Familienpolitik und Armutsbekämpfung in den zwölf Ländern der EG
Christiane Dienel
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Zusammenfassung
Armut, gemessen als Zurückbleiben hinter einem gesellschaftlich akzeptierten Standard („relative Armut“), ist in der Europäischen Gemeinschaft nach wie vor eine Realität. Armut von Familien entsteht vor allem aus vier Ursachen: Kinderreichtum (ab dem dritten Kind), Situation von Eineltem-Familien, Arbeitslosigkeit und soziale Randständigkeit. Vertikale Umverteilung, z. B. Sozialhilfe, ist die typische Maßnahme zur Armutsbekämpfung. Familienpolitik strebt dagegen einen -horizontalen -Lastenausgleich zwischen Kinderlosen und Kinderreichen an. In der Politik zur Bekämpfung der Armut von Familien in Europa mischen sich beide Prinzipien. In allen zwölf Mitgliedsländern der EG haben die familienpolitischen Leistungen eine (unterschiedlich stark ausgeprägte) vertikale Umverteilungskomponente, werden nur unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen gewährt und beugen damit familiärer Armut vor. Diese Tendenz ist in Spanien und Italien am ausgeprägtesten. Dagegen bedeutet steuerliche Entlastung eine Benachteiligung armer Familien; Dänemark, Irland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich haben sie deshalb ganz abgeschafft. Die Leistungen der Sozialhilfe haben in allen Ländern der Gemeinschaft auch eine familienpolitische Komponente und bieten für Familien Zuschläge. , Dennoch ist zu fragen, ob nicht eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes ab dem dritten Kind das hohe Armutsrisiko dieser Familien sozialverträglicher auffangen könnte als die Systeme der Sozialhilfe. Die anderen Ursachen familiärer Armut -Alleinerziehen, Arbeitslosigkeit und Randständigkeit -sind dagegen durch familienpolitische Maßnahmen kaum beeinflußbar, vielleicht aber durch Arbeitsmarktpolitik.
I. Was bedeutet Armut von Familien?
Das Europa der Zwölf ist eine Wohlstandsinsel in der Welt. Die sechs Gründungsmitglieder der Gemeinschaft erlebten seit dem Zweiten Weltkrieg eine säkulare Verbesserung von sozialer Sicherheit und Lebensstandard. Trotzdem: Ein Teil der Bevölkerung Europas -nicht nur isoliert lebende Obdachlose, sondern auch Familien mit Kindern -ist weiterhin der Armut ausgesetzt. In der gesellschaftlichen Diskussion und in der Forschung spielt diese Bevölkerungsgruppe jedoch eine geringe Rolle. Nur in Großbritannien hat die Armutsdebatte eine besondere Tradition, weil dort angesichts eines sonst grobmaschigen sozialen Netzes Sozialhilfe als , Armenhilfe 6 viele betraf und damit im öffentlichen Bewußtsein blieb Erst die Ölkrise und die anschließende Rezession in den siebziger Jahren, aber auch die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft führten dazu, daß in den Europäischen Programmen zur Bekämpfung der Armut („Armut 1“ 1975-1980, „Armut 2“ 1985-1989, „Armut 3“ 1989-1994) das Phänomen auf europäischer Ebene wieder beim Namen genannt wurde Mittlerweile hat sich das Klima allerdings erneut gewandelt: Der Begriff Armut ist aus dem offiziellen Sprachgebrauch nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch der EG getilgt worden, der Terminus „soziale Ausgrenzung“ trat an seine Stelle, und statt eines Programmes „Armut 4“ hat die EG-Kommission ein Programm „PROGRESS“ vorgeschlagen, in dessen Beschreibung das Wort „arm“ gar nicht mehr auftaucht.
Wer ist arm? Die Wahl einer Armutsdefinition ist immer eine politische Entscheidung, werden doch zum einen unterschiedliche und unterschiedlich viele Menschen als arm definiert und führt sie zum anderen zu jeweils anderen sozialpolitischen Forderungen. Ursprünglich hieß die Familie arm, deren Einkünfte nicht ausreichten, um das rein physische Überleben zu ermöglichen Im Europa der Zwölf ist jedoch die Gefahr des Verhungerns oder Erfrierens beseitigt. Hier muß Armut relativ zu einem gesellschaftlichen Standard bestimmt werden, z. B.dem durchschnittlichen Einkommen oder den durchschnittlichen Ausgaben eines Haushaltes. An solchen relativen Armutsdefinitionen wird gern kritisiert, sie machten die Armut untilgbar, da in jeder nicht völlig egalitären Gesellschaft „Arme“ definierbar blieben. Richtig an dieser Kritik ist, daß die Definition relativer Armut soziale Ungleichheit offenlegt. Doch nach wie vor bleiben in den einzelnen Ländern der Europäischen Gemeinschaft Menschen, auch wenn sie nicht hungern, hinter einem allgemein akzeptierten Mindeststandard der Lebensführung zurück und sind damit arm -unabhängig davon, ob wir sie „arm“, „bedürftig“ oder „ausgegrenzt“ nennen und ob das Netzwerk zur Bekämpfung von Armut „Armen-pflege“, „Fürsorge“, „Sozialhilfe“ oder „Garantiertes Mindesteinkommen“ heißt.
Deshalb machte sich auch der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft das Konzept der „relativen Armut“ zu eigen. Er definierte, als er „Armut 2“ ins Leben rief, als arm „die Personen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitglied-staat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ Diese Definition weist auf die Mehrdimensionalität der Armut hin, auf das Ausgeschlossen-sein nicht nur wegen zu geringen Einkommens, sondern auch aufgrund anderer Faktoren: etwa Analphabetismus, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, familiärer Lebensform. Die Kommission hat sich grundsätzlich darauf geeinigt, die Armutsschwelle bei 50 Prozent der durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben in dem jeweiligen Mitglied-staat anzusetzen. Diese Definition liegt allen Zahlen und Übersichten dieses Berichts zugrunde.
Um die Armut von Familien, von Haushalten, in denen Kinder leben, zu bestimmen, muß gefragt werden, was Kinder kosten. Kinder „kosten doppelt“: Einerseits muß Geld für Kleidung, Nahrung, größere Wohnung ausgegeben werden, andererseits sinkt das Haushaltseinkommen durch zumindest teilweise Aufgabe der Berufstätigkeit zur Kinderbetreuung. Eine häufig und auch von der EG-Kommission verwendete Skala gewichtet den Bedarf eines Kindes mit einem Faktor 0, 5, den des Haushaltsvorstands mit 1 und den eines weiteren Erwachsenen mit 0, 7. Auf dieser Skala beruhen die Statistiken dieses Berichts. Dennoch bilden sie die Wirklichkeit nur verzerrt ab: Kosten für die größere Wohnung und Einkommensverluste durch Aufgabe der Erwerbstätigkeit werden so nicht berücksichtigt. Ebenso wenig läßt sich berechnen, inwieweit Kinderkosten durch nichtmonetäre Einkünfte und familiäre Hilfe aufgefangen werden (Wohneigentum, Betreuung durch Verwandte oder Nachbarn, Ernährung aus dem eigenen Garten/durch eigenes Vieh, Weitergabe von Kinderkleidung und Kindermöbeln). Solche Sachleistungen spielen in Portugal, Irland, Griechenland und Italien eine viel größere Rolle als in den reicheren EG-Ländern und in Haushalten mit geringem Einkommen eine größere als in Haushalten mit höherem Einkommen.
In diesem Beitrag geht es vor allem um die Frage nach den Verbindungslinien zwischen Armutsbekämpfung und Familienpolitik. Zentrale Zielsetzung der Familienpolitik ist der Familienlastenausgleich. Er soll theoretisch ermöglichen, daß durch die Geburt und Erziehung von Kindern der Lebensstandard der Eltern nicht leidet. Doch diese Zielsetzung kann für arme Familien nicht ausreichen, deren Lebensstandard bereits vor der Geburt von Kindern unakzeptabel war. In den meisten Mitgliedsländern ist es die Aufgabe der Sozialpolitik, das Lebensminimum für ihre Bürger zu sichern. Doch auch das reicht für arme Familien nicht aus. Denn was für einen Erwachsenen das Lebensminimum darstellt, ist in der Regel nicht genug, um ein optimales oder auch nur angemessenes Aufwachsen von Kindern zu ermöglichen. Deshalb setzt hier die Familienpolitik ein, mit dem Ziel, die Sozialpolitik zu ergänzen. In vielen Ländern der Gemeinschaft sind spezielle Hilfen für bedürftige Familien vorgesehen, die über das hinausgehen, was die allgemeine Sozialpolitik für kinderlose Erwachsene vorsieht. Das Anliegen der Familienpolitik besteht grundsätzlich darin, den Kindern armer Eltern die gleichen Chancen zu bieten wie allen anderen Kindern. Demgegenüber ist nicht das Ziel der Sozialhilfe, den Bedürftigen einen Lebensstandard wie allen anderen Erwachsenen zu ermöglichen. Unausgesprochen steckt dahinter, daß ein Kind für seine Lage nicht verantwortlich ist, während dem Erwachsenen kein Anreiz geschaffen werden darf, auf Dauer von Sozialleistungen abhängig zu sein.
II. Bestandsaufnahme: Armut von Familien in Europa
Abbildung 7
Tabelle 2: Einkommensabhängigkeit der monetären Familienleistungen
Tabelle 2: Einkommensabhängigkeit der monetären Familienleistungen
Durch die Verwendung einer am jeweiligen nationalen Durchschnitt orientierten Armutsdefinition werden die großen Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländern der Gemeinschaft ausgeblendet. Portugal, Griechenland, Irland und Spanien bilden das Drittel der EG-Länder, in denen das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, der Durchschnittslohn, die Sozialschutzleistungen, der Energieverbrauch und die Anzahl der Telefonanschlüsse pro Einwohner am niedrigsten sind. Ebenso klar zeichnet sich mit Luxemburg, Deutschland und Dänemark eine Gruppe von Ländern mit hohem Wohlstandsniveau ab. So betrachtet, ist Armut von Familien geographisch sehr ungleich in Europa verteilt. Doch selbst bei der am jeweiligen nationalen Durchschnitt orientierten Armutsdefinition ergeben sich große Unterschiede von Land zu Land. Nach der oben erläuterten Definition gab es 1985 in Belgien mit 5, 9 Prozent die wenigsten und in Portugal mit 32, 7 Prozent die meisten Armen, der EG-Durchschnitt betrug 13, 6 Prozent.
Von 1980 bis 1985 gelang es nur in wenigen Ländern -Frankreich, Griechenland, Spanien und Portugal -, die Armut wirklich zu verringern. Seither nahm in Belgien, Deutschland, Griechenland und Italien die Armut deutlich zu. Deutschland spürt die sozialen Folgen der Wiedervereinigung. Der Konjunktureinbruch seit 1991 hat diese Ten-denz in allen Ländern verstärkt, Arbeitslosigkeit wurde fast überall zu einem Dauerproblem.
In der Mehrheit der Länder bezeichneten sich in einer repräsentativen, EG-weiten Umfrage 1989 zwischen zwei und sechs Prozent der Haushalte als , arm‘ oder , fast arm', in Frankreich und England taten dies ungefähr 10 Prozent der Befragten, in Portugal, Irland, Spanien und Griechenland, dem auch objektiv schwächsten Drittel der Gemeinschaft, mehr als 12 Prozent
Die Armutsdaten der EG lassen nur indirekt Aussagen über familiäre Armut zu. Jedoch können die Armutsraten von Personen (alle Altersstufen) und Kindern verglichen werden. Wenn Kinder ärmer sind als die Gesamtheit aller Personen, gilt das automatisch auch für Familien, weil Kinder praktisch ausnahmslos in Familien leben.
Die Tabelle 1 zeigt, daß nur in einem Land der Gemeinschaft (Italien) Kinder (und damit Familien) weniger von Armut betroffen sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Grund dafür ist vermutlich die besonders niedrige Scheidungsrate und der folglich sehr geringe Anteil Alleinerziehender. In allen übrigen Ländern leben Kinder häufiger in schwierigen Lebensumständen als andere Personen. Besonders kraß ist dieses Verhältnis in den Niederlanden, in Irland, in Deutschland und im Vereinigten Königreich, und genau in diesen vier Ländern nahm der Anteil der armen Kinder von 1980 bis 1985 besonders stark zu. Da drei dieser vier Länder verhältnismäßig wohlhabend sind, fällt es schwer, diesen Befund nicht als partielles Versagen der Familienpolitik zu deuten.
Es hat in den achtziger Jahren -das kann hier nur angedeutet werden -eine Verschiebung der Armut zwischen den Generationen stattgefunden: Die Altersarmut ist in der gesamten Europäischen Gemeinschaft auf dem Rückzug. So betrug z. B.der Anteil der älteren Menschen an den Haushalten, die Sozialhilfe erhielten, in der Bundesrepublik 1970 noch 40 Prozent, 1986 jedoch nur noch 13 Prozent; 1989 waren lediglich zwei Prozent der über 64jährigen Sozialhilfeempfänger. Ähnliche Tendenzen lassen sich für alle EG-Länder feststellen (mit Ausnahme von Griechenland), obwohl gleichzeitig der Anteil der Alten an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Dynamisierte Renten, garantierte Mindesteinkommen, Wohngeld und Sozialhilfe schützen alte Menschen heute besser als andere Bevölkerungsgruppen. Das Armutsrisiko , Alter'verliert langsam an Bedeutung, während die Armut von Familien mit Kindern eher zunimmt. Die sozialen Folgen dieser Ressourcenverlagerung sind weitreichend und kaum zu unterschätzen.
III. Wie entsteht Armut von Familien?
Abbildung 8
Tabelle 3: Steuerliche Entlastung von Familien in der Gemeinschaft
Tabelle 3: Steuerliche Entlastung von Familien in der Gemeinschaft
1. Kinderreichtum
Sobald in einem Haushalt Kinder leben, steigen die Ausgaben. Zugleich aber haben heute in der Regel nur solche Menschen Kinder, die es sich wirtschaftlich Zutrauen, die also erwerbsfähig sind und in relativ stabilen Verhältnissen leben. Deshalb sind im allgemeinen Haushalte mit Kin-dem weniger von Armut betroffen als der Durchschnitt der Haushalte, obwohl natürlich der Verlust an Lebensstandard gegenüber Kinderlosen der gleichen Einkommenskategorie bereits bei der Geburt des ersten Kindes einsetzt. Ab einer bestimmten Kinderzahl wird Kinderhaben jedoch zum Armutsfaktor.
In allen Mitgliedstaaten liegt das Wohlstands-niveau der Haushalte von kinderlosen Ehepaaren und Ehepaaren mit einem Kind über dem nationalen Durchschnitt, während Eltern von zwei Kindern nur noch in Griechenland, Italien und Portugal einen überdurchschnittlichen Lebensstandard haben. Bei drei und mehr Kindern liegt der Wohlstand des Haushaltes überall in der Gemeinschaft bis 25 Prozent unter dem Durchschnitt, bei vier und mehr Kindern 30 Prozent darunter. Das Vorhandensein eines dritten Kindes bedeutet in allen EG-Ländern (mit Ausnahme von Irland, dort ist es das vierte Kind) ein erhöhtes Armutsrisiko. In Dänemark und Italien sind fünfköpfige Familien um die Hälfte häufiger arm als der Durchschnitt der Bevölkerung, in den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich sogar fast doppelt so häufig.
Die Gefahr, ein bedürftiger Haushalt zu werden, ist für Familien mit drei Kindern in den Niederlanden, in Großbritannien, in Dänemark, Italien und der Bundesrepublik beträchtlich (in den ärmeren Ländern der Gemeinschaft dagegen erst mit vier und mehr Kindern). Die hohen indirekten Kosten des dritten Kindes (neue Wohnung, definitive Aufgabe der Erwerbstätigkeit für die Mutter) schlagen sich hier sichtbar nieder. So gehören in Frankreich von den Familien mit mehr als zwei Kindern, in denen beide Eltern erwerbstätig sind, 20 Prozent zum untersten Fünftel der Einkommenspyramide; wenn jedoch nur ein Elternteil arbeitet, sind es mehr als dreimal so viele, nämlich 62 Prozent. Für die Periode seit 1985 liegen nur wenige Daten vor. In Deutschland, Spanien, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich scheinen sich die Verhältnisse für große Haushalte mit einem Verdiener weiter verschlechtert zu haben, in Irland nahm die Armut großer Haushalte sogar dramatisch zu, während in Italien zumindest Ehepaare mit drei Kindern ihre Situation verbessern konnten
Erstaunlicherweise spiegelt sich diese Situation nicht in der subjektiven Einschätzung der Europäer. In keinem Land der Gemeinschaft waren die Befragten der Meinung, „zu viele Kinder“ seien eine der drei wichtigsten Ursachen der Armut. Nur in Spanien und Portugal erreichte dieser Grund immerhin Platz vier; in der Tat verzeichnen beide Länder in den letzten fünf Jahren einen dramati-sehen Geburtenrückgang, der auch als Abwehr von Armut interpretiert werden kann. Insgesamt scheint hier aber ein Sanktionsreflex zu wirken, der es verbietet, Kinder als Ursache von Armut zu benennen, vielleicht behindert er sogar die Wahrnehmung dieses Phänomens.
Die kinderreichen Familien stellen -im Gegensatz zu früheren Zeiten -nicht mehr den größten Anteil der armen Familien, schon deshalb, weil sie in allen Ländern der Gemeinschaft seltener werden. Auch kleinere Familien sind für Armut anfällig geworden, ihnen wenden wir uns jetzt zu.
2. Eineltern-Familien
Kinder allein erziehen zu müssen, war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die sechziger Jahre ein Schicksal, das meist aufgrund des Todes eines Ehepartners entstand. Wenn es sich dabei um den Verdiener handelte, waren Frau und Kinder durch Witwen-und Waisenrenten mehr oder weniger versorgt. Heute dagegen entsteht diese Situation vor allem durch Scheidung oder nichteheliche Geburt, ein Sozialschutz dafür entwickelt sich erst langsam.
Die Anzahl der Familien Alleinerziehender, generell in starkem Wachstum begriffen, ist sehr ungleich auf die Gemeinschaft verteilt Ist der Haushaltsvorstand ein Mann -das ist aber nur in weniger als zwei Prozent aller Haushalte von Alleinerziehenden der Fall -, ist das Armutsrisiko deutlich geringer. Die Äquivalenzausgaben der Eineltern-Familien lagen um 1980 in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden unter denen eines Ehepaares mit zwei Kindern, in Großbritannien sogar unter dem Niveau eines Paares mit drei Kindern. Die relative Armutsquote dieser Haushalte war daher in allen Ländern (für die Daten Vorlagen) außer in Griechenland über dem Durchschnitt, mit 177 Prozent in Dänemark und 182 Prozent im Vereinigten Königreich besonders hoch. 1985 erhielten in Großbritannien mehr als die Hälfte aller Alleinerziehenden Hilfen zum Lebensunterhalt, in Dänemark 1982 40 Prozent regelmäßig Sozialhilfe In Deutschland lagen 1991 77 Prozent der alleinerziehenden Mütter von kleinen Kindern unter der Sozialhilfegrenze. Auch die Caritas-Armutsstudie verdeutlicht das hohe Armutsrisiko Alleinerziehender. Allerdings ist diese Situation häufig nur vorübergehend und wird durch (Wieder-) Heirat beendet. 3. Arbeitslosigkeit
Die wichtigste Ursache für die sogenannte , neue Armut, also Armut von Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer Herkunft, Qualifikation und Lebensweise eher armutsfern sind, ist die Arbeitslosigkeit. Zum einen verlieren in Zeiten der Rezession auch solche Arbeitnehmer ihre Stelle, die aufgrund ihrer Qualifikation mit gleichbleibenden Einkommen rechnen durften. Sie haben häufig eine Familie gegründet, möglicherweise größere Kredite zum Erwerb von Wohneigentum oder langlebigen Gebrauchsgütern aufgenommen, und geraten bei Arbeitslosigkeit aufgrund ihrer hohen Verpflichtungen schnell in eine schwierige Finanzlage. Die Zahl der Zwangsverkäufe von Häusern und Wohnungen hat sich von 1979 bis 1986 in Großbritannien fast verzehnfacht. Langzeitarbeitslosigkeit mit Überschuldung und Verlust der Wohnung setzt auch in Deutschland häufig eine Armutsspirale in Gang. Wenn die Arbeitslosigkeit zur Dauerarbeitslosigkeit wird, statt Arbeitslosenunterstützung nur noch Sozialhilfe beansprucht werden kann (nur in Belgien sind die Zahlungen unbefristet), bedeutet das für die betroffene Familie schnell Armut.
Zum anderen bedeutet ein hohes Arbeitslosen-niveau, daß es für Jugendliche immer schwieriger wird, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu starten. Jugendliche Arbeitslose haben in der Regel noch keine Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung und werden daher, sofern sie die meist vorhandenen Altersgrenzen für den Bezug von Sozialhilfe noch nicht erreicht haben, von ihren möglicherweise selbst bedürftigen Familien unterhalten. Die Jugendarbeitslosigkeit ist besonders in Spanien (1990: 32, 1 Prozent), Italien (1990: 29, 1 Prozent), Griechenland (1990: 26, 1 Prozent) und Irland (1990: 20, 6 Prozent), aber auch in Frankreich und Belgien erschreckend hoch. Arbeitslosigkeit wird auch in Meinungsumfragen als besonders bedrohlich empfunden.
4. Soziale Randständigkeit
Eine traditionelle Ursache für Armut, , alte Armut , ist das Ausgeschlossensein aus der jeweiligen Gesellschaft. Das kann gelten für zugewanderte, noch nicht integrierte Ausländer, ethnische Minderheiten mit nicht angepaßtem Verhalten (, Zigeuner in vielen Ländern der EG, ungefähr 15000 travellers in Irland usw.), Analphabeten sowie körperlich oder geistig Behinderte. Durch welche von der Norm abweichenden Verhaltensweisen sich diese Armen auszeichnen (Vermeidung regelmäßiger Erwerbstätigkeit, instabile familiäre Beziehungen, häufige Schwangerschaften im Jugendalter, überdurchschnittliche Kriminalität z. B.) und ob ihre Armut gar »erblich ist und zwangsläufig an die Kinder weitergegeben wird, ist umstritten.
In einzelnen Ländern der EG ist diese extreme Form von Armut nach wie vor beträchtlich und nimmt sogar zu, und sie betrifft auch Familien mit Kindern. In allen Ländern der Gemeinschaft leben nichtseßhafte Bevölkerungsgruppen mit ihren meist zahlreichen Kindern. Die Armut kinderreicher, marginalisierter Familien in Irland hat häufig noch ein traditionelles Gesicht und bedeutet Mangel an grundlegenden Gütern wie ausreichende Ernährung, warme Kleidung und feste Schuhe. In Nordirland benötigen 65 Prozent der vom , Social Fund Unterstützten Kleidung. Die französische Aktion , Aide ä toute Detresse machte seit den fünfziger Jahren auf die , bidonvilles , Elendsquartiere rund um Paris, aufmerksam. In Großbritannien ist im Zuge der Reduzierung des sozialen Wohnungsbaus Obdachlosigkeit neuerdings wieder ein akutes Problem geworden: 1990 waren 155 700 Haushalte als obdachlos anerkannt, in zwei Dritteln dieser Haushalte lebten Kinder, in 13 Prozent war ein Mitglied schwanger. In Portugal gibt es, wie sonst nur in der »Dritten Welt, Elendsquartiere aus Kanistern und Abfall, in denen Familien mit Kindern leben. In allen südlichen Ländern der Gemeinschaft existieren noch immer Reste einer traditionellen extremen Armut auf dem Lande. Ausländer, die als arbeitssuchende Immigranten oder asylsuchende Flüchtlinge nach Europa kommen, werden voraussichtlich in der Zukunft einen großen Teil armer Familien stellen, denn sie haben in der Regel mehr Kinder als die Inländer, sind in höherem Maße durch Arbeitslosigkeit gefährdet und weniger gut sozial gesichert.
IV. Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut von Familien in den Ländern der EG
Abbildung 9
Tabelle 4: Wirksame Sozialhilfe oder nur spezielle Maßnahmen für arme Familien (Stand 1990/1991)
Tabelle 4: Wirksame Sozialhilfe oder nur spezielle Maßnahmen für arme Familien (Stand 1990/1991)
1. Vertikale und horizontale Umverteilung bei Familienleistungen
Familienbezogene Leistungen haben entweder eine horizontale (d. h. von Kinderlosen zu Kinderreichen) oder eine vertikale (von Reichen zu Armen) Umverteilung zum Ziel. Die typische Richtung der familienpolitischen Umverteilung ist horizontal: Familienlastenausgleich zugunsten der Menschen mit Kindern. Doch wirkt eine rein horizontale, familienpolitische Umverteilung immer auch vertikal, weil (junge) Familien mit Kin-dem durchschnittlich weniger verdienen als Kinderlose oder Ältere. Überall da, wo vertikale Umverteilung im Spiel ist, wird nicht nur , rein‘ familienpolitisch, sondern sozialpolitisch umgeschichtet, also die Armut von Familien bekämpft. Von den Leistungen der allgemeinen Sozialpolitik, die ebenfalls vertikal umverteilend wirken, unterscheiden sich diese Maßnahmen jedoch deshalb, weil nur Familien auf sie -also auf eine verstärkte vertikale Umverteilung zu ihren Gunsten -Anspruch haben. In der Praxis zeigt sich der vertikal umverteilende Charakter von Familienleistungen an der Einkommensabhängigkeit. Leistungen, die oberhalb bestimmter Einkommensschwellen nicht mehr gezahlt werden, wirken umverteilend zugunsten der Familien unterhalb dieser Schwellen und damit potentiell gegen familiäre Armut. Die folgende Übersicht verdeutlicht, in welchem Umfang das Familienleistungssystem der Staaten der Europäischen Gemeinschaft einkommensabhängig ist.
Tabelle 2 zeigt, daß die vertikale Umverteilung der familienpolitischen Leistungssysteme sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Im Gegensatz zu den geheiligten Prinzipien „reiner“, nur horizontal um-verteilender Familienpolitik zeigt sich, daß in keinem einzigen Land in der Gemeinschaft Familienleistungen völlig unabhängig von der Einkommenssituation gewährt werden. Deutlich sichtbar ist außerdem, daß die Studienförderung innerhalb der Maßnahmen eine Sonderrolle spielt, weil sie durchgängig einkommensabhängig gewährt wird. Beim Kindergeld hebt sich der Typus Italiens und Spaniens ab, die (in der Tabelle durch zwei Sterne gekennzeichnet) keinerlei einkommensunabhängiges Kindergeld mehr gewähren, sondern nur noch eine Regelunterstützung für bedürftige Familien. Aufschlußreich ist der Vergleich auch bei anderen Maßnahmen: Deutlich läßt sich der Typus eines einkommensunabhängigen Zuschlages für Allein-erziehende, der die erschwerte Familiensituation ausgleichen soll, unterscheiden von dem einkommensabhängigen Typus, der bereits davon ausgeht, daß -wie oben gezeigt -diese Familien ein hohes Armutsrisiko tragen. Genauso können Geburtszulage und vergleichbare Leistungen als (einkommensunabhängige) Geburtsprämie oder als Beihilfe zur Notsituation, die durch die Geburt eines Kindes entstanden ist, konzipiert sein.
Generell ist die Umverteilungstendenz der allgemeinen familienpolitischen Maßnahmen in Spanien und Italien am ausgeprägtesten, weil dort nicht einmal Kindergeld einkommensunabhängig gewährt wird. In Belgien, Deutschland, Griechenland und Portugal wird ein Mittelweg eingeschlagen, während die anderen Länder zumindest die zentrale familienpolitische Leistung, das Kindergeld, als rein horizontal umverteilenden Familienlastenausgleich gewähren. Am weitesten in dieser Richtung geht Luxemburg.
2. Steuerliche Entlastungen für Familien
Steuerliche Erleichterungen für Familien sind einerseits horizontal (von Kinderlosen zu Kinderreichen) umverteilend, andererseits entlasten sie Familien mit hohem Einkommen mehr als solche mit niedrigem Einkommen. Damit dieser Effekt der umgekehrten Umverteilung nicht unverhältnis-mäßig wirkt, gibt es in allen Ländern der Gemeinschaft Obergrenzen verschiedener Art. Je größer aber dennoch die Bedeutung der steuerlichen Entlastung von Familien relativ zu anderen Maßnahmen ist, desto weniger ist das betreffende familien-politische System im Prinzip vertikal umverteilend. Die Tabelle 3 enthält den Versuch einer Einschätzung der Bedeutung von Steuererleichterungen für Familien. Die Angaben basieren auf in Experten-interviews in allen betroffenen Ländern gewonnenen Wertungen. Die erste Spalte zeigt die Berücksichtigung der Kinderzahl und Haushaltsgröße, die zweite faßt die Entlastung bei speziellen Situationen vielfältiger Art, wie Behinderung, Fehlen eines Elternteils, Beschäftigung von Betreuungspersonen usw., zusammen.
Ganz deutlich lassen sich hier zwei verschiedene Systeme unterscheiden: Länder, die großen Wert auf steuerliche Entlastungen legen und sie realisieren (Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg), und Länder, die Familienlastenausgleich durch Steuererleichterungen grundsätzlich verwerfen (Dänemark, Niederlande und das Vereinigte Königreich). Im letzten Fall soll, so ist zu vermuten, eine Entlastung ökonomisch leistungsfähiger Familien zugunsten der Bedürftigen vermieden werden.
Insgesamt streben also alle Länder der Gemeinschaft danach, zumindest einen Teil der Familien-leistungen einkommensunabhängig zu halten, meist das Kindergeld. Wo dies nicht geschieht (Spanien, Italien), wird das zwar unter anderem damit begründet, auf diese Weise die Hilfe für wirklich bedürftige Familien zu verstärken; aber meist stehen dahinter doch Finanzierungsprobleme. Mit den Leistungen für Alleinerziehende und bei Behinderung eines Kindes wird jedoch in vielen Ländern (z. B. in Frankreich, Irland, Italien) das Ziel verfolgt, Bedürftigkeit abzuwenden, sie sind deshalb einkommensabhängig. Besonders an der Steuergesetzgebung läßt sich die familien-politische Zielsetzung ablesen; einige Länder haben im Laufe der achtziger Jahre die Kinderfreibeträge abgeschafft, um eine Bevorzugung einkommensstarker Familien zu verhindern. Parallel dazu wurden häufig (z. B. in Großbritannien und in Dänemark) neue Hilfen für Alleinerziehende eingeführt.
3. Familiendimension allgemeiner Sozialleistungen
Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied, ob bedürftigen Familien durch allgemeine Leistungen der Sozialhilfe, die familiäre Aspekte bei der Berechnung berücksichtigen, geholfen wird oder ob es spezielle Zulagen für bedürftige Familien gibt. Denn die Leistungen der Sozialhilfe sind bewußt niedrig, um einen Anreiz zur Erwerbstätigkeit zu schaffen, und sie werden aus psychologischen Gründen gerade von den , neuen Armen ungern in Anspruch genommen. Die Prozedur, um in ihren Genuß zu kommen, ist für kinderreiche Familien oder alleinerziehende Mütter die gleiche wie für alle anderen Bedürftigen. Dahinter steht, daß die Wohlfahrtspflege in Europa zwar seit den zwanziger Jahren versucht, vom Konzept der verschuldeten und unverschuldeten (durch Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit) Armut wegzukommen, daß aber den Leistungen der Sozialhilfe nach wie vor der Geruch der verschuldeten Armut anhängt. Er trifft damit auch Familien, denen unterschwellig vorgeworfen wird, durch zu viele Kinder, außer-eheliche Geburt oder Scheidung an ihrer bedürftigen Lage schuld zu sein. Das Konzept des garantierten Mindesteinkommens, das in den letzten Jahren in mehreren Ländern realisiert wurde, ist ein Versuch, dieser Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung entgegenzuwirken, vor allem, indem die Zahlungen von etwaigen Unterhaltsansprüchen des Berechtigten und einer genauen, oft demütigenden Einzelfallprüfung unabhängig gemacht werden. Daß damit aber jedes Stigma von der Sozialhilfe abgefallen wäre, ist eine Illusion Bisher gibt es in Frankreich, den Niederlanden und Luxemburg (in Belgien dem Namen nach) ein Recht auf ein garantiertes Mindesteinkommen, dessen Höhe regelmäßig angepaßt wird. In den anderen Ländern der Gemeinschaft wird Sozialhilfe mit Einzelfallprüfung gewährt. Beide Formen der Unterstützung berücksichtigen die familiäre Situation des Antragstellers. Unterschiede bestehen jeweils danach, ob die Unterstützung nachrangig und subsidiär oder als garantiertes Mindestgehalt gewährt wird, ob Kindergeldzahlungen darauf angerechnet werden usw. Die südlichen Länder der Gemeinschaft (Griechenland, Spanien, Portugal, auch Italien) konnten bisher noch keine flächendeckende Sozialhilfe aufbauen, doch bieten sie (mit Ausnahme von Portugal) spezielle Hilfe für bedürftige Familien. Dagegen verzichten die Länder mit einem entwickelten Sozialhilfesystem (mit Ausnahme von Frankreich, Großbritannien und Irland) auf diese familienpolitische Leistung und übertragen die Unterstützung armer Familien ganz der Sozialhilfe.
Tabelle 4 zeigt vereinfachend die familienrelevanten Aspekte der Sozialhilfe in den Mitgliedsländern der EG. Es wird deutlich, daß diejenigen Länder, die eine großzügige Sozialhilfe leisten, zumeist keine eigene Maßnahme für bedürftige Familien anbieten (Belgien, Dänemark, Luxemburg, Niederlande). Länder ohne zufriedenstellende Sozialhilfe versuchen dagegen zumindest eine partielle Entlastung armer Familien (Griechenland, Irland, Italien, Spanien).
Die klassischen Kranken-und Arbeitslosenversicherungen nehmen ebenfalls auf die familiäre Situation Rücksicht, aber viele ihrer Maßnahmen erreichen häufig gerade die bedürftigen Familien nicht. So ist zwar kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung in allen Mitgliedsländern die Regel, aber häufig haben bedürftige Familien keine Ansprüche auf beitragsbezogene Leistungen. Aus diesem Grunde hat z. B. Portugal ein beitragsfreies System der Sozialversicherung eingeführt, durch das bedürftige und erwerbslose Familien geschützt werden und weiterhin Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung haben, auch wenn ihre Ansprüche bereits ausgelaufen sind. Zum Teil wirken die Vergünstigungen für bedürftige Familien auch kontraproduktiv. So haben zum Beispiel irische Familien mit sehr niedrigem Einkommen ein Anrecht auf die Medical card, die kostenlose medizinische Versorgung, kostenlosen Schultransport und andere, kleinere Vorteile bietet. Sobald diese Familien ihr Einkommen geringfügig erhöhen oder z. B. die , Family Income Supplement‘-Zahlungen für bedürftige Familien in Anspruch nehmen, verlieren sie u. U. die Medical card und stehen sich daher wirtschaftlich schlechter als mit reinen Sozialhilfe-einkünften, d. h., sie werden zum Opfer einer , poverty trap‘.
Die Arbeitslosenversicherungen berücksichtigen die familiäre Lage des Berechtigten nur in einem Teil der Gemeinschaftsländer. In Belgien werden höhere Sätze für Haushaltsvorstände ausbezahlt; in Deuschland beträgt das Arbeitslosengeld ohne Kinder 63 Prozent und bei Vorhandensein von Kindern 68 Prozent des Nettoarbeitsentgelts; in Griechenland wird 10 Prozent Zuschlag für jede unterhaltene Person gewährt; in Spanien ein Zuschlag von 8 ECU pro Kind; in Irland beträgt dieser Zuschlag 35 ECU für jeden unterhaltenen Erwachsenen, für das erste Kind 12 ECU, das zweite 14 ECU, das dritte bis fünfte 11 ECU, das sechste und weitere 9 ECU wöchentlich. Den komplizierten nationalen Regelungen bei Invalidität und Arbeitsunfällen soll hier nicht weiter nachgegangen werden.4. Spezielle Familienleistungen für bedürftige Familien
Spezielle Familienzulagen für bedürftige Familien gibt es also vorwiegend dort, wo das Sozialhilfe-netz noch nicht flächendeckend ist. Tabelle 5 zeigt die existierenden Zuschläge für bedürftige Familien und ihre Ausgestaltung. Die Tatsache, daß es in einigen Ländern solche Zuschläge nicht gibt, darf nicht als fehlende Armenpolitik mißinterpretiert werden. In Belgien und Deutschland z. B. sind die allgemeinen Leistungen der Sozialhilfe vergleichsweise großzügig, die Niederlande und Dänemark haben ein ausgedehntes System nonmonetärer Leistungen für bedürftige Familien.
Deutlich wird: Die speziellen Transfers für bedürftige Familien haben in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft keine große finanzielle Bedeutung. Ihr entscheidender Vorteil ist jedoch, daß sie mehr oder weniger unabhängig von der Sozialhilfe gewährt werden, also nicht das Stigma der Armenhilfe tragen, sondern als Zuschuß zum Kindergeld gelten können. In Italien, Deutschland, Frankreich, Portugal wird einfach das Kindergeld erhöht, als Beleg genügt der Steuerbescheid. Die Einzelfallprüfung der Sozialämter entfällt.
V. Bewertung: Wie können Familien vor Armut geschützt werden?
Abbildung 10
Tabelle 5: Kindergeldzuschläge für arme Familien, Einkommensobergrenzen (Stand 1990/1992)
Tabelle 5: Kindergeldzuschläge für arme Familien, Einkommensobergrenzen (Stand 1990/1992)
1. Armutsbekämpfung als Teil der Familienpolitik
Die Analyse der Maßnahmen für arme Familien hat gezeigt, daß Familien-und Sozialpolitik in der Praxis nicht rein voneinander getrennt sind. In keinem Land der Europäischen Gemeinschaft fehlt das Merkmal vertikaler Umverteilung bei den familienpolitischen Maßnahmen völlig, in einigen wird Kindergeld überhaupt nur einkommensabhängig gegeben. Warum kann dann nicht eine wirksame, gut angepaßte Sozialhilfe familienspezifische Maßnahmen zur Armutsbekämpfung überflüssig machen?
Grund dafür ist, wie bei allen Sozialleistungen, daß für die Wirksamkeit und Akzeptanz einer Maßnahme nicht nur die absolute Höhe der finanziellen Leistung zählt, sondern auch Art und Möglichkeit des Zugangs und die gesellschaftliche Bedeutung der Inanspruchnahme. Familienleistungen gelten, anders als die Sozialhilfe, gesellschaftlich nicht als Armenhilfe, sondern als Lastenausgleich, auch wenn sie an Einkommens-grenzen geknüpft sind. Antragstellung und Auszahlung erfolgen für alle Familien in gleicher Weise, unabhängig vom Einkommensniveau. Natürlich bleibt das Problem zu rechtfertigen, warum eine Kategorie von Bedürftigen -Familien mit Kindern -gegenüber den anderen bevorzugt werden darf. Die möglichen Begründungen sind zwangsläufig Werturteile: Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft, sie haben ein Recht auf vorrangige Hilfe. Verarmung der jungen Generation gefährdet auch die Sicherung der Älteren. Kinder sind an ihrer Lage unschuldig und haben ein Recht auf gleiche Chancen zum Aufwachsen. Kinder zu haben und aufzuziehen ist auch bei schwieriger ökonomischer oder sozialer Lage ein Dienst an der Gesellschaft. Die Stärkung der familiären Hilfsnetze entlastet die staatliche Sozialpolitik. Die Situation von Kindern zu verbessern heißt, den Kreislauf der Armut zu unterbrechen.
Jedoch: Sonderleistungen für bedürftige Familien zu schaffen heißt auch, innerhalb der Sozialhilfeempfänger neue Hierarchien zu schaffen, andere Gruppen von Menschen gegenüber den Familien herunterzustufen. Man kann sich auch fragen, ob es gerechtfertigt ist, Menschen in sehr schwierigen sozialen Verhältnissen einen Anreiz zum Kinder-haben zu bieten. Heute gilt die Sorge nicht der befürchteten Minderwertigkeit dieser Kinder, sondern der bedürftigen, mangel-und problem-behafteten Lebensumwelt, in die sie voraussichtlich hineingeboren werden. Dieser grundsätzlichen Ambivalenz der Forderung nach Bekämpfung familiärer Armut kann man nicht entgehen.
2. Armut an der Wurzel packen: Schlußfolgerungen und Empfehlungen
Welche familienpolitischen Maßnahmen können einen wirksamen Beitrag zur Verminderung von Armut in Europa leisten? Das Armutsrisiko steigt mit wachsender Kinderzahl. Alle Untersuchungen über Kinderkosten stimmen darin überein, daß das dritte Kind hier eine bedeutende Rolle spielt, weil es in der Regel den Verlust des zweiten Erwerbs-einkommens mit sich bringt und zugleich den Umzug in eine größere und teurere Wohnung nötig macht. Daß jedoch die Tatsache, ein drittes Kind zu haben, mit einem so erheblichen ökonomischen Risiko belastet ist, ist familienpolitisch unerwünscht und für entwickelte Industrieländer ein unerträglicher Zustand. Deshalb, so die Schlußfolgerung aus dem Vergleich, könnte eine einkommensabhängige erhebliche Erhöhung des Kinder-geldes ab dem dritten Kind den meßbaren Verlust an Lebensstandard ausgleichen und diese Familien vor Armut bewahren. Solche Zahlungen würden für bedürftige Familien mindestens Sozialhilfe-niveau erreichen, ohne sie auf den Apparat der Sozialhilfe angewiesen zu machen.
Der Vorwurf, dies sei eine demographische Maßnahme zur Förderung dritter Geburten, ist unbegründet. Demographisch gesehen, fehlt es in den meisten Ländern der EG bereits an zweiten Geburten; Familien mit drei und mehr Kindern sind fast nirgends mehr als eine kleine Minderheit von vielleicht 10 Prozent, und es ist nicht wahrscheinlich, daß sich daran etwas ändern wird. Deshalb ist diese Erhöhung vergleichsweise leicht finanzierbar. Es ist kein Zufall, daß von den hochindustrialisierten Ländern der Gemeinschaft Belgien und Frankreich besonders geringe Armutsquoten von Familien mit drei Kindern aufweisen; denn beide Länder zeichnen sich durch ein hohes Niveau des Kindergelds mit starker Progression beim dritten Kind aus.
Die drei weiteren Ursachen familiärer Armut, die aufgedeckt wurden, sind durch das familienpolitische Instrumentarium dagegen kaum zu beeinflussen. Die Tatsache, daß viele Alleinerziehende ganz auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist als Hinweis darauf zu werten, daß die entscheidende Hilfe nicht in einer Erhöhung der Beihilfen zu suchen ist, sondern in der Ermöglichung von Erwerbstätigkeit. Hier kommt die ganze Palette der Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie in Betracht. Eine relativ strenge zeitliche Begrenzung muß dafür sorgen, dauernde Abhängigkeit von der Sozialhilfe und damit Armut von alleinerziehenden Müttern zu verhindern. Bei der durch Arbeitslosigkeit entstandenen Armut von Familien kann Familienpolitik allenfalls die Folgen lindern. Das zuzugeben bedeutet jedoch auch, angesichts des Problemfeldes Arbeitslosigkeit in familienpolitischer Hinsicht die Waffen zu strecken. Als zu Beginn dieses Jahrhunderts zuerst über die Frage der bedürftigen Kinderreichen diskutiert wurde, spielten arbeitsmarktpolitische Überlegungen eine große Rolle: bevorzugte Einstellung von Familienvätern im öffentlichen Dienst, Entlassung zuerst der Ledigen und Kinderlosen (und der verheirateten Frauen...) usw. Nirgendwo in der Gemeinschaft werden solche Maßnahmen heute noch systematisch oder in Gesetzesform angewandt. Sie verstoßen offenbar gegen die Gleich-behandlung aller und gegen marktwirtschaftliche Prinzipien. Aber ohne die familiären Bindungen mit ihren Strukturen gegenseitiger Hilfe würden die Systeme sozialer Sicherheit in allen Ländern der Gemeinschaft zusammenbrechen. Diese Stabilität ist durch Arbeitslosigkeit bedroht. Deshalb kann aktive Arbeitsmarktpolitik hier eine familienpolitische Dimension und neue Rechtfertigung bekommen. Die Bekämpfung der Armut randständiger Bevölkerungsgruppen, vor allem der vorübergehend oder dauerhaft in Europa lebenden ausländischen Familien, kann kurzfristig durch konkrete Maßnahmen vor Ort gemildert werden. Dies ist die eigentliche Domäne von lokalen Projekten und Sozial-diensten, unter denen die Kinderbetreuung einen hervorragenden Platz einnimmt. Denn sie ermöglicht, die Benachteiligung dieser Kinder zumindest zu einem kleinen Teil auszugleichen. Dies ist die Basis für die Überwindung der Isolierung durch Integration in den Arbeitsmarkt, in die sozialen Netzwerke, in die Kultur des neuen Heimatlandes, wenn auch oft erst in der zweiten Generation.
Christiane Dienel, Dr. phil., geb. 1965; Studium der Geschichte in Münster, München, Bordeaux; seit 1993 Referentin für Europäische Gemeinschaften und Industrieländer in der Staatskanzlei Brandenburg. Veröffentlichungen: (zus. mit Erika Neubauer und Marlene Lohkamp-Himmighofen) Zwölf Wege der Familienpolitik in der Europäischen Gemeinschaft -Eigenständige Systeme und vergleichbare Qualitäten?, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Bd. 22, Teile 1 und 2, Stuttgart -Berlin -Köln 1993; weitere Beiträge zu historischen und aktuellen Aspekten der Familien-und Bevölkerungspolitik.
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