I.
Es ist inzwischen nicht sonderlich originell, festzustellen, daß die Historiker der DDR zur Herbstrevolution von 1989 wahrlich wenig beigetragen haben. Die vorsichtigen Reformideen einiger von ihnen in den Jahren seit dem Machtantritt Gorbatschows hatten weder das System als Ganzes in Frage gestellt, noch waren sie über den engen Kreis einiger Eingeweihter hinausgedrungen.
Auch in den Monaten nach der „friedlichen Revolution“ war die große Mehrheit dieser Historiker nicht bereit und nicht in der Lage, zu erkennen, daß der „real existierende Sozialismus“ der DDR endgültig abgewirtschaftet hatte Das mußte um so mehr verwundern, da diese Wissenschaftler sich selbst als scharfe Kritiker gesellschaftlicher Strukturen außerhalb des eigenen Gesellschaftssystems verstanden hatten und glaubten, daß ihnen durch den Marxismus ein Instrument an die Hand gegeben worden sei, das sie nicht nur zur analytischen Sicht auf die Vergangenheit, sondern auch zu einer durch Gesetze bestimmten Voraussage der Zukunft befähigte.
Bis heute konnte nicht geklärt werden, worin die Gründe für dieses Unvermögen bzw. diesen Unwillen bestehen. Verschiedene Deutungsvarianten bieten sich allerdings an: 1. Die Mehrzahl der Historiker der DDR wollte die Herbstrevolution von 1989 nicht; sie lehnte sie ab und konnte ihre Folgen lange Zeit nicht begreifen oder nicht akzeptieren. Eine Analyse der Ereignisse war vielen sich als marxistisch verstehenden Historikern nicht möglich, weil sie sich selber nicht der in Anspruch genommenen dialektischen und kritischen Methodik bedienten, sondern vielmehr den Kategorien und Denkmustern des stalinistisch verzerrten Marxismus-Leninismus verhaftet waren. In der weiteren Diskussion wird es nötig sein zu bestimmen, was eine marxistische Geschichtswissenschaft ausmachen könnte. Meines Erachtens gehören dazu: a) ein formations-, revolutions-und klassentheoretischer Ansatz; b) eine ganzheitliche Geschichtssicht, die auf kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart sowie auf die Gestaltung der Zukunft zielt, und c) die Auffassung, der historische Ablauf sei letztlich von objektiven Struktur-und Handlungszusammenhängen, dem Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sowie durch ökonomische Entwicklungen und durch Klassenkämpfe bestimmt 2. Die Historiker, die in der DDR maßgeblich Lehre und Forschung trugen, dienten in ihrem Selbstverständnis der von der SED vorgegeben Traditionslinie und der ideologischen Legitimierung einer angeblich sozialistischen Gesellschaftsordnung, die als Endpunkt menschlicher Entwicklung begriffen wurde 3. Ihnen galt die staatliche Existenz der DDR als Ergebnis einer gesetzmäßigen Entwicklung der gesamten deutschen Geschichte. Dies bildete mit der Vertretung eines vermeintlichen Klassenstandpunkts des als fortgeschrittenste Klasse eingeschätzten Proletariats und seiner Partei, der SED, eine Einheit. Besonders die „etablierten“ DDR-Historiker hatten nach dem Herbst 1989 größte Mühe, sich von diesen Positionen zu lösen. Die hier skizzierte Haltung schloß allerdings nicht aus, daß in der DDR im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen der SED -zum Teil auch durch diese gefördert -und wissenschaftlichen Eigeninteressen auch solide und international anerkannte Arbeiten entstanden. 4. Ein weiterer Grund für das Schweigen der Mehrzahl der DDR-Historiker seit dem Herbst 1989 lag darin, daß in einer Situation von Angst um die eigene berufliche Existenz und unter dem psychischen Druck, von angeblichen „Siegern der Geschichte“ zu Unterlegenen geworden zu sein, sich nur schlecht eine Diskussion führen läßt, die eigene Fehler und Schwächen offenbaren müßte.
Doch der eigentliche Grund für das noch immer weit verbreitete Schweigen scheint ein anderer zu sein. Um ihm näherzukommen, darf nicht vergessen werden, daß die Mehrzahl der Historiker in der DDR nicht zu einem Bekenntnis oder zur äußerlichen Loyalität gegenüber dem System gezwungen werden mußte, sondern daß sie dessen Überzeugungen und Zumutungen durchaus freiwillig angenommen, verinnerlicht und überzeugt, ja auch gläubig vertreten und weitergetragen hatten Niemand mußte platte Phrasen nachbeten, seine Arbeiten mit Zitaten der sogenannten Klassiker bis hin zu Honecker schmücken (auch nicht tarnen) oder sich auf der Karriereleiter nach oben kämpfen. Daß dies trotzdem geschah, lag wesentlich begründet in einem raffinierten Auswahlverfahren künftiger Sozial-und Geisteswissenschaftler (u. a. nach den Kriterien politischer Ergebenheit, Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen, Absolvierung eines verlängerten Wehrdienstes) in einem Privilegien-und Überwachungssystem, in innerer und äußerer Zensur sowie in dem Wunsch nach persönlicher Erfüllung in einer Gesellschaft, die man -als Historiker! -für ewigwährend hielt. So gab es kaum oppositionelle, eigensinnige oder „subversive“ Historiker
Die Information -nach einem Wort des Bürgerrechtlers Jens Reich die Voraussetzung für sinnvolles Handeln -war durch Einschränkung der brieflichen, telefonischen und mündlichen Kommunikation begrenzt. Der Zugang zu oder die Abschnürung von Informationen gehörte zu dem Geflecht von Verlockungen, Vergünstigungen, Sonderrechten, Bestrafungen, Belohnungen und Drohungen das am deutlichsten in der Einrichtung des sogenannten „Reisekaders“ sichtbar wurde. Dieser Status war mit der Möglichkeit verbunden, die DDR zu Dienstreisen zu verlassen; er bedeutete den Besitz von erheblichen Informations-und Kontaktvorteilen, die gegenüber nicht-privilegierten Kollegen einen von diesen nicht auszugleichenden und auch heute noch weiterwirkenden Vorsprung schufen. Da jede Bestätigung einer Reise ins westliche Ausland von der Zustimmung der Staatssicherheit abhing, war letztlich jedem klar, wie er sich zu verhalten hatte. Diese Bindung durch das Reiseprivileg war aber nicht nur für den gegeben, der es erst erlangen wollte, sondern sie bestand für den, der es besaß, bis zum Rentenalter. Es war ständiges Wohlverhalten nötig, um nicht mit Reise-, Kontakt-und Informationsbeschränkung bestraft zu werden.
Neben dem Reisekaderstatus als wichtigstem Element eines Netzes von karrierefördernden bzw. -hemmenden Maßnahmen sind noch der Zugang zu Bibliotheken und Archiven, die Publikationsmöglichkeiten, die Teilnahme an Tagungen im Lande und die Möglichkeit zu nennen, Kontakte zu westdeutschen oder ausländischen Kollegen haben zu dürfen.
Ziel dieses spätfeudalen Systems der Privilegienzuteilung war die schon erwähnte Auslese künftiger Historiker, die Überwachung ihres Entwicklungsweges, das Errichten von Barrieren bzw. das Ebnen von Karrierewegen durch die SED, durch die Staatssicherheit und durch verschiedene staatliche Leitungen. Wenn ich hier über das Funktionieren dieses Privilegiensystems außerhalb wissenschaftlicher Leistungskriterien berichte und darüber, welch verheerende Folgen es in einem beispielhaften Fall an der Berliner Humboldt-Universität hatte, möchte ich zuerst darauf verweisen, daß diese Schilderung auf eine allgemeine Situation zielt, die immer von Ausnahmen durchbrochen wurde. So gab es zu jeder Zeit einzelne, die sich bestimmten Zwängen entziehen konnten oder die nach vielfältigen Überprüfungen doch versuchten, ihren eigenen wissenschaftlichen Weg zu beschreiten. Für andere mag das Überwachungs-und Aus-wahlsystem sogar ein Anreiz gewesen sein, durch besonders intensives Arbeiten dessen Einschränkungen zu überwinden.
In diesem Zusammenhang ist es auch erforderlich, die Frage zu beantworten, wo in der DDR-Forschungslandschaft die besten und relativ freiesten Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung von Historikern existierten. Ich meine (die kirchenhistorische Forschung einmal ausgenommen), daß das an der Akademie der Wissenschaften der Fall war, weil diese u. a. die Aufgabe hatte, das Ansehen der DDR durch zweckrationale Forschungen aufzuwerten. Dies erlaubte es den Leitungen der Akademieinstitute, weniger dogmatische Arbeiten als in anderen Einrichtungen zuzulassen und manchem Wissenschaftler Arbeitsmöglichkeiten zu gewähren, der mit der Staatssicherheit bzw.der SED in Konflikt geraten war. Dazu kam, daß die Akademieinstitute an der Ausbildung von Studenten nicht beteiligt waren, von ihnen also auch kein „negativer ideologischer Einfluß“ auf diese ausgehen konnte. Die Universitäten standen dagegen unter stärkerem politischen Druck, da sie die „Kaderelite“ für Staat und SED auszubilden hatten. Nur vereinzelt hatten Hochschullehrer die Kraft oder den Willen, sich den damit verbundenen Anforderungen (eher Zumutungen) zu entziehen.
II.
Das für Universitäten und in ihrem Vorfeld auch für Schulen so prägende Auswahl-und Überwachungssystem -von Freya Klier als „Sortiermaschine“ bezeichnet -wurde schon in der SBZ der unmittelbaren Nachkriegszeit installiert. Andererseits wurde 1945 gleichzeitig der Versuch eines Neubeginns unternommen, der nicht an das im Osten Deutschlands vorhandene Forschungs-und Lehrpotential anknüpfen wollte Er wurde in der Volksbildung vor allem von Lehrern getragen, die sich dem Konzept der Reformpädagogik verschrieben hatten, während an den Hochschulen zurückkehrende Emigranten eine wichtige Rolle spielten. Zugleich begann schon früh der stalinistische Terror; die Kommunistische Partei bzw. die SED setzten rigide den Anspruch auf totale Beherrschung und Durchdringungen von Schule und Universität durch. Mit Rückendeckung durch die sowjetische Besatzungsmacht wurden zuerst reformpädagogische Ansätze zunichte gemacht, dann kam die Ausschaltung von nichtkonformen Wissenschaftlern wie Ernst Bloch und Hans Mayer.
In den frühen fünfziger Jahren erfolgte -mit tatkräftiger Hilfe der FDJ -die Zerstörung der nach dem Ende der NS-Diktatur gerade erst begonnenen demokratischen Neustrukturierung der Universitäten. Studentischer und professoraler Widerstand dagegen konnte gebrochen werden. Dabei schreckte die SED 1951 und 1952 über die von ihr abhängige Justiz vor Zuchthausstrafen nicht zurück. Bei den Studierenden und Lehrenden blieben nach Freya Klier „Angst und tief verinnerlichte Anpassung, pathologische Selbstzensur im Denken“ Trotzdem konnte an den Universitäten vorerst keine Friedhofsruhe im Sinne der Partei geschaffen werden; das führte zur Verschärfung des ideologischen Drills an den Schulen: Die Ablegung des Abiturs und die Aufnahme eines Studiums sollten an ideologische Linientreue und an die „Wehrbereitschaft“ (die Verpflichtung zu einem dreijährigen Wehrdienst war später für männliche Jugendliche eine Quasi-Voraussetzung für die Studienaufnahme) geknüpft werden. Gleichzeitig errichtete die SED Bildungsschranken für nicht der „Arbeiterklasse“ oder der Klasse der Bauern angehörende Kinder, die allerdings ständig zugunsten der Funktionärsschicht -aber auch privilegierter Wissenschaftler und Künstler -durchbrochen wurden. Auch verstärkten SED, Staatssicherheit und FDJ ihre Überwachungs-und Spitzeltätigkeit.
Daß aber die „ideologische Reinheit“ der Universitäten nur schwer und nie vollkommen durchzusetzen war, lag wohl an zwei Gründen: Zum einer lernten es die mit dem System nicht konformer Schüler und Studenten immer besser, sich nur äußerlich anzupassen und dabei ihre wahre Meinung zu bewahren; zum anderen saßen in den Auswahl-und Prüfungskommissionen immer wieder Persönlichkeiten, die sich den ihnen aufgezwungener Auswahlkriterien informell widersetzten.
Erst in den achtziger Jahren konnte an den Universitäten und Hochschulen die weitgehende ideologische Gleichschaltung als Ergebnis eines über Jahrzehnte immer stärker an parteipolitischen Vorgaben orientierten Auswahlprozesses erreicht werden Diese Auswahl erfolgte jetzt unter Bevorzugung folgender Gruppen: -Kandidaten und Mitglieder der SED mit guten und sehr guten Leistungen;
-politisch engagierte, leistungsstarke „Arbeiterund Bauernkinder“;
-fachlich gute und gesellschaftlich engagierte Bewerber aus „politisch hervorragenden“ Elternhäusern;
-„verdienstvolle Werktätige“ und -Träger von Auszeichnungen Auch das Durchbrechen dieses Auswahlprinzips durch die Suche nach Hochbegabten änderte nichts daran, daß den Studenten durchaus klar war, wann sie zu schweigen hatten, wann zu lügen und was das jeweils für ihre Karriere bedeuten konnte. Die Mehrzahl war allerdings mit dem System durchaus einverstanden, trug es willig -zum Teil auch begeistert -mit. Eine Minderheit war sogar bereit, ihre Kommilitonen und Lehrer zu bespitzeln und zu denunzieren. Auch das führte dazu, daß -und besonders gilt das für die Geistes-wissenschaften -die Universitäten und Akademien an der Menschenrechtsbewegung in der Zeit vor der Herbstrevolution von 1989 wie auch an dieser selbst kaum beteiligt waren. Hier herrschte Grabesruhe
Bei der Erklärung dieser deprimierenden Tatsache darf nicht vergessen werden, daß die Studenten von 1950 jetzt Professoren waren und die von 1960 Dozenten und Assistenten. In vierzig Jahren hatte die SED erreicht, daß „auf dem Stellwerk saß, wen sie für tauglich hielt, und Schwellen putzte, wen sie von höherer Bildung fernzuhalten dachte“
Diese Auswahl hatte ihre Folgen nicht nur bei den Ausgesonderten, sondern auch bei den Aussonderern, denen ihr schuldhaftes Verhalten eigentlich bewußt gewesen sein müßte. Ein solches Schuldgefühl schien bis zum Herbst 1989 dadurch „bewältigt“ worden zu sein, daß z. B.der bestrafte Kommilitone als hassenswerter Klassenfeind begriffen oder die Erinnerung an ihn verdrängt wurde. Doch wie wird mit solchen Erinnerungen 1992 umgegangen? Meine Erfahrung ist die, daß von den einstigen Tätern jegliches Wort der Erklärung und der Entschuldigung ausbleibt. Sie reagieren heute mit Schweigen, das vom alten Haß und von Angst geprägt zu sein scheint.
III.
Um das über politische Verfolgungen und Ausgrenzungen an DDR-Universitäten Gesagte konkret zu machen, möchte ich mich nun der Sektion Geschichte der Berliner Humboldt-Universität zuwenden. An dieser führenden historischen Lehreinrichtung der DDR gab es mehrere Wellen von Repressionen: Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre, 1968, 1971/72 und 1976.
Diese Daten sind die der ideologischen Gleichschaltung der Hochschulen durch die SED in den fünfziger Jahren, der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ mit seinen Auswirkungen bis Anfang der siebziger Jahre sowie der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Unklar ist noch, ob nicht auch Diadochenkämpfe in der SED-Führung oder Auseinandersetzungen zwischen SED und Staatssicherheit hinter diesen Verfolgungen standen. Auffällig dagegen ist, daß nach 1976 keine schärferen Unterdrückungsmaßnahmen mehr vorkamen bzw. bekannt wurden. Das mag in der nun erreichten Gleichschaltung der Sektion Geschichte oder in einem liberaleren Gesamtklima in der Gesellschaft begründet gewesen sein. Ihren Höhepunkt hatten die Repressionen jedenfalls 1972 erreicht; ihr Verlauf soll im folgenden umrissen werden.
Dabei muß allerdings vorausgeschickt werden, daß die Sektion Geschichte der Berliner Humboldt-Universität ihre Vergangenheit nicht selbständig aufgearbeitet hat. Die öffentliche Auseinandersetzung mit ihr wurde von einer Gruppe ehemaliger Studenten dieser Sektion, die dort politisch verfolgt worden waren, mit Hilfe der Presse am 10. November 1990 im Senatssaal der Humboldt-Universität erzwungen Dies war die erste Auseinandersetzung mit der Geschichte politischer Repressionen an dieser Universität im vollen Licht der Öffentlichkeit. In seiner Eröffnungsrede versuchte der damalige Sektionsdirektor, Professor Rüger, die Geschichte der Verfolgungen bis in das Jahr 1972 hinein nachzuzeichnen Danach folgten die Schilderungen und Anschuldigungen der an der Sektion Geschichte politisch verfolgten ehemaligen Studenten, die sich an Mitglieder des Lehrkörpers richteten, die sich zum großen Teil im Saal befanden, aber überwiegend dazu schwiegen. So konnte das Ergebnis des Hearings nach siebenstündiger Diskussion nicht befriedigen. Weder waren die meisten Beschuldigungen beantwortet worden, noch war es zu einer Aufklärung der inneren Strukturen politischer Verfolgung gekommen. Die Zusammenarbeit zwischen SED, Staatssicherheit, FDJ, Sektionsleitung, Professoren und studentischen Zuträgern blieb im dunkeln. Man hatte den Eindruck, daß die Mehrheit der angeklagten Geschichtsprofessoren und Dozenten die Strategie verfolgten, schweigend diesen Angriff „auszusitzen“ und sich so ihre berufliche Zukunft zu sichern
Immerhin wurde als Ergebnis der Versammlung beschlossen, eine Kommission zu gründen, um die Repressalien und Verfolgungen aufzuklären. Auf deren Bericht vom 5. Februar 1991 beziehe ich mich im folgenden Vorher sei nur angemerkt, daß der Arbeit dieser Kommission von den Kollegen der ehemaligen Sektion Geschichte nicht nur mit Schweigen begegnet wurde; ihre Angehörigen wurden vielmehr vereinzelt als „Abwicklungskollaborateure“ bezeichnet. Hinzu kam, daß verschiedene Akten vernichtet oder gefleddert worden waren Trotzdem wurde deutlich, daß die Denunziationen, Exmatrikulationen, Verhaftungen und Abschiebungen in den Westen an der Sektion Geschichte eindeutig parteipolitischen Charakter hatten und daß verschiedene an dieser Sektion lehrende Historiker wie auch Studenten darin verwikkelt waren.
Wie liefen die Verfolgungen 1971/72 nach dem heutigen Erkenntnisstand ab? Die äußere Situation war dadurch gekennzeichnet, daß die Honekkersche Führung die „Verschärfung des ideologischen Klassenkampfes“ forderte, was sicher dazu beitrug, daß die SED-Bezirksleitung Berlin die politische Situation an der Humboldt-Universität als nicht befriedigend einschätzte. Da sich jetzt auch die Staatssicherheit durch die Verhaftung (als Gründe wurden Kontakte zu westlichen Geheimdiensten und „Vorbereitung von Republikflucht“
angegeben) von drei Studenten (zwei davon von der Sektion Geschichte) im Sommer und Herbst 1971 bzw. im Januar 1972 einschaltete, wurde die Sektion immer mehr zum „ideologischen Schwach-punkt“ der Universität. Der Verfolgungsapparat von SED und Staatssicherheit arbeitete immer hektischer: Zuerst wurde die Ablösung der bisherigen Sektionsleitung wegen ungenügender „ideologischer Wachsamkeit“ eingeleitet, danach erfolgte die Entdeckung von Pflichtverletzungen verschiedener Art, von „kleinbürgerlichem Verhalten“ und Laufbahndenken bei verschiedenen Lehrenden. Gleichzeitig verhörte die Polizei bzw. die Staatssicherheit Studenten, die mit den Verhafteten Kontakt gehabt hatten. Ihre Zimmer wurden durchsucht. Andere Studenten mußten sich Aussprachen und Verhören durch SED, FDJ und akademische Lehrer an der Sektion Geschichte stellen. Im März 1972 setzte die SED-Grundorganisation Kommissionen ein, die im Ergebnis von Befragungen vorschlugen, gegen sechs Studenten, zwei Mitarbeiter und vier Hochschullehrer Parteiverfahren einzuleiten. Dazu kam es allerdings nicht, da sich die SED-Parteileitung der Sektion überzeugen mußte, daß der „Fall“ über ihre Kompetenzen hinausging (vielleicht spielte hier eine Studentin und Schwägerin des Politbüromitglieds Lamberz eine Rolle, gegen die auch ein Verfahren eingeleitet werden sollte). Das Geschehen an der Sektion Geschichte schätzte die SED inzwischen als „ernstesten Vorfall in der Geschichtswissenschaft der Republik überhaupt“ ein. Den Untersuchungen folgten eine Vielzahl von Versammlungen, die Drohung der Auflösung der Sektion sowie andere Drohungen und Erpressungen. Letztlich ging die Universitäts-bzw. Sektionsleitung wegen staatsfeindlicher Handlungen und Haltungen gegen insgesamt 13 Studenten der Sektion Geschichte (zwei davon waren verhaftet) disziplinarisch, d. h. mit Relegationen, Erpressungen und Verweisen, vor.
Typisch für das Vorgehen gegen politisch Anders-denkende an der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität war: -Bei der politischen Verfolgung gab es ein enges Zusammenwirken von SED, Staatssicherheit, FDJ und staatlicher Leitung, wobei sich die Staatssicherheit -wie üblich -im Hintergrund hielt. Die Disziplinarverfahren und -maßnahmen wurden von der staatlichen Sektionsleitung beantragt.
-Die Vorwürfe trafen zuerst die SED-Mitglieder, um dann auf andere vermutliche „Staatsfeinde“
ausgedehnt zu werden.
-Beschuldigt wurden Mitglieder des Lehrkörpers und Studenten, wobei die akademischen Lehrer sich in der Regel rechtfertigen konnten und später beruflich aufstiegen, während die Studenten bestraft wurden. Eine Rolle spielte dabei, daß mit einem Disziplinarverfahren bedrohte akademische Lehrer selbst bei der Disziplinierung der Studenten mitwirkten. -Die Strafen variierten ganz erheblich; offensichtlich war beabsichtigt, einen Teil der von ihnen betroffenen Studenten zu „erziehen“, einen anderen Teil dagegen für immer von den Hochschulen zu verjagen.
-Rechtliche Bestimmungen wurden umgangen.
Die Strafen sollten nicht nur die Beschuldigten treffen, sie waren darüber hinaus als Disziplinierungsmittel für die gesamte Sektion Geschichte, ja für die gesamte Humboldt-Universität gedacht.
Auch noch 1991 ist festzustellen, daß mit den politischen Verfolgungen der Jahre 1971/72 Weichen für die heutige personelle Besetzung des jetzigen Institutes für Geschichtswissenschaften gestellt wurden. Aber nicht nur an der Humboldt-Universität ist es jetzt notwendig, darüber nachzudenken, wie die Folgen dieser unter mehreren Aspekten höchst problematischen Wissenschaftlerauswahl der SED wieder aufgehoben werden könnten. Hier stehen die Chancen allerdings nicht gut. Es ist leider so, daß viele der nicht zum Abitur zugelassenen, der relegierten, bestraften oder in Gefängnisse geworfenen Oberschüler und Studenten nicht oder nicht wieder den Weg in die Forschung und Lehre gefunden haben. Viele haben resigniert, sind gebrochen und nicht mehr in der Lage oder willens, an ihre alten Berufspläne wieder anzuknüpfen. Für diejenigen aus dieser Personengruppe, die noch bereit sind, weiterzuarbeiten, sollte diese Bereitschaft durch Sonderregelungen ermöglicht und gefördert werden.
Eine andere Gruppe sind Wissenschaftler, die sich in Forschungs-und Lehreinrichtungen zwar behaupten konnten, die dort aber aus parteipolitischen Gründen in die zweite Reihe gedrängt bzw. am Arbeiten und Publizieren gehindert wurden. Sie können heute wohl mit Recht erwarten, daß diese Behinderungen durch Fördermaßnahmen wie Stipendien und Auslandsaufenthalte -zur Erlangung der Lehrbefugnis, der Habilitation und sprachlicher Qualifikationen -ausgeglichen werden. Leider ist es aber so, daß zehn oder zwanzig verlorene Jahre nicht zurückgegeben werden können. Ein zusätzliches Problem ist dadurch entstanden, daß es immer schwieriger wird, Wissenschaftler der zum 31. Dezember 1991 aufgelösten Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Hochschulerneuerungsprogramms an die Universitäten zu „transferieren“. Die Universitäten versuchen -so weit es ihnen möglich ist -sich auf den bisherigen Personalbestand zu stützen. Hier muß schnell Abhilfe geschaffen werden.
Das eigentliche Problem stellt jedoch der Umgang mit der überwiegenden Mehrheit der Historiker dar, die die wissenschaftsfeindliche und menschen-verachtende SED-Politik aktiv trugen oder sich ihr zumindest anpaßten. Heute kann eine bloße Mitgliedschaft in der SED oder in der PDS nicht zum Kriterium einer Weiterbeschäftigung oder Kündigung gemacht werden, ohne in „realsozialistische“ Praktiken zurückzufallen. Das gilt erst recht für die Anwendung eines marxistischen Instrumentariums in Forschung und Lehre -auch wenn damit die Ausschaltung anderer Denkrichtungen verbunden war. Etwas qualitativ anderes ist jedoch die Mitarbeit von Wissenschaftlern bei der Bespitzelung und Unterdrückung von Kollegen im Rahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, die Benachteiligung anderer durch Ausspielung von SED-Verbindungen und entsprechender Stellung in der Polithierarchie sowie von Denunziationen.
Historiker, die sich hier schuldig gemacht haben, gehören an keine demokratische Hochschule. Bei der Beurteilung ihres Verhaltens helfen aber keine undifferenzierten Pauschalurteile weiter, sondern in jedem Einzelfall hat eine sorgfältige Prüfung zu erfolgen. Diese wird nur auf der Grundlage der Archivalien des Ministeriums für Staatssicherheit, des Hochschulministeriums, der SED-und FDJ-Leitungen sowie universitärer Gremien möglich sein. Vieles wird hier trotzdem im dunkeln bleiben müssen: entweder, weil es nicht aufgezeichnet wurde, oder, weil die Unterlagen inzwischen vernichtet sind. Nach einer solchen Prüfung wird sich die Mehrzahl der durch die SED-Auswahl gegangenen Historiker als im juristischen Sinne persönlich nicht belastet erweisen. Ihnen muß entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation eine Chance zur Weiterarbeit im fairen und sachlichen Wettbewerb mit westdeutschen und Wissenschaftlern aus anderen Ländern eingeräumt werden.
Dieser Wettbewerb hat in erster Linie bei der Besetzung der Hochschulstellen über Ausschreibungen zu erfolgen, wobei die spezifischen Ausbildungs-und Arbeitsbedingungen in der ehemaligen DDR zu beachten sind. Besondere Chancen sind dem noch nicht so stark deformierten Nachwuchs einzuräumen. Wert ist auf die personelle Durchmischung von ost-und westdeutschen Historikern in beide Richtungen zu legen. Hier entstehen Pro-33 bleme -außer in Berlin -dadurch, daß es zum einen wohl kaum möglich sein wird, renommierte Wissenschaftler in ausreichender Zahl aus den alten Bundesländern nach Ostdeutschland zu ziehen, und daß zum anderen die westdeutschen Universitäten kaum ostdeutsche Forscher aufnehmen.
Mit kurzfristigen Gastdozenturen und der Verlagerung des altbundesdeutschen Mittelmaßes ist aber wenig geholfen.
Unabdingbar für die Neukonstituierung historischer Forschung in den neuen Bundesländern ist es, daß sich die bisher schweigende Mehrheit politisch belasteter ostdeutscher Historiker neben der Betonung eigener wissenschaftlicher Verdienste endlich der Erkenntnis persönlicher Schuld und einer öffentlichen Auseinandersetzung damit stellt. Nur so werden sie sich die Möglichkeit zur Weiterarbeit und die moralische Berechtigung zu ihrem Verbleib in Hochschulen und Forschungseinrichtungen erhalten bzw. erwerben können.