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Deeskalation von Jugendgewalt. Praktische Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt | APuZ 46-47/1993 | bpb.de

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APuZ 46-47/1993 Zusammenhänge der Modernisierung des Rechtsextremismus mit der Modernisierung der Gesellschaft Jugend -Gewalt -Extremismus in Sachsen-Anhalt. Ergebnisse eines Forschungs-und Bildungsprojektes Deeskalation von Jugendgewalt. Praktische Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt Mobile Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen in Baden-Württemberg. Ein sozialpädagogischer Ansatz zur Konfliktbearbeitung

Deeskalation von Jugendgewalt. Praktische Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt

Reinhard Koch

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In fünf Interpretationsrahmen, die jeweils einen Aspekt hervorheben, werden unterschiedliche Möglichkeiten zum Verstehen und zur Deeskalation der Jugendgewalt aufgezeigt. Die ersten beiden Rahmen zeigen die Bedeutung von Gewalt für die gegenwärtigen Jugendkulturen. Linke wie rechte Jugendliche erleben sich als miteinander verfeindete Kulturen, die der jeweils eigenen Bedrohung durch präventive Gewalt oder Vergeltung begegnen müssen. Im dritten Rahmen geht es um Gründe für die Attraktivität des aktuellen Rechtsextremismus und um Voraussetzungen der Argumentation mit rechtsorientierten Jugendlichen. Im vierten und fünften Rahmen werden Ansätze zur Reintegration gewaltbereiter Jugendlicher vorgestellt, die im Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt erprobt wurden.

I. Vorbemerkungen

Die folgenden Überlegungen zur Deeskalation von Jugendgewalt resultieren aus der Arbeit im „Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Aggression und Gewalt“ in Sachsen-Anhalt. Gemeinsam mit einer Kollegin berate ich dort siebzehn Projekte mit gewaltbereiten jungen Leuten, darunter sieben Projekte, die mit rechtsorientierten Jugendlichen, und fünf Projekte, die mit linksorientierten Jugendlichen arbeiten. Über gewaltbereite Jugendliche wird derzeit viel geredet und geschrieben, aber kaum jemand spricht mit ihnen. Es liegt mir fern, aus falschverstandener Solidarität mit der Klientel mehr Verständnis für Gewalttäter, Fremdenhaß oder rechtsextreme Vorstellungen einzuklagen. Doch die Gewalt, über die öffentlich geredet und geschrieben wird, ist nicht die Gewalt, die Jugendliche erfahren bzw. ausüben.

Beim Nachdenken über Jugendgewalt sollte man vier unterschiedliche soziale Sachverhalte auseinanderhalten: die Fremdenfeindlichkeit, den Rechtsextremismus, die Gewaltbereitschaft und schließlich den öffentlichen Diskurs über die Gewalt. Im öffentlichen Diskurs von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten über die Gewalt geht es vornehmlich um Ursachen und Schuldzuweisungen Man verhandelt über ein diffuses Syndrom aus Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalttätigkeit junger Leute, das als Ausdruck mißlungener Erziehung durch Interventionen der zuständigen gesellschaftlichen Instanzen (u. a. Familie, Schule, Kirche, Sozialpolitik, Medien) bekämpft werden soll. Die politisch-rhetorischen Anschlußmöglichkeiten dieser Diskussion sind offensichtlich. Über den Zerfall der Familie und die Konfliktpädagogik, den Werte-verfall, die sozialen Benachteiligungen und die Gewalt in den Medien kann endlos gestritten werden. Alles scheint irgendwie mit Jugendgewalt zusammenzuhängen, dafür verantwortlich zu sein. Doch die Diskussion ist irreführend, weil die Prä1 misse nicht stimmt: Die jungen Leuten nachgesagte Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremistische Einstellung gibt es bekanntlich nicht nur in dieser Altersgruppe. Fremdenfeindlichkeit ist eine weitverbreitete Haltung mit langer Tradition, nicht nur in Deutschland. Und rechtsextreme Parteien, die sich diese Einstellung zunutze machen, erzielen zweistellige Wahlerfolge -quer durch fast alle Gruppen der Bevölkerung. Typisch für heutige Jugendliche ist lediglich die Gewaltbereitschaft, eine Haltung, die im Kontrast zur vorangegangenen, extrem friedlichen Jugendgeneration besonders auffallen muß. Dies zeigt beispielhaft die „Kurze Geschichte der Jugendgewalt in U.“, einer Kleinstadt unweit der ehemaligen innerdeutschen Grenze.

II. Kurze Geschichte der Jugendgewalt in U.

Bis 1990 ist U. eine verschlafene Stadt mit wenig Industrie und zwei Neubaugebieten. Es gibt in U. vier Jugendclubs der Freien Deutschen Jugend (FDJ) mit wöchentlicher Disko. Die Clubs werden bis Ende 1990 einer nach dem anderen geschlossen. Linke Jugendliche besetzen 1991 ein stillgelegtes Industriegelände, die „Molkerei“, als autonomes Jugendzentrum. 1991/92 wird die Asylbewerberunterkunft in U. einige Male von rechtsorientierten Jugendlichen angegriffen. Die Linken aus der „Molkerei“ stellen sich mehrfach schützend vor das Haus.

Anfang 1992 führen Mitglieder der rechtsradikalen FAP (Freiheitliche Arbeiter Partei) in U. eine genehmigte Veranstaltung durch, die bundesweit Aufsehen erregt. Dabei kommt es zu Zusammenstößen mit den Linken aus der „Molkerei“.

Auf der „Molkerei“ liegt ein Rückführungsanspruch. Nachdem bekannt wird, daß in der „Molkerei“ weiche Drogen konsumiert und vertrieben werden, gibt es Schwierigkeiten mit der Polizei und den kommunalen Behörden. Die Stadt erreicht eine freiwillige Räumung und vermittelt allen Jugendlichen Wohnungen.

Im Laufe des Jahres 1992 öffnen in U. zwei kommunale Jugendzentren, die nach kurzer Zeit von rechtsorientierten Jugendlichen dominiert werden. Anfang 1993 wird in der rechten Szene das Konzert einer „Hass-Kapelle“ in einem der kommunalen Jugendzentren angekündigt. Etwa 300 rechtsorientierte Jugendliche aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen finden sich ein. Kurz vor Beginn des Konzerts wird ein anderer Veranstaltungsort angegeben, den Strohmänner der rechtsradikalen FAP angemietet hatten. Zur Enttäuschung der jugendlichen Besucher gibt es dort jedoch keine Oi-Musik, sondern lediglich Propaganda der FAP. Eine gleichzeitige „antifaschistische“ Protestdemonstration von mehreren hundert Jugendlichen und Erwachsenen wird von der Polizei aufgelöst.

In der Folgezeit kommt es zu gewalttätigen Übergriffen auf Besucher einer linken Schülerdiskothek in U. und zu einem Überfall vier vermummter junger Leute auf Skinheads. Die Angreifer sind ehemalige Besetzer der „Molkerei“. Im Frühsommer 1993 wird zwei türkischen Jugendlichen der Zutritt zu einem Open-air-Konzert in der Nähe von U. verweigert. Als die beiden türkischen Jugendlichen lautstark protestieren, werden sie von rechtsorientierten Jugendlichen zusammengeschlagen. Am darauffolgenden Wochenende kommen etwa sechzig türkische Jugendliche zu einem anderen Open-air-Konzert im Landkreis U. und verprügeln etwa fünfzehn Deutsche, die sie wahllos aus der Menge herausgreifen. Beide Zwischenfälle werden von Polizeibeamten beobachtet, die jedoch nicht eingreifen. Nach einem weiteren Konzert, einige Tage später, werden zwei Polizeibeamte von einer Gruppe von Skinhads als „Feiglinge“ beschimpft, angespuckt und mit Gegenständen beworfen.

An einem der folgenden Wochenenden schlägt eine Gruppe rechtsorientierter junger Leute aus U. zwei Jugendliche in einem Nachbarort zusammen. Eines der Opfer schwebt mehrere Tage in Lebensgefahr. Die Täter dokumentieren diesen Gewaltexzeß mit einer Videokamera.

Die Polizei ist personell nicht der Lage, die Gewaltereignisse im Landkreis U. zu unterbinden und beschränkt sich auf die Ermittlung von Tatverdächtigen. Bei Verhaftungen werden die rechten Jugendlichen von Anwälten einer nahegelegenen westdeutschen Großstadt vertreten und sind oft nach wenigen Stunden wieder in Freiheit.

III. Was tun?

Die geschilderten Vorgänge in U. sind durchaus typisch für die gegenwärtige Jugendgewalt. Durch den Einfluß einer FAP-Gruppe mit etwa siebzig, meist jugendlichen Mitgliedern sind die Gewalt-ereignisse in U. allerdings häufiger, krasser und für die rechtsorientierten Jugendlichen „erfolgreicher“ als anderswo.

Fremdenfeindlichkeit spielt in den Ereignissen in U. kaum eine Rolle. Diskussionen darüber oder über die Ursachen der Gewalt, über gesellschaftliche Fehlentwicklungen in Familie, Schule oder Medien helfen hier nicht weiter. In U. muß eine praktikable Strategie gefunden werden, um die weitere Eskalation der Jugendgewalt zu stoppen. Die Verhinderung von Kämpfen zwischen einzelnen Jugendcliquen oder Banden mag auf den ersten Blick weniger vordringlich erscheinen als die Verhinderung von Angriffen auf Ausländer und Unterkünfte von Asylbewerbern. Doch die in der Öffentlichkeit am stärksten beachteten Übergriffe gegen Fremde sind gleichsam „Nebenschauplätze“ der erbitterten Kämpfe innerhalb der Jugendkulturen; das sollte die „Kurze Geschichte der Gewalt in U.“ verdeutlichen. Voraussetzung jeder Strategie zum Abbau von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus ist die Deeskalation der Gewalt zwischen den jungen Leuten.

Das Beispiel aus U. zeigt nur Ereignisse, die Oberfläche der Gewalt. Um Ansätze zur Deeskalation zu entwickeln, müssen individuelle und kollektive Motive, Wünsche, Vorstellungen und Ziele der Gewalt-Akteure entziffert werden. In fünf (Interpretations-) Rahmen die jeweils einen Aspekt hervorheben, werden unterschiedliche Möglichkeiten zur Interpretation und Deeskalation der Jugendgewalt aufgezeigt. Die ersten beiden Rahmen zeigen die Bedeutung von Gewalt für die Jugendlichen, im dritten Rahmen geht es um Gründe für die Attraktivität des Rechtsextremismus, im vierten und fünften Rahmen um Ansätze zur Reintegration gewaltbereiter Jugendlicher. Vorab drei knappe definitorische Vorbemerkungen:

Erstens: Wenn hier über Jugendliche berichtet wird, sind vor allem männliche Jugendliche gemeint. In den gewaltbereiten Szenen gibt es kaum weibliche Jugendliche. Sie sind unterrepräsentiert und an Gewalthandlungen meist nicht unmittelbar beteiligt.Zweitens: Die Begriffe „links“ und „rechts“ werden nicht als theoretisch gefaßte, politische Kategorien verwendet, sondern entsprechen den (Selbst) Zuschreibungen der Jugendlichen.

Drittens: Mit Deeskalation ist eine gesellschaftspolitische Strategie gemeint, die jede Form der Gewalt dämpfen bzw. verhindern will, legitime wie illegitime, gerechte Gewalt wie ungerechte, legale wie illegale. Deeskalation beinhaltet neben der Arbeit gegen Gewalt auch Arbeit gegen die Angst vor der Gewalt.

Erster Rahmen: Die Krieger In der polizeilichen Statistik wird die Gewalt zwischen Jugendlichen kaum sichtbar. Die Anzeigebereitschaft ist gering. Die Jugendlichen nehmen ihr „Recht“ lieber in die eigene Hand. Körperliche Auseinandersetzungen zwischen jungen Leuten sind zwar eine normale Erscheinung, die Streitigkeiten um Reviere und Ressourcen, um die Dominanz in Jugendklubs und Diskos werden aber gegenwärtig mit größter Härte geführt. Fragt man die Jugendlichen in U. und anderswo nach den Gründen dafür, stößt man auf komplementäre Feindbilder und Feindphantasien, die bis vor wenigen Jahren keine Rolle spielten. Wie in Stammeskriegen wird beispielsweise den „Faschos“ von linken Jugendlichen bzw.den „Zecken“ von rechten Jugendlichen eine hemmungslose Gewalt-und Tötungsbereitschaft unterstellt. Dies legitimiert die Gewaltanwendung der jeweils eigenen Gruppe als präventive Aktion bzw. als Notwehr.

Die Bedeutung der Feindbilder wird von den Gewaltakteuren gern heruntergespielt oder geleugnet, weil sie auf Ängste verweist. Auch die soziale Konstruktion der Feindbilder ist den Jugendlichen selbst nicht zugänglich. Für sie ist das Verhalten der feindlichen Gruppe Ausdruck einer „natürUchen“, unveränderlichen Realität. Der „Fascho“ ist eben so wie er ist, die „Zecke“ kann gar nicht anders. Ziel der Kämpfe ist es, den Gegner kampfunfähig zu machen. Ähnlich der militärischen Logik ist Verletzung oder Tötung nur ein Mittel, um die Bedrohung durch den Gegner zu beenden. Das Kriegerische der äußeren Erscheinung beider Lager (kurze Haare, Kampfjacke, Schnürstiefel) ist nicht nur Mode und Styling, sondern auch Ausdruck einer tatsächlichen oder imaginierten Bedrohung durch die feindliche Gruppe.

Argumente für die Kämpfe, ideologische Überzeugungen, inhaltliche Positionen sind -bei Rechten wie Linken -auf Parolen zusammengeschnurrt. Die Jugendlichen empfinden sich als Krieger, und Krieger machen nicht viele Worte. Auch die demonstrative Unempfindlichkeit gegen Schmerzen und Witterungseinflüsse oder das häufige Erzählen eigener und fremder Kampferlebnisse kann man als das Verhalten von Kriegern lesen. Parolen legitimieren diese selbstübernommene Rolle des Kriegers („Für Deutschland!“ „Gegen Neonazis!“), und im Zweifelsfall entscheidet die Parole, ob ein Unbekannter als Freund oder Feind behandelt wird.

Das plötzliche Auftauchen dieser archetypischen Krieger inmitten einer weitgehend pazifizierten Gesellschaft erklärt das Erschrecken und die Faszination der Öffentlichkeit. Die Skinheads, die den kriegerischen Archetyp am überzeugendsten repräsentieren, erscheinen als schlimmste Bedrohung des Gemeinwesens und evozieren in der Öffentlichkeit den Ruf nach gewalttätigen Lösungen, nach Kämpfern (z. B. GSG 9, Sonder-Einsatz-Kommandos der Polizei), die diese Bedrohung beenden.

Diese erste Rahmung der Gewaltprozesse zeigt, daß jeder Schritt zur Deeskalation Feindbilder der Jugendlichen, der Öffentlichkeit und auch der Institutionen berücksichtigen muß. Feindbilder sind kein falsches Wissen, das durch Aufklärung, guten Willen oder bessere Information korrigiert werden könnte. Die Feindbilder der Jugendlichen wie der erwachsenen Gewaltakteure sind z. T. mit archaischen Ängsten und Bedrohungsgefühlen gekoppelt. Durch Erfahrungen mit den „Feinden“, die den erwarteten Reaktionen widersprechen, können Feindbilder langsam ihre eskalierende Kraft verlieren. Deeskalation heißt beispielsweise, sozialpädagogische Kontexte zu schaffen, in denen solche Erfahrungen möglich werden; aber auch in kommunalen Arbeitskreisen die Vertreterinnen der Polizei davon zu überzeugen, daß Sozialarbeiterinnen eines Punk-Projektes keine Komplizen der Jugendlichen sind.

Zweiter Rahmen: Jugendkultur Im öffentlichen Diskurs gilt Jugendgewalt als defizitäres Verhalten. Für die Jugendlichen ist aber Gewalt Teil ihrer kulturellen Muster. Sie richtet sich oft gegen (andere) Jugendliche, die sich nur durch winzige Details (ungeputzte statt geputzter Schnürstiefel, ein letztes Haarbüschel auf dem Kopf statt der vollständigen Glatze, Präferenz für eine andere Musikband) von der Täterszene unterscheiden. Auch die Intensität des Alkoholkonsums variiert nur geringfügig in den Jugendkulturen. Das „Zuziehen“ mit Bier oder Schnaps ist sozial akzeptiertes Verhalten und nicht nur Voraussetzung für Gewalthandlungen. Für die Jugendlichen markieren die scheinbar „kleinen Unterschiede“ unvereinbare Differenzen zwischen den Jugend- kulturen. Dennoch kann man die gegenwärtigen Jugendszenen, einschließlich der gewaltbereiten Gruppen, unschwer als Variationen der globalen Massenkultur erkennen, die von angloamerikanischen Mustern dominiert werden. Boots, Basecaps und Baseball-Schläger, Graffitis, die Vorliebe für große Autos, Fastfood und Bodybuilding, ja selbst die Hose, die aus einer Reichskriegsflagge genäht ist, alles verweist auf anglo-amerikanische Vorbilder.

Wilhelm Heitmeyer und Uwe Sander warnen davor, die jugendkulturelle Sicht „in positivistischer Manier zur »eigentlichen Realitätsebene emporzustemmen“. Als „wirksame Strukturen , hinter dieser jugendkulturellen Oberfläche“ identifizieren die Autoren Folgen von Individualisierung und Modernisierung in vielerlei Gestalt, die letztlich zu Desorientierung, Fremdenhaß und Gewaltbereitschaft der rechtsorientierten Jugendlichen geführt hätten Albert Scherr und Michael Bommes fanden allerdings ausländerfeindliche Haltungen bei jungen süddeutschen Automobilarbeitem, „ganz gewöhnlichen Jugendlichen“ mit einer stabilen persönlichen und beruflichen Perspektive. Ausländerfeindlichkeit erscheint in diesen Interviews als Ausdruck eines weit verbreiteten, „sozial gültigen diskursiven Prinzips“ (, wer nicht arbeitet soll auch nicht essen und keineswegs als signifikante Haltung rechtsorientierter Jugendlicher 4.

Auch die wenigen Daten über Besucher der Jugendprojekte in den harten, gewaltbereiten Szenen Sachsen-Anhalts widerlegen den von Heitmeyer/Sander behaupteten Zusammenhang zwischen rechter Einstellung und sozialer Desorientierung. Die rechtsorientierten Jugendlichen der Projekte sind beinah durchgängig in Schule, Ausbildung und Beruf integriert, leben meist in „geordneten häuslichen Verhältnissen“ und äußern eher kleinbürgerliche Zukunftserwartungen. Auch bei der Ausstattung ihrer Freizeiteinrichtungen stimmen die ästhetischen Wünsche rechtsorientierter Jugendlicher mit der kleinbürgerlichen Wohnzimmer- oder Kneipenidylle überein.

• In den linken Projekten sind dagegen sehr viele Jugendliche mit gebrochenen Biographien: Trebegänger, Wohnungslose und Illegale, die übliche sozialpädagogische Klientel. Die große Zahl von Hunden beispielsweise zeigt die Affinität dieser Szene zu Berbern und Stadtstreichem, den klassisehen Verlierern der Modernisierung und Individualisierung

Trotz all dieser Unterschiede erleben sich Jugendliche der linken wie der rechten Szene als Avantgarde in einer Gesellschaft von „Spießern“. Ihren Lebensstil sehen sie als provozierendes Ideal, das der normale Bürger sich (noch) nicht zutraut. Künstlerische Produkte (u. a. Graffitis, Musik, Zinen, also Informationsmaterial der Szene), vor allem aber die Inszenierung der eigenen Person und die Radikalität der Lebenspraxis als „Gesamtkunstwerk“ zeigen durchaus Parallelen zu anderen avantgardistischen Bewegungen Selbst wenn man diesen Anspruch für überzogen hält, verweist die Negation bürgerlicher Vorbilder auf die historische Kontinuität der gegenwärtigen Jugendkulturen.

Die kulturalistische Interpretation der Gewalt-szene bietet zwei wichtige Ansatzpunkte für Deeskalation: Erstens werden bestimmte Freizeit-angebote (u. a. Billard, Kraftraum, schalldichter Probenraum, Autowerkstatt) von den Jugendlichen verfeindeter Szenen in ähnlicher Weise geschätzt. Über die vorsichtige Organisation der gemeinsamen Nutzung solcher Ressourcen können nichtgewalttätige Kontakte zwischen den Szenen entstehen. Solche Absprachen, wie auch Gewalt-verzichte an bestimmten Orten (Diskos, Cafs), sind aber oft nicht sehr tragfähig. Zweitens ergeben sich Möglichkeiten zur Deeskalation bei Jugendlichen, die von Strafverfahren betroffen sind. Den Jugendlichen wird oft erst in solchen Situationen deutlich, daß ihre Lebensplanung durch eine Vorstrafe gefährdet wäre. Wenn Streetworkerinnen und Sozialarbeiterinnen (und nicht die FAP) auf diese Ängste mit unterstützenden Angeboten reagieren, gelingt es häufig, eskalative Prozesse zu beenden.

Dritter Rahmen: Die Nazis Die Existenz von Neo-Nazis soll keineswegs geleugnet werden. Und entgegen manchen Behauptungen gibt es auch Jugendliche und junge Erwachsene, die eine konsistente nationalsozialistische Weltanschauung vertreten. Die Mehrheit der Skins, Glatzen und sonstigen Rechten kennen jedoch allenfalls die rechten Parolen und Slogans. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit den extremistischen Positionen notwendig, weil rechte Organisationen für rechtsorientierte Jugendliche eine erhebliche Attraktivität besitzen. Im Diskurs über die Gewalt wird stillschweigend vorausgesetzt, daß die Rechtsextremisten, wenn sie denn könnten, den historischen Nationalsozialismus in Deutschland reetablieren wollten. Weder Äußerungen aus der rechten Szene noch eine genauere Analyse rechtsextremer Positionen rechtfertigen diese Befürchtung Die Provokation von Rechtsextremen zielt -möglicherweise unbeabsichtigt -auf eine spezifische Schwachstelle dieser Gesellschaft: In Deutschland gibt es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur eine einzige legitime Sichtweise des NS-Regimes: Das Dritte Reich wird grundsätzlich von seinem Ende her beurteilt, ausgehend vom Holocaust, von den Verbrechen und Scheußlichkeiten. Ein Ereignis aus den zwölf Jahren des nationalsozialistischen Deutschland ohne den Zusammenhang mit Konzentrationslagern und Kriegsverbrechen zu diskutieren, ist verpönt. Jede Abweichung von dieser Perspektive „vom Ende her“ wird als Beleidigung der Opfer empfunden und scharf sanktioniert. Beispielhaft dafür ist das Schicksal des ehemaligen Bundestagspräsidenten Philip Jenninger, der am 9. November 1988 über das „Faszinosum“ der Erfolge des Dritten Reiches für die Deutschen des Jahres 1938 gespr November 1988 über das „Faszinosum“ der Erfolge des Dritten Reiches für die Deutschen des Jahres 1938 gesprochen hatte. Unmittelbar darauf verlor er alle seine politischen Ämter 8.

Doch eben dieses „Faszinosum“ beschäftigt heutige Jugendliche. Sie widersetzen sich dem „Blick vom Ende her“, wenden sich statt dessen den Ereignissen, Absichten, Plänen und Phantasien des Nationalsozialismus aus den zwanziger und dreißiger Jahren zu. Dahinter habe eine richtige Idee gestanden, bei deren Realisierung allerdings Fehler gemacht wurden; das ist die Grundposition der rechtsextremen Szene. Man kann das zynisch nennen, allein private Äußerungen, vor allem der älteren Generationen zeigen, daß die Position der heutigen Rechtsextremisten keineswegs neu ist. Als private Meinung ist die „gute Idee des Nationalsozialismus, die lediglich schlecht ausgeführt wurde“ seit dem Ende des Krieges durchaus verbreitet 9 und wurde in den Familien offensichtlich bis in die Gegenwart tradiert Wenn dies in neueren Umfragen kaum auftaucht, mag das daran liegen, daß die Illegitimität dieser Meinung im Alltagsbewußtsein durchaus präsent ist. Tradiert wurde nämlich nicht nur die „gute Idee Nationalsozialismus, die lediglich schlecht ausgeführt wurde“, sondern auch der Hinweis, daß „man sowas heute ja nicht mehr sagen darf“.

Diese Position muß allerdings eine Argumentation finden, um die Mitverantwortung für die Greueltaten der Deutschen im Dritten Reich zu verdrängen. Im Alltagsbewußtsein ist das seit den fünfziger Jahren u. a. die Behauptung, „nichts gewußt zu haben“; jeder der das Gegenteil behauptet, ist ein „Nestbeschmutzer“. Der gleichen Verdrängung dient die Aussage rechter Jugendlicher, sie hätten „damit“ nichts zu tun, weil sie damals noch nicht gelebt hätten. Und natürlich ist auch die Behauptung, Auschwitz sei eine Nachkriegserfindung, so zynisch die Auschwitzlüge im Gewand naturwissenschaftlicher Argumente auch vorgetragen wird, nichts anderes als ein Versuch, Realität zu verdrängen.

In den Positionen rechtsextremer Organisationen ist also nicht der Nationalsozialismus wiederaufgelebt, sondern ein im Alltagsbewußtsein tradierter Versuch, den Nationalsozialismus als Idee zu „retten“, indem die Massenmorde der Deutschen während des Dritten Reiches verdrängt werden. In der inhaltlichen Auseinandersetzung könnte man sich darauf konzentrieren, den rechtsorientierten Jugendlichen zutreffende Informationen über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vermitteln. Ich fürchte allerdings, diese Strategie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten abgenutzt. Eine andere Möglichkeit ist vielleicht, den von Philip Jenninger eröffneten Diskurs aufzunehmen. Dann wäre einerseits die Faszination nationalsozialistischer Symbole und Ideen diskutierbar, und andererseits könnte vermittelt werden, daß auch ein Nationalsozialismus ohne Auschwitz und Kriegsverbrechen keine akzeptable Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaft wäre. Eine solche Diskussion mag unerträglich und unannehmbar scheinen. Sie ist aber nötig in der Auseinandersetzung mit rechtsorientierten Jugendlichen, die der Propaganda und Indoktrination rechtsextremistischer Parteien ausgesetzt sind.

Eine flankierende politische Strategie könnte sich am Verhalten der amerikanischen Militärregierung in Deutschland am Ende der vierziger Jahre orientieren. Damals wurden die nostalgischen pronazistischen Einstellungen vieler Deutscher als private Meinung geduldet, aber jede Organisation dieser Haltung konsequent unterbunden Ein ähnlich umfassendes Verbot aller rechten Organisationenwürde heute zwar Ausländerfeindlichkeit und Jugendgewalt nicht sofort beenden. Doch die politische Abgrenzung nach rechts und damit die Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen wären deutlich erleichtert.

Vierter Rahmen: Sozialarbeit Michael Bommes und Albert Scherr haben zweifellos recht, wenn sie schreiben, daß „politische Entscheidungsträger ... sich durch die Förderung der Jugendarbeit als aktive Gegner des Rechts-extremismus ... inszenieren, ohne die strukturellen Grundlagen der Ausländerfeindlichkeit, Strukturen der institutioneilen Diskriminierung wie die je eigenen Politikkonzepte in Frage stellen zu müssen“. Die Autoren sind aber schlecht informiert, wenn sie annehmen, die Politiker hätten „ 20 Millionen DM Bundesmittel für die Jugendarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen in den neuen Bundesländern, ... unabhängig von irgendwelchen Arbeitskonzepten“ spendiert Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt stellt jährlich 20 Millionen DM für die Arbeit mit gewaltbereiten (links-und rechtsorientierten oder unpolitischen) Jugendlichen zur Verfügung. Und da niemand eine geschlossene, wissenschaftlich erprobte Konzeption für die Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen parat hat, mußten Konzeptionen „on the job“ entwickelt werden.

Dabei konnten natürlich Erfahrungen und Programme aus anderen Feldern der sozialen Arbeit auf das neue Problem angewandt werden. In Sachsen-Anhalt wurden Aspekte der niederschwelligen Arbeit mit Heroinabhängigen auf die Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen übertragen: Dem Clean-Konzept der Drogenarbeit (der Idealtypus eines suchtfreien Lebens) entspricht in der Gewalt-arbeit das Ziel der Deeskalation; die therapeutische Einzelfallhilfe der Drogenarbeit wurden in der Gewaltarbeit durch Methoden der Gruppen-pädagogik ersetzt.

Der erste praktische Schritt zur Deeskalation der Gewalt ist der Versuch, über Straßensozialarbeit Kontakte zu Jugendlichen der gewaltbereiten Szenen herzustellen. Das ist schwierig, gelingt aber meist innerhalb weniger Tage oder Wochen.

Straßensozialarbeit allein ist nicht ausreichend, wenngleich unverzichtbar. Die Streetworkerinnen müssen den Jugendlichen vor allem ein räumliches Angebot machen können. Meist sind getrennte Einrichtungen für linke und für rechte Jugendliche unumgänglich, wobei sich als Einstieg die Renovierung und Ausstattung eines solchen Treffs bewährt hat. Sozialarbeiterinnen und Streetworkerinnen müssen aktiv auf die Planungen und Vorhaben der Jugendlichen einwirken. Abwartendes oder inkonsequentes Verhalten wirkt in der Regel eskalierend. Durch die offene Zusammenarbeit von Streetworkerinnen und Sozialarbeiterinnen der feindlichen Szenen entsteht ein neutraler Kontakt, der von den Jugendlichen als deeskalierendes „Sicherheitssystem“ erlebt und genutzt werden kann.

Sozialarbeiterinnen bzw. zur Jugendarbeit motivierte Erwachsene arbeiten auf Grund ihres politischen Selbstverständnisses am liebsten mit linken Jugendlichen, mit Punks, Autonomen oder Alternativen. Deeskalation erfordert aber auch Projekte für „rechte“ Jugendliche. Dabei ist zu beachten, daß -entsprechende Projekte gegen Mitglieder rechtsradikaler Parteien und Organisationen abgegrenzt werden, mit denen keine sinnvolle Jugendarbeit möglich ist;

-politische Propaganda in den Projekten verboten wird und -von den Projekten keine Gewalt ausgeht.

Selbst wenn diese Normen immer wieder durchbrochen werden, sind sie als Orientierung unumgänglich. Die diffusen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Parolen der jungen Leute, die teilweise gewalttätigen Formen der Konfliktregulierung untereinander und der vielfach hohe Alkoholkonsum können nur langfristig verändert werden. Identifikation mit Zielen und Verhaltensmustern der Jugendlichen, die „gemütliche Kumpanei“, ist auch in linken Projekten problematisch. Bei der Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen dürfen Sozialarbeiter nicht den geringsten Zweifel an ihrer Haltung aufkommen lassen. Bei allem Verständnis für die Probleme und Schwierigkeiten der Jugendlichen, bei allem Einsatz für das gemeinsame Projekt, muß immer klar sein, daß die Sozialarbeiter die rechten Einstellungen nicht teilen. Bei Gewaltanwendung müssen sie sich deutlich gegen die Jugendlichen stellen.

Bereits während der Aufbauphase können die üblichen Methoden der Jugendarbeit mit Gruppen eingesetzt werden. Regelmäßige Konzerte, Diskos, Cafs und vor allem erlebnispädagogische Maßnahmen haben sich bewährt Das muß gar nicht immer die Berg-oder Segeltour sein. Bereits eine schlichte Reise in die Kölner Jugendherberge mit Stadtbesichtigung und kleinem Rahmenprogramm -etwa abends am Rhein sitzen -ist für links-oder rechtsorientierte Jugendliche ein ungewohntes Erlebnis, das Aufregung und auch Streß hervorruft. Die unbekannte Umgebung ist für die Jugendlichen so verunsichernd, daß neue Erfahrungen möglich werden. Solche Reisen sind allerdings auch für die Betreuer eine Herausforderung.

Die Umsetzung dieser Konzeption kann am Beispiel der Stadt U. in Sachsen-Anhalt konkretisiert werden. 1992 und 1993 stand jeweils eine Fördersumme von 90000, -DM zur Verfügung. Davon wurde zunächst eine Stelle für Straßensozialarbeit finanziert. Dann brauchten die Jugendzentren der Stadt Mittel für sozialpädagogische Aktivitäten. Schließlich ging es darum, zwischen der Stadt und den links-autonomen Jugendlichen der ehemaligen „Molkerei“ zu vermitteln, damit wieder ein linkes Jugendzentrum möglich wurde. Trotz allem setzte sich die Gewalteskalation fort. Die eingesetzten Mittel sind eben völlig unzureichend. Die Stadt finanziert zwei Stellen für die Jugendarbeit, in den Jugendzentren arbeiten ausschließlich über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) finanzierte Kräfte, ein Streetworker reicht nicht aus für eine Stadt mit fast 40000 Einwohnern, und mit den wenigen sozialpädagogischen Maßnahmen kann man den starken Einfluß der FAP auf die Jugendlichen in U. kaum zurückdrängen.

Angesichts dieser Situation ist zu fragen, warum nicht die großen freien Träger der Wohlfahrtspflege die Angebotslücken in U. und anderswo füllen. Die Wohlfahrtsverbände haben dafür gesorgt, daß die Finanzierung der sozialen Arbeit in Ostdeutschland den gleichen Kriterien wie in den alten Bundesländern genügen muß. Einige der kleineren Verbände, z. B. das Christliche Jugenddorfwerk (CJD) und der Internationale Bund für Sozialarbeit (IB), sind zunächst sehr offensiv aufgetreten und haben eine Vielzahl von Einrichtungen übernommen. Inzwischen ist die Situation fast überall so wie in U. Einrichtungen, die sich „rechnen“ (z. B. Sozialstationen, Einrichtungen mit Pflegesätzen), werden von freien Trägern übernommen. Die kaum finanzierbare Jugendarbeit wird meist den Kommunen überlassen. Dies ist andererseits eine Chance für Jugendinitiativen und selbstorganisierte Gruppen, über Vereine, die von den Kinder-und Jugendhilfeausschüssen als Träger der Jugendhilfe anerkannt sind, selbstverwaltete Jugendeinrichtungen zu schaffen. Dieser Weg ist nicht ganz einfach, wie das Beispiel der „Molkerei“ in U. zeigt. Initiativen, die den Sprung schaffen, vor allem Projekte mit durchsetzungsfähigen Führungspersonen, arbeiten mit ABM-Kräften in Immobilien, die meist von den Kommunen beschafft wurden. Diese Projekte ähneln oft mehr besetzten Häusern als Jugendfreizeiteinrichtungen. Sie sind gezwungen, immer wieder um ihr finanzielles Überleben zu kämpfen, müssen sich mit den Nachbarn, mit der Polizei und den Angriffen feindlicher Cliquen arrangieren. Aber es sind die lebendigsten Jugendeinrichtungen, die ich kenne.

Die vorgestellten konzeptionellen Ansätze und die Beispiele aus der praktischen Umsetzung verdeutlichen auch die hohen Ansprüche an die Mitarbeiterinnen in den Projekten, die mit großem Engagement und Einsatz diese Arbeit bewältigen. Eine berufsbegleitende Qualifizierung mit dem Ziel Sozialarbeiterin wird vielen dieser Mitarbeiterinnen allerdings verweigert. Ihr in der DDR erworbener Abschluß der 10. Klasse einer Polytechnischen Oberschule (POS), Berufsausbildung und Berufs-erfahrung berechtigen bisher nicht zum Besuch einer Fachhochschule. Ausnahme-oder Übergangsregelungen für diese Gruppe gibt es noch nicht.

Fünfter und übergreifender Rahmen: Das Gemeinwesen Der Einsatz der staatlichen Repression, die gelegentlich als einzig wirksames Mittel gegen die Gewalt vorgeschlagen wird, kann die Probleme nur verschärfen. Alle Erfahrungen im Umgang mit abweichendem Verhalten junger Leute sprechen für diese Prognose. Die Angst vor dem Aufleben des Nationalsozialismus hat aber auch bei eher gutwilligen, progressiven Zeitgenossen das Feindbild eines wachsenden Rechtsextremismus hervorgerufen, dem antifaschistischer oder wehrhaftdemokratischer -jedenfalls entschiedener -Widerstand geleistet werden müsse. Eskalation der Gewalt wird in diesen Vorstellungen von allen Beteiligten in Kauf genommen bzw. sogar gewünscht

Deeskalation muß dort ansetzen, wo die Gewalt sichtbar wird: in den Kommunen. Es ist sinnvoll, die Zusammenarbeit von Einrichtungen der Sozialarbeit mit Vertreterinnen der Administrationen (u. a. Stadtverwaltung, Justiz, Polizei) und den Medien zu organisieren. Ein „Runder Tisch“ oder eine „Arbeitsgruppe gegen Gewalt“ kann vor allem in größeren Kommunen zu schnellen Absprachen führen, um Gewaltkreisläufe zu unterbrechen oder um vorhersehbare Gewaltsituationen zu entschärfen. Solche Gremien tragen dazu bei,Feindbilder abzubauen und eine gemeinsame Verantwortung für die Deeskalation zu entwickeln. Als Problem erweisen sich gelegentlich Restriktionen, die den Vertreterinnen aus den Verwaltungen von ihren Vorgesetzten auferlegt sind. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der geringen Bereitschaft der Vertreterinnen lokaler Medien in solchen Gremien als Beteiligte und nicht nur als Beobachterinnen mitzuwirken.

Wichtig ist die politische Akzeptanz dieser Arbeit, die nicht immer populär ist. Die Förderung von Jugendlichen, die Politikerinnen, Administrationen und Bürgerinnen nur Schwierigkeiten bereiten, ist häufig nur schwer durchzusetzen. Deeskalation kostet Geld. Das fehlt nicht nur in Sachsen-Anhalt. In vielen Mittel-und Kleinstädten und in den ländlichen Gebieten können Projekte, die Gewalt deeskalieren könnten, nicht finanziert werden.

IV. Abschließende Frage: Warum filmen die Täter ihren Gewaltexzeß?

Zum Schluß soll mit den Interpretationsrahmen der Gewalt versucht werden, eines der besonders gewalttätigen und unverständlichen Ereignisse aus der „Kurzen Geschichte der Gewalt in U.“ zu erklären. Dabei zeigen sich auch Erfolge und offene Probleme der Deeskalation in U.

Der Vorfall (Täter filmen die brutale Körperverletzung von zwei Jugendlichen mit einer Videokamera) ereignet sich nicht in U., sondern in einem nahegelegenen kleineren Ort, wo bisher keinerlei Ansätze zur Arbeit gegen Gewalt vorhanden sind. Das ist durchaus typisch. Die gewalt-bereiten Jugendlichen weichen aus, sobald irgendwo gegen Gewalt gearbeitet wird.

Die Täter hielten sich häufig in einem der Jugend-zentren von U. auf, waren aber nicht als besonders aggressiv oder gewalttätig aufgefallen. Doch wie die Mehrzahl aller Jugendlichen hatten sie bisher noch nicht an sozialpädagogischen Maßnahmen teilgenommen. Nach der Verhaftung wurden die Täter von einem Rechtsanwalt, den die FAP organisiert hatte, betreut. Sie waren Sympathisanten, aber keine Mitglieder der FAP. Von den anderen Jugendlichen wurde diese Betreuung als Akt der Kameradschaft interpretiert. Auf die FAP könne man sich eben verlassen. Der Videofilm von der Tat muß im Zusammenhang jugendkultureller Gewohnheiten gesehen werden. Die Jugendlichen hatten vor, den Film nach der Tat gemeinsam anzusehen und dabei -mit gehörigem Alkoholkonsum -den „Kick“ der Gewaltaktion durch die elektronische Wiederholung zu erneuern, ähnlich dem Kick eines Live-Konzerts, den man durch eine entsprechende Aufzeichnung wiederholen kann. Schließlich wird auch der Krieger-Rahmen an dieser Tat deutlich, obwohl die Opfer eher zufällig ausgesucht waren und nicht aus einer feindUchen Szene stammten. In der Gruppe haben sich nämlich die schwächsten Mitglieder, die mit unsicherem sozialen Satus, durch besondere Brutalität hervorgetan. Diese Jugendlichen werden von der Staatsanwaltschaft als Haupttäter verfolgt. Sie hatten wohl versucht, ihr Image als Kämpfer zu verbessern. Nachdem allerdings bekannt wurde, daß nicht „Feinde“, sondern normale Jugendliche zusammengeschlagen wurden, wird diese Tat von den anderen Jugendlichen eher verurteilt. Durch den Kampf gegen einen „nichtsatisfaktionsfähigen“ Gegner verliert der Krieger seine Ehre.

Das Beispiel zeigt die immanente Logik und Dynamik der Jugendgewalt, die in U. weiter eskaliert ist: Im September 1993 haben sich 100 linke und rechte Jugendliche eine zweistündige Straßen-schlacht geliefert. Will man die Gewalt der verfeindeten Szenen in U. und anderswo stoppen, sind höhere Etats für Sozialarbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen erforderlich. Die notwendige politische Akzeptanz für diese risikoreiche Arbeit würde zunehmen, wenn Journalisten und Politiker der Versuchung widerstehen könnten, die verbreitete Angst vor der Gewalt für die Verbesserung von Einschaltquoten und Wahlergebnissen auszuschlachten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. S. a.den Beitrag von Kurt Möller in diesem Heft.

  2. Vgl. Erving Goffman, Rahmenanalyse, Frankfurt am Main 1980.

  3. Vgl. Wilhelm Heitmeyer/Uwe Sander, Individualisierung und Verunsicherung, in: Jürgen Mansel (Hrsg.), Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohung, München 1992, S. 54.

  4. Vgl. Michael Bommes/Albert Scherr, Rechtsextremismus: Ein Angebot für ganz gewöhnliche Jugendliche, in: J. Mansel (Anm. 3) S. 223.

  5. Vgl. u. a. Thomas Lau, Die heiligen Narren. Punk 1976-1986, Berlin u. a. 1992; Christa Wienkoop, Zur Analyse jugendlicher Subkulturen und ihrer Entstehungsbedingungen. Dissertation, Bonn 1989.

  6. Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt 1974, S. 66ff.

  7. Vgl. Robert Harnischmacher, Angriff von Rechts, Rostock u. a. 1993.

  8. Vgl. Anna J. Merritt/Richard L. Merritt, Public Opinion in Occupied Germany, Urbana u. a. 1970, S. 32f; dies., Public Opinion in Semisovereign Germany, Urbana u. a. 1980, S. 7; James F. Tent, Mission on the Rhine, Chicago 1982,'S. 107 f., 254ff.

  9. Vgl. Tilmann Moser, Die Motive der Rechtsradikalen. Der vergessene intergenerative Aspekt, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, (1993) 4, S. 203-212.

  10. Vgl. A. J. Merritt/R. L. Merritt, Public Opinion (Anm. 9), S. 42.

  11. M. Bommes/A. Scherr (Anm. 4), S. 219.

  12. S. a.den Beitrag von Ulrich Piaszczynski in diesem Heft.

  13. Vgl. Franz Josef Krafeld/Kurt Möller/Andrea Müller, Jugendarbeit in rechten Szenen, Bremen 1993; Klaus Farin u. a., Jugendarbeit mit Skinheads, IFFJ Schriften 3, Berlin 1993.

  14. Vgl. u. a. Raimund Hethey/Peter Kratz (Hrsg.), In bester Gesellschaft. Antifa-Recherche zwischen Konservativismus und Neo-Faschismus, Göttingen 1991.

  15. S. a.den Beitrag von Ulrich Piaszczynski in diesem Heft, Abschnitt 3f.

Weitere Inhalte

Reinhard Koch, Dr. phil., geb. 1944; von 1984 bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Jugendfragen Hannover; seit 1992 Mitarbeiter am Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung in Hannover. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Barbara Hille/Walter Jaide) DDR-Jugend. Politisches Bewußtsein und Lebensalltag, Opladen 1990.