Reformpolitik in Lateinamerika. Chancen und Risiken des wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels
Hartmut Sangmeister
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Zusammenfassung
Die achtziger Jahre waren für die meisten Länder Lateinamerikas ein Jahrzehnt der wirtschaftlichen Krise, während der die Pro-Kopf-Einkommen deutlich gesunken sind, in einigen Staaten der Region sogar unter das Niveau von 1960. Die wirtschaftspolitischen Stabilisierungsprogramme, die nach dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise eingeleitet wurden, waren mit hohen sozialen Kosten verbunden, die gerade die ärmsten Bevölkerungsgruppen schwer getroffen haben. Die neuen zivilen Regierungen, welche die Militärregime abgelöst haben, setzen auf neoliberale Reformkonzepte, die eine verstärkte Einbindung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften in den Weltmarkt zum Ziele haben, da sich das bislang favorisierte Entwicklungsmodell importsubstituierender Industrialisierung als nicht mehr fortführbar erwiesen hat. Bei der gegebenen Ausstattung mit Produktionsfaktoren läuft die neue Strategie selektiver Weltmarktintegration für die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas auf eine ressourcenbasierte Spezialisierung hinaus. Durch regionale Kooperation und Integration können die Binnenmarktpotentiale vergrößert und der Übergang zur kostensenkenden Massenproduktion erleichtert werden. Die erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Risiken des wirtschaftspolitischen Reformkurses machen flankierende Maßnahmen erforderlich, für die eine entsprechende Regulierungs-und Orientierungskapazität der staatlichen Verwaltungen vorhanden sein muß. Bei konsequenter Fortführung des eingeschlagenen Reformprozesses können zumindest die größeren lateinamerikanischen Länder im Verlaufe der neunziger Jahre mit einer Wiederbelebung des wirtschaftlichen Wachstums rechnen. Für die meisten der kleineren Staaten in der Region sind hingegen die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven für die neunziger Jahre relativ ungünstig. Auch wenn der wirtschaftspolitische Reformkurs beibehalten wird und die Modernisierung von Staat und Wirtschaft gelingt, werden zu Beginn des nächsten Jahrtausends noch Millionen Lateinamerikaner in absoluter Armut leben.
I. Lateinamerika in der Krise
1. Gesamtwirtschaftliche Entwicklung Die wirtschaftliche und soziale Realität zu Beginn der neunziger Jahre ist von der Erfüllung jener optimistischen Entwicklungsvisionen der sechziger und siebziger Jahre weit entfernt, die Lateinamerika durch nachholende Industrialisierung von außen nach innen die Integration in die Lebensweise der modernen Gesellschaft westeuropäisch-nordamerikanischer Prägung verheißen hatten. Nach einem Jahrzehnt der Dauerkrise hat sich Lateinamerikas Position in der internationalen Wirtschaft nachhaltig verschlechtert. Ein Land wie Argentinien, das in den sechziger Jahren zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt gezählt wurde, taucht im internationalen Rangvergleich nach der Höhe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht einmal mehr unter den ersten zwanzig auf. Während weltweit das wirtschaftliche Wachstum während der achtziger Jahre durchschnittlich 3, 1 Prozent pro Jahr betrug (und 2, 9 Prozent in den OECD-Mitgliedsländern), erreichten die lateinamerikanischen Volkswirtschaften in dieser Periode lediglich 1, 5 Prozent Die ausgeprägte Wachstumsschwäche in Verbindung mit dem anhaltenden Anstieg der Bevölkerungszahl von jährlich 2, 2 Prozent hatte zur Folge, daß im Jahre 1989 das lateinamerikanische Pro-Kopf-BIP nur 11, 4 Prozent des Pro-Kopf-BIP der OECD-Länder erreichte; 1980 hatte der Vergleichswert noch 15, 4 Prozent betragen, und 1970 immerhin 13, 8 Prozent
Abbildung 4
Tabelle 2: Außenhandel und Zahlungsbilanz Lateinamerikas 1980-1989 (in Mrd. US-Dollar)
Quelle: Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, (Tabelle 1).
Tabelle 2: Außenhandel und Zahlungsbilanz Lateinamerikas 1980-1989 (in Mrd. US-Dollar)
Quelle: Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, (Tabelle 1).
Der Rückstand Lateinamerikas gegenüber der gesamtwirtschaftlichen Leistungskraft und dem materiellen Lebensstandard der westlichen (OECD-) Industrieländer hat sich also in der zurückliegenden Dekade weiter vergrößert. Der zusammengefaßte Wert des Produktionsergebnisses der lateinamerikanischen Volkswirtschaften lag 1988 mit 808, 3 Mrd. US-Dollar noch unter dem entsprechenden Ergebnis eines einzelnen mittelgroßen westeuropäischen Industrielandes wie Italien, dessen BIP im Jahre 1988 immerhin 828, 6 Mrd. US-Dollar erreichte -wobei jedoch bei diesem Vergleich zu berücksichtigen ist, daß in Italien 57, 4 Mio. Menschen lebten, in Lateinamerika aber 414 Mio. Das reale (d. h. inflationsbereinigte) BIP pro Kopf betrug am Ende der achtziger Jahre (1989) in Lateinamerika 1985 US-Dollar und lag damit um etwa zehn Prozent unter dem Niveau von 1980 (2181 US-Dollar) In mehreren Ländern der Region (wie Argentinien, Bolivien, El Salvador, Guatemala, Suriname) betrug der Rückgang des Pro-Kopf-BIP während der achtziger Jahre durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr und mehr. Besonders betroffen von der Wirtschaftskrise waren Guyana, Haiti, Nicaragua und Peru, in denen das Pro-Kopf-BIP des Jahres 1989 noch unter dem Stand von 1960 lag Nur in wenigen Volkswirtschaften der iberoamerikanisehen Region vollzog sich während der achtziger Jahre eine Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsergebnisses, die das Wachstum der Bevölkerung übertraf. 2. Armut in Lateinamerika Mitte der achtziger Jahre lebten Weltbank-Schätzungen zufolge 70 Mio. Arme (davon 50 Mio. „extrem Arme“) in Lateinamerika und der Karibik nach UNO-Schätzungen sogar 120 Mio. die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik gab die Zahl der Armen für dasJahr 1986 sogar mit 164 Mio. an, das entspricht 38 Prozent der Haushalte Die Anzahl der in „kritischer“ oder „extremer“ Armut lebenden Menschen dürfte sich zwischenzeitlich noch deutlich erhöht haben, denn der strukturelle Anpassungsprozeß an die veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen, der in vielen Ländern Lateinamerikas eingeleitet wurde, ließ wenig Raum für eine „Anpassung mit menschlichem Gesicht“
Abbildung 5
Tabelle 3: Eckwerte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Lateinamerikas 1980-1989
Quelle: CEPAL, (Tabelle 1); Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, World Tables 1988-89 Edition, Baltimore-London 1989, World Bank, World development report 1991, New York 1991.
Tabelle 3: Eckwerte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Lateinamerikas 1980-1989
Quelle: CEPAL, (Tabelle 1); Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, World Tables 1988-89 Edition, Baltimore-London 1989, World Bank, World development report 1991, New York 1991.
Die strukturellen Anpassungsprogramme in Lateinamerika, und insbesondere deren makroökonomische Stabilisierungskomponenten (die vorrangig auf Inflationsbekämpfung und Wiederherstellung des Gleichgewichts der öffentlichen Haushalte abzielten), waren mit hohen sozialen Kosten verbunden, die gerade die ärmsten Bevölkerungsgruppen schwer getroffen haben Insbesondere den städtischen Armen sowie der armen Bevölkerung in ländlichen Gebieten, die mangels der Möglichkeit eigener Erwirtschaftung des unmittelbaren Lebensunterhalts (Subsistenzproduktion) Nahrungsmittel kaufen muß, ist ein nicht unerheblicher Teil der realen Kosten auferlegt worden, die der strukturelle Anpassungsprozeß in Lateinamerika verursacht(e). Zwar gibt es bislang noch keine umfassenden Daten, aus denen sich die Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Anpassungsmaßnahmen auf die Bevölkerungsgruppen mit dem niedrigsten Einkommen zuverlässig ableiten ließen; unübersehbar ist aber, daß von den Ausgabenkürzungen der öffentlichen Haushalte, die im Zuge der fiskalpolitischen Anpassungsprogramme erforderlich waren, diejenigen Mittel, die vorrangig der armen Bevölkerung zugute kommen (sollen), im großen und ganzen nicht verschont geblieben sind
Nun bedeuten weniger öffentliche Ausgaben nicht zwangsläufig auch ein Weniger an staatlichen Dienstleistungen; zudem schlägt sich der Abbau sozialer Leistungen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in sozialen Indikatoren wie Alphabetisierungsquote, Kalorienverbrauch, Mortalitätsraten nieder. Aber einige grundbedürfnisrele-vante Indikatoren, wie z. B. die Säuglingssterblichkeitsrate und die Morbiditätsziffern bestimmter Krankheiten bei Kindern, zeigen bereits Verschlechterungen an, die in einen unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit der anhaltenden Wirtschaftskrise in Lateinamerika gebracht werden können
Der reale Mindestlohn, ein recht zuverlässiger Indikator für die Einkommensentwicklung der Bevölkerungsmehrheit, lag 1989 im lateinamerikanischen Durchschnitt um 25 Prozent unter dem Niveau von 1980, in einigen Ländern der Region (z. B. Ecuador, El Salvador, Mexiko, Peru) sogar um über 50 Prozent Im Zuge der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen während der achtziger Jahre haben sich die interpersonellen und interregionalen Einkommensunterschiede in vielen lateinamerikanischen Volkswirtschaften weiter verschärft. Die fortschreitende Einkommenskonzentration bedeutete beispielsweise für Brasilien, daß im Jahre 1989 auf die 10 Prozent der ärmsten Haushalte lediglich 0, 6 Prozent des gesamten Einkommens entfielen (1981: 0, 9 Prozent), während die 10 Prozent der Haushalte an der Spitze der Einkommenspyramide 53, 2 Prozent (1981: 46, 6 Prozent) des Gesamteinkommens erzielten 3. Die Schattenwirtschaft blüht Der massive Abbau sozialer Leistungen des Staates bei gleichzeitigem Sinken der realen Einkommen gegenüber einer Verstärkung der Einkommenskonzentration läßt die gesellschaftlichen Spannungen steigen, so daß es tendenziell immer schwieriger wird, konsensfähige Lösungen für die wirtschafts-und sozialpolitischen Probleme Lateinamerikas zu finden. Ohne hinreichenden Zugang zu formalen (Aus-) Bildungsmöglichkeiten, ohne Aussicht auf einen gesicherten Arbeitsplatz, bei fortschreitender „Kalkuttaisierung" der Städte, können vor allem für das Millionenheer der gesellschaftlich deprivierten Jugendlichen Lateinamerikas häufig kaum noch andere Zukunfsperspektiven erkennbar sein als diejenigen der Schattenwirtschaft aus Gelegenheitskriminalität, Prostitution, Drogenhandel, Glücksspiel und schließlich Gewaltverbrechen. Es ist kein Zufall, daß die „Kokain-Wirtschaft“ in Ländern wie Kolumbien, Bolivien und Peru gerade in den achtziger Jahren zum dominierenden Wirtschaftszweig geworden ist, mit einem geschätzten „Umlaufvermögen“ von etwa 500 Mrd. US-Dollar Die Unfähigkeit der herrschenden, traditionellen Oligarchien dieser Länder, das bestehende Wirtschaftssystem zu modernisieren, hat einen Freiraum entstehen lassen, innerhalb dessen Kokain die Basis der Wertschöpfung ist und Narco-Dollars als Tausch-und Zahlungsmittel fungieren. Mit einem vermuteten Gewinn von jährlich ca. 4 Mrd. US-Dollar stellt der Kokainexport für Kolumbien eine wichtigere Einnahmequelle dar als die Ausfuhr von Kaffee und Edelsteinen, Schätzungsweise 1, 7 Mio. Kolumbianer leben von der „Kokain-Wirtschaft“; 450000 Menschen sind mit dem Anbau beschäftigt, 150000 mit der Verarbeitung, 20000 mit Transport, Weiterverarbeitung und Ausfuhr, etwa 2000 Spezialisten widmen sich den finanziellen Transaktionen, der Geldwäsche und den technischen Sicherheitsmaßnahmen. Ähnliche Zahlen gelten für Peru, wo die Narco-Guerilla, die Allianz aus Sendero Luminoso und Drogen-wirtschaft, einen jährlichen Erlös von 1, 2 Mrd. US-Dollar erzielt, und damit etwa halb so viel wie •die legale Exportwirtschaft des Landes. In Bolivien hat die Regierung die Bedeutung der Drogen-produktion für den gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfungsprozeß offiziell anerkannt und konsequenterweise von den USA Entschädigungszahlungen für Vernichtung und Umwidmung der Koka-Anbaugebiete verlangt; das Land, das eines der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika zu verzeichnen hat ist auf die Deviseneinnahmen aus dem Kokainverkauf angewiesen, die mit jährlich schätzungsweise 550 Mio. US-Dollar in etwa den übrigen Exporterlösen entsprechen.4. Demokratisierung und wirtschaftspolitische Neuorientierung Angesichts der brutalen sozialen Realität Lateinamerikas und angesichts des angestauten ökonomischen Problemdrucks nach einem Jahrzehnt der Dauerkrise, lassen sich für die Region ohne viel Phantasie düstere Szenarien wirtschaftlicher und politischer Instabilität entwerfen. Es gibt aber auch durchaus positive Entwicklungen zu konstatieren, die in solchen Szenarien für die neunziger Jahre mitzuberücksichtigen sind. Denn es hat in den Köpfen vieler politischer Entscheidungsträger so etwas wie eine stille Revolution stattgefunden: Ein neues wirtschaftspolitisches Paradigma setzt sich allmählich durch, und damit auch die Bereit-, schäft, neue Lösungsversuche für die immer komplexeren’Probleme Lateinamerikas in Gang zu setzen.
Mit der Ablösung der Militärregime durch zivile Regierungen (z. B. in Ecuador 1979, in Peru 1980, in El Salvador, Bolivien und Argentinien 1983, in Uruguay 1984, in Brasilien 1985, in Chile 1990) begann sich die politische Szene Lateinamerikas zu verändern. Dieser Übergang ist nicht überall problemlos verlaufen, und die Erwartungen der Bevölkerung an die Demokratie haben sich fast immer als zu hoch erwiesen. Die neuen zivilen Regierungen haben zunächst überwiegend versucht, mit alten, nationalistisch-populistischen Rezepten die Probleme ihrer Länder zu kurieren, eher zögerlich und meist erfolglos. Erst gegen Ende der achtziger Jahre setzte sich mit der Amtsübernahme einiger neu gewählter Präsidenten eine neue wirtschaftspolitische Programmatik durch, die durch neoliberale Grundpositionen gekennzeichnet ist: Abschied von einer rein Dritte-Welt-bezogenen Wirtschaftspolitik (Terceiromundismo) und Annäherung an die Industrieländer, verstärkte Einbindung in den Weltmarkt, Modernisierung von Staat und Wirtschaft.
Die wirtschaftspolitischen Reformprogramme zeigen ein erstaunliches Maß an konzeptioneller Übereinstimmung, weitgehend unabhängig von der jeweiligen politischen Basis der neuen Präsidenten; Carlos Andres Perez in Venezuela, Luis Alberto Lacalle in Uruguay, Carlos Salinäs de Gortari in Mexiko, Jaime Paz Amora in Bolivien, Carlos Menem in Argentinien, Fernando Collor de Mello in Brasilien, Alberto Fujimori in Peru -sie alle sind angetreten mit dem Anspruch, den Zyklus der Stagnation und Dekadenz zu beenden und als Erneuerer von Staat und Gesellschaft eine Phase der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft einzuleiten.
Lateinamerika ist dabei, von einem halben Jahrhundert Wirtschaftspolitik Abschied zu nehmen, von einer Wirtschaftspolitik, deren dogmatischer Kern (wenn auch durchaus mit länderspezifischen Variationen) lautete: Wirtschaftliches Wachstum muß durch einen Prozeß importsubstituierender Industrialisierung erreicht werden, bei dessen Strukturierung der korporativistisch verfaßte Staat die entscheidende Rolle zu spielen hat, unter maßgeblicher Beteiligung transnationaler Unternehmen ausländischer (Kredit-) Finanzierung. Die wirtschaftspolitische „Perestrojka in Lateinamerika“ bedeutet den Abschied von binnen-marktorientierten Wachstumsstrategien außenfinanzierter, industrieller Importsubstitution; sie ist zugleich Lateinamerikas überfällige Reaktion auf die Verschuldungskrise. Denn erst mit deren offenem Ausbruch Anfang der achtziger Jahre erwies sich die bislang praktizierte Entwicklungsstrategie, die schon in den siebziger Jahren obsolet geworden war, als nicht mehr finanzierbar (da ökonomisch ineffizient), und folglich de facto auch nicht mehr als fortführbar. Dies wahrzunehmen und die damit verbundenen wirtschafts-und entwicklungspolitischen Implikationen zu berücksichtigen bzw. in gesamtwirtschaftlichen Strategieentwürfen zu antizipieren, ist freilich noch nicht überall in Lateinamerika gleichermaßen gelungen, zumal es den Abschied von vertrauten Denkschablonen und Argumentationsmustern erfordert, einschließlich des Abschieds von populistischen Ansätzen zur vermeintlichen Lösung sozialer Probleme.
Das neue Paradigma einer restrukturierenden, selektiven Weltmarktintegration läuft für die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas auf eine Strategie weltmarktorientierter Spezialisierung auf der Basis der vorhandenen natürlichen Ressourcen hinaus Die Durchführung einer solchen Strategie erfordert freilich Zeit sowie eine erhebliche staatliche Orientierungs-und Regulierungskapazität, will sie mehr sein als Destruktionsstrategie bestehender Industrialisierungsmuster. Eine Strategie der Reorientierung und Restrukturierung der Volkswirtschaft stößt zudem auf den Widerstand vielfältiger Interessengruppen, für welche die bislang etablierten Beziehungen zwischen Staat und privatem Unternehmenssektor Quelle relativ gesicherter „Renteneinkommen“ sind. Ein von der Regierung dekretierter wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel beinhaltet noch keine Garantie für entsprechende Verhaltensänderungen der ökonomischen Akteure; gerade der Erfolg gesamtwirtschaftlicher Reformprogramme, die vor allem auf die Kraft des Marktes bauen, hängt entscheidend von den Aktionen und Reaktionen der Marktteilnehmer ab. Insofern sind die Erfolgsaussichten der neuen makroökonomischen Stabilisierungs-und Anpassungsprogramme in Lateinamerika auch durch die Fähigkeit der Regierungen mitbedingt, sie auf das solide Fundament eines mehrheitsfähigen politischen und sozialen Konsenses zu stellen, die wirtschaftspolitischen Hauptakteure -insbesondere Unternehmen und Gewerkschaften -für ein kooperatives, konzertiertes Handeln zu gewinnen, sie von der längerfristigen Tragfähigkeit des neuen wirtschaftspolitischen Konzeptes zu überzeugen und ihnen klare, stabile Rahmenbedingungen für ihre Dispositionen in Aussicht zu stellen.
Die Chancen der wirtschaftspolitischen Reformen in Lateinamerika hängen also maßgeblich auch davon ab, wie lange sie politisch durchgehalten werden können. Ausreichende internationale Finanzierungshilfen zur Ergänzung und Unterstützung der nationalen Reformbemühungen könnten die interne Akzeptanz der Reformprozesse deutlich verbessern.
II. Die Krise als Chance
Abbildung 2
Quelle: Globus-Kartendienst
Quelle: Globus-Kartendienst
1. Verbesserte Voraussetzungen in den letzten Jahren Ob der wirtschaftspolitische Kurswechsel in Lateinamerika gelingen wird, ob die Region gar in eine Ära wirtschaftlicher Prosperität mit finanzieller Stabilität und sozialem Ausgleich eintreten wird, das ist durchaus offen. Aber die Chancen hierfür stehen zu Beginn der neunziger Jahre deutlich besser als zehn oder fünf Jahre zuvor. Die achtziger Jahre, die in bezug auf Einkommen, Beschäftigung und soziale Leistungen für die große Mehrzahl der Lateinamerikaner zweifelsohne eine „verlorene Dekade“ waren, haben mit ihren tief-greifenden strukturellen Veränderungen zugleich wesentliche Voraussetzungen für verbesserte gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen, die das zukünftige Wachstumspotential positiv beeinflussen können. Werden diese Voraussetzungen konsequent genutzt, dann mag im Laufe der neunziger Jahre zumindest das Licht am Ende des langen Tunnels erkennbar werden, in dem sich die lateinamerikanischen Volkswirtschaften befinden.
Als positive Veränderungen während der letzten Jahre sind insbesondere zu nennen: -die zunehmend verbreitete Einsicht, daß das bisherige Entwicklungsmodell „Rohstoffexport plus industrielle Importsubstitution“ endgültig überholt ist, und statt dessen eine stärkere Orientierung der nationalen Produktionsprofile am Weltmarkt erfolgen muß, bei gleichzeitiger Öffnung der Volkswirtschaften für den internationalen Wettbewerb; -die stärkere Betonung der privaten Ersparnis-
bildung, um den finanziellen Anforderungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung intern, aus eigener Kraft, besser entsprechen zu können; -die Stimulierung der privaten Initiative durch Abbau staatlicher Marktinterventionen und -regulierungen sowie Rückzug des Staates aus dem Unternehmenssektor; -die wachsende Bereitschaft zu einer stabilitätsorientierten finanzpolitischen Disziplin der öffentlichen Haushalte, verbunden mit administrativen Reformen und Dezentralisierung, um die Qualität der staatlichen Dienstleistungen zu verbessern.
Die bislang in Lateinamerika in Gang gesetzten graduellen Reformen in Richtung auf verstärkte Außenorientierung, Marktliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung sind in den wenigsten Fällen das bewußt kalkulierte Ergebnis rationaler Entscheidungen; vielmehr ist dieser Richtungswechsel im Zuge der Verschuldungskrise geradezu zwangsläufig geworden, um einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen und sozialen Dilemma der Region zu finden. Insofern läßt sich die Verschuldungskrise durchaus auch als Chance begreifen, da sie das Ende einer längst schon überholten Entwicklungsstrategie erzwungen hat und Strukturveränderungen einleitete, aus denen eine neue Wachstums-und Entwicklungsdynamik der lateinamerikanischen Volkswirtschaften entstehen kann. 2. Anpassung an die Folgen der Verschuldungskrise Mit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise (1982) änderten sich die Kapitalverkehrsströme zwischen Lateinamerika und der übrigen Welt dramatisch: Die (Netto-) Finanzierungsbeiträge des Auslandes -die hauptsächlich aus Kreditaufnahme und ausländischen Direktinvestitionen resultierten -betrugen im Durchschnitt der Jahre 1983-1989 mit 13, 5 Mrd. US-Dollar pro Jahr lediglich noch etwa ein Drittel der Kapitalzuflüsse in der Vorkrisenperiode 1980-1982 (vgl. Tabelle 1). War der drastische Rückgang der Kreditgewährung eine unmittelbare Folge der vorausgegangenen Zahlungsunfähigkeit wichtiger lateinamerikanischer Schuldnerländer, so spiegelte der akzentuierte Rückgang der direkten Investitionen und der indirekten Kapitalübertragungen aus dem Ausland den Vertrauensverlust der internationalen Kapitalgeber wider sowie deren pessimistische (oder: realistische) Einschätzung der Möglichkeiten einer baldigen Überwindung der Wirtschaftskrise in Lateinamerika.
Bis zum Jahre 1982 hatte Lateinamerika durch Kreditaufnahme im Ausland sowie durch externe Finanzierungszuschüsse einen positiven Nettoressourcentransfer (NRT) vom Ausland erhalten, wodurch die interne Güterverfügbarkeit gesteigert werden konnte; ab 1983 mußte ein negativer NRT an die übrige Welt geleistet werden, der im Zeitraum 1983-1989 durchschnittlich 17, 4 Mrd. US-Dollar pro Jahr betrug und dementsprechend die inländische Güterverfügbarkeit reduzierte. Dieser negative NRT ließ sich nur mittels eines substantiellen Handelsbilanzüberschusses realisieren, d. h. erst nach der gründlichen Veränderung der traditionell defizitären Außenhandelsbeziehungen Lateinamerikas mit der übrigen Welt.
Die erfolgreiche Anpassung des Außenhandels an die verschuldungsbedingten Zahlungsbilanzerfordemisse ist Lateinamerika erstaunlich rasch gelungen, wenn auch mit erheblichen Unterschieden zwischen den Ländern. Seit 1982 weist die zusammengefaßte Handelsbilanz der Region einen Überschuß auf, im Durchschnitt der Jahre 1983-1989 in Höhe von etwa 27 Mrd. US-Dollar pro Jahr (vgl. Tabelle 2). Das Defizit in der lateinamerikanischen Leistungsbilanz in der auf der Soll-Seite vor allem die Zinszahlungen auf die Auslandskredite zu Buche schlagen (in Höhe von ca. 32 Mrd. US-Dollar jährlich im Durchschnitt der Periode 1982-1989), konnte durch die positive Veränderung der Handelsbilanz kräftig abgebaut werden. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die nachhaltige Verbesserung der lateinamerikanischen Handelsbilanzsituation im wesentlichen von nur drei Ländern -Argentinien, Brasilien und Chile -herbeigeführt wurde; besonders Brasilien gelang innerhalb weniger Jahre eine im internationalen Vergleich geradezu spektakuläre Ausweitung seiner Exporterlöse
Bemerkenswerterweise wuchsen die lateinamerikanischen Exporterlöse in der ersten Hälfte der achtziger Jahre deutlich schneller als der Welthandel Zu den Exporterfolgen trugen Produkt-diversifikation (insbesondere im Bereich nicht-traditioneller Ausfuhrgüter), eine realistische Wechselkurspolitik sowie der Abbau der effektiven Protektionsrate der nationalen Gütererzeugung bei Immerhin hatte Lateinamerika noch Mitte der sechziger Jahre über 90 Prozent seiner Exporterlöse mit klassischen Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen erzielt; auch Mitte der siebziger Jahre entfiel noch die Hälfte der Exporteinnahmen auf lediglich zehn Primärprodukte (ohne Erdöl). Der Anteil dieser zehn wichtigsten Rohstoffe und Agrarerzeugnisse ist im Verlaufe der achtziger Jahre auf etwa 20 Prozent der Ausfuhrerlöse gesunken
Per durch die Veränderung der Kapitalverkehrs-ströme bedingte negative NRT aus Lateinamerika bedeutet güterwirtschaftlich, daß die internen Verwendungsansprüche an das BIP reduziert werden müssen, zu Lasten der Investitionen und/oder zu Lasten des Konsums Denn dem NRT an das Ausland muß ein Inlandsäquivalent entsprechen, d. h., die Bruttoinlandsersparnis muß größer sein als die Bruttoinvestition. Damit die Auswirkungen des negativen NRT nicht ausschließlich zu Lasten der Investitionen gehen (und damit zu Lasten des zukünftigen wirtschaftlichen Wachstumspotentials), muß der inländische (private und/oder staatliche) Konsum eingeschränkt werden -mit anderen Worten: Die inländische Bruttoersparnis muß zunehmen.
Zu Beginn der achtziger Jahre war die lateinamerikanische Investitionsquote (d. h.der prozentuale Anteil der Bruttoinvestition am BIP) zunächst drastisch gesunken, bis auf den historischen Tiefststand von 15, 6 Prozent im Jahre 1983, um sich dann allmählich zu erholen, ohne jedoch bislang wieder das Niveau zu erreichen, das am Anfang der Dekade gegeben war (vgl. Tabelle 3). Die Bruttoinlandsersparnis Lateinamerikas würde eine wesentlich höhere Investitionsquote als die tatsächlich realisierte ermöglichen, sofern nicht der verschuldungsbedingte NRT an das Ausland zu leisten wäre. Zudem ist die Sparlücke, d. h. die Differenz zwischen Bruttoinvestition und inländischer Bruttoersparnis, im Zuge der makroökonomischen Anpassungsprozesse auf ca. 1 Prozent des BIP (im Durchschnitt der Periode 1983-1989) gesunken, nachdem sie in den Jahren vor dem Ausbruch der Verschuldungskrise etwa 5 Prozent des BIP betragen hatte. Der Deckungsgrad der Bruttoinvestitionen durch die inländische Ersparnis hat sich also im Laufe der achtziger Jahre deutlich verbessert, was darauf hindeutet, daß die Maßnahmen zur Stärkung der internen Ersparnis-bildung durch Liberalisierung der Finanzmärkte Wirkung zeigten. 3. Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Geht man davon aus, daß die externe Finanzierung der Investitionen in Lateinamerika in den kommenden Jahren nicht in nennenswertem Maße gesteigert werden kann, dann ist eine weitere Erhöhung der Investitionsquote (die zur Beschleunigung des zukünftigen Wirtschaftswachstums beitragen könnte), nur möglich, wenn die inländische Sparquote (d. h.der prozentuale Anteil der inländischen Ersparnis am BIP) zunimmt. Dies würde einen entsprechenden Rückgang der privaten und/oder öffentlichen Konsumquote bedeuten. Genau dieser wichtige Schritt in dem Prozeß der unvermeidlichen Anpassung der Verwendungsstruktur des BIP an die Konsequenzen der Verschuldungskrise in Lateinamerika ist bislang nur zögerlich erfolgt oder steht in mehreren Ländern der Region sogar noch völlig aus. Die Reduzierung der privaten Konsumquote birgt allerdings ein erhebliches soziales und politisches Konfliktpotential, das sich unter Umständen auch gewalttätig entlädt, wenn die Anpassung verteilungspolitisch unausgewogen erfolgt, ohne Berücksichtigung des absoluten Konsumniveaus der Betroffenen. Angesichts des Ausmaßes von Massenarmut in Lateinamerika kann die Einschränkung des privaten Konsums (etwa durch Wegfall von Subventionen oder durch Steuererhöhungen) für einen Großteil der Menschen eine „Schlankheitskur für Hungerleider“ bedeuten: Das Volk soll sich „gesundhungem Ein Austarieren der unumgänglichen Korrektur der makroökonomischen Verwendungsstrukturen unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten setzt allerdings in den meisten lateinamerikanischen Staaten eine entsprechende Reform des Steuersystems und der Praxis der Steuererhebung voraus.
Reformen der Steuertarife und Verbesserungen bei der Steuererhebung sind auch dringend erforderlich, um einen spürbaren Beitrag zur Konsolidierung der Staatshaushalte von der Einnahmens-Seite her zu leisten. Bisher haben die Maßnahmen zur Wiedergewinnung des Budgetgleichgewichts vorrangig bei Kürzungen auf der Ausgabenseite angesetzt. Dies bedeutete in der Praxis, daß hauptsächlich Ausgabepositionen gekürzt wurden, die für sozial benachteiligte Gesellschaftsgruppen ohne größeren politischen Einfluß bestimmt waren, z. B. Ausgaben für Basisgesundheitsdienste, Ernährungssicherungsprogramme und Slumsanierungen. Trotz der enormen sozialen Kosten, die mehrjährige Austeritätshaushalte vieler lateinamerikanischer (Zentral-) Regierungen verursacht haben, belief sich das zusammengefaßte Budgetdefizit der Region im Jahr 1988 noch immer auf 3, 8 Prozent des Bruttosozialprodukts
Ein weiterer wichtiger Schritt in dem Prozeß der gesamtwirtschaftlichen Umstrukturierung, der vielerorts in Lateinamerika noch nicht entschieden genug getan wurde, ist die Liberalisierung der Einfuhren. Diese Maßnahme ist wesentlich, da ein freizügiges Importregime den Wettbewerbsdruck auf die inländischen Unternehmen erhöht, dazu beiträgt, das interne Kosten-und Preisniveau dem Weltmarktstandard anzupassen sowie durch den Transfer von Technologie imitative Innovationen im Inland ermöglicht, die wiederum die internationale Konkurrenzfähigkeit des Exportsektors verbessern können.
Der Importsektor hat sich für viele lateinamerikanische Volkswirtschaften als kritischer Bereich erwiesen, der den Wiederaufschwung der Volkswirtschaften zu strangulieren droht. Denn der Umschwung in der lateinamerikanischen Handelsbilanz -von einem chronischen Defizit zu einem beachtlichen Überschuß -wurde in weit stärkerem Maße durch Importrestriktionen herbeigeführt als durch Exportsteigerungen. Im Durchschnitt der Jahre 1983 -1989 lag der Wert der lateinamerikanischen Einfuhren um ca. 25 Prozent unter dem Niveau der Jahre 1980 -1982; in den ersten vier Jahren nach Ausbruch der Verschuldungskrise waren die Importwerte sogar auf 60 Prozent des Standes von 1981 abgesunken. Die Weltmarktverflechtung Lateinamerikas -gemessen durch die Außenhandelsquote -ist während der achtziger Jahre infolge der. Importdrosselung deutlich gesunken.
Die rigorosen Einfuhrbeschränkungen hatten aber, zumindest im Kapitalgüterbereich, kontraproduktive Effekte, sofern sie zu einer nachhaltigen Qualitätsverschlechterung des gesamtwirtschaftlichen Produktionsapparates führten und in einzelnen Wirtschaftssektoren sogar einen Kapazitätsabbau mangels Ersatzinvestitionen bewirkten. Darüber hinaus unterblieb wegen der Importbeschränkungen der notwendige Technologietransfer, der für die zukünftigen Entwicklungschancen der Volkswirtschaft ebenso von Bedeutung ist wie für die Exportfähigkeit, insbesondere im Bereich industrieller Ausfuhrgüter, die dem auf dem Weit-markt verfügbaren Standard entsprechen müssen. Da dirigistische Einfuhrbeschränkungen zwecks Devisenersparnis bei der gegebenen Struktur der lateinamerikanischen Einfuhrpalette lediglich kurzfristig sinnvoll sein konnten, als Notstands-maßnahme bei drohender oder akuter internationaler Zahlungsunfähigkeit, haben viele Staaten der Region in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre damit begonnen, durch den Abbau von Einfuhrzöllen sowie durch die Beseitigung nicht-tarifärer Hemmnisse den Warenbezug aus der übrigen Welt zu liberalisieren. Lateinamerika ist mehr als jemals zuvor darauf angewiesen, sich verstärkt dem Weltmarkt zu öffnen und Japan, Nordamerika sowie Europa zu Geschäften auf Gegenseitigkeit einzuladen.
III. Konturen einer neuen Entwicklungsstrategie
Abbildung 3
Tabelle 1: Externe Finanzierungsbeiträge und Nettoressourcentransfer Lateinamerikas 1980— 1989 (in Mrd. US-Dollar)
Quelle: CEPAL, Anuario Estadistico de America Latina y el Caribe 1989, Santiago de Chile 1990; Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, World Debt Tables 1988-89 Edition, vol. 1; 1989-90 Edition, vol. 1; 1990-91 Edition, vol. 1; Washington, D. C. 1988, 1989, 1990.
Tabelle 1: Externe Finanzierungsbeiträge und Nettoressourcentransfer Lateinamerikas 1980— 1989 (in Mrd. US-Dollar)
Quelle: CEPAL, Anuario Estadistico de America Latina y el Caribe 1989, Santiago de Chile 1990; Inter-American Development Bank (Anm. 10); World Bank, World Debt Tables 1988-89 Edition, vol. 1; 1989-90 Edition, vol. 1; 1990-91 Edition, vol. 1; Washington, D. C. 1988, 1989, 1990.
1. Trend zu regionaler Kooperation Auch wenn die Eckwerte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen dies noch nicht in aller Deutlichkeit erkennen lassen, so sprechen doch viele makroökonomische Indikatoren dafür, daß in Lateinamerika der strukturelle Anpassungsprozeß an die veränderten weit-und regionalwirtschaftlichen Bedingungen ein gutes Stück vorangekommen ist. Unübersehbar sind auch die in Gang gekommenen wirtschaftspolitischen Reformen in vielen Staaten der Region. Und es lassen sich die Konturen der neuen Entwicklungsstrategie erkennen, an der sich Lateinamerika in den neunziger Jahren vorrangig orientieren wird.
In dem neuen Konzept restrukturierender, selektiver Weltmarktintegration sind -in Analogie zu unternehmerischen Wettbewerbsstrategien -drei Aktionsgrößen strategisch von besonderer Bedeutung: Kostenführerschaft, Produktdifferenzierung sowie Konzentration auf Produktionsschwerpunkte mit komparativen Kostenvorteilen Bei der gegebenen Ausstattung mit natürlichen Ressourcen, menschlichem „Kapital“ sowie Sach-und Finanzkapital läuft die Strategie selektiver Weltmarktintegration für die meisten Volkswirtschaften Lateinamerikas auf eine ressourcenbasierte’ Spezialisierung hinaus, d. h. auf eine exportorientierte Be-und Verarbeitung der vorhandenen natürlichen Ressourcen. Zumindest für die kleineren, strukturschwachen Länder der Region muß eine solche Strategie den Verzicht auf den Ausbau kohärenter, integrierter nationaler Produktionskreisläufe bedeuten, da solche -bei relativ begrenzten Binnenmärkten -mit Kapazitäten arbeiten müßten, die nicht wettbewerbsfähig sein können. Regionale Integration und Kooperation sollten also gerade für diese Staaten von besonderem Interesse sein, um die beabsichtigte Weltmarktintegration durch Regionalisierungsprozesse zu unterstützen, die Binnenmarktpotentiale vergrößern und den Übergang zur kostensenkenden Massenproduktion erleichtern können
Das • wachsende Verständnis von regionaler und subregionaler Zusammenarbeit als Bestandteil und Ergänzung nationaler wirtschaftspolitischer Strategien zeigt sich in verschiedenen Initiativen, wie z. B. in der radikalen Neuorganisation des Caribbean Community Market (CARICOM) seit 1988, verbunden mit einer Ausweitung der Caribbean Basin Initiative (CBI) im Jahre 1990, in der Reorganisation des Sistema Andino de Integraciön, welche die Mitgliedsländer der Grupo Andino (GRAN) 1989 beschlossen haben, oder auch in dem Tratado de Integraciön, Cooperaciön y Desarrollo (TICD) von 1989 zwischen Argentinien und Brasilien, dessen mögliche Ausdehnung auf Paraguay und Uruguay seit 1990 erörtert wird; Mexiko, Kolumbien und Venezuela sind übereingekommen, bis 1994 einen gemeinsamen Markt für Waren zu schaffen Diese iberoamerikanischen Integrations-und Kooperationsprogramme sind auch vor dem Hintergrund der Initiative der US-Regierung (Enterprise for the Americas) zu sehen, die auf eine Nord-, Mittel-und Südamerika umfassende Freihandelszone zielt. Die regionalen und subregionalen Integrationsprojekte in Lateinamerika werden durchaus im Sinne dieser Initiative als pragmatische Zwischenschritte auf dem Weg zu dem weitergehenden Ziel verstanden.2. Zunehmende Bedeutung des Außenhandels Die besondere Bedeutung, die dem Außenhandel im Rahmen der wirtschaftspolitischen Reformdiskussion zugemessen wird, hat durchaus handfeste ökonomische Gründe: Sie stützt sich auf den Befund, daß in den vergangenen Jahren der Welthandel tendenziell stets höhere Wachstumsraten verzeichnen konnte als die globalen ProduktionsZiffern Durch verstärkte Beteiligung am internationalen Handel mit Waren und Dienstleistungen könnten sich auch für Lateinamerika zusätzliche Wachstumschancen ergeben. Dies setzt allerdings Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt voraus.
Kostenführerschaft in einem Segment des Weltmarktes läßt sich im allgemeinen nur erzielen, wenn eine Kombination von Standortvorteilen, Lohnkostenvorteilen, volumenbedingter Kostendegression und modernen Produktionsanlagen zustandekommt. Die Verwirklichung einer solchen Kombination macht nationale Unternehmen als Partner für ausländische Konzerne interessant, und damit für Direktinvestitionen aus dem Ausland. Die meisten lateinamerikanischen Volkswirtschaften können bei der gegebenen Ausgangslage eine erfolgversprechende Eingliederung in den Weltmarkt nur selektiv ansteuern, d. h. in einzelnen Bereichen, in denen sie aus dem Komplex von natürlichen Ressourcen, Standortvorteilen und Humankapital eine international konkurrenzfähige industrielle Fertigungskompetenz zu entwickeln in der Lage sind. Die technologischen und finanziellen Anforderungen, die mit einer solchen exportorientierten Komplexbildung verbunden sind, dürften allerdings die nationalen Möglichkeiten in den meisten Fällen übersteigen und nur in regionaler Kooperation und/oder mit starker Beteiligung aus den Industrieländern erfüllt werden können. Der Wiederbelebung der ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika sowie der Verbesserung der technologischen Adaptionsfähigkeit an international führende Standards durch eine praxisnahe Ausbildungs-und Forschungspolitik kommt mithin in der Strategie selektiver Weltmarktintegration ebenfalls entscheidende Bedeutung zu 3. Risiken des wirtschaftspolitischen Reformkurses Durch die intensiven Diskussionen während der letzten Jahre haben sich die konzeptionellen Vorstellungen inzwischen weitgehend konkretisiert, wie die Strategie selektiver Weltmarktintegration auf der operativen Ebene der Wirtschafts-, Finanz-und Industriepolitik unter den sozioökonomischen und soziokulturellen Bedingungen der lateinamerikanischen Länder mittelfristig zu gestalten wäre Aber auch die Risiken einer solchen Strategie sind mittlerweile deutlicher erkennbar geworden: -Die Herstellung industrieller Wettbewerbsfähigkeit und die Schwerpunktkonzentration als notwendige Bedingung selektiver Weltmarktintegration erfordern wirtschafts-, finanz-, sozial-und umweltpolitische Orientierungs-und Regulierungskapazitäten des Staates in einem Ausmaße, das in den meisten lateinamerikanischen Staaten derzeit (noch) nicht gegeben ist. -Bei einem radikalen Wechsel zu ausschließlich marktvermittelten Steuerungsmechanismen würde vermutlich ein großer Teil der lateinamerikanischen Industriegüterproduktion mangels Wettbewerbsfähigkeit nicht aufrechterhalten werden können. Zumindest in einer ersten Phase des wirtschaftspolitischen Reformprozesses kann daher auf ein Regulierungsmuster nicht verzichtet werden, das die Deregulierung soweit vorantreibt, wie es für die stärkere Wettbewerbsorientierung der Unternehmen unerläßlich ist, ohne jedoch gleichzeitig eine massive Deindustrialisierung in Gang zu setzen. -Eine Strategie selektiver Weltmarktintegration, die vorrangig auf den Export von Rohstoffen und Agrarprodukten, arbeitsintensiven Industrieprodukten sowie von industriellen Erzeugnissen mittlerer technologischer Komplexität abzielt, muß die wachsende Konkurrenz ande- rer Entwicklungsländer einkalkulieren, die eine gleichgerichtete Strategie verfolgen. Denn der Wettbewerb zwischen Imitatoren führt stets zu sinkenden Preisen -Bei einer Spezialisierung auf kapitalintensive Produktions-und Verarbeitungskomplexe sind die kürzer werdenden Produktlebenszyklen industrieller Erzeugnisse sowie der rasche technologische Wandel in den Industrieländern spezifische Risikofaktoren. -Eine ressourcenbasierte Spezialisierung kann in kurzer Zeit zu einer starken Übernutzung von Wasser, Böden und Wald führen; Brasilien und Chile sind hierfür dramatische Beispiele. Angesichts des ohnehin schon starken ökologischen Problemdrucks in Lateinamerika würde die Forcierung eines weitgehend unregulierten privatwirtschaftlichen Zugriffs auf die natürlichen Ressourcen zwecks Inwertsetzung für den Weltmarkt katastrophale Folgen haben -Deregulierung im Bereich des (formellen) Arbeitsmarktes könnte in vielen Ländern Lateinamerikas dazu beitragen, die Nutzung der Produktionsanlagen zu intensivieren. Der Abbau staatlicher Regulierungen zum Schutze der Arbeitnehmer setzt aber voraus, daß Formen partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zwischen Unternehmensführung und Belegschaft entstehen. -Solange nicht die gravierenden Probleme des ländlichen Raums gelöst sind, tendieren marktorientierte wirtschaftspolitische Reformen dazu, die hypertrophe Standortkonzentration sowie die ausgeprägten regionalen Disparitäten zu verstärken, die für die meisten lateinamerikanischen Länder charakteristisch sind. -Die Erfolgsaussichten selektiver Weltmarktintegration der lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind nicht nur endogen durch interne wirtschaftspolitische Reformbereitschaft und -fähigkeit determiniert, sondern auch exogen durch die Bereitschaft der Industrieländer, ihren Protektionismus in den relevanten Weltmarktsegmenten abzubauen.
Nur in dem Maße, in dem die Risiken des neuen lateinamerikanischen Entwicklungsstils rechtzeitig erkannt werden, läßt sich auch Vorsorge treffen, um unerwünschte Fehlentwicklungen zu vermeiden. Allerdings erfordern flankierende, risikomindemde wirtschafts-und sozialpolitische Maßnahmen zusätzliche Regulierungskompetenz der staatlichen Administrationen. Die öffentlichen Verwaltungen müßten nicht nur funktional integer sein (mit deutlicheren Worten: nicht korrupt), sondern sie müßten auch konzeptionell-organisatorisch in der Lage sein, Veränderungen im makroökonomischen Datenkranz und/oder in den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen rasch zu erkennen und in der wirtschaftspolitischen Strategie pragmatisch zu adaptieren. 4. Vorsichtiger Optimismus für die neunziger Jahre Bei konsequenter Fortführung des eingeschlagenen Reformprozesses könnten zumindest die größeren lateinaiherikanischen Länder (Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Venezuela) im Verlaufe der neunziger Jahre mit einer Dynamisierung ihrer Volkswirtschaften rechnen, bei jährlichen Wachstumsraten des BIP zwischen 3, 9 und 5, 2 Prozent Wirtschaftliches Wachstum in dieser Größenordnung würde bei einem prognostizierten Bevölkerungszuwachs von 1, 8 Prozent pro Jahr einen deutlichen Anstieg des Pro-Kopf-BIP ermöglichen. Das günstige Wachstumsszenario setzt jedoch unter anderem voraus, daß die externen Finanzierungsbeiträge deutlich zunehmen, entweder durch einen Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen und/oder durch Repatriierung von Fluchtkapital infolge attraktiverer Anlage-möglichkeiten im Inland und/oder durch verstärkte (Netto-) Kreditaufnahme im Ausland nach Wiederherstellung der internationalen Kreditwürdigkeit. Neben einer Reformpolitik, die Kapitalimport fördert, ist auch ein erheblicher Abbau der lateinamerikanischen Altschuldenlast gegenüber dem Ausland erforderlich, um den negativen Nettoressourcentransfer zu vermindern
Ohne Umschuldungsvereinbarungen, die auf eine faktische Reduzierung des Schuldendienstes hinauslaufen, ist für Lateinamerika kaum ein Ausweg aus der Finanzkrise erkennbar. Zwar hat es in den vergangenen Jahren zahlreiche Umschuldungsab-kommen mit den öffentlichen und kommerziellen Gläubigern der meisten lateinamerikanischen Schuldnerländer gegeben, aber mit immer neuen Refinanzierungspaketen und Umstrukturierungsformeln wird die Krise lediglich verwaltet, ohne einer Lösung wesentlich näher zu kommen. Was Lateinamerika dringend benötigt, ist eine politische Verhandlungslösung, die dem Gedanken des Schuldnerschutzes Rechnung trägt, d. h.der ökonomischen Überlebensfähigkeit -und damit auch Zahlungsfähigkeit -des Schuldners Eine solche Lösung kann jedoch nur im Einverständnis mit den kommerziellen Gläubigerbanken erzielt werden, auf die mehr als zwei Drittel der gesamten ausländischen Kreditforderungen (in Höhe von über 420 Mrd. US-Dollar) gegenüber Lateinamerika entfallen.
Die Umschuldungsabkommen, die z. B. Mexiko 1989 sowie Venezuela und Costa Rica 1990 im Rahmen der sog. Brady-Initiative der USA-Administration mit den Geschäftsbanken abgeschlossen haben, sind ein ermutigender Schritt in die richtige Richtung. So konnte Mexiko einen substantiellen Abbau seiner öffentlichen Schulden gegenüber Geschäftsbanken erreichen, in Höhe eines Gegenwartswertes von (1990) etwa 36 Mrd. US-Dollar
Es gibt also durchaus Anzeichen für eine allmähliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Lateinamerikas. Allerdings werden Länder wie Nicaragua oder Haiti kaum in der Lage sein, aus eigener Kraft eine Entwicklung zum Besseren einzuleiten; sie sind und bleiben vorerst auf humanitäre Hilfe vom Ausland angewiesen. Für die meisten der kleineren lateinamerikanischen Länder sind die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven in den neunziger Jahren relativ ungünstig, selbst bei optimistischen Annahmen hinsichtlich wirtschaftspolitischer Reformerfolge. Von einer stabilen, etablierten Reformpolitik kann ohnehin nur in einigen wenigen Fällen gesprochen werden, wie beispielsweise in Kolumbien und Chile. Aber auch das „Modell Chile“, das von der Weltbank und anderen internationalen Finanzierungsinstitutionen den übrigen lateinamerikanischen Staaten zur Nachahmung empfohlen wurde hat an Glanz verloren, seitdem die Regierung des Präsidenten Patricio Aylwin eine ungeschönte Bestandsaufnahme der ökonomischen und sozialen Hinterlassenschaft des Pinochet-Regimes vorgelegt hat; 5 Mio. Arme bei einer Gesamtbevölkerung von 13, 5 Mio. sind mehr als nur Schönheitsfehler in der wirtschaftlichen Erfolgsbilanz Chiles
Wie rasch anfänglich entschlossener Reformismus in der politischen Realität Lateinamerikas in konzeptionsloses wirtschaftspolitisches Durchlavieren zurückfallen kann, wenn es darum geht, das politische Überleben der Regierung zu sichern, zeigten in jüngster Zeit die Beispiele der neuen Administrationen in Argentinien und Brasilien
Lateinamerika befindet sich inmitten eines langwierigen Prozesses technisch-organisatorischer und politisch-sozialer Umbrüche. Ob es gelingt, eines der Ziele dieses Prozesses zu erreichen, die Herausbildung weltmarktorientierter, nationaler Industrialisierungs-und Spezialisierungsprofile, bei gleichzeitiger Beherrschung international üblicher Produktions-und Kommerzialisierungstechniken, ist ungewiß. Aber selbst wenn der Prozeß erfolgreich verläuft, wenn der wirtschaftspolitische Reformkurs beibehalten wird und die Modernisierung und Dynamisierung der Volkswirtschaften gelingt, werden zu Beginn des nächsten Jahrtausends noch Millionen Lateinamerikaner in absoluter Armut leben.
Hinzu kommt, daß der Wachstums-und Industrialisierungspfad, auf den das neoliberale Reformprojekt die lateinamerikanischen Volkswirtschaften führen soll, nicht zwangsläufig in eine unter wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gesichtspunkten dauerhaft tragfähige Entwicklung mündet. Jedoch ist derzeit für Lateinamerika keine Alternative zu diesem Reformprojekt erkennbar.
Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol. habil., geb. 1945; Privatdozent am Institut für international vergleichende Wirtschafts-und Sozialstatistik der Universität Heidelberg; mehrjährige Lehr-und Forschungsaufenthalte in Brasilien; wirtschaftspolitische Beratertätigkeit in Ländern Lateinamerikas und Afrikas. Zahlreiche Veröffentlichungen zu entwicklungsökonomischen und wirtschaftsstatistischen Fragen.
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