Wirtschafts-und Sozialpolitik unter Mitterrand 1981-1991. Reformimpulse und Strukturanpassungen
Henrik Uterwedde
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Zusammenfassung
Die zehnjährige Präsidentschaft Francois Mitterrands ist geprägt von einer durchaus widersprüchlichen Folge unterschiedlicher wirtschafts-und sozialpolitischer Ansätze. Dabei hat sich die 1983 durchgesetzte Hinwendung zu einer stabilitäts-und marktorientierten Wirtschaftspolitik als entscheidende Zäsur nicht nur der sozialistischen Regierungszeit erwiesen: Vielmehr markiert sie den Abschied von einer jahrzehntelang praktizierten Politik inflationären Wachstums und die Durchsetzung eines neuen Musters der Krisenbewältigung. Die Konjunktur-und Währungspolitik hat ihren Stabilitätskurs seit 1983 mit bemerkenswerter Kontinuität durchhalten können und zu einer makroökonomischen Stabilisierung geführt, die allerdings nur auf Kosten der Einkommens-und Beschäftigungsentwicklung erreicht wurde; die Spielräume für eine binnenwirtschaftliche Wachstumspolitik sind empfindlich eingeengt worden. Die Massenarbeitslosigkeit konnte nur kurzfristig gestoppt werden; der kostspielige Einsatz einer breiten Palette spezifischer Arbeitsmarktprogramme hat soziale Folgen teilweise lindem können, ohne strukturelle Probleme wie die Jugendarbeitslosigkeit beheben zu können. Neue ordnungspolitische Weichenstellungen haben die in Frankreich besonders zahlreichen tradierten zentralstaatlichen Dirigismen zugunsten stärker marktwirtschaftlicher Regulierungsformen zurückgedrängt. Dies gilt auch für die Industriepolitik, deren ehrgeizige sektorale Entwicklungspläne einer eher klassischen marktorientierten Sanierungs-und Strukturanpassungspolitik Platz gemacht haben. Der trotz der 1986-1988 erfolgten Privatisierung immer noch umfangreiche öffentliche Wirtschaftssektor schließlich unterliegt einem Funktionswandel, der sich in einer wachsenden Durchmischung mit privatem Kapital und einer Aufgabe der früher üblichen industriepolitischen Instrumentalisierungen seitens der Regierung äußert. Die in der Ära Mitterrand erfolgte Stabilisierung, Konsolidierung und Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft hat nicht alle Strukturdefizite und Wettbewerbsschwächen der französischen Wirtschaft beseitigen können. Nicht zuletzt in Hinblick auf den entstehenden europäischen Binnenmarkt wird ein weiterer Umbau der herkömmlichen staatlichen Interventionsmöglichkeiten als notwendig angesehen.
Der zehnte Jahrestag der Präsidentschaft Frangois Mitterrands im Mai 1991 hat allenthalben gemischte Gefühle ausgelöst. Selbst wenn die wirtschaftspolitische Bilanz aus heutiger Sicht nicht schlecht ausfällt, überwiegt doch das Bild einer mit den Jahren zwar solide, aber auch konturlos gewordenen Politik Die noch vor wenigen Jahren gestellten Fragen nach dem »sozialistischen«, d. h. gesellschafts-bzw. strukturverändernden Charakter der Wirtschafts-und Sozialpolitik der Linken unter Mitterrand scheinen bereits einer fernen Epoche anzugehören. Sie sind abgelöst worden von der alles überschattenden Frage, wie gut die französische Wirtschaft für den Europäischen Binnenmarkt gerüstet ist, und welche Schwierigkeiten ihr aufgrund vorhandener Strukturschwächen in Wirtschaft und Gesellschaft drohen.
I. Brüche und Kontinuitäten 1981-1991
1. Etappen und Wendemarken Das hervorstechendste Merkmal der Ära Mitterrand liegt zunächst einmal in dem wahren Wechselbad unterschiedlicher Politiken, denen Wirtschaft und Gesellschaft seit 1981 ausgesetzt worden sind 1. Phase: Nach dem Machtwechsel 1981 versuchte die sozialistisch-kommunistische Regierung, mit einer Politik der Strukturreformen und des »sozialen Wachstums« eine neue Logik der Wirtschaftsentwicklung herbeizuführen. Ihr Wachstumsprogramm verband wirtschafts-und sozialpolitische Zielsetzungen und baute auf eine -durch die Steigerung von Löhnen und Sozialeinkommen ausgelöste -Erhöhung der Massennachfrage als erste Stufe einer neuen Wachstumslogik. Ferner setzte die Regierung eine Reihe von Strukturreformen in Gang, zu deren wichtigsten das Nationalisierungsprogramm, die Auroux-Gesetze zur Untemehmensreform sowie die Dezentralisierung der Verwaltung zählen. Schließlich wurde -in Verbindung mit dem Verstaatlichungsprogramm -eine ehrgeizige industriepolitische Strategie formuliert, die die nationalen Produktionsstrukturen stärken und zur »Rückeroberung des Binnenmarktes« beitragen sollte.
Diese erste Phase der sozialistischen Wirtschaftsund Sozialpolitik stieß sehr bald an ihre Grenzen, weil sie die Inflation, die Staatsverschuldung und das Außenhandelsdefizit erhöhte und die Parität des Franc unterminierte, den erhofften Wachstumsschub aber nicht erreichen konnte.
2. Phase: Die von Wirtschaftsminister Jacques Delors ansatzweise im Juni 1982, endgültig im März 1983 durchgesetzte Spar-und Stabilisierungspolitik der »rigueur« (Strenge, Härte) kennzeichnet die erste und entscheidende Wende der sozialistischen Regierungspolitik. Der mit einer gewissen Dramatik eingeführte Delors-Plan stellte mit einer restriktiven Haushalts-, Nachfrage-, Lohn-und Einkommenspolitik die Weichen für eine grundlegende Stabilisierung der französischen Wirtschaft
3. Phase: Das ursprüngliche, ehrgeizige Konzept einer nationalen Strukturerhaltungs-und -entwicklungspolitik auf breiter Basis wurde angesichts knapper Finanzressourcen und zahlreicher Branchenprobleme bald aufgegeben. Mit der Durchsetzung einschneidender Sanierungspläne in der Industrie setzte 1984 eine eher klassische, zuvor lan-ge Jahre verschleppte Sanierungspolitik ein, die für einige Krisenbranchen mit der Schließung von Produktionsanlagen und einem drastischen Abbau der Arbeitsplätze verbunden war. Gleichzeitig begann unter Premierminister Laurent Fabius (1984-86) eine vorsichtige Politik der Deregulierung und Liberalisierung in der Wirtschaft. Phase: Die nach dem Wahlsieg der Rechtsparteien in den Parlamentswahlen 1986 von Mitterand ernannte bürgerliche Regierung mit dem neogaullistischen Premierminister Jacques Chirac und Wirtschafts-und Finanzminister Edouard Balladur setzte diese Liberalisierungsansätze verstärkt fort. Vor allem aber leitete sie eine umfassend angelegte Privatisierungspolitik ein, die allerdings nach dem Börsenkrach im Herbst 1987 ins Stocken geriet und nicht vollständig durchgeführt werden konnte 4).
Phase: Nach der Wiederwahl Mitterands 1988 übernahmen die Sozialisten aufgrund ihres Sieges in den vorgezogenen Parlamentswahlen mit Premierminister Michel Rocard wieder die Regierung. Damit begann eine noch andauernde Phase des Pragmatismus in der Wirtschafts-und Sozialpolitik, die keine spektakulären Umbrüche und Strukturreformen mehr beinhaltet und einen vorsichtig-abwägenden Kurs der Mitte steuert. Diese Politik ist Ausdruck der politischen Vorgabe von Präsident Mitterrand, dessen Wahl 1988 im Zeichen des »einigen Frankreich« (la France unie) und des Willens stand, unnötige ideologische Grabenkriege künftig zu vermeiden. Sie dürfte auch nach der im Mai 1991 erfolgten Entlassung Rocards und der Ernennung von Edith Cresson nicht verlassen werden, trotz einiger -bislang weitgehend verbaler -Kraftakte der neuen Regierungschefin 5). 2. Die Zäsur von 1983
Heute besteht kein Zweifel mehr daran, daß der wirtschaftliche Kurswechsel von 1983 als die eigentliche Wendemarke nicht nur der sozialistischen Wirtschaftspolitik, sondern auch der seit 1974 dominierenden Ansätze der Krisenbewältigung anzusehen ist und in gewisser Weise sogar einen Bruch mit der seit 1945 praktizierten Wirtschaftspolitik darstellt. Der bis 1982 vorherrschende Kurs beruhte im Grund auf einem von Inflation begleiteten Wachstum, dessen negative Folgen für die Exportindustrie durch eine Politik der »kompetitiven Abwertung« periodisch ausgeglichen wurden; auf einer Verteilungspolitik, die die Krisenlasten ab 1974 überwiegend den Unternehmen aufbürdete; auf einer wohlfahrtsstaatlichen Abfederung der Krisenfolgen, die die Steuer-und Abgabenlast kräftig erhöhte, sowie in einem verstärkten Einsatz des staatsinterventionistischen Arsenals. In mancher Sicht stellt auch die erste Phase der sozialistischen Regierungspolitik eher eine -auf die Spitze getriebene -Fortführung der alten Logik als einen wirklichen Bruch dar.
Seit 1983 hat sich ein neues Muster der Krisenbewältigung durchgesetzt, dessen Eckpunkte die Priorität für die Preisstabilität, die Währungspolitik des »starken Franc«, die verteilungspolitische Neuorientierung zugunsten der Kapital-und Unternehmereinkommen, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die Stabilisierung der Steuer-und Abgabenlast sowie die Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft darstellen. Darüber hinaus hat sich die Wirtschaftspolitik klarer denn je zur Einbindung in die EG in allen daraus folgenden Einschränkungen für die autonome nationale Wirtschaftssteuerung bekannt und Europa als die eigentliche Dimension ihrer Politik bezeichnet. Diese Trendwende, die im übrigen einer allgemeinen Renaissance liberaler wirtschaftspolitischer Konzepte in den OECD-Staaten spätestens seit dem zweiten Ölschock entspricht, hat sich indessen nicht in reiner Form durchgesetzt. Sie wird überlagert von Kontinuitäten, die sich aus strukturellen Problemlagen der französischen Wirtschaft und Gesellschaft ergeben, und ist im übrigen durch die kontroverse, erratische Suche nach einem neuen Wachstumsmodell sowie einem neuen ordnungspolitischen Gleichgewicht zwischen Staat, Gesellschaft und Markt gekennzeichnet
II. Herausforderungen und Optionen
1. Konjunktur-und Ordnungspolitik: die Logik der »rigueur« Die mit dem Delors-Plan 1983 initiierte neue Phase der stabilitäts-und marktorientierten Wirtschaftspolitik wird, wenngleich mit Varianten, seit nunmehr acht Jahren praktiziert und hat zwei Regierungswechsel sowie fünf Premierminister überdauert, was an sich schon eine bemerkenswerte Verstetigung der Wirtschaftspolitik darstellt.
Dreh-und Angelpunkt war und ist die 1983 vollzogene Grundentscheidung, im Europäischen Währungssystem (EWS) zu verbleiben und die damit verbundenen Einschränkungen für die Autonomie der Binnenwirtschaftspolitik hinzunehmen. Die Zwänge des EWS waren geradezu ein Hebel für die innenpolitische Durchsetzung des Delorsschen Wirtschaftskurses. Die mit der EWS-Entscheidung verbundene Politik des »starken Franc« versucht seit 1983 erfolgreich, die Parität der französischen Währung im europäischen Wechselkursverbund stabil zu halten und Abwertungen zu vermeiden Damit wurde ein Bruch mit der in den siebziger Jahren bis 1983 vollzogenen Politik der »dvaluation comptitive«, d. h.der gezielten Abwertungspolitik zum Ausgleich von inflationsbedingten Wettbewerbsnachteilen der französischen Exporteure, vollzogen.
Diese währungspolitische Vorgabe implizierte vor allem eine Wirtschaftspolitik, die den jahrelang praktizierten Kurs des inflationären Wachstums aufgab und sich stärker an den Stabilitätszielen der wichtigsten Partnerländer, vor allem der Bundesrepublik, orientierte. Darüber hinaus wurden auch die anderen binnenwirtschaftlichen Ziele wie die Wachstums-und Nachfrageentwicklung dem Imperativ des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts untergeordnet -eine schwierige Anpassungsleistung für die französische Wirtschaft und Gesellschaft, die sich seit Beginn der sechziger Jahre auf hohe jährliche Wachstumsraten eingestellt hatten, um vielfältige ungelöste Entwicklungs-und Modernisierungsprobleme zu bewältigen. Fortan orientierte sich die Wirtschaftspolitik an einem Wachstumspfad, der eher unterhalb desjenigen der wichtigsten europäischen EG-Partner lag, um ein Konjunkturgefälle, einen dadurch ausgelösten Importsog und damit erneute außenwirtschaftliche Ungleichheiten zu vermeiden. Dieser Einsatz einer restriktiven Nachfragepolitik zur Vermeidung von Handelsbilanzdefiziten, der aufgrund französischer spezifischer Angebotsschwächen und Importabhängigkeiten verfügt wurde, gehörte zu den innenpolitisch immer wieder umstrittenen Elementen der »rigueur«
Als wichtigster Hebel für die Stabilisierung der Preisentwicklung hat sich die von Jacques Delors 1983 durchgesetzte und fortan praktizierte Preis-und Einkommenspolitik erwiesen, die die bestehenden Quasi-Indexierungen, d. h. automatischen Anpassungen von Einkommen an die Preisentwicklung, erfolgreich durchbrach. Dieser Kurs äußerte sich vor allem in einer restriktiven Lohn-politik. Der Regierung gelang es, bestehende Lohngleitklauseln zu durchbrechen und die Forderungen der Gewerkschaften sowie die Tarifabschlüsse nicht mehr an den erwarteten (bis zu Beginn der achtziger Jahre hohen) Inflationsraten, sondern an den nach unten gerichteten Stabilitätszielen der Regierung auszurichten
Die Politik geringer Lohnzuwächse ist erstaunlich lange durchgehalten worden und hat von 1983 bis 1988 den Abhängigen nur noch magere Kaufkraft-gewinne gebracht. Angesichts wachsender Proteste und Streiks, vor allem im öffentlichen Dienst, sah sich die Regierung Rocard 1989/90 zu einigen lohnpolitischen Zugeständnissen (u. a. Struktur-verbesserungen im Tarifsystem des öffentlichen Dienstes) gezwungen, die allerdings keine wirkliche Aufweichung der »rigueur« bedeuteten.
Die Haushaltspolitik steht nach der kurzfristig expansiven Ausgabenpolitik von 1981/82 im Zeichen eines Spar-und Konsolidierungskurses. Seit 1986 gelang eine schrittweise Rückführung des Haushaltsdefizits von 153 Mrd. Francs (1985) auf unter 100 Mrd. Francs (1989), was aber als ungenügend angesehen wird. Nachdem die Regierung Rocard in der Wachstumsphase 1988-1990 die Konsolidierung zugunsten einiger Reformvorhaben hintangestellt hat und sich die Haushaltslage mit dem Konjunktureinbruch 1990 verschlechterte, steht die neue Premierministerin Edith Cresson heute vorder Notwendigkeit, erneut die Bremsen fest anzuziehen. Der Haushaltsentwurf für 1992 steht im Zeichen eines strikten Nullwachstums
Der Spar-und Stabilisierungskurs wurde von einer Politik ergänzt, die sich der Verbesserung der unternehmerischen Rahmenbedingungen verschrieben hat. Sowohl die restriktive Lohn-als auch die Steuer-und Abgabenpolitik hat ab 1985 die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkünfte gegenüber den Abhängigeneinkommen begünstigt und damit die Finanzierungskraft der Unternehmen gestärkt
Ferner sind neue ordnungspolitische Weichenstellungen vorgenommen worden -ein weites Betätigungsfeld in einem Land, das bis vor kurzem mehr als seine Nachbarn durch vielfältige Dirigismen und zentralstaatliche Kontrollsysteme aller Art gekennzeichnet war. Beispiele sind die 1986 verfügte Abschaffung der seit 1944 bestehenden staatlichen Preiskontrollen und -genehmigungen, der graduelle Abbau von Wettbewerbshemmnissen, der -allerdings begrenzte -Bedeutungszuwachs der Wettbewerbspolitik, ferner die Deregulierungen im Post-und Fernmeldebereich sowie Lockerungen im Arbeitsrecht
Vor allem aber hat sich seit 1985 im Bereich des Finanz-und Kreditwesens eine stille Revolution vollzogen. Mit der Liberalisierung und Reform der Finanzmärkte wurde die Möglichkeit der Unternehmen zur direkten externen Kapitalbeschaffung ohne Vermittlung über Banken systematisch erweitert. Die früher engen staatlichen Kontrollen und Eingriffe in die Finanzmärkte, etwa die direkte Kreditsummensteuerung (encadrement du crdit) oder die ausgedehnte staatliche Zinssubventionspolitik, wurden durch marktkonformere Steuerungsinstrumente ersetzt. Und nicht zuletzt wurde der durch zahlreiche kategorieile Abschottungen zwischen Finanzierungsarten und -instituten gekennzeichnete Kreditmarkt vereinheitlicht und damit erstmals wirklich dem -auch internationalen -Wettbewerb ausgesetzt.
In der Folge ist das französische Finanzsystem konkurrenzfähiger geworden; die Finanzierungen orientieren sich stärker als früher an den tatsächlichen Marktpreisen; die Finanzierungskosten für Unternehmen sind gesunken; die Börse hat (schon seit 1982) einen wahren Boom erlebt, der die Aktienkurse verfünffacht hat. Die Kehrseite dieses Prozesses wurde im Börsenkrach 1987 veranschaulicht: Die Finanzmärkte sind krisenanfälliger geworden, und vor allem, so räumt man auch im Wirtschaftsministerium ein, haben die größeren, nicht aber die kleinen und mittleren Unternehmen von den Reformen profitiert 2. Erfolge und Grenzen der »rigueur« Die seit 1983 praktizierte Mischung aus makroökonomischer Stabilisierung und ordnungspolitischer Marktorientierung kann zweifellos wichtige Erfolge verbuchen. Sie hat einen mutigen, damals unpopulären Bruch mit einer zwei Jahrzehnte andauernden Inflationsmentalität aller ökonomischen Akteure vollzogen und das inflationäre Wachstum der sechziger und siebziger Jahre erfolgreich durch eine gleichgewichtigere Entwicklung der Wirtschaft ablösen können (vgl. Tabelle). Die Stabilisierung der Preisentwicklung lag zwar im internationalen Trend der achtziger Jahre und wurde überdies durch Dollarkurs-und Ölpreisstürze ab 1986 zusätzlich begünstigt. Aber Frankreich hat darüber hinaus seine überdurchschnittliche Inflationsrate, in den französischen Medien häufig an der »Inflationsdifferenz« z. B. zur Bundesrepublik dargestellt, kontinuierlich abbauen können Darüber hinaus hat der »lange Atem« der nunmehr acht Jahre andauernden Desinflationspolitik internationales Vertrauen in die Stabilität der französischen Wirtschaft ebenso wie in die Stetigkeit der Wirtschaftspolitik geschaffen, von dem der Franc zu profitieren beginnt.
Die Situation der französischen Unternehmen hat sich grundlegend gebessert. Nach einer von 1974 bis 1982 dauernden Phase sinkender Gewinne, steigender Belastungen sowie quasi stagnierender Investitionen wurde ein Prozeß der Sanierung, Umstrukturierung und Entschuldung in Gang gesetzt, der ab 1987 auch zu steigenden Investitionen und damit zur Modernisierung der Produktionsstrukturen führte.Die erfolgreiche Stabilisierung hat jedoch auch ihre Kehrseite. Ein achtjähriger Bremskurs bei Haushaltsausgaben, Löhnen und Sozialeinkommen war notwendig, um die Tendenzwende herbeizuführen. Die Wachstumsrate blieb, mit Ausnahme der guten Jahre 1989/90, eher unterhalb des europäischen Durchschnitts; der französische Binnenmarkt bot wenig Expansionschancen. Noch alarmierender sind die Zahlen des Arbeitsmarktes. Die hohe Arbeitslosigkeit (für Ende 1991 wird ein Anstieg auf 2, 7 Mio. erwartet) ist auch eine Folge geringer Wachstumsraten.
Wann die nunmehr stabilisierte französische Wirtschaft eine neue Wachstumsdynamik entfalten kann, ist vorerst offen. Die Perspektiven für Ende 1991 und das Jahr 1992 sind verhalten
Ein Grund dafür wird in dem nach wie vor hohen Realzinsniveau gesehen, dem höchsten unter den sieben führenden Industrienationen. Dies ist der Preis, den die Verteidigung der Franc-Parität im EWS kostet: Um Devisenabflüsse und einen Abwertungsdruck auf den Franc-Kurs zu vermeiden, ist ein hohes, an den deutschen Zinssätzen orientiertes Zinsniveau offenbar unumgänglich; vereinzelte Versuche einer isolierten Zinssenkung durch die französische Zentralbank (Banque de France) im April und Oktober 1990 blieben erfolglos. De facto erweist sich die französische Zinspolitik als Gefangene des Kurses der Bundesbank.
Dies hat immer wieder zu Kontroversen zwischen Paris und Bonn geführt, aber auch zu wiederholter innenpolitischer Kritik an der Politik des »starken Franc« s Die Preis-und Kostenstabilisierung hat es auch nicht vermocht, das seit Jahren bestehende Handelsbilanzdefizit Frankreichs zu beseitigen. Im Gegenteil: Frankreich hat in den vergangenen Jahren Marktanteile im Ausland verloren; die wiedergewonnene Preis-Wettbewerbsfähigkeit hat einen Einbruch vor allem im Industriewarenhandel nicht verhindern können Hier werden die Grenzen der makroökonomischen Politik deutlich. Die unter Opfern erkämpfte Wiedergewinnung der Stabilität allein vermag die französische Wettbewerbs-position im Außenhandel und die marode Beschäftigungslage nicht zu verbessern. Sie muß auch künftig ergänzt werden durch längerfristig angelegte Politiken, die die französische Produktionsstruktur stärken und strukturelle Defizite der Wettbewerbsfähigkeit zu überwinden helfen. 3. Beschäftigungspolitik: aufwendiges Krisenmanagement Zu den ungelösten Problemen des vergangenen Jahrzehnts gehört die Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit, die von 1974 bis 1987 ununterbrochen bis auf über 2, 7 Mio. anstieg. Der Aufschwung 1988-90 brachte trotz knapp 800000 neu- er Arbeitsplätze nur wenig Besserung. Der Grund liegt in einer immer noch anhaltenden, wenngleich langsam sich abschwächenden demographisch bedingten Zunahme der Erwerbstätigen: Junge Menschen sowie eine wachsende Zahl von Frauen drängen in hoher Zahl auf den Arbeitsmarkt Seit Anfang 1991 wirkt sich der Konjunktureinbruch im Gefolge der Golfkrise aus; für dieses und das kommende Jahr wird nochmals ein leichter Anstieg der Arbeitslosigkeit erwartet Dabei ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich nach wie vor ein Sonderproblem mit explosiven sozialen Folgewirkungen
Die Politik hat auf den wachsenden Problemberg mit zahlreichen beschäftigungspolitischen Maßnahmen zugunsten spezifischer Problemgruppen (junge, ältere und Langzeit-Arbeitslose) reagiert, die, trotz immer neuer Etiketten und auch realer Innovationen im Zeitablauf, seit 1974 durchaus ähnliche Grundmuster aufweisen
Eine Hauptachse dieser Maßnahmen war die Entlastung des Arbeitsmarktes durch die (künstliche) Reduzierung der Zahl der Arbeitssuchenden: -verschiedene Formen von berufsbildenden Praktika vor allem zugunsten von jugendlichen Arbeitslosen, ab 1983 auch von Langzeit-arbeitslosen (stages; 1988: knapp 200000);
-Beschäftigung von jugendlichen Arbeitslosen in gemeinnützigen öffentlichen Einrichtungen (travaux d’utilit collective, heute contrats emploi-solidarit; 1988: 185000);
-Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen von Sanierungsplänen in der Industrie (congs de conversion, ab 1984).
Gegenüber diesen weitgehend auf eine soziale Behandlung hinauslaufenden Beschäftigungsprogrammen (traitement social) haben sich in den letzten Jahren Maßnahmen in den Vordergrund geschoben, die die Schaffung von wirklichen Arbeitsverhältnissen in den Unternehmen zum Ziel haben und darauf hinauslaufen, die Arbeitskosten für die Unternehmen zu senken (traitement conomique). Dies betrifft einmal selektive finanzielle Anreize (z. B. Befreiung von den Sozialabgaben) für die Schaffung von Arbeitsplätzen bzw.den Abschluß von Ausbildungsverträgen, zum anderen eine Reihe von Lockerungen im Arbeitsrecht, die den Unternehmen eine flexiblere Arbeitskräfteplanung erlauben und damit einen Anreiz für Neueinstellungen geben sollten
Die Bilanz dieser spezifischen Beschäftigungspolitik ist gemischt Eine Analyse der Maßnahmen-pakete von 1974 bis 1988 hat ergeben, daß damit in jedem Jahr zwischen 200000 und 300000 Arbeitslose vermieden worden sind, wobei bis 1985 die Vorruhestandsregelungen, seither die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den Hauptanteil daran haben. Allerdings läßt sich eine im Zeitverlauf nachlassende Wirksamkeit zahlreicher Programme infolge von Gewöhnungs-und Mitnahmeeffekten feststellen. Hinzu kommt die hohe Kostenbelastung für die öffentlichen Haushalte. Schon von daher ergeben sich Grenzen dieser Politik, ohne daß allerdings überzeugende Alternativen in Sicht wären. Es bleibt eine allgemeine Ratlosigkeit: Nach 17 Jahren gibt es kaum einen Lösungsansatz, der nicht versucht worden wäre; »die Ideenkiste ist praktisch leer«
Insbesondere die Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vermitteln den Eindruck, daß eher kurzfristiges Krisenmanagement als eine wirkliche Ursachenbekämpfung betrieben worden ist. Die verschiedenen Praktika und Berufsausbildungsprogramme stellen bis heute nur einen Ersatz für das in Frankreich völlig unzureichende staatliche System der Berufsausbildung dar, das nicht in der Lage ist, den jungen Schulabgängern eine von der Wirtschaft anerkannte Berufsqualifikation zu vermitteln Nicht umsonst hat die neue Premierministerin Edith Cresson die Überwindung dieses Grundproblems der Jugend-arbeitslosigkeit zur politischen Aufgabe erklärt. Ihre Reformpläne verweisen auf das deutsche duale System der beruflichen Bildung, stoßen aber auf harte Widerstände in der Bürokratie des Bildungsministeriums sowie auf die bislang begrenzte Bereitschaft des Unternehmerlagers, eine wirkliche Verantwortung für die berufliche Ausbildung der Jugendlichen mit zu übernehmen
Derweil entwickelt sich die Segmentierung des Arbeitsmarktes weiter fort, nehmen ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse sprunghaft zu, vertiefen sich soziale Ungleichheiten durch die Massenarbeitslosigkeit und bilden sich Phänomene der Marginalisierung heraus, die der staatlichen Sozialpolitik zu schaffen machen. Der Kampf gegen die neue Armut und die Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsgruppen aus dem Arbeitsmarkt ist zu einer der Prioritäten der Sozialpolitik geworden 4. Renaissance der Industriepolitik?
In der französischen Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit, zu deren erklärten Hauptzielen die grundlegende, nachholende Modernisierung der Produktionsstrukturen zählte, hat der Versuch, mit umfassenden industriepolitischen Staatsinterventionen die Entwicklung der Produktionsstrukturen zu steuern, stets einen herausragenden Stellenwert besessen Die Linksregierung hatte das bestehende Instrumentarium noch erweitert und das umfangreiche Nationalisierungsprogramm mit industriepolitischen Argumenten begründet. Allerdings machten ihre ehrgeizigen Sektorenentwicklungspläne ab 1984 einer eher klassischen, teilweise drastischen Sanierung und Strukturanpassung in zahlreichen modernen wie traditionellen Branchen Platz. Seit 1974 sind 1, 3 von 6 Mio. Arbeitsplätzen in der Industrie verlorengegangen.
In den folgenden Jahren der Renaissance liberaler Wirtschaftskonzepte verlor die Industriepolitik, die nicht zu Unrecht als Inbegriff des allmächtigen (zentral-) staatlichen Interventionismus in Frankreich galt, immer mehr an politischer Legitimation. Den Höhepunkt bildete die Phase der Regierung Chirac: Der ultraliberale Zentrumspolitiker Alain Madelin war der erste französische Industrieminister, der freiwillig drastischen Budgetkürzungen zustimmte und mittelfristig sein Ministerium als überflüssig ansah. Privatisierung, Deregulierung und Zurückdrängung des staatlichen Eingriffsarsenals waren angesagt.
Auch die sozialistische Regierung Rocard praktizierte nach 1988 zunächst eine eher »minimalistische« Industriepolitik. Industrieminister Roger Fauroux, ehemaliger Chef des Mischkonzems Saint-Gobain, beschränkte sich weitgehend auf Maßnahmen zur Verbesserung der unternehmerischen Rahmenbedingungen: Steuersenkungen für Unternehmergewinne und steuerliche Anreize für Unternehmensgründungen, Förderung der Internationalisierung der französischen Großunternehmen, Innovationsförderung sowie eine breitere Diffusion technischer Neuentwicklungen in den Bereichen der kleinen und mittleren Unternehmen. Nur in den langfristig angelegten Forschungsprogrammen (Biotechnologie, neue Materialien, hochauflösendes Fernsehen sowie die dritte Generation des Superschnellzuges TGV) gab es ein staatliches Engagement, das noch entfernt an die früheren industriellen Großprojekte anknüpfte »Lassen wir die Unternehmen arbeiten« -dieses liberale Credo des Industrieministers stieß allerdings seit 1989 auf wachsende Kritik, die ihm und der Regierung einen »Mangel an strategischer Reflexion« bzw. fehlende Ambitionen vorwarf und eine neue Etappe der Industriepolitik forderte
Premierministerin Edith Cresson, die zu den schärfsten Kritikern zählte, hat nunmehr eine »industrielle Mobilisierung« angekündigt. Die Regie- rungschefin will einen neuen Elan vor allem in der Elektronikindustrie (»Priorität Nr. I«) und fordert vor allem von der EG eine europäische Industriepolitik, die »europäische Allianzen in der Elektronik und vielleicht der Automobilindustrie« umfaßt und die Entwicklung des europäischen Industrieraums sichert, u. a. durch entschlossenes Verhalten gegenüber japanischen Expansionsstrategien. In diesem Sinne hat der neue Industrieminister Strauss-Kahn der EG-Kommission am 20. Juni 1991 ein Memorandum für eine europäische Elektronikpolitik vorgelegt
Die Regierung Cresson artikuliert damit wieder deutlicher ein Grundanliegen der französischen Politik, das in den achtziger Jahren wiederholt zu europapolitischen Vorstößen Frankreichs geführt hat: die Schaffung eines europäischen Industrieraums durch eine gemeinsame Forschungs-und Technologiepolitik und durch verstärkte Industrie-kooperationen der Euro-Konzerne, um die europäische Industrie von den erwarteten Vorteilen des EG-Binnenmarktes profitieren zu lassen Frankreichs Insistieren auf der Währungsunion, die auf französischen Druck zustandegekommenen Forschungsprogramme ESPRIT und Eureka, das Drängen auf eine gemeinsame Strategie zur Einführung einer europäischen Norm beim hochauflösenden Fernsehen der Versuch, die EG-Partner auf eine härtere Position bezüglich der japanischen Automobilimporte in die Gemeinschaft einzustimmen, fügen sich ebenso wie das jüngste Elektronik-memorandum in die Zielsetzung ein, den wachsenden Verlust nationalstaatlicher Steuerungsmöglichkeit durch eine europäische Industriestrategie zu kompensieren.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Regierung Cresson die eher skeptischen EG-Partner für eine solche gemeinsame Industriepolitik gewinnen kann. Das inzwischen mit ihrer Zustimmung erfolgte Abkommen der EG mit Japan über die schrittweise Öffnung der EG-Märkte für japanische Autoimporte trägt nicht gerade ihre Handschrift Ebenso fragwürdig ist der Spielraum für eine von der Premierministerin gewünschte voluntaristische Industriepolitik. Statt des von ihr geforderten industriepolitischen Superministeriums nach dem japanischen Vorbild des MITI ist ein Super-Wirtschaftsministerium entstanden, dem nunmehr auch die Industrie untersteht. Der eher liberale Wirtschaftsminister Bördgovoy, nunmehr stärkster Mann im Kabinett, steht den industriepolitischen Plänen Edith Cressons eher skeptisch gegenüber und kann im übrigen auf die äußerst knappen Finanzressourcen verweisen. Da auch eine Rückkehr zur alten Politik der Sektorenpläne und Großprojekte ausgeschlossen scheint, ist fraglich, was von den Forderungen Edith Cressons in der Praxis übrig bleiben wird. 5. Funktionswandel des nationalisierten Sektors Symptomatisch für die veränderten Problemstellungen der Industriepolitik ist die staatliche Politik gegenüber dem nationalisierten Sektor. Die Links-regierung hatte 1981/82 12 Industriekonzerne, 39 Banken und die Finanzholdings Suez und Paribas verstaatlicht und damit einen bea Banken und die Finanzholdings Suez und Paribas verstaatlicht und damit einen beachtlichen öffentlichen Untemehmenssektor geschaffen, der 16 Prozent der französischen Beschäftigten und 36 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Investitionen ausmachte 38). Seine ihm ursprünglich zugedachte Rolle als »Speerspitze der Industriepolitik« konnte der nationalisierte Sektor indes nicht spielen; ab 1984 rückte die finanzielle Sanierung vieler in die roten Zahlen geratenen Staatsuntemehmen in den Vordergrund der Politik.
Die Privatisierungswelle der Regierung Chirac 1986 bis Anfang 1988 Erfaßte ein gutes Dutzend Unternehmensgruppen, darunter die Industriekonzerne Saint-Gobain, CGE und Matra, die Finanzholdings Suez und Paribas, eine Reihe von Banken (Socit gnrale) und den Versicherungskonzern MGF. Darüber hinaus wurde die Femsehstation TF 1 (erstes Programm) und der Medienkonzern Havas privatisiert. Insgesamt gingen, einschließlich aller Tochterfirmen, 1082 Unternehmen mit 333 000 Beschäftigten in den privaten Sektor über, fast alles Firmen, die erst 1982 verstaatlicht worden waren 39).Der Regierungswechsel 1988 stoppte die ursprünglich noch breiter angelegte Privatisierungspolitik. So verbleibt ein stattlicher öffentlicher Untemehmenssektor, der (mit Tochterfirmen) immerhin noch knapp 2000 Unternehmen mit 1, 4 Mio. Beschäftigten umfaßt
Allerdings hat seither ein weitreichender Prozeß wachsender Durchmischung zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen eingesetzt, der die Kapitalstruktur der französischen Wirtschaft nachhaltig zu verändern beginnt Die staatliche Politik hat diese Entwicklung unterstützt, nachdem sich sehr schnell herausgestellt hatte, daß Mitterrands Wahlkampfmaxime und politische Vorgabe an die Regierung (weder neue Verstaatlichungen noch weitere Privatisierungen) kein tragfähiges Konzept für eine dynamische Weiterentwicklung des öffentlichen wie des privaten Sektors darstellte. Die erste Bresche wurde 1990 mit der Allianz Renault-Volvo geschlagen, die den schwedischen Konzern mit 25 Prozent am Renault-Kapital beteiligte. Am 5. April 1991 verfügte ein Dekret, daß künftig bei allen nationalisierten Unternehmen private Minderheitsbeteiligungen bis 49 Prozent möglich sind, und gab damit das alte Dogma hundertprozentiger Verstaatlichungen auf
Der neue Kurs hat zunächst finanzpolitische Gründe. Da der Staat seit einigen Jahren nicht mehr die notwendigen Ressourcen aufbringen kann, um seinen Unternehmen genügend Eigenkapital zuzuführen, mußten andere Formen der Kapitalbeschaffung gefunden werden: zunächst allerlei Varianten nicht stimmberechtigter Aktien und Zertifikate, seit 1988 auch Kapitalbeteiligungen. Neuerdings wird immer unverhohlener auch der Verkauf von staatlichen Aktienpaketen ins Auge gefaßt, um die leeren Haushaltskassen aufzufrischen
Darüber hinaus ist die neue Beweglichkeit der Eigentumsstrukturen erforderlich geworden, um die Fähigkeit der (staatlichen wie privaten) Großunternehmen zu stärken, sich im internationalen Konkurrenzkampf und im kommenden europäischen Binnenmarkt zu behaupten. Es geht um die -von den französischen Konzernen meist nicht erreichte -»kritische Größe« ihrer Produktionsund Umsatzdimensionen, aber auch um die Stärkung ihrer Finanzkraft. Neue Restrukturierungen, Allianzen, Kapitalverflechtungen stehen ebenso an wie eine weitere Internationalisierung der französischen Unternehmen. Die französischen Auslandsinvestitionen sind in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Auch ausländisches Kapital wird jetzt, selbst in nationalisierten Unternehmen, akzeptiert; dem Präzedenzfall Renault folgte z. B. im Sommer 1991 der Eintritt des japanischen NEC-Konzerns in das Kapital von Bull
Darüber hinaus bahnt sich eine intensive Kapital-verflechtung zwischen Industriekonzernen und sog. institutioneilen Anlegern (Banken, Finanz-und Versicherungsgruppen) an, die in dieser Form für Frankreich neu ist, erstmals zu einem dauerhaften Engagement der Aktionäre sowie zu solideren Kapitalstrukturen führen und dadurch den traditionellen »Kapitalismus ohne Kapital« überwinden könnte, der in der Vergangenheit für die finanziellen Engpässe so mancher Großunternehmen verantwortlich war
Dabei sind die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor immer fließender geworden. Die nationalisierten Unternehmen sind gewissermaßen »banalisiert« worden in dem Sinne, daß ihre unternehmerische Eigenlogik -die sich kaum noch von derjenigen der Privatwirtschaft unterscheidet -sich gegenüber staatlichen Instrumentalisierungsversuchen immer mehr durchsetzt, während die Kontrolle des Staates indirektere, subtilere Formen annehmen muß Der Staat konzentriert sich weitgehend auf seine Rolle als Aktionär -eine Rolle, die nicht nur der frühere Industrieminister Fauroux für wichtig genug hält, um die weitere Existenz öffentlicher Unternehmen zu rechtfertigen: weil sie zur Stabilität der Kapital-strukturen beiträgt, den Firmen Schutz vor spekulativen Übernahmeversuchen bietet und damit ihre Entwicklungs-und Überlebenschancen im Welt-maßstab stärkt
III. Herausforderung Binnenmarkt
Das Dezennium Mitterrand hat sich, ungeachtet aller Irrungen und Wirrungen, unbestreitbar als Modernisierungsschub für die französische Wirtschaft und Gesellschaft erwiesen. Längst überfällige Reformen und Strukturanpassungen sind vorgenommen worden, Inflationsmentalitäten und etatistische Verkrustungen erstmals erfolgreich aufgebrochen worden.
Diese Politik stand in den letzten Jahren immer mehr unter dem Vorzeichen der Vorbereitung auf den EG-Binnenmarkt Ist Frankreich ausreichend für den Binnenmarkt gerüstet? Die Analysen sind, trotz aller Fortschritte, eher skeptisch. Die mit der Roßkur der „rigueur" eingeleitete Sanierung der Wirtschaft hat die Spuren alter Strukturschäden nicht völlig beseitigen können; die Investitionslücke bis 1982 hat wertvolle Zeit gegenüber der ausländischen Konkurrenz gekostet. Die Spezialisierung der französischen Industrie gilt nach wie vor als ungünstig, weil zu wenig auf wachstumskräftige, hochwertige Produktbereiche und Märkte ausgerichtet, und weist auch in bezug auf die vom Binnenmarkt besonders betroffenen Branchen Probleme auf Das Untemehmensnetz erweist sich nach wie vor als brüchig, vor allem, wenn es um das Zusammenspiel der Großfirmen mit den kleinen und mittleren Unternehmen geht. Letzteren wird eine ganze Reihe von Defiziten (Management, Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Öffnung zu den Auslandsmärkten), vor allem aber eine weiterhin prekäre Finanzlage, attestiert
Die anhaltenden französischen Wettbewerbs-schwächen haben die öffentliche Diskussion zunehmend auf ungelöste Strukturprobleme wie Management und Arbeitsorganisation, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer, Ausbildung und Qualifizierung der Beschäftigten gelenkt Gefordert wird -ein globaler, über die Wirtschafts-und Industriepolitik hinausgehender Handlungsansatz, der auch die qualitativen, nicht primär ökonomischen Faktoren des Wirtschaftsstandortes Frankreich langfristig zu verbessern sucht (z. B.
durch Strukturreformen im Bereich des Steuersystems, der Funktionsweise des öffentlichen Dienstes, des Bildungs-und Ausbildungssystems), -ein stärker kooperativer, akteursbezogener Ansatz, der das Zusammenspiel und die dezentrale Vernetzung von Staat, Gebietskörperschaften, Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen, Forschungs-und Bildungseinrichtungen fördert, -ein stärker dezentraler Ansatz, der mehr als bisher auf die endogenen Entwicklungspotentiale von Regionen und lokalen Beschäftigungsmärkten setzt
Mit anderen Worten: Gefragt ist nichts weniger als eine umfassende Reformfähigkeit des Staates und seiner Verwaltung sowie der weitere Umbau seiner Interventionsformen. Frankreich ist, so scheint es, noch nicht am Ende seiner strukturellen Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft angelangt.
Henrik Uterwedde, Dr. phil., geb. 1948; seit 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg. Veröffentlichungen u. a.: (Zus. mit Wolfgang Neumann) Industriepolitik -ein deutsch-französischer Vergleich, Opladen 1986; Die Wirtschaftspolitik der Linken in Frankreich. Programme und Praxis 1974-1986, Frankfurt/M. -New York 1988; Die Europäische Gemeinschaft, Opladen 1990.
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