Pluralisierung und Polarisierung der Lebensformen in Deutschland
Klaus Peter Strohmeier
/ 22 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Mit dem drastischen Rückgang der Geburtenzahlen ab Mitte der sechziger Jahre haben sich die Lebensläufe und Lebensformen der nachgewachsenen Generationen in der Bundesrepublik verändert. Diese Veränderungen werden vielfach pauschal mit den Begriffen „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ bezeichnet. Empirische Analysen des Wandels der Lebensformen der 25-bis 44jährigen in der Bundesrepublik der achtziger Jahre zeigen, daß von Pluralisierung als Ausdruck der Erweiterung des individuellen biographischen Optionsspektrums nur dort die Rede sein kann, wo auf Kinder verzichtet wird. Der „Familiensektor“ unserer Gesellschaft dagegen organisiert sich nach wie vor hochgradig traditionell. Die Privilegierung des (wachsenden) Nicht-Familiensektors und die relative Benachteiligung des (schrumpfenden) Familiensektors haben ihrerseits polarisierenden Charakter. Diese Entwicklung stellt in Europa den bundesdeutschen Sonderweg der Familienentwicklung dar. Dabei beobachten wir Kongruenz und Gleichzeitigkeit „alter“ und „neuer“ sozialer Ungleichheiten. Die neuen Ungleichheiten auf der Grundlage von Lebensphasen und Lebensformen in unserer Gesellschaft sind nämlich hochgradig abhängig von den alten Statusdifferenzen. Dies wird hier untersucht entlang der Bildungsdifferenzierung der Lebensverläufe und der Lebensformen junger Erwachsener im Alter von 25-bis 29 Jahren: Der Rückzug der Familie zur Lebensform einer Minderheit der jüngeren Erwachsenen ist in erster Linie ein Mittelschichtphänomen. Die sozialen Unterschichten werden so einerseits zunehmend zur Trägerschicht traditioneller Lebensstile („verheiratet“, „Hausfrauenehe“). Andererseits sind sie, weil vor allem sie nach wie vor zahlreicher in Familien leben, aber auch besonders betroffen von den Lasten, die die Verwirklichung „moderner“ familialer Lebensformen unter Bedingungen bundesdeutscher Familienpolitik vor allem für die Frauen, hier in Gestalt der Vereinbarkeit von Familienpflichten und Berufstätigkeit, mit sich bringt.
I. Einleitung
Die Veränderungen der privaten Lebensformen mit dem rapiden Geburtenrückgang Mitte der sechziger Jahre werden von Soziologie und Demographie gern mit Begriffen wie „Individualisierung“ oder „Pluralisierung“ beschrieben Diese Begriffe werden auch im Feuilleton und im alltags-sprachlichen Diskurs verwendet. Der Klarheit halber sollen sie und das, was mit ihnen hier bezeichnet wird, im ersten Abschnitt kurz erläutert werden. Daran anschließend wird anhand einer empirischen Analyse aktueller, repräsentativer Umfragedatensätze gezeigt, daß der jüngste Wandel und die aktuelle Vielfalt der in der Bundesrepublik (den Westländem) vorfindbaren privaten Lebensformen begrenzter sind, als vielfach angenommen wird.
Abbildung 5
Tabelle 4: Die zehn häufigsten Lebensformen der 25-bis 29jährigen 1984 und 1989 im Sozio-ökonomischen Panel (in Prozent)
Quelle: Sozio-ökonomisches Panel, eigene Berechnungen.
Tabelle 4: Die zehn häufigsten Lebensformen der 25-bis 29jährigen 1984 und 1989 im Sozio-ökonomischen Panel (in Prozent)
Quelle: Sozio-ökonomisches Panel, eigene Berechnungen.
Die Erweiterung der biographischen Möglichkeiten des Individuums, die ein wichtiger Bestimmungsgrund des sogenannten zweiten „Geburtenrückgangs“ ab 1965 gewesen ist, hat „pluralisierende“, d. h. die Vielfalt der Lebensformen in der Gesellschaft steigernde Auswirkungen nur in dem Teil der Bevölkerung gehabt, der auf Kinder verzichtet. Diese Privilegierung der nicht-familialen und die entsprechende Benachteiligung der familialen Lebensformen haben ihrerseits polarisierenden Charakter. Solche Polarisierung der privaten Lebensformen in einen (überdies schrumpfenden) „Familiensektor“ und einen „Nicht-Familiensektor“ ist im europäischen Vergleich ein Charakteristikum der bundesdeutschen Strukturen der Familienentwicklung in den achtziger Jahren. Abschließend wird auf die Frage eingegangen, in welchem Maße Vielfalt und Wandel der Lebensformen, in denen -„jenseits von Klasse und Schicht“ -Soziologen heute die Merkmale „neuer“ sozialer Ungleichheiten erblicken, nicht doch auf „alte“ Bedingungen sozialer Ungleichheit, wie z. B. die Schichtung von Bildungsqualifikationen, zurückgeführt werden können.
II. „Demographische Übergänge“ und der Wandel der Lebensformen
Abbildung 2
Tabelle 1: Die acht häufigsten Lebensformen bei 25-bis 44jährigen Männern und Frauen 1980 und 1988 (in Prozent)
Quelle: ALLBUS-Datensätze, eigene Berechnungen.
Tabelle 1: Die acht häufigsten Lebensformen bei 25-bis 44jährigen Männern und Frauen 1980 und 1988 (in Prozent)
Quelle: ALLBUS-Datensätze, eigene Berechnungen.
Die Familiensoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg hat die „moderne Kleinfamilie“, bestehend aus einem berufstätigen Vater, einer Hausfrau und Mutter und (im Normalfall) zwei Kindern als die Lebensform angesehen, die den Lebensbedingungen der verstädterten Industriegesellschaft optimal angepaßt war. Nach einem bis in die dreißiger Jahre reichenden Prozeß der „säkularen Nachwuchsbeschränkung“ war in Deutschland diese Lebensform in den dreißiger Jahren die „Normalfamilie“. Ihre nahezu vollständige Verbreitung zeigte das Ende des „ersten Geburtenrückgangs“ bzw.des sogenannten „ersten demographischen Übergangs“ an Seit der Mitte der sechziger Jahre nun beobachten wir mit dem „zweiten demographischen Übergang“, mit bis Mitte der siebziger Jahre fast um die Hälfte verminderten Geburten-zahlen, mit rückläufiger Heiratsneigung und wachsender Scheidungshäufigkeit, die „Deinstitutionalisierung" dieser Lebensform, d. h. einen erheblichen Plausibilitätsverlust des Lebens mit Partner/in und Kindern als „Normalzustand“ im Verlauf eines „Normallebenslaufs“ der erwachsenen Bevölkerung Den soziologischen Hintergrund des zweiten demographischen Übergangs bilden Veränderungen der privaten Lebensformen („shifts“), die Dirk van de Kaa folgendermaßen beschrieben hat:
Abbildung 6
Tabelle 5: Lebensformen identischer Personen im Alter von 25-29 (1984) und 30-34 (1989) nach Bildungsgrad (in Prozent)
Quelle: Sozio-ökonomisches Panel, eigene Berechnungen auf der Grundlage von Tabelle 4.
Tabelle 5: Lebensformen identischer Personen im Alter von 25-29 (1984) und 30-34 (1989) nach Bildungsgrad (in Prozent)
Quelle: Sozio-ökonomisches Panel, eigene Berechnungen auf der Grundlage von Tabelle 4.
.from the golden age of marriage to the dawn of cohabitation, ...from the era of the king-child with parents to that of the king-pair with a child, ...from preventive contraception to self-fulfilling conception, ... from uniform to pluralistic families and households" Die Bundesrepublik Deutschland hat diesen zweiten Übergang als erstes Land in Europa und mit besonderer Gründlichkeit vollzogen. Familien, in denen Eltern und unmündige Kinder Zusammenleben, stellen heute bezogen auf die Gesamtheit aller Haushalte nur noch eine Minderheit dar. Mit dem ersten demographischen Übergang waren die Familien in Deutschland lediglich kleiner, mit dem zweiten seit Mitte der sechziger Jahre sind sie weniger geworden. In den Lebensläufen der nachgewachsenen Generationen treten auf Zeit oder auf Dauer kinderlose Lebensformen, wie die der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften oder der „Singles“, an die Stelle der Kem-oder Kleinfamilie.
III. „Individualisierung“ des Lebenslaufs, „Pluralisierung" und „Polarisierung“ der Lebensformen
Abbildung 3
12 Tabelle 2: Lebensformen 25-bis 44jähriger Männer und Frauen 1980, differenziert nach Kinderzahl und Partnerstatus (in Promille)
Quelle: ALLBUS 1980, eigene Berechnungen. ,
12 Tabelle 2: Lebensformen 25-bis 44jähriger Männer und Frauen 1980, differenziert nach Kinderzahl und Partnerstatus (in Promille)
Quelle: ALLBUS 1980, eigene Berechnungen. ,
Die Begriffe „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ werden heute vielfach synonym als Bezeichnungen der Wandlungen im Bereich des Privaten, der Auflösung traditioneller Lebensformen und Lebensverläufe in der modernen Gesellschaft benutzt. Verbunden damit sind häufig Zustandsbeschreibungen vom Typus „anything goes“. Damit wird jedoch die tatsächliche Variabilität der privaten Lebensformen, vor allem jedoch die (nach wie vor erheblich beschränkte) Vielfalt der Familien-formen und die tatsächliche Bedeutung eher rand-ständiger Entwicklungen überschätzt Individualisierung und Pluralisierung Individualisierung und Pluralisierung sind keineswegs gleichbedeutend mit einer beliebig fortschreitenden Vervielfältigung biographischer Muster. Mit „Individualisierung“ ist sinnvollerweise die zunehmende Unabhängigkeit des individuellen Lebenslaufs von Instanzen zu bezeichnen, die das Eintreten bestimmter biographischer Ereignisse und Übergänge, wie z. B. die Geburt des ersten Kindes, die Eheschließung, den Eintritt ins Berufsleben, in der Vergangenheit gesteuert haben. In erster Linie sind dies Geschlecht, Alter und die soziale und regionale Herkunft gewesen. Eine wichtige Voraussetzung gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse war die mit der Demokratisierung der Bildung gegebene Erweiterung der Lebenschancen der jüngeren Frauengenerationen, die die Frauen um beinahe eine Generation später als die Männer (erst mit den Nachkriegsjahrgängen) erreicht hat Seitdem ist die soziale Akzeptanz von auf Dauer oder mindestens auf Zeit kinder-und familienlosen Lebensformen auch von Frauen gewachsen. Mit der Erweiterung des jedem Individuum offenstehenden „biographischen Universums“ und dem Erfordernis gesteigerter „biographischer Mobilität“ des einzelnen verringert sich der Anteil derer, die es riskieren, sich auf und durch Kinder festzulegen
Individualisierung des Lebenslaufs bedeutet jedoch nicht, daß damit die eigene Lebensführung nun ausschließlich in das persönliche Belieben des einzelnen gestellt wäre. Entscheidungen in bestimmten „Karrieren“ des Lebenslaufs haben vielmehr Bindungswirkungen auch in anderen Insbesondere die Entscheidung für ein Kind bedeutet (lebens) lange Festlegungen. Martin Kohli stellt heraus, daß die Individualisierung des Lebenslaufs mit neuen Normierungen und Standardisierungen einhergeht. Die „privaten“ Karrieren im Lebenslauf werden nämlich am Verlauf der „normalen“ Berufskarriere organisiert, die eine vorberufliche, eine berufliche und eine nachberufliche Phase kennt, und verlaufen synchron mit diesen Phasen. So gilt für Männer in unserer Gesellschaft (etwas zeitversetzt) die Übereinstimmung der vorelterli-chen Phase des Lebenslaufs mit der vorberuflichen, der elterlichen mit dem ersten Teil der beruflichen Phase und der nachelterlichen mit der nach-beruflichen Phase. Der Vergleich von Männern und Frauen zeigt jedoch, daß die Individualisierung des Lebenslaufs keineswegs durchgängig gegeben ist. Für Frauen gilt nämlich bislang die o. g. Synchronisierung von Familien-und Berufskarriere nur im Prinzip. Sie haben es in der Bundesrepublik vielfach noch mit einander ausschließenden Alternativen zu tun: Der stetige Anstieg des Alters der Mutter bei Geburt des ersten Kindes ist in erster Linie Ausdruck der Verlängerung der vorberuflichen Phase. Mutterschaft bedeutet dann jedoch den zumindest zeitweiligen Verzicht auf Berufstätigkeit, das zweite Kind ist für Frauen in der Regel Gegenstand einer Entscheidung zwischen Alternativen: Kinder oder Beruf
Individualisierung charakterisiert den Ablauf einer individuellen Biographie und den Grad ihrer Außensteuerung, bezeichnet also Merkmale sozialer Mikroprozesse, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in unterschiedlichem Maße gegeben sind. Pluralisierung dagegen bezeichnet die Veränderung von Makro-Strukturen. Zu jedem Zeitpunkt ergibt sich aus den (durchaus unterschiedlich individualisierten) Lebensverläufen der Gesellschaftsmitglieder im Querschnitt die vor-findbare Pluralität von Lebensformen (bzw. von „Lebensstilen“) als die Kombination aller zu einer bestimmten Zeit in einer Bevölkerung vorhandenen biographischen Zustandsformen.
Von der neueren kultursoziologischen „Lebensstil“ -Diskussion wird hier ausdrücklich abgesehen; in ihr werden Bedingungen und Merkmale sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft vermascht, deren Zusammenhänge untereinander eigentlich erklärungsbedürftig wären. Wir orientieren uns statt dessen an einer von Wolfgang Zapf und anderen vorgeschlagenen, an Strukturen von Lebensformen, Lebenslagen und Mustern der Alltagsbewältigung festgemachten Definition von Lebensformen und Lebensstilen: „Lebensstiri nach Zapf bezeichnet „relativ stabile Muster der Organisation des Alltags im Rahmen gegebener Lebenslagen, verfügbarer Ressourcen und getroffener Lebensplanungen ... Lebensstile sind individuelle Gestaltungsleistungen (auf der Mikroebene) im Rahmen milieuspezifischer Wahlmöglichkeiten und Zwänge (mittlere Ebene) sowie gesamtgesellschaftlicher Niveaus und Erfahrungen (Makroebene)...“ Sie ... „wandeln sich im Lebensverlauf und im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung“. Sie „sind transitorische Ordnungsmuster bei abnehmenden Zumutungen und steigenden Wahlmöglichkeiten“ „Lebensformen“ werden gekennzeichnet durch die Kombination von Merkmalen der Haushalts-und Familienstruktur mit dem Familienstand und der Art der Erwerbstätigkeit der erwachsenen Haushaltsmitglieder. Sie bezeichnen die „sozialstrukturelleBasis von Lebensstilen“. Der Begriff „Lebensform“ nimmt so eine Erweiterung traditionell haushaltsdemographischer Kategorien“ um Erwerbstätigkeit als zentrales Merkmal der Einbindung von Haushalten in ihre soziale Umwelt und um die Verteilung der Erwerbsarbeit auf die erwachsenen Haushaltsmitglieder als wichtigen Indikator der Alltagsorganisation vor. Er enthält damit neben der personellen Zusammensetzung die zentralen Aspekte der Außenbeziehungen und der Binnenorganisation von Haushalten bzw. Familien. Ein Aspekt der Pluralisierung der Lebensformen ist ihre gewachsene (wenngleich, wie wir sehen werden, nach wie vor begrenzte) Vielfalt. Ein anderer ihre zunehmend „kontingente“, d. h. immer weniger eindeutige Verknüpfung mit den traditionellen Kategorien ungleicher Lebenslagen, wie z. B. der sozialen Schichtzugehörigkeit. Allerdings gibt es Hinweise auf nach wie vor bestehende Abhängigkeiten. In einer Gesellschaft mit kaum differenzierten und insgesamt beschränkten Opportunitätsstrukturen sowie mit eingeschränkten biographischen Wahlmöglichkeiten, wie sie die DDR verkörpert hat, waren z. B. Differenzierungen der „Lebensweise“ und die Muster der Alltagsorganisation deutlich bildungsabhängig 2. Pluralisierung und Polarisierung der Lebensformen Die Aussage, die biographischen Möglichkeiten des Individuums und die tatsächlich gewählten Lebensformen würden vielfältiger und ihre Bin-düng an soziale Schichten loser, bedeutet nicht, daß damit etwa die mathematischen Regeln der Kombinatorik künftig die Soziologie ersetzen könnten. Lebensformen weisen vielmehr allen bisherigen Individualisierungs-und Pluralisierungstendenzen zum Trotz nach wie vor eine hohe Indikatorqualität sowohl im Hinblick auf typische Elemente der Lebenslage (z. B. die wirtschaftliche Benachteiligung von Familien mit nur einem Einkommen) als auch auf typische Formen der Alltagsorganisation auf. So ist Hausarbeit auch in Familien mit berufstätigen Müttern traditionell Frauensache, so findet auch bei ursprünglich partnerschaftlicher Arbeitsteilung von Männern und Frauen nach der Geburt eines Kindes in der Regel die Neuregelung der Zuständigkeiten in traditioneller Weise statt
Internationale Vergleiche zeigen, daß sich in Abhängigkeit von unterschiedlichen sozio-politischen Rahmenbedingungen jeweils bestimmte Lebensformen als besonders verbreitet und stabil und damit unter den jeweils gegebenen Umständen offenbar als besonders praktisch erweisen
Abbildung 1 zeigt die häufigsten Lebensformen der 25-44jährigen Männer und Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des „Wohlfahrtssurvey 1984“. Die „Hausfrauenfamilie“ mit zwei und mehr Kindern ist danach in den achtziger Jahren bei den hier erfaßten Jahrgängen im reproduktiven Alter nur mehr die Lebensform einer Minderheit. Neben den in der Abbildung 1 ausgewiesenen sechs häufigsten Lebensformen sehen wir einen hohen Anteil „sonstiger“, der von den Verfassern als Ausdruck von Pluralisierungstendenzen gedeutet wird. Es bleibt jedoch offen, ob die Verteilung in Abbildung 1 lediglich das Ergebnis eines zurückliegenden Prozesses der „Entnormalisierung" der Normalfamilie beschreibt, der zu der in den achtziger Jahren vorfindbaren Pluralität der Lebensformen geführt hat, oder ob, wie die Autoren und andere annehmen, die diese Befunde interpretiert haben, wirklich ein weiteres Fortschreiten der Vielfalt, ablesbar an der weiteren Zunahme der „Sonstigen“, zu erwarten ist
Eine Reanalyse der von Zapf u. a. verwendeten Originaldaten zeigt jedoch, daß bei Ausweis der acht häufigsten Lebensformen (anstatt sechs wie in Abbildung 1) sich der Anteil der „Sonstigen“ auf nur noch rund 15 Prozent reduziert. Die meisten Differenzierungen der Lebensformen in dieser Restgruppe resultieren im übrigen aus Unterschieden in der Art der Erwerbstätigkeit bzw. Nicht-erwerbstätigkeit, weniger aus Familienstand oder Haushaltszusammensetzung. Zapf und Mitarbeiter überschätzen also zum einen die tatsächliche Pluralität der Lebensformen, über die Pluralisierung, also die Strukturveränderungen in der Zeit, sagen ihre Daten gar nichts aus. Dazu benötigten wir repräsentative Daten für mindestens zwei Zeitpunkte.Die von 1980 bis 1990 im Zweijahresabstand regelmäßig durchgeführten ALLBUS-Erhebungen stellen eine repräsentative Datengrundlage zur Beantwortung der Frage nach der Pluralisierung der Lebensformen in den achtziger Jahren dar Die folgende Tabelle 1 weist die acht jeweils häufigsten Lebensformen zu Beginn (ALLBUS 1980) und am Ende der achtziger Jahre (ALLBUS 1988) aus. Die Altersgruppe ist die gleiche wie in Abbildung!, Männer und Frauen von 25 bis 44 Jahren. Angesichts der sonst zu geringen Fallzahlen in den Untergruppen haben wir die wenigen Personen dieses Alters, die noch in Ausbildung standen, sowie die wenigen, die angaben, arbeitslos zu sein, zu den „Berufstätigen“ gezählt; als nicht berufstätig wurden Hausfrauen/-männer, Rentner und sonstige Nichterwerbstätige klassifiziert.
Die ALLBUS-Daten zeigen (bei zurückgehender Gesamtzahl) eine beachtliche Konstanz der Le bensformen der 25-bis 44jährigen in den achtziger Jahren. Die acht häufigsten Typen decken auch hier 1980 und 1988 jeweils gut 85 Prozent der Befragten ab. Der Anteil der Hausfrauenehen mit zwei und mehr Kindern geht etwas zurück, die Anteile der ledigen berufstätigen Singles und der bei den Eltern lebenden Berufstätigen erhöhen sich. Die kinderlose Hausfrauenehe stirbt als Lebensform in den achtziger Jahren so gut wie aus. Ihr Anteil geht bis 1988 auf ein Drittel des Wertes von 1980 zurück! Dagegen vervierfacht sich der Anteil der unverheiratet mit dem Partner zusammenlebenden Personen von zwei auf acht Prozent, entsprechend reduziert sich der Anteil der verheiratet Zusammenlebenden.
Die Zahlen in Tabelle 1 zeigen danach keine weitere Pluralisierung der Lebensformen in den achtziger Jahren, sondern Verschiebungen der Gewichte innerhalb einer gegebenen und insgesamt beschränkten Vielfalt. In den nachfolgenden Tabellen 2 und 3 werden die Veränderungen der Lebensformen in den achtziger Jahren differenzierter nach der Kinderzahl und dem Partnerstatus der Männer und Frauen dargestellt. Es wird deutlich, daß wir es mit zwei unterschiedlichen Entwicklungen zu tun gehabt haben: Zum einen sehen wir die „Polarisierung“ der Lebensformen in einen „Familiensektor“ und einen „Nicht-Familiensektor“, wobei das Wachstum des kinderlosen Nicht-Familien-sektors bei konstanter Proportion von Ein-Kind-Familien zu Lasten der relativ „kinderreichen“ mit zwei und mehr Kindern geht. Polarisierung bedeutet, daß eine erkennbare und in der Verteilung der Gewichte wachsende Pluralität der Lebensformen (und damit der Optionserweiterungen der Individuen) nur im „Nicht-Familiensektor“ zu finden ist, während der „Familiensektor“ zugleich Tendenzen der Konzentration auf je nach Kinderzahl ausgesprochen typische Lebensformen mit abnehmender Varianz zeigt. In Deutschland ist damit der letzte der oben für den zweiten demographischen Übergang als charakteristisch zitierten „shifts“, der „from uniform to pluralistic families and households" nur partiell bei den Lebensformen ohne Kinder vollzogen worden.
Von den Erwachsenen im Familiensektor, also denen, die mindestens ein Kind haben, lebten 1980 89 Prozent in den beiden häufigsten Lebensformen „verheiratet/zusammenlebend-Mann-Beruf“ und „verheiratet/zusammenlebend-Doppelberuf“. 1988 waren es bei etwa konstanten Relationen fast genau so viele. Bei den Kinderlosen dagegen finden wir 1980 und 1988 jeweils weniger als die Hälfte der Befragten in den beiden häufigsten Lebensformen, gleichzeitig haben sich hier aber deutliche Gewichtsverschiebungen zugunsten der Lebensformen ohne festen Partner und der zusammenleben-den unverheirateten Paare („cohabi“: versechsfacht!) ergeben. Die kinderlose Ehe ist auf dem Rückzug, die kinderlose Hausfrauenehe stirbt aus und wird in der Rangordnung der Lebensformen durch das unverheiratet zusammenlebende doppel-B berufstätige Paar ersetzt. Angesichts dieser Dynamik weist der schrumpfende Familiensektor eine erhebliche Stabilität auf, die angesichts der in den achtziger Jahren nicht ausgeräumten Beschränkungen des Familienalltags allerdings nicht erstaunt Diese unterschiedliche Entwicklungsdynamik beinhaltet als Polarisierungstendenz gesteigerte biographische Wahlmöglichkeiten nur, solange die Option Elternschaft ausgeschlossen wird; es kommt zur Reduktion der individuellen Freiheitsgrade schon nach dem ersten Kind.
Diese Einschränkungen betreffen vor allem Frauen. Während insgesamt die Verbreitung der Lebensformen zunimmt, die die Berufstätigkeit von Frauen einschließen, bleibt sie im familialen Sektor so gut wie konstant Die sogenannte „Normalfamilie“ ist zwar nicht mehr, wie bis in die sechziger Jahre hinein, die Normallebensform der erwachsenen Bevölkerung insgesamt, innerhalb des geschrumpften Familiensektors kommt ihr allerdings immer noch außerordentliche Normalität zu. Zwei Drittel der verheirateten Mütter von zwei und mehr Kindern sind am Anfang wie am Ende der achtziger Jahre Hausfrauen gewesen.
Die Familie mit Kindern als Normallebensform von Erwachsenen im dritten bis fünften Lebensjahr-zehnt ist auf dem Rückzug, andererseits organisiert sich der schrumpfende Familiensektor überwiegend noch entsprechend der familialen Normalität der sechziger Jahre. Es spricht viel dafür, daß das eine die Folge des anderen ist. Die Familie mit Kindern ist bei nur einem Einkommen heute trotz Familienlastenausgleich mit Bezug auf wirtschaftliche Lage, Wohnraumversorgung und Lebensstandard benachteiligt, die Standards auf den Wohnungsund Gütermärkten werden von kinderlosen Haushalten, häufig mit mehreren Einkommen, bestimmt. Die Berufstätigkeit von Müttern wiederum ist in der Bundesrepublik nach Wie vor schwierig. Die Großmütter sind die wichtigste sozialpolitische Einrichtung zur Betreuung der Kleinkinder berufstätiger Mütter. Nach der Geburt des zweiten Kindes sind acht von zehn Müttern Hausfrauen, wobei zwei Drittel derer, die „wegen der Kinder“ ihren Beruf aufgegeben haben, gern wieder berufstätig wären Familie ist so eine hinsichtlich ihrer objektiven Lebensumstände belastete (und von der nachwachsenden Generation prospektiver Eltern offenbar auch so wahrgenommene) Lebensform; hinsichtlich der Erfüllung der heute legitimen Lebensansprüche der Frauen ist sie überfordert.
IV. Alte und neue Ungleichheiten
Abbildung 4
Tabelle 3: Lebensformen 25-bis 44jähriger Männer und Frauen 1988, differenziert nach Kinderzahl und Partnerstatus (in Promille)
Quelle: ALLBUS 1988, eigene Berechnungen.
Tabelle 3: Lebensformen 25-bis 44jähriger Männer und Frauen 1988, differenziert nach Kinderzahl und Partnerstatus (in Promille)
Quelle: ALLBUS 1988, eigene Berechnungen.
Bei möglicherweise abnehmender Bedeutung von Bedingungen vertikaler sozialer Ungleichheit, wie „Klasse“ oder „Schicht“ für die Differenzierung von Lebensformen organisiert sich die Gesellschaft also horizontal zunehmend in einen familialen und einen nicht-familialen Sektor. Eine jetzt abgeschlossene, von Kaufmann und Strohmeier geleitete Studie über „Familiale Lebensformen, Lebenslagen und Familienalltag im europäischen Vergleich“ hat auf der Grundlage einer Sekundär-analyse von Daten aus zehn Ländern ergeben, daß die Dynamik dieses Wandels der privaten Lebensformen sich europaweit auf das Alter bei Familiengründung, die zweite Hälfte des dritten Lebens-Jahrzehnts, konzentriert. In dieser Lebensphase beobachten wir überall in Europa die größte Vielfalt der Lebensformen. Hier haben sich im Verlauf der achtziger Jahre auch die größten Wandlungen vollzogen In dieser Lebensphase zeigt sich also am deutlichsten das Ausmaß der neuen horizontalen Ungleichheiten. Das bedeutet jedoch nicht, daß damit auch schon die alten „vertikalen“ sozialen Ungleichheiten, allen voran die soziale Schichtung, belanglos wären. Die Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre hat maßgeblich zur Individualisierung des Lebenslaufs und damit dazu beigetragen, daß ein steigender Anteil der 25-bis 30jährigen nicht mehr (oder noch nicht) in Familien lebt. Dennoch bestehen nach wie vor bildungsabhängige Differenzierungen der Lebensformen und des Lebenslaufs. Es soll abschließend gezeigt werden, daß alte Ungleichheiten (in Gestalt der Bildungsdifferenzierung) die neuen in hohem Maße bedingen. Der soziale Status des einzelnen ist für den individuellen Lebenslauf, die Statusdifferenzierung der Gesellschaft ist für die Pluralität der Lebensformen und Lebensstile nach wie vor durchaus bedeutsam.
Im Lebensalter von 25 bis 29 Jahren finden wir in der Bundesrepublik sowohl eine schichtabhängige Verteilung der Lebensformen als auch eine hochgradige Schichtabhängigkeit der Lebensverläufe, was auf bedeutsame sozialstrukturelle Differenzierungen des Individualisierungsprozesses hinweist. Beides soll anhand des „Sozio-ökonomischen Panels“ (aus den Jahren 1984 und 1989) gezeigt werden. Dieser Datensatz ist einerseits hinreichend groß, um die Statusabhängigkeit der privaten Lebensstile analysieren zu können, ohne daß einem wie sonst mit Umfragedaten bei zu großer Differenzierung des Merkmalkatalogs die „Fälle ausgehen“. Andererseits ermöglicht er als Wiederholungsbefragung derselben Personen auch die Verfolgung von Lebensläufen im Zeitablauf, zumindest in Gestalt des Vergleichs von zwei Momentaufnahmen zu den jeweiligen Befragungszeitpunkten. Tabelle 4 vergleicht die „Lebensformen“ der 25-bis 29jährigen Männer und Frauen in den Wellen des Sozio-ökonomischen Panels aus den Jahren 1984 und 1989 für die Bundesrepublik Deutschland. Dargestellt werden die in beiden Jahren zehn häufigsten Lebensformen der Befragten, die 1984 bzw. 1989 jeweils 25 bis 29 Jahre alt waren.
Als berufstätig wurden hier, wie schon in Tabelle 1, auch solche Personen klassifiziert, die erklärten, sie seien derzeit arbeitslos gemeldet oder sie befänden sich in einer beruflichen oder universitären Ausbildung. Wie oben kam es uns dabei vor allem auf die Erfassung von Strukturen der Aufteilung der haushaltsbezogenen und der außerhäuslichen Arbeit zwischen Männern und Frauen in Paarbeziehungen an. Die Verteilung der Lebensformen im Sozioökonomischen Panel weicht etwas von der in den kumulierten ALLBUS-Datensätzen ab, was entweder die Folge von Stichprobenfehlem ist oder auf die unterschiedlichen Erhebungszeitpunkte zurückzuführen sein mag. Jeweils 1984 und 1989 charakterisieren schon die acht häufigsten Lebensformen über achtzig Prozent der Bevölkerung im Alter von 25 bis 29 Jahren. Auf die übrigen, hier als „sonstige“ zusammengefaßten Lebensformen entfallen jeweils im einzelnen weniger als ein Prozent der Befragten.
Der in Tabelle 4 gegebene Vergleich zweier unmittelbar aufeinanderfolgender Generationen von 25-bis 29jährigen offenbart einige erhebliche Veränderungen. 1989 hat der im Elternhaus lebende ledige Single dem doppelberufstätigen kinderlosen Ehepaar den ersten Rang in der Liste der Lebensformen junger Erwachsener abgelaufen. Die größte Gruppe der Männer und Frauen in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts lebt danach am Ende der achtziger Jahre im Elternhaus. Die Haus-19 frauenehe mit Kind(ern) ist bei den Endzwanzigem in der Bundesrepublik zunehmend unpopulär geworden, innerhalb von nur fünf Jahren ist die Variante mit einem Kind von Rang vier auf Rang fünf, die mit zwei Kindern, die „Normalfamilie“ der Nachkriegsfamiliensoziologie, gar von Rang fünf auf Rang sieben gefallen. Gleichzeitig erhöht sich der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Doppelberufstätigkeit beider Partner, diese Lebensform steigt vom siebten auf den vierten Rang. 1989 sind die vier häufigsten Lebensformen der jungen Erwachsenen in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts kinderlose Formen, das sind alle, die jeweils von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung dieses Alters gelebt werden. Innerhalb der vorhandenen Pluralität von Lebensformen, die auch hier allerdings den Charakter einer begrenzten, nicht weiter wachsenden Vielfalt hat, verschieben sich die Gewichte zugunsten der nicht familien-bezogenen Lebensformen. Familienleben ist in den nachgewachsenen Generationen junger Erwachsener zunehmend der Lebensstil einer Minderheit geworden. Diese Diagnose ist jedoch in einem ent-, scheidenden Punkt zu präzisieren. Der Prozeß ist nämlich hochgradig schichtabhängig. Die „Träger“ des beobachteten Rückzugs der familialen Lebensform sind vor allem junge Frauen und Männer der mittleren und oberen Schichten Die Schichtabhängigkeit gesellschaftlicher Individualisierungsund Pluralisierungsprozesse läßt sich zeigen, wenn wir die Verteilung der Lebensformen in Abhängigkeit von der Bildung und ihre Veränderungen im Lebenslauf bei ein-und denselben Personen in unterschiedlichen Lebensaltern dokumentieren. Das sozio-ökonomische Panel ermöglicht beides.
Tabelle 5 stellt entsprechende Analysen dar, ausgehend von den 25-bis 29jährigen in der Befragung von 1984, die 1989 zwischen 30 und 34 (unter 35) Jahren alt waren. Der besseren Übersicht halber wurde unser mehrdimensionales „Lebensform" -
Konstrukt wieder in Einzel-„Elemente“ zerlegt. Von den zuvor in Tabelle 4 als „sonstige“ klassifizierten Personen wird in Tabelle 5 abgesehen. Die mit „ 25-29“ überschriebenen Spalten weisen die Anteile der Befragten aus, die 1984 25-29 Jahre alt waren und für die die in den Zeilen genannten Elemente der Lebensform gegeben waren. Die mit „ 30-34“ überschriebenen Spalten geben dieselbe Information für (überwiegend) dieselben Personen fünf Jahre später im Alter von 30 bis 34 Jahren. Diese Vergleiche werden zunächst für alle Personen der Altersgruppe („insgesamt“), dann für solche mit Hauptschulabschluß und schließlich für die mit Fachhochschulreife oder Abitur vorgestellt.
Wir sehen eindeutige Statusunterschiede in der Verteilung und in der Veränderung der Lebensformen: Im Alter 30-34 sind 84 von 100 Hauptschulabsolventen verheiratet, aber bereits fünf Jahre zuvor, im Alter 25-29, sind schon deutlich mehr von ihnen verheiratet als Abiturienten/innen im Alter 30-34. Verheiratetsein ist danach ausgesprochen unterschichttypisch und bei den jungen Erwachsenen in den oberen Bildungsschichten selbst im vierten Lebensjahrzehnt deutlich weniger verbreitet als bei fünf Jahre jüngeren Angehörigen der unteren Schichten.
Während bei den Hauptschulabsolventen die Lebensform des berufstätigen „Singlesu überwiegend eine seltene (von nur einem Zehntel gewählte) vor-partnerschaftliche bzw. voreheliche Lebensform ist, stellt sie in den oberen Bildungsgruppen eine bereits im Alter 25-29 durchaus verbreitete und in dieser Verbreitung'auch nach den folgenden fünf Lebensjahren stabile eigenständige Lebensform dar. Alleinleben als Alternative zur Familie ist damit eine eindeutig mittelschichtspezifische Lebensform. Dies gilt jedoch nicht für die nichteheliche Lebensgemeinschaft, für die keine signifikanten bildungsabhängigen Unterschiede ermittelt wurden. Statusabhängig ist auch der Verzicht auf Kinder. Im Alter 30-34 ist mit 55 Prozent immer noch ein größerer Anteil der Abiturienten kinderlos als bei den Hauptschulabsolventen im jüngeren Alter 25-29 (49, 4 Prozent). Noch im Alter 30-34 haben weniger Personen mit Fachhochschulreife oder Abitur ein Kind als Hauptschulabsolventen im Alter 25-29. Am deutlichsten sind die Unterschiede bei den Anteilen der mit zwei und mehr Kindern nach heutigem Verständnis relativ kinderreichen jungen Deutschen. Im Alter 25-29 hat bereits ein knappes Viertel der Hauptschulabsolventen zwei oder mehr Kinder, aber nur ein Zwanzigstel der oberen Bildungsschicht! FünfJahre später ist knapp die Hälfte der unteren Schicht mit zwei oder mehr Kindern relativ kinderreich, aber nur ein Viertel der oberen Schicht!
Der damit nahegelegte Eindruck der größeren Familienorientierung und Traditionalität der Lebensformen der unteren Schichten wird durch die Verteilung der „Hausfrauenehenu weiter gestützt. Der Anteil der Personen, die in „Hausfrauenehen“ leben, also als zusammenlebende Ehepaare mit ausschließlicher Berufstätigkeit des Mannes, an allen Männern und Frauen der Altersgruppe steigt in der unteren Schicht von einem guten Drittel im Alter 25-29 auf fast 44 Prozent im Alter 30-34 an. In der oberen Schicht beträgt er auch im Alter 30-34 nur ein Viertel.
Trotz der deutlich stärkeren Verbreitung des traditionellen Modells der familialen Arbeitsteilung in der unteren Schicht finden wir (wegen der geringeren Anteile Alleinlebender in den Unterschichten) keinen Statusunterschied in der Verbreitung von Lebensformen zusammenlebender Männer und Frauen mit Berufstätigkeit beider Partner („Kombinierer“). Fast die Hälfte der Männer und Frauen im Alter 30-34 lebt, unabhängig vom Bildungsabschluß, in einer solchen Lebensform. Allerdings zeigen sich nicht unerhebliche interne Differenzierungen der „Kombinierer“ in Abhängigkeit von der Bildungsschicht. In der unteren Schicht mit Hauptschulabschluß leben im Alter 25-29 etwa ein Drittel dieser Männer und Frauen in der Lebensform „doppelberufstätiges Paar mit Kind(ern)“, also in Familien. In der oberen Bildungsschicht ist dieser Anteil im Alter 25-29 mit einem knappen Fünftel deutlich geringer. Fünf Jahre älter geworden, hat sich bei den Personen der unteren Schicht der Anteil der doppelberufstätigen Paare mit Kindern auf 70 Prozent der „Kombinierer“ erhöht, während in diesem Alter in der oberen Schicht immer noch die Mehrheit ($9 Prozent der „Kombinierer“) doppelberufstätige Paare ohne Kind sind. Nicht nur die vorhandenen Belastungen der traditionellen Familien betreffen danach vor allem die unteren Schichten, sondern auch die „moderne“ Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf betrifft nach diesen Zahlen vor allem Personen mit nicht mehr als Hauptschulabschluß, denn der Anteil der berufstätigen Mütter (nicht der berufstätigen Frauen!) ist in der unteren Schicht deutlich höher als in der oberen.
Daraus ergibt sich eine doppelte Problembelastung der unteren Schichten: Der Rückzug der Familie in die gesellschaftliche Minderheit ist eindeutig ein Mittelschichtphänomen. Die sozialen Unterschichten werden einerseits zunehmend zur Trägerschicht traditioneller Lebensstile („verheiratet“, „Hausfrauenehe“). Andererseits sind sie aber auch, weil sie nach wie vor zahlreicher in Familien leben, besonders betroffen von den Lasten, die die Verwirklichung moderner familialer Lebensformen begleiten, hier in Gestalt der unter den Bedingungen bundesdeutscher Familienpolitik durchaus erschwerten Vereinbarkeit von Familienpflichten und der Berufstätigkeit der Frauen. Für die große Mehrheit der doppelberufstätigen jungen Mittelschichtpaare dagegen stellt sich die „Vereinbarkeitsproblematik“ mangels Kindern selbst im Alter 30-34 nur als mögliches Problem der Vereinbarkeit der Berufstätigkeit beider Partner mit der Partnerschaft oder der Verteilung der Hausarbeit.
Hans Linde hat argumentiert, daß im ersten und zweiten demographischen Übergang bestimmte soziale Schichten in der Praktizierung „moderner“ Biographiemodelle quasi die „Vorläufer“ anderer gewesen seien. Er zeigt anhand der Familienstatistik des deutschen Reiches, daß im „ersten Über-gang“ zu Beginn dieses Jahrhunderts Beamte und Angestellte als erste „die Beschränkung des ehelichen Nachwuchses“ verwirklicht haben. Im „zweiten Übergang“ seit den sechziger Jahren haben dann zuerst die Frauen mit höherer Bildung den Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes entweder hinausgeschoben oder ganz auf die Familiengründung verzichtet. Eine solche Erklärung mag auch für die zuvor beschriebenen Unterschiede der Lebensformen und der Lebensläufe junger Männer und Frauen unterschiedlicher Bildungsgrade zutreffen. Eine zweite Interpretation ist jedoch mindestens ebenso wahrscheinlich: Unsere im ersten Abschnitt eingeführte und begründete These der (horizontalen) Polarisierung der Lebensformen in (den Westländem) der Bundesrepublik Deutschland läßt sich gewissermaßen um eine zweite Dimension erweitern: Unsere Gesellschaft hat sich zwar „horizontal“, wie gezeigt, in einen (schrumpfenden strukturstarren) Familiensektor und einen (wachsenden und pluralisierten) Nicht-Familien-sektor polarisiert. Diese Polarisierung vollzieht sich jedoch vor dem Hintergrund der bestehenden vertikalen Ungleichheiten sozialstruktureller Art.
Die besonders belasteten und benachteiligten traditionellen Lebensformen innerhalb des (insgesamt ohnehin benachteiligten) Familiensektors bleiben heute vor allem den Angehörigen der unteren Sozialschichten vorbehalten. Bei diesen Schichten, und hier vor allem bei den Frauen, beobachten wir damit faktisch sowohl den Ausschluß von den erweiterten Handlungsspielräumen der modernen „nachtransitionalen“ Gesellschaft als auch eine besondere Betroffenheit von den Lasten, die die Verwirklichung „moderner“ Optionen der Kombination von Kindern und Beruf mit sich bringt. Ob diese faktische Koinzidenz von neuen und alten Benachteiligungenetwas ist, was die Betroffenen schlicht erleiden, oder ob wir vielmehr in der besonderen Familienbezogenheit und der Selbstverständlichkeit des Familienlebens in den Lebensstilen der unteren Schichten das Ergebnis des Zusammentreffens schichtspezifisch traditionaler Lebenspläne mit ebensolchen Lebensformen beobachten, kann auf der Grundlage der hier analysierten Struktur-daten noch nicht abschließend entschieden werden. Die Existenz bildungs-oder schichtabhängiger Lebenspläne und Lebensformen würde allerdings praktisch auf noch tiefer gehende (weil sozialstrukturell verankerte) Polarisierungstendenzen in unserer Gesellschaft hinweisen. Danach wären sozial-strukturelle Differenzierungen nach wie vor gewissermaßen der (von der Forschung zuletzt etwas vernachlässigte) „Unterbau 1" der vielfach erwiesenen Pluralität von Lebensplänen und Lebensformen in der Moderne, auch wenn die Verknüpfungen von sozialer Schicht und Lebensform in jüngster Zeit etwas kontingenter geworden sein mögen.
Klaus Peter Strohmeier, Dr. rer. soc., geb. 1948; seit 1980 Projektleiter und Geschäftsführer im Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: (Mithrsg. zus. mit Alois Herlth) Lebenslauf und Familienentwicklung, Leverkusen 1989; (zus. mit Franz-Xaver Kaufmann und Gero Federkeil) Wirkungen politischen Handelns auf den Bevölkerungsprozeß, Boppard 1992; (zus. mit Ch. W. Matthiessen) Innovation and Urban Population Dynamics -a Multi-Level Approach, Aldershot 1992.