs von Mitte Februar: Demnach sei es das Ziel der NATO, mit Hilfe der „Faschisten“ in Kroatien und der „Weißgardisten“ in Slowenien Jugoslawien zu zerschlagen. Auch der Hinweis auf die UdSSR als „Garanten“ für den Bestand des Vielvölkerstaates beleuchtet schlaglichtartig längst überwunden geglaubte Feindbilder 3. So kommt man zur letzten Option, die in jüngster Zeit vermehrt Anhänger gefunden hat -die Westeuropäische Union Hierbei stellt sich einerseits die Frage nach der militärischen Integrationsfähigkeit von WEU bzw. EG, andererseits die Frage nach dem geopolitischen Rahmen, d. h. im Klartext: Inwieweit sollen und können Ostmitteleuropa und die Sowjetunion (oder Teile von ihr) dieser neuen Staatengemeinschaft angehören?
Die Beantwortung der erstgenannten Frage hängt von den Auswirkungen des Golfkrieges auf die Zukunft der NATO, vor allem von der künftigen Rolle der USA in Westeuropa ab. (Über den voraussichtlichen Restbestand der US-Kräfte in Westeuropa bis Ende des Jahrhunderts liegen unterschiedliche Schätzungen vor.) Des weiteren wird abzuwarten sein, inwieweit die deutsch-französische Partnerschaft in politisch-strategischer Hinsicht einen Ersatz für einen Bedeutungsverlust der NATO bieten kann. Dazu zählt auch das Bemühen, die WEU als europäische Verteidigungsorganisation, komplementär zur NATO, zu bele-ben. Allerdings unterstreicht die Tagung der zwölf EG-Außenminister in Luxemburg am 26. März die weiterhin bestehende Kontroverse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, wobei noch keine Entscheidung zugunsten einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gefallen ist. Schließlich hängt sehr viel davon ab, wie sich die meist verschämt skizzierte Führungsrolle des neuen Deutschland in sicherheits-und geopolitischer Hinsicht auswirken wird. Daß sich Deutschland dieser Rolle auf keinen Fall entziehen kann, auch wenn man es wollte, rückt immer mehr ins Bewußtsein
Die zweite Kernfrage, inwieweit die Kraft zu einer Integration der Staaten Ostmitteleuropas oder gar der UdSSR reicht, wird sehr kontrovers eingeschätzt. Schon die bisherigen Einsichten in die enormen Kosten, die allein die Sanierung der ehemaligen DDR für die Bundesrepublik mit sich bringt lassen die zahlreichen Erklärungen zugunsten einer wirksamen Unterstützung der Staaten östlich von Oder und Neiße ziemlich problematisch erscheinen. Sieht man von den ca. 13 Mrd. DM ab, die man als Konsequenz für die deutsche Einheit der Sowjetunion zugesagt hat, liegen seitens der EG oder der USA keine konkreten Finanzierungspläne für die betreffenden Staaten vor. Die Schätzung von 25 -30 Mrde Dollar, die allein kurzfristig zur Verhinderung eines Chaos in den Staaten Ostmitteleuropas -ohne die UdSSR -im Frühjahr 1990 präsentiert worden ist darf aller Wahrscheinlichkeit nach als überholt gelten.
Selbst wenn man einem gradualistischen Ansatz folgt, kann eine Sanierung Ostmitteleuropas nur langfristig und sektorweise in Angriff genommen werden, von einer Sanierung der UdSSR ganz zu schweigen. Nahrungsmittelhilfe an die Sowjetunion, selbst in Milliardenhöhe, ändert nichts an den strukturellen Schwächen dort. Angesichts der unausgesetzten Rückschläge für die Perestrojka bestehen seitens der EG schwerste Bedenken über den Nutzen einer Wirtschaftshilfe. Es erscheint wenig sinnvoll, die Herausforderungen des Westens im Jahre 1991 mit denen des Marshall-Plans von 1947/48 zu vergleichen
Aus dieser Sicht erweist sich der Wunsch nach einer „Europäisierung“ der Sowjetunion auch angesichts der dramatisch wachsenden Instabilitäten im Inneren der UdSSR bestenfalls als langfristige Perspektive, da immer weniger abzusehen ist, mit welcher UdSSR bzw. mit welchen Nachfolgestaaten man es zu tun bekommt. Nimmt die militärische Komponente von Macht in der internationalen Politik noch weiter ab, gewinnt die wirtschaftliche und innere Komponente noch mehr an Bedeutung, so kann man mittelfristig von einem weltpolitischen Dreieck Washington-Berlin-Tokio ausgehen.
Diese Perspektive enthebt nicht von der Notwendigkeit, Deutschland und die Sowjetunion in einer europäischen Friedensordnung „einzuhegen“ die nicht mehr auf der äußerst komplizierten Gleichgewichtspolitik der Zeit vor 1939 beruht. Hierbei könnten WEU und EG wichtige Ergänzungsfunktionen dort ausüben, wo die Kompetenz der NATO erlischt. Hier bietet sich z. B. eine weitgehende Kompetenzangleichung von WEU und EUROGROUP an. Trotz der Zustimmung für eine Institutionalisierung von „kooperativer Sicherheit“ scheinen in jüngster Zeit die Vertreter einer „realistischen“ Betrachtungsweise angesichts der zunehmenden Krisensymptome, vor allem in der Sowjetunion und in Südosteuropa, an Boden zu gewinnen. Ein Europa, das über das amerikanisch-sowjetische Kondominium hinauswächst, wird sich vermehrt auf seine Nationen, seine kulturellen-historischen Bausteine, stützen können. Dies bedeutet zwar ein belastendes Erbe, aber auch eine Neubewertung der „Bausteine“. B 18
Heinz Magenheimer, Dr. phil. habil., geb. 1943; seit 1972 Mitarbeiter des Instituts für strategische Grundlagenforschung an der Landesverteidigungsakademie Wien; seit 1977 Redaktionsmitglied der Österreichischen Militärischen Zeitschrift; seit 1982 Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg. Veröffentlichungen u. a.: Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, Freiburg 19862; Die Verteidigung Westeuropas. Doktrin, Kräftestand, Einsatzplanung, Koblenz 1986; zahlreiche Aufsätze und Studien in in-und ausländischen Zeitschriften zu Themen der Sicherheitspolitik, des Wehrwesens und der Kriegsgeschichte.
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