Jugend in der Krise. Ostdeutsche Jugendliche zwischen Apathie und politischer Radikalisierung Eine Vergleichsuntersuchung Ost-und Westberliner Jugendlicher | APuZ 19/1993 | bpb.de
Jugend in der Krise. Ostdeutsche Jugendliche zwischen Apathie und politischer Radikalisierung Eine Vergleichsuntersuchung Ost-und Westberliner Jugendlicher
Detlef Oesterreich
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Zusammenfassung
Der Beitrag stellt Ergebnisse eines Vergleiches zwischen 1396 Ost-und Westberliner Jugendlichen (Gymnasiasten und Berufsschüler des Baugewerbes) dar. Die weitverbreitete Annahme, der in den neuen Bundesländern zu beobachtende Gewalt-und Rechtsextremismusschub sei ein Produkt der Sozialisationsbedingungen in der DDR, konnte nicht bestätigt werden. Ost-und Westberliner Jugendliche unterscheiden sich weder bezüglich rechtsextremistischer Einstellungen, noch Rassismus, noch autoritärer Persönlichkeitsmerkmale voneinander. Sie sind allerdings deutlich feindseliger gegenüber Ausländem in Deutschland. Die Ergebnisse deuten darauf hin, daß die Gewaltwelle in den neuen Bundesländern Produkt der die Jugendlichen stark belastenden aktuellen Krisensituation ist. Diese ist nicht hur durch die immer noch bestehende ökonomische Krise gekennzeichnet, sondern darüber hinaus durch Identitätsprobleme der Jugendlichen und ein Versagen der leitenden Autoritäten in der Zeit nach der Wende, die ihre Versprechungen nicht eingehalten haben.
I. Fragestellung
Nach der Wende und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 haben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR rechtsextremistische Aktivitäten, insbesondere Überfälle auf Ausländer, massiv zugenommen. Sind diese Veränderungen eine Folge der Wende mit ihren ökonomischen Problemen und emotionalen Verunsicherungen, oder bricht nun all das aus den Menschen hervor, was jahrelang unterdrückt wurde?
Abbildung 9
Tabelle 4: Rechtsextremistische Orientierungen (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Tabelle 4: Rechtsextremistische Orientierungen (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Folgt man der öffentlichen Diskussion in den Medien, dann scheint eine psychische Deformierung ehemaliger DDR-Bürger durch das sozialistische System bereits erwiesen. Die Ostdeutschen werden als Produkte von Unterdrückung und Knechtschaft dargestellt, als unterwürfig und überangepaßt, als Menschen, die durch mangelnde Initiative, Unselbständigkeit, aber auch Unzufriedenheit und unterdrückte Aggressionen gekennzeichnet seien. Jetzt, da der repressive Druck weggefallen ist, entlädt sich angeblich die lang unterdrückte Aggressivität in Fremd Oktober 1990 haben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR rechtsextremistische Aktivitäten, insbesondere Überfälle auf Ausländer, massiv zugenommen. Sind diese Veränderungen eine Folge der Wende mit ihren ökonomischen Problemen und emotionalen Verunsicherungen, oder bricht nun all das aus den Menschen hervor, was jahrelang unterdrückt wurde?
Abbildung 10
Tabelle 5: Rassismus: Beurteilung anderer Nationalitäten (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Tabelle 5: Rassismus: Beurteilung anderer Nationalitäten (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Folgt man der öffentlichen Diskussion in den Medien, dann scheint eine psychische Deformierung ehemaliger DDR-Bürger durch das sozialistische System bereits erwiesen. Die Ostdeutschen werden als Produkte von Unterdrückung und Knechtschaft dargestellt, als unterwürfig und überangepaßt, als Menschen, die durch mangelnde Initiative, Unselbständigkeit, aber auch Unzufriedenheit und unterdrückte Aggressionen gekennzeichnet seien. Jetzt, da der repressive Druck weggefallen ist, entlädt sich angeblich die lang unterdrückte Aggressivität in Fremdenfeindlichkeit und Haß gegen Minderheiten. Diese These ist insbesondere durch die Publikationen von Hans-Joachim Maaz popularisiert worden 1. Aber auch die bisher geführte sozialwissenschaftliche Diskussion findet starke autoritäre Orientierungen in der DDR plausibel 2. Das hat wenig Überraschung ausgelöst, stimmen doch diese Ergebnisse mit gängigen Annahmen über die Auswirkungen der Le-bensbedingungen in totalitären Gesellschaftssystemen überein. Was wenig Überraschung ausgelöst haben mag, beruht dennoch auf wenig gesicherten und deshalb fraglichen Annahmen.
Abbildung 11
Tabelle 6: Autoritarismus (Mittelwerte)
Tabelle 6: Autoritarismus (Mittelwerte)
Gerade jener Theoriestrang, der ein „autoritäres“ Erziehungsumfeld mit der Sozialisation autoritärer Persönlichkeitsmerkmale in Zusammenhang bringt, hat sich in der Forschung des letzten halben Jahrhunderts als wenig haltbar erwiesen 3. Auch die Idee einer engen Verbindung zwischen totalitären Gesellschaftssystemen mit an Autorität orientierten Menschen ist fraglich. Autoritäre Unterordnung entsteht nicht automatisch dann, wenn eine Anpassung an Herrschaftsverhältnisse erzwungen wird, sondern wenn verunsicherte und ängstliche Menschen Schutz suchen und sich aus diesem Grunde den Herrschenden unterwerfen
Kernpunkt jeder Annahme, eine Gesellschaftsordnung habe unterwürfige, psychisch deformierte Persönlichkeiten hervorgebracht, muß folglich der Nachweis sein, daß diese Gesellschaft die in ihr lebenden Individuen verängstigt und verunsichert hat. Empirische Forschung, die dies bestimmen will, steht vor der schwierigen Aufgabe, den in jeder Gesellschaft gegebenen Zwang zur Anpassung von Angst erzeugender Unterdrückung und Repression zu unterscheiden. Wann werden Arbeits-und Lebensbedingungen von den Individuen als beängstigend erfahren, wann erleben Kinder ihren Sozialisationsprozeß als einschränkend und überfordernd? Sind, um beispielhaft einige Fragen aufzuwerfen, strikte Anordnungen und feste Regeln, sind Verbote mit Strafandrohungen, wie sie im Sozialisationsprozeß in der DDR durchaus üblich waren, bereits Einschränkungen der kindlichen Bedürfnisse und damit erlebte Repressionen? Wurden die eingeschränkten Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger, wurde die Tatsache, daß es kein Mehrparteiensystem gab, wurde die Notwendigkeit, öffentliches Wohlverhalten zu demonstrieren, tatsächlich als einschränkend erlebt und falls ja, wurden diese Einschränkungen in der Wahrnehmung vieler Menschen nicht möglicherweise durch die vielfältigen Fürsorge-und Versorgungsleistungen des sozialistischen Systems kompensiert? Solche Fragen können nicht ausschließlich durch eine allgemeine Analyse der DDR-Gesellschaft beantwortet werden, vielmehr ist eine Analyse der Erfahrungen der in ihr lebenden Menschen erforderlich.
Die Ausgangsthese dieser Untersuchung ist, daß die Menschen in der ehemaligen DDR nicht autoritärer im Sinne des Konzepts der autoritären Persönlichkeit sind, daß sie von ihren psychischen Strukturen her auch nicht in stärkerem Maße zu Rassismus und Rechtsextremismus neigen als die Bürger der alten Bundesrepublik. Vielmehr sind, so lautet die hier vertretene Grundannahme, die nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik aufbrechende Ausländerfeindlichkeit und die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt Konsequenzen der mittlerweile eingetretenen ökonomischen und psychischen Verunsicherungen in Kombination mit einem Versagen der etablierten Autoritäten: der Hoffnungsträger des Vereinigungsprozesses
Das Leben in der DDR war für die meisten Menschen relativ sicher und erzeugte wenig Existenzängste. Diese Einschätzung steht keineswegs in Widerspruch zu der Tatsache, daß es durch das Fehlen vielfältiger bürgerlicher Freiheiten gekennzeichnet war. Vielmehr war dies in der DDR eine der Bedingungen hoher Sicherheit und Stabilität, da Freiheiten automatisch auch höhere individuelle Risiken bedeuten. Dort hatten die Menschen einen klar vorgezeichneten Lebenslauf, der ökonomische und soziale Sicherheit bei begrenzten Gratifikationen bot.
Die Berechenbarkeit und Sicherheit der Lebensverhältnisse ist nunmehr abgelöst worden durch eine Situation hoffnungsvollen Aufbruchs, aber auch starker Verunsicherung. Verunsicherungen und Angst werden nicht nur durch die vielfältigen materiellen Probleme erzeugt; auch der Kontinuitätsbruch des Verlustes alter Identitäten ruft emotionale Verunsicherungen hervor. Die Menschen in der ehemaligen DDR haben sich die „Wende“, gerade auch mit ihrer Konsequenz, nunmehr Deutsche in einem vereinten Deutschland zu sein, sicherlich gewünscht. Dennoch ist der Aufbau dieser neuen Identität ein mit großen Problemen belasteter Prozeß.
Was den Identitätswechsel betrifft, so befinden sich die Bürger Ostdeutschlands derzeit in einer sie gefährdenden Übergangsphase. Eine Identifikation mit den positiven Aspekten des Gesellschaftssystems der DDR wird immer schwieriger, eine Identifikation mit der Bundesrepublik, das positive Gefühl, Bürger in einem vereinten, „freien“ Deutschland zu sein, wird jedoch durch die problematischen Bedingungen des Vereinigungsprozesses erschwert. Wie eine Umfrage des Magazins „Der Spiegel“ vom Sommer 1991 verdeutlichte, meinten 84 Prozent der Bürger der ehemaligen DDR, nur Deutsche zweiter Klasse zu sein Demgegenüber waren zu DDR-Zeiten viele Menschen trotz einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem politischen System stolz darauf, im ökonomisch reichsten und die besten sozialen Absicherungen bietenden Land des sozialistischen Blocks zu leben.
Die mit der Bundestagswahl vom Dezember 1990 verknüpften Hoffnungen auf einen baldigen ökonomischen Aufschwung und eine schnell gelingende Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft haben sich nicht erfüllt. Die Regierungsparteien haben seitdem einen deutlichen Autoritätsverlust erlitten. Meinungsumfragen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zeigen für die letzten Jahre einen dramatischen Zustimmungsverlust für die Bonner Regierungsparteien.
Die Situation in Ostdeutschland ist also durch eine Kombination von Faktoren gekennzeichnet, die extremistische Entwicklungen einleiten können. Da es keinen Weg zurück in die DDR-Gesellschaft gibt, was auch von kaum jemandem gewünscht wird, entsteht neben zunehmender Apathie und Depressivität auch politischer Extremismus. Daß dieser Extremismus politisch nach rechts und nicht nach links tendiert, ist unter den gegebenen Bedingungen wenig erstaunlich. Menschen fühlen sich in Krisensituationen generell von solchen politischen Gruppen angezogen, die emotionale Sicherheit zu bieten scheinen, die sich als Heilsbringer präsentieren, eine Identifikation mit Macht und Stärke erlauben, mit scheinbar einfachen und radikalen Lösungen der Krisensituation aufwarten, Schuldige benennen und Identifikationen mit einfachen, den grauen Lebensalltag überhöhenden Werten wie z. B. nationaler Größe offerieren. Nach dem weltweiten Zusammenbruch des Staatssozialismus sind solche politischen Radikalisierungen für einige Zeit sicher nur auf der Seite der politisch Rechten möglich.
Es ist schwer einzuschätzen, ob, und wenn ja, wie schnell eine rechtsextremistische Politisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR voranschreitet und auf welcher Basis schon vorher bestehender rechtsextremistischer Tendenzen, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit sie begonnen hat. Zweifellos hat es bereits vor der „Wende“ in der DDR Rassismus und Ausländerfeindlichkeit gegeben. Vom SED-Staat wurde dies lange offiziell nicht zur Kenntnis genommen. Erst Ende der achtziger Jahre wurde eine Studie zum Skinhead-Problem am Leipziger Jugendinstitut durchgeführt Obwohl einer Überprüfung standhaltende Zahlen bisher fehlen, wäre es jedoch wenig plausibel, anzunehmen, es hätte in der DDR -verglichen mit der alten Bundesrepublik -eine größere Ausländer-feindlichkeit gegeben.
II. Sind Ostberliner Jugendliche autoritärer und fremdenfeindlicher als Westberliner Jugendliche? Ausgewählte Ergebnisse einer empirischen Untersuchung
Abbildung 7
Tabelle 2: Wunsch nach Erhalt von Einrichtungen der DDR (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Tabelle 2: Wunsch nach Erhalt von Einrichtungen der DDR (in Prozent) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Im folgenden werden Ergebnisse einer im Frühjahr 1991 vorgenommenen Untersuchung dargestellt. Drei Themenkomplexe, die den Zusammenhang zwischen sich verändernden Lebensverhältnissen, Krisenerfahrungen und politischen Einstellungen verdeutlichen, wurden ausgewählt. Analysiert werden die zwischen West-und Ostberliner Schülern unterschiedliche Wahrnehmung des Lebens in der DDR, ihre unterschiedlichen Sorgen und Probleme sowie politische Einstellungen und Grundorientierungen, die im Umfeld des Rechtsextremismus angesiedelt sind. In der Untersuchung wurden Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenalter befragt. In diesem Alter haben sich bereits eigene Einstellungen und politische Ansichten entwickelt. Ab 18 Jahren können junge Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wählen. Gleiches galt auch für die DDR. Zielgruppe waren deshalb 16 bis 21 Jahre alte Jugendliche.
Die Untersuchung wurde im Frühjahr 1991 in den Monaten April, Mai und Juni mit Hilfe eines Fragebogens, der für Ost-und Westberlin jeweils leicht modifiziert war, durchgeführt. Sie fand an insgesamt zehn Berliner Schulen statt. Es wurden zwei soziale Gruppen von Jugendlichen ausgewählt, die gut miteinander verglichen werden können: Gymnasiasten im West-bzw. Schüler der Erweiterten Oberschulen (EOS) im Ostteil der Stadt und West-und Ost-Berliner Berufsschüler schwerpunktmäßig des Baugewerbes. Die Untersuchungspopulation umfaßt 1396 Schüler. Die für die Datenanalyse relevante Untersuchungspopulation setzt sich aus vier Gruppen zusammen: aus Berufsschülern in Ostberlin (n = 492) und Westberlin (n = 387) sowie aus Gymnasiasten in Ostberlin (n = 294) und Westberlin (n = 223). Bei der Darstellung der Ergebnisse wurden zu den Themenkomplexen „Sicht der Lebenssituation in der DDR“, „Erhalt von Einrichtungen der DDR“ und „Sorgen und Probleme“ neben den Ergebnissen für die Gruppen der Berufsschüler und der Gymnasiasten auch die für die Gesamtgruppen in Ost und West berücksichtigt. Bei diesen Themen-komplexen sind die Differenzen zwischen den Schulgruppen nur gering, während der Ost-West-Gegensatz dominiert. 1. Die DDR aus der Sicht von Ost-und Westberliner Jugendlichen a) Einschätzung des Lebens vor der „Wende“
Wie sehen Jugendliche im Osten die Gesellschaft der DDR, was war ihnen an ihr wichtig? Teilen westliche Jugendliche diese Wahrnehmung? Wo liegen die Differenzen, und wie sind sie einzuschätzen?
Die Zahlen in der Tabelle 1 zeigen einen sehr deutlichen Ost-West-Gegensatz. Hauptergebnis ist, daß Ostberliner Jugendliche das Leben in der DDR durchaus in vieler Hinsicht positiv, wenn auch nicht besonders attraktiv fanden. Westberliner Jugendliche haben demgegenüber ein deutlich negativeres Bild vom Leben in der DDR. Im einzelnen: Nur 15, 3 Prozent der Ostberliner Schüler finden, daß das Leben in der DDR langweilig war, 60, 2 Prozent stimmen dieser Aussage aber nicht zu. Betont wird vielmehr, daß man sich um die Zukunft keinerlei Sorgen zu machen brauchte (60, 5 Prozent Zustimmungen) und daß die soziale Sicherheit groß gewesen sei (84, 2 Prozent). 58, 3 Prozent finden, daß sich die Menschen untereinander viel geholfen hätten, und 59, 4 Prozent, daß für die Kinder und Jugendlichen, also die eigene soziale Bezugsgruppe, viel getan worden sei.
Andererseits ist das Bild von der DDR nicht generell positiv. In der öffentlichen Diskussion wird oft unterstellt, daß, nachdem viele Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht worden seien, eine Verklärung der alten Zustände eintrete. Dies ist (jedenfalls im Frühjahr 1991) nicht der Fall. Die Ostberliner Jugendlichen zeichnen ein durchaus differenziertes Bild der DDR-Vergangenheit. Sie finden, daß zuviel kontrolliert wurde (67, 1 Prozent) und daß die Menschen zuviel bevormundet worden seien (66, 4 Prozent). Auch Selbstkritik wird geübt. 43, 3 Prozent meinen, die Menschen hätten zu wenig Eigeninitiative entwickelt (nur 16, 1 Prozent verneinen diese Aussage).
Die Westberliner Jugendlichen haben weitgehend ein sowohl negativeres als auch weniger differen ziertes Bild vom Leben in der DDR. Ihre insgesamt positivste Einschätzung ist, daß die soziale Sicherheit groß gewesen sei (47, 6 Prozent im Vergleich zu 84, 2 Prozent bei den Ostberliner Schülern). Ansonsten dominieren bei den Westberliner Schülern die negativen Einschätzungen. 76, 4 Prozent meinen, die Menschen hätten sich eingesperrt gefühlt; zuviel Kontrolle nennen 87, 3 Prozent, und die Auffassung, daß die Menschen kaum Möglichkeiten gehabt hätten, selbst aktiv zu werden, vertreten 63, 2 Prozent. b) Erhalt von staatssozialistischen Einrichtungen der DDR?
Im zweiten Themenkomplex, der sich auf das Leben in der ehemaligen DDR bezieht, ist nach dem Erhalt wünschenswerter Einrichtungen gefragt worden (vgl. Tabelle 2). Der Vergleich zwischen Ost und West zeigt ganz ähnliche Ergebnisse, wie sie im Zusammenhang der Einschätzung des Lebens in der DDR vor der Wende aufgezeigt wurden. Ostberliner Schüler möchten sehr viele dei genannten Einrichtungen erhalten wissen; dies gilt auch für Westberliner Schüler, die diese Einrichtungen aber durchgängig negativer beurteilen als die Ostberliner.
Besonders groß sind die Differenzen bezüglich der Polikliniken. Während sich 89, 3 Prozent der Ostberliner Schüler für ihren Erhalt aussprechen, sind es im Westen nur 45, 1 Prozent; 90, 2 Prozent der Ostberliner Jugendlichen wünschen die Beibehaltung der Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch und sogar 96, 4 Prozent die Fortführung des Babyjahres (bezahlte Freistellung von der Arbeit nach der Geburt des ersten und zweiten Kindes bis zum Ende des ersten Lebensjahres, ab dem dritten Kind bis eineinhalb Jahre). Bei den Westberliner Schülern lauten die entsprechenden Zah len 58, 6 Prozent für die Fristenregelung und 75, 2 Prozent für das Babyjahr.
Sehr viel geringer sind die Differenzen bezüglich der im engeren Sinne staatspolitischen Einrichtungen der DDR, wie der Volkseigenen Betriebe (VEB), der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und der Einheitsschule. Hier spricht sich gleichermaßen in Ost wie West eine Mehrheit für eine Auflösung dieser Einrichtungen aus. Zwar befürworten mehr Ostberliner als Westberliner Schüler diese Einrichtungen, die Differenzen sind jedoch -verglichen mit denen beim Erhalt sozialer Einrichtungen oder der Polikliniken -sehr viel geringer. Die größte Annäherung gibt es bezüglich der Volkseigenen Betriebe. Hier meint im Osten wie im Westen nur eine kleine Minderheit (11, 4 Prozent und 11, 0 Prozent), die VEB sollten erhalten werden. c) Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß Ostberliner Jugendliche das Leben in der DDR als sozial und sicher beschreiben, dabei aber durchaus die starke Kontrolle und Bevormundung sowie die geringen Möglichkeiten, Eigeninitiativen zu entwickeln, sehen. Sie wünschen, daß viele soziale Einrichtungen der DDR erhalten bleiben, lehnen aber einen Erhalt staatssozialistischer Einrichtungen, wie VEB und LPG, ab. Insgesamt beurteilen sie das Leben in der DDR wesentlich positiver als Westberliner Schüler. 2. Sorgen und Probleme Ost-und Westberliner Jugendlicher Ost-und Westberliner Jugendliche haben in mehrerer Hinsicht verschiedene Probleme. Zum einen leben die Ostberliner Jugendlichen in einer radikalen Umbruchsituation mit einer Vielzahl materieller und psychischer Probleme. Darüber hinaus ist mit einer Differenz von Ansprüchen und Erwartungen auch aufgrund der Sozialisation in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zu rechnen. Diese Ansprüche und Erwartungen steuern die Wahrnehmung der bestehenden Situation und führen zu unterschiedlichen Einschätzungen der Lebenssituation und der Zukunftserwartungen.
Um die unterschiedlichen Sorgen und Schwierigkeiten der momentanen Situation zu erfassen, wurde ohne Vorgaben folgende Frage gestellt: „Sagen Sie bitte in Stichworten, was Sie am meisten bedrückt.“ Wie nicht anders zu erwarten, war die Bandbreite der Antworten sehr groß, dennoch ließen sich deutliche Schwerpunkte ausmachen. Die Antworten wurden in 16 Kategorien klassifiziert.
Ostberliner Jugendliche haben andere Probleme als Westberliner. Davon war auszugehen. Dennoch überrascht die tatsächlich vorhandene Differenz (siehe Tabelle 3): 58, 7 Prozent der Westberliner Schüler, die die Frage beantwortet haben, nennen persönliche Probleme gegenüber nur 28, 1 Prozent der Ostberliner, die in sehrviel stärkerem Maße aus den politischen Veränderungen resultierende Probleme thematisieren. Vergegenwärtigt man sich, daß es sich bei der Frage nach den Problemen um eine offene Frage handelt, für die beliebig viele und verschiedene Antworten gegeben werden können, dann sind 58, 7 Prozent eine starke Bündelung der Antworten auf einen Themenbereich.
Bei den Ostberliner Jugendlichen ist dies deutlich anders. Für sie stehen vor allem materielle Probleme im Vordergrund. Nimmt man Arbeitslosigkeit, steigende Preise, Wohnungsnot und allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen zusammen, dann nennen solche materiellen Probleme 45, 3 Prozent der Ostberliner gegenüber nur 24, 0 Prozent der Westberliner Schüler
Deutliche Differenzen zwischen Ost und West ergeben sich auch in bezug auf Ängste vor einer zunehmenden Radikalisierung und Brutalisierung der Gesellschaft. Rechtsextremismus und Nationalismus fürchten 7 Prozent der Ostberliner gegenüber nur 5, 2 Prozent der Westberliner, zunehmende Ausländerfeindlichkeit 5, 7 gegenüber 3, 6 Prozent und eine Zunahme von Kriminalität und Brutalität 15, 9 gegenüber 5, 0 Prozent. Faßt man diese drei Antwortkategorien zusammen als „Sorge vor gesellschaftlicher Radikalisierung“, dann formulieren diese Sorge 25, 1 Prozent der Ostberliner gegenüber nur 12, 1 Prozent der Westberliner.
Ein weiterer, primär von den Ostberliner Jugendlichen thematisierter Problembereich berührt unmittelbar den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten. Dies sind Kritik an der Zerstörung von Einrichtungen der DDR, Probleme, sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung zurechtzufinden, und schließlich -direkt formuliert -Probleme mit dem Verlust der Identität als DDR-Bürger. 25, 9 Prozent der Ostberliner Jugendlichen thematisieren solche Probleme, im Westen sind dies, da sich hier die Problematik in dieser Form gar nicht stellt, nur 3, 0 Prozent. Untersuchungen noch aus DDR-Zeiten verdeutlichen, daß es bei Jugendlichen durchaus eine Identifikation mit der DDR gab 10. Der hohe Anteil von Jugendlichen, der Identitätsprobleme thematisiert, stützt die hier vertretene These, daß die rechtsextremistische Radikalisierung im Osten eine Folge der problematischen Entwicklung nach der Wende ist. 3. Politische Orientierungen im Ost-West-Vergleich Die bisher dargestellten Analysen haben gezeigt, daß die Ostberliner Jugendlichen keineswegs mit ihrer Lebenssituation unzufrieden waren. An die Entwicklung seit der Wende knüpfen sie deshalb besonders große Erwartungen und sehen zum Zeitpunkt der Untersuchung im Frühjahr 1991 der Zukunft noch optimistisch entgegen. Die Analyse hat allerdings auch verdeutlicht, daß viele neben den allgemein bekannten materiellen Problemen auch emotionale Schwierigkeiten mit der Aufgabe ihrer alten DDR-Identität und der Eingliederung in das westliche Gesellschaftssystem haben. a) Rechtsextremistische Orientierungen Die Annahme, Ostberliner Jugendliche seien nicht rechtsextremistischer eingestellt als Westberliner, läßt sich für die Untersuchungspopulation bestätigen. Für das Gesamtmaß zu „rechtsextremistischen Orientierungen“ (insgesamt 12 Aussagen) ergeben sich zwischen den Ost-und Westberliner Jugendlichen keinerlei bemerkenswerte Differenzen (siehe in Tabelle 4 die Mittelwerte der Skalen). Im Detail zeigt die Analyse allerdings deutliche Unterschiede des Antwortverhaltens zwischen Ost und West. Bezüglich der Themenkomplexe „Identifikation mit Deutschlands Größe und Macht“ (Aussagen 1 und 2) und „Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus“ (Aussagen 11 und 12) sind nur geringe Differenzen vorhanden. Gleiches gilt für die „law and order“ -Aussage, die Polizei solle schärfer gegen Chaoten und Terroristen vorgehen. Demgegenüber zeigen sich deutliche Differenzen bei den Themenkomplexen „Ausländerfeindlichkeit“ (Aussagen 3 bis 6) und „Undemokratisches Durchgreifen gegenüber den Repräsentanten der ehemaligen DDR“ (Aussagen 7 bis 9). Die Ostberliner Schüler äußern sich deutlich ausländerfeindlicher, zugleich aber weniger radikal gegenüber den Vertretern von SED und Stasi. Während 27, 6 Prozent der Ostberliner Berufsschüler die Einführung der Todesstrafe für Verbrecher des SED-Regimes befürworten und 52, 2 Prozent dagegen sind, plädieren bei den Westberliner Berufsschülern 35, 7 Prozent für und nur 34, 1 Prozent gegen die Todesstrafe. Die Gymnasiasten sind insgesamt weniger radikal eingestellt (rund drei Viertel sprechen sich gegen die Todesstrafe für „SEDVerbrecher“ aus), aber auch bei ihnen zeigt sich eine, wenngleich geringere Differenz zwischen Ost und West. Am deutlichsten sind die Unterschiede hinsichtlich eines Verbotes der PDS. 46, 0 Prozent der Westberliner Berufsschüler wollen sie verbieten, nur 18, 3 Prozent sprechen sich dagegen aus, bei den Ostberliner Berufsschülern sind für ein Verbot 32, 2 Prozent, fast die Hälfte der Befragten ist jedoch dagegen (49, 6 Prozent).
Der relativen Liberalität bezüglich einer Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit steht eine deutlich ausländerfeindlichere Haltung bei den Ostberliner Schülern gegenüber. „Ausländer sollten Deutschland so Schnell wie möglich verlassen“ meinen 43, 1 Prozent der Berufsschüler im Osten gegenüber 34, 9 Prozent im Westen. Relative Einigkeit zwischen beiden Gruppen besteht hinsichtlich der Ablehnung der Perspektive, Deutschland könnte zum Einwanderungsland für Asylanten aus dem Osten oder der Dritten Welt werden. 65, 7 Prozent der Ostberliner und 58, 7 Prozent der Westberliner Berufsschüler wollen dies verhindert wissen, bei den Gymnasiasten sind immerhin auch 42, 2 (Ost) und 35, 6 Prozent (West) dieser Auffassung. Daß Entwicklungshilfezahlungen für den Aufbau der ehemaligen DDR verwendet werden sollten, wird von beiden Untersuchungspopulationen eher abgelehnt. Aber immerhin 32, 4 Prozent der Ostberliner Berufsschüler sprachen sich dafür aus, daß Entwicklungshilfezahlungen in Zukunft eher in der ehemaligen DDR investiert werden.Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß Ost-und Westberliner Schüler sich insgesamt nicht hinsichtlich des Ausmaßes rechtsextremistischer Einstellungen unterscheiden. Ostberliner Schüler sind allerdings ausländerfeindlicher, Westberliner Schüler sind undemokratischer bezüglich einer Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. b) Rassismus: Beurteilungfremder Nationalitäten In der Diskussion über Ausländerfeindlichkeit wird häufig nicht hinreichend zwischen Rassismus oder Ethnozentrismus und einer Ablehnung von Ausländern, die noch vielfältige andere Gründe als rassistische Vorurteile haben kann, unterschieden. Rassismus oder Ethnozentrismus meinen eine Grundhaltung, Fremdes abzulehnen und die eigene Nation über andere zu stellen. Rassismus ist in diesem Verständnis eher als eine psychische Disposition zu verstehen denn als eine konkrete Einstellung. Fremde werden abgelehnt, weil sie aufgrund eigener Angst und Verunsicherung bedrohliche Züge zu tragen scheinen.
Mit Ausländerfeindlichkeit ist dagegen eine politische Haltung gemeint. Sie stellt konkrete Forderungen, wie: Ausländer sollten in Deutschland nicht arbeiten dürfen, sollten generell nicht in Deutschland sein usw. Zwar sind Ausländerfeindlichkeit und Rassismus häufig miteinander verknüpft, dennoch muß Ausländerfeindlichkeit nicht mit Rassismus einhergehen. Die ausländerfeindliche Forderung, Ausländer sollten Deutschland verlassen, beinhaltet nicht zwangsläufig eine rassistische Diskriminierung. Insbesondere in Lebens-situationen, in denen Ausländer in unserer Gesellschaft zu Konkurrenten um den Arbeitsplatz oder um Wohnraum werden, kann es eine Ablehnung von Ausländern auch ohne rassistischen Hintergrund geben.
Zu einer Einschätzung rassistischer oder ethnozentrischer Tendenzen wurde eine Beurteilung fremder Nationalitäten auf Fünf-Punkte-Skalen verlangt. Die Verteilung über die neun Indikatoren für Rassismus zeigt, daß insgesamt weder bei der Gruppe der Berufsschüler noch der der Gymnasiasten zwischen Ost und West herausragende Differenzen in der Ablehnung fremder Nationalitäten zu beobachten sind (siehe die Mittelwerte in der Tabelle 5). Die Ostberliner Berufsschüler unterscheiden sich überhaupt nicht bezüglich ihres Rassismuswertes von den Westberlinern, während sich bei dem Vergleich zwischen Gymnasium und EOS ein etwas höherer Rassismus der Westberliner herausstellt. Wie schon beim Maß für „rechtsextremistische Orientierungen“ zeigt sich gegenüber dengeringen Differenzen beim Ost-West-Vergleich ein hochsignifikanter Unterschied zwischen Gymnasiasten sowie EOS-Schülern einerseits und den Berufsschülern andererseits. Letztere sind hoch-signifikant anderen Nationalitäten gegenüber negativer eingestellt.
Die Analyse im Detail zeigt, daß Völker des ehemaligen Ostblocks (Polen und Russen) von beiden Jugendlichengruppen aus Ost-Berlin positiver beurteilt werden als von den entsprechenden Westberliner Gruppen, während sie Türken negativer beurteilen. Einheitlich zwischen Ost und West ist die negative Beurteilung von Zigeunern. Demgegenüber werden im Osten wie im Westen Amerikaner und Schweden sehr viel positiver angesehen als die anderen sieben Gruppen.
Im Rahmen der „antifaschistischen“ Erziehung der DDR waren Vorurteile gegenüber Ausländem tabuisiert. Da es in der DDR sehr viel weniger Ausländer gab als in der Bundesrepublik, wurde die Erziehung zum Internationalismus in der Praxis auch kaum auf die Probe gestellt. Es scheint plausibel, daß ausländerfeindliche Tendenzen am schnellsten bei denen aufbrechen, die mit Ausländem als erste, vor allem beruflich, zu tun haben werden. Für die Gymnasiasten im Osten, die ganz überwiegend nach dem Abitur studieren wollen, sind Ausländer auch in der absehbaren Zukunft keine potentiellen Konkurrenten.
Der Befund nicht vorhandener Differenzen in der Untersuchungspopulation zwischen Ost-und Westberliner Schülern könnte als Gegenbefund zu den Ergebnissen, die sich im Zusammenhang mit den Indikatoren für Ausländerfeindlichkeit im Rechtsextremismusfragebogen ergeben haben, verstanden werden. Dabei hatten sich Ostberliner Schüler als ausländerfeindlicher erwiesen. Die Unterschiede der Ergebnisse erklären sich aus dem oben diskutierten Unterschied von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Fragen zur Ausländer-feindlichkeit, wie: ob die Entwicklungshilfe nicht besser in der DDR investiert würde als in der Dritten Welt oder ob Deutsche bei der Vergabe von Arbeitsplätzen zu bevorzugen seien, berühren, zumindest theoretisch, den Lebensalltag der Menschen. Ihre Beantwortung erklärt sich daher auch nicht nur aus allgemeinen rassistischen Haltungen Fremden und Ausländem gegenüber, sondern spiegelt die Lebenssituation der Befragten mit ihren Zukunftsängsten wider.
Gerade die Tatsache, daß die befragten Ostberliner Jugendlichen nicht rassistischer eingestellt sind als Westberliner, bestätigt die Interpretation, die größere Ablehnung von Ausländern bei den Ostberliner Jugendlichen situationsspezifisch mit den Sorgen und Zukunftsängsten ihrer aktuellen Lebenssituation zu erklären. Über die bestehenden Probleme hinaus werden sie durch den Anschluß an die bundesrepublikanische Gesellschaft mit einer bislang unbekannten Konkurrenz von Ausländem konfrontiert. Auch wenn Ausländer bisher auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch kaum Arbeitsplätze besetzt haben dürften, kommen zur Zeit doch aufgrund des Verteilungsschlüssels der Bundesländer immer mehr Ausländer in die neuen Bundesländer. Diese Präsenz von Ausländem im Alltagsleben erzeugt Ängste, Ausländer könnten sich um die sehr knappen Arbeitsplätze bemühen.
Entscheidend für die hier vertretene Konkurrenz-these ist also nicht, wie viele Ausländer es gegenwärtig auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt und in welchem Maße die Ostberliner Jugendlichen schon konkrete Erfahrungen mit Ausländem gemacht haben. Entscheidend ist vielmehr das für Ostdeutsche bestimmende Bewußtsein, daß Ausländer auch an dem Wohlstand teilhaben wollen, den sie durch die „Wende“ für sich selbst erkämpft zu haben hoffen. c) Autoritarismus Die DDR war keine Gesellschaft, die den Menschen in überdurchschnittlichem Maße nicht zu bewältigende Krisen und Konflikte auferlegte. Für ihre Bürger waren deshalb nicht autoritäre Unterwerfung, sondern eher Anpassung und Unterordnung charakteristisch.
Anpassung und Unterordnung sind zwar auch für autoritäre Persönlichkeiten (im Sinne des Konzepts der autoritären Persönlichkeit) charakteristisch, wie jedes Verhalten kann aber auch angepaßtes und sich unterordnendes Verhalten vielfältige Gründe haben. Dies muß nicht nur der für autoritäre Persönlichkeiten charakteristische Wunsch sein, sich Autorität zu unterwerfen. Angepaßtem und sich unterordnendem Verhalten können auch zweckrationale Überlegungen zugrunde liegen, oder es ist einfach nur vernünftiges Verhalten in Situationen, die kaum Handlungsaltemativen zulassen. Da die DDR eine Gesellschaft war, die den Individuen weniger Handlungsaltemativen bot als die Bundesrepublik, hat es in ihr sicher in großem Ausmaß angepaßtes Verhalten gegeben.
In der Untersuchung wurden zwei verschiedene Autoritarismusmaße eingesetzt. Das eine umfaßt Einstellungsfragen, die sich in früheren Untersuchungen bewährt haben. Das andere Maß wurdeim Rahmen eines neuen Ansatzes zum Autoritarismus entwickelt. Es enthält Fragen, die rigides und unflexibles Verhalten, ängstliche Abwehr von Neuem und Fremdem, Anpassungs-und Unterordnungsbereitschaft, Unselbständigkeit, Orientierung an Macht und Stärke, Feindseligkeit und unterdrückte Aggressivität sowie Konformität thematisieren.
Die in Tabelle 6 zusammengefaßten Ergebnisse (Autoritarismusmittelwerte, aufgeschlüsselt nach Wohnort, Schule, Geschlecht und Bildungsniveau des Vaters) zeigen, daß zwischen Ost-und Westberliner Jugendlichen keine Unterschiede hinsichtlich autoritärer Persönlichkeitsmerkmale vorhanden sind. Deutliche Differenzen zeigen sich dagegen bezüglich des Schultypus, des Geschlechts und des Bildungsniveaus des Vaters. Berufsschüler sind deutlich autoritärer als Gymnasiasten, Jungen als Mädchen; autoritärer sind auch Befragte, deren Väter ein niedrigeres Bildungsniveau haben.
III. Zusammenfassende Überlegungen
Abbildung 8
Tabelle 3: Sorgen und Probleme im Ost-West-Vergleich: „Sagen Sie bitte in Stichworten, was Sie am meisten bedrückt." (in ProzentderBefragten, die die offene Frage beantwortet haben) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Tabelle 3: Sorgen und Probleme im Ost-West-Vergleich: „Sagen Sie bitte in Stichworten, was Sie am meisten bedrückt." (in ProzentderBefragten, die die offene Frage beantwortet haben) Quelle: D. Oesterreich (Anm. 5).
Es wurde versucht nachzuweisen, daß Ostberliner Jugendliche von ihrer Persönlichkeitsstruktur her und damit aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR nicht autoritärer oder rassistischer sind als Westberliner und auch keine stärkeren rechtsextremistischen Tendenzen zeigen. Sie haben das Leben in der DDR weniger negativ erlebt, als im Westen allgemein unterstellt wird, und konnten diesem Leben durchaus auch positive Seiten abgewinnen. Beim Übergang in die neue Gesellschaftsordnung müssen sie nun, verstärkt durch die Probleme der Nachwendezeit, eine Identitätskrise bewältigen, die eine rechtsextremistische Entwicklung einleitet. Diese Annahmen konnten bestätigt werden: 1. Die Ostberliner Jugendlichen haben ein in vielerlei Hinsicht positives Bild vom Leben in der DDR (vor allem ein sehr viel positiveres als die befragten Westberliner Jugendlichen) und thematisieren Schwierigkeiten, sich in der Gesellschaft der Bundesrepublik zurechtzufinden und sich mit ihr zu identifizieren. 2. Die Jugendlichen aus Ost-und Westberlin unterscheiden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung im Frühjahr 1991 sowohl bezüglich autoritärer Charaktermerkmale, rassistischer Orientierungen als auch bezüglich rechtsextremer politischer Orientierungen sehr wenig voneinander.
Allerdings werden Fragen zur Stellung von Ausländern in unserer Gesellschaft von den Ostberliner Jugendlichen deutlich ausländerfeindlicher beantwortet. Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß sie nicht autoritärer und auch nicht rassistischer als Westberliner Jugendliche sind, läßt sich die Ausländerfeindlichkeit der Ostberliner Jugendlichen als ein Produkt der Krisensituation der Nachwendezeit erklären. Die ökonomische Krise hat in Kombination mit Identitätsproblemen und dem Versagen der Hoffnungsträger in der Zeit nach der Wende zu einem Aggressionsschub geführt, der sich gegen diejenigen richtet, die als vermeintliche Konkurrenten um Arbeitsplätze und Wohnungen sich auch etwas von dem Wohlstands-kuchen abschneiden wollen, den sich die Ostdeutschen gerade erkämpft zu haben hoffen.
Mittlerweile ist das, was auf Basis der 1991 durchgeführten Untersuchung noch als Prognose erscheint -zunehmende Gewaltbereitschaft und steigender Rechtsextremismus aufgrund der nicht gelösten ökonomischen und emotionalen Krisensituation -, Realität geworden. Die Beilegung der ökonomischen Probleme wird diese Entwicklung eindämmen; die nicht gelöste und realistischerweise auch für Jahrzehnte nicht völlig lösbare Identitätskrise wird dagegen ein politisches Konfliktpotential zurücklassen, dem größte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß.
Detlef Oesterreich, Dr. phil., geb. 1943; Sozialwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Autoritarismus und Autonomie. Untersuchungen über berufliche Werdegänge, soziale Einstellungen, Sozialisationsbedingungen und Persönlichkeitsmerkmale ehemaliger Industrielehrlinge, Bd. 2, Stuttgart 1974; Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwert psychischer Faktoren für politische Einstellungen -eine empirische Untersuchung von Jugendlichen in Ost und West, Weinheim-München 1993.
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