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Intellektuelle Opposition und alternative Kultur in der DDR | APuZ 10/1994 | bpb.de

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APuZ 10/1994 Literatur als Lebenswelt. Frühe Erfahrungen eines späteren Verlegers in der DDR Mein Blick auf die Literatur in der DDR Was ging uns die DDR-Kulturpolitik an? Biographische Notizen eines „Hineingeborenen“ Intellektuelle Opposition und alternative Kultur in der DDR

Intellektuelle Opposition und alternative Kultur in der DDR

Jan Faktor

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Zusammenfassung

Die DDR war -auch was das intellektuelle Klima anging -im damaligen Ostblock ein Sonderfall. Die tschechischen Intellektuellen z. B. hatten sich nach 1968 endgültig von der Idee bzw.der Ideologie des Sozialismus verabschiedet. In der DDR hingegen kam es nicht zuletzt durch die westdeutsche 68er-Bewegung zu einer spürbaren Linksverschiebung des intellektuellen Spektrums sowie durch die ideelle und sprachliche Verwandtschaft mit den West-Linken zur engen Partizipation vor allem an diesem Spektrum des geistig-politischen Lebens in der Bundesrepublik. Dabei wurden neben realistisch-kritischen Positionen auch viele West-Illusionen in die DDR (re) importiert. Unter anderem über diesen ideologischen „Umweg“ über den Westen kam es in der DDR zu einer gewissen stillen, aber tiefsitzenden Verbundenheit zwischen den nichtangepaßten oder sogar den direkt oppositionellen linken Intellektuellen und dem DDR-Staat. In den siebziger und achtziger Jahren begannen dann komplizierte Differenzierungs-und Abspaltungsprozesse unter den jungen, nichtangepaßten DDR-Intellektuellen. Diese Entwicklung umfaßte vorsichtige Absagen an die offizielle politische Ideologie ebenso wie vorsichtige Kritik an der offiziellen Kultur; in ganz anderen Kreisen dann: konspirative Arbeit in marxistischen Zirkeln, inoffizielle kulturelle bzw. offene oppositionelle Aktivitäten. Allmählich hatte sich in größeren Städten eine aktive alternative Kultur „etabliert“. Diese Entwicklung zur Autonomie in den nichtoffiziellen Bereichen der DDR-Gesellschaft führte aber in manchen Kreisen bis zu einer Absage an jegliches politisches Engagement. Das war die bequemere Möglichkeit der Emanzipation sie erschien damals nicht wenigen -vor allem einigen Künstlern -als legitim. So z. B. auch manchen in der Ostberliner Szene vom Prenzlauer Berg, wo allerdings die Staatssicherheit wichtige Schnittstellen besetzt hielt und daher auch auf diese Kreise Einfluß nehmen konnte.

I.

Von vielen DDR-Linken wurden die intellektuellen Protagonisten der tschechischen Opposition bewundert und als Vorbilder empfunden: Havel, Dubcek, Pelikän oder Mlynäf. Mir tat es manchmal richtig weh, weil ich wußte, daß dazu oft nur Wünsche oder fehlende Informationen beigetragen haben konnten. Auf wichtige Unterschiede wurde nicht geachtet, z. B. darauf, daß man das Gros der tschechischen Intellektuellen nach dem Schock von ’ 68 viel eher als „bürgerlich“ hätte definieren müssen; auf jeden Fall nicht unbedingt als links, wie es stillschweigend dauernd geschah. Für mich als Tschechen, der seit 1978 in Ostberlin lebte und Freunde unter den DDR-Linken hatte, waren ihre Eigenarten nicht so schwer zu durchschauen. Bei Gesprächen mit ihnen mußte ich immer mitphantasieren, wie absurd sich manche ihrer Ansichten in Prag anhören würden.

In der DDR lebten viele Hoffnungen, die anderswo im Ostblock mehr oder weniger tot waren, munter weiter. Und zwar nicht nur in den Köpfen der älteren, sondern auch der jungen Linken. Was mir schon damals auffiel: Der besondere DDR-Blick auf die Dinge war nicht nur unwesentlich „verschoben“; man konnte ihn nicht einfach nur aus dem Umstand erklären, daß hier „zu lange“ keine Panzer gegen Menschen und Reformen aufgefahren waren. Dieser DDR-Blick war auffällig anders. Bei den meisten, die ich kennenlernte, vermißte ich die mir vertrauten Blicke, wie ich sie von den gebrannten und illusionslosen Osteuropäern kannte. Meine Ostberliner Freunde hatten noch eine Gläubigkeit unverwechselbarer Prägung. Aber diese Gläubigkeit war nicht der Erfolg der Erziehung oder der Propaganda -da gab es keine Zweifel; ich kannte ja die Leute gut genug. Einige von ihnen waren aus ihren Instituten hinausgeworfen worden und arbeiteten in Fabriken. Viele haben bewußt auf eine Karriere verzichtet. Ihre Gläubigkeit hatte also nichts mit Angepaßtheit zu tun; sie war aber auch nicht nur -das wurde mir nach und nach klar -auf dem eigenen geistigen Boden gewachsen.

Diese Gläubigkeit kam -wie auch die Musik oder die Parkas oder der wirklich klebende „tesa-film“, „Kennzeichen D“, „Weltspiegel“ und vieles mehr -aus dem Westen. Sie hatte ein Standbein in den Diskussionszirkeln der westdeutschen Linken, in der APO oder in kommunistischen Organisationen oder anderen (z. B. anarchistischen) Gruppen; diese Gläubigkeit nährte sich u. a. von der Wut der West-Linken auf deren eigenes politisches System, sie nährte sich aus dem Wissen über die globalen Probleme in der Welt. Aber auch aus der Auch-Ohnmacht, aus dem Auch-nicht-glücklich-Sein der Leute, die man dort im Westen persönlich kannte. Oft waren das sehr nahe Freunde von früher. Und zusätzlich gefüttert wurde-diese Gläubigkeit durch immer neue (neo) marxistische oder links-alternative politische Literatur, die in die DDR geschmuggelt wurde.

Die linke Gläubigkeit in der DDR wuchs also nicht einfach nur illusorisch im luftleeren Raum. Sie nährte sich auch aus realen Informationen (wie realistisch, ist eine ganz andere Frage). Für den „Osten“ hatte das aber besondere Konsequenzen -man konnte dadurch ganz leicht eine besondere Art von Blindheit entwickeln. Und mit der Authentizität der West-Linken wurden ironischer-weise Illusionen auch über Dinge importiert, an denen man selbst eigentlich viel näher daran gewesen ist und über die man selbst viel besser hätte Bescheid wissen müssen. In den achtziger Jahren ist von der Realitätsferne und der Theoriebesessenheit der DDR-Linken dann zum Glück einiges abgebröckelt; es gab zunehmend andere Möglichkeiten, aktiv zu sein -nicht nur kulturell, sondern auch in Umwelt-und Menschenrechtsgruppen. Vor allem hier ist man der Realität wieder näher gekommen. Das Ideologische trat in den Hintergrund, und die intellektuelle Opposition hat sich teilweise von einer „theoretisierenden“ zu einer „praktizierenden“ gewandelt -hier sei etwa die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ (IFM) erwähnt. Nur ein Teil der Intellektuellen, die ich in den siebziger Jahren kennenlernte, ist in den achtzigern in der links-dogmatischen Ecke geblieben.

Zur Sonderstellung der DDR im Ostblock trug maßgeblich auch die massive und -gerade, was das oppositionelle Potential betrifft -fast kontinuierliche Abwanderung in Richtung Bundesrepublik bei. Das hatte nicht nur große Verluste bei den Eliten aller intellektuellen Sparten zur Folge, es hinterließ auch gravierende Spuren in der Sozialstruktur der DDR-Intelligenz und der aus ihr hervorgetretenen Opposition. Durch die Abwanderung derjenigen Intellektuellen, die sich -als eher bürgerliche Intellektuelle (oder Rechte oder Anarchisten ...) -mit der DDR nicht identifizieren konnten, wie auch durch die Zuwanderung von West-Intellektuellen, die die DDR als „ihren“ Staat ansahen, kam es zu einer sehr ausgeprägten Linksverschiebung des intellektuellen Spektrums in der DDR.

In der DDR konnte aus noch anderen Gründen keine breitere oppositionelle Basis entstehen. Man war hier beispielsweise materiell nicht ganz so schlecht gestellt wie in anderen östlichen Ländern (oder relativierte die Armut im eigenen Hinterhof mit der Armut in der Dritten Welt), litt dadurch nicht so stark an der Realität des eigenen Landes. Und der geistige Horizont derer, von denen breitere Zustimmung oder Unterstützung der Resistenz hätte kommen können, war „extramural“ -das „Volk“ sah sich abends die in der nahen Ferne produzierten Nachrichten und Fernsehprogramme an und machte sich eigene und z. T. ganz andere Gedanken. In den guten Stuben saßen schon lange vor der Wende nicht nur apolitische brave Bundesbürger, sondern auch die strammen „Nationalbewußten“ und die zukünftigen Jungsozialisten und und ... Auch dies war dann ein Grund für das abrupte Scheitern der Bürgerbewegungen nach der Wende.

Diese vielfältige Ost-West-Verstrickung hatte für die Herausbildung einer linksintellektuellen Opposition in der DDR ganz konkrete Folgen: Da man sich nicht ausreichend weit weg von der offiziellen Ideologie befand, konnte hier kaum etwas Vergleichbares wie die „Charta 77“ gegründet werden, die auf einer eindeutig unversöhnlichen und eigenständigen Position bestand. So frei war man nicht. Außerdem war da eine tiefsitzende „Beißhemmung“ gegenüber dem Staat. Die Ideologie dieses Staates konnte (und mußte) nicht vollständig verdammt werden wie anderenorts im Osten. Auf dieser ideologischen Nähe basierte daher eine gewisse Identifikation mit dem ansonsten ungeliebten DDR-Staat; man fühlte sich mit ihm auf einer höheren Ebene doch verbunden.

Die DDR wurde lange als ein immer noch reformierbarer Gegenentwurf zur Bundesrepublik empfunden. Man identifizierte sich mit dem DDR-Staat nicht zuletzt auch wegen seiner klaren antifaschistischen Ursprünge wie auch aus anderen, nur psychologisch erklärbaren Motiven -die DDR-Oppositionellen waren mitverfangen im stillen Konkurrenzkampf mit der Bundesrepublik. Mehr oder weniger bewußt wollte man doch nicht mit dem Gefühl leben, daß dieser Staat DDR, in dem man nun mal das eigene Leben verbrachte, in so vielen Punkten um soviel schlechtere Karten haben, soviel schlechtere Arbeits-und Lebensbedingungen bieten sollte. Man konnte und wollte nicht mit dem Gefühl leben, daß fast alles um einen herum in dieser grauen DDR soviel grauer, häßlicher, miefiger sein sollte als in der „untergehenden“ Bundesrepublik. Man brauchte ein bißchen Stolz, und man entwickelte schon wegen des eigenen Selbstwertgefühls einen gewissen Patriotismus, der dann gerade in der Wendezeit sehr schnell manifest wurde und bei vielen Intellektuellen bis heute eine Akzeptierung der neuen Verhältnisse so schwer macht.

II.

Die siebziger Jahre waren für viele junge Intellektuelle in der DDR (von intellektuell eigenständigen, aktiven Schülern bis zu Erwachsenen der mittleren Generation) Jahre des Aufbruchs und des Suchens nach neuen, eigenen Wegen. Ausschlaggebend dafür waren nicht nur die politischen Impulse des Jahres ’ 68. Die Aufbruchstimmung kam nach und nach schon seit Anfang der sechziger Jahre: Die Rock-Musik verbreitete sich immer lauter und heftiger -mit kleineren oder größeren Verspätungen -über alle Grenzen hinweg; man kleidete sich anders, herausfordernder, die Haare wurden länger; die Hippies eröffnefen in Amerika neue Aussichten, um wieviel freier das Leben eigentlich noch sein könnte. In der DDR entstand so in den sechziger Jahren eine spontane, vom Staat nicht steuerbare Jugendbewegung. Diese verstärkte natürlich auch die politische Aufbruchstimmung, die dann -konzentriert im Jahre .'68 -im ganzen damaligen Ostblock für große „intellektuelle Unruhe“ sorgte. Neue Impulse und Anreize bekamen auch die verschiedenen gesellschaftlichen Theorien; und weil Deutsche traditionelleine gewisse Stärke im theoretischen Denken haben, war auch die Begeisterung für neue politische -vor allem aber linke sozialistische -Theorien in Deutschland (West wie Ost) sehr groß.

Gleichzeitig kam es in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu den ersten Versuchen, sich unabhängig und in kleineren Gruppen kulturell zu artikulieren. Es waren aber nur spontane, kurzzeitige und vereinzelte Versuche. Der staatliche Druck war damals noch enorm; es gab regelrechte Jagden auf Jugendliche mit langen Haaren, unbequeme Rockgruppen wurden kompromißlos aufgelöst, der ideologische Druck z. B. in den Schulen hatte immer noch inquisitorische Strenge. An der damaligen „ersten alternativen Kultur“ waren einerseits Kinder von (z. T. privilegierten) Intellektuellen beteiligt (z. B.der Kreis um Thomas Brasch oder der Rahnsdorfer Kreis um Rosita Huntzinger, Jürgen Uzkereit und die Söhne von Robert Havemann), andererseits Kinder aus proletarischen Familien (oder Jugendliche, die durch Nicht-Anpassung zu Proletariern wurden).

Unmittelbar nach der Zerschlagung des Prager Frühlings im August ’ 68 setzte in der DDR eine Phase der Resignation ein; auch der staatliche politische Druck verstärkte sich wieder. Die „untergrundpolitische“ Entwicklung war aber nicht aufzuhalten. Erst nach dem Machtantritt Erich Honeckers lockerte sich in gewissen Grenzen der restaurative Druck, den sein greiser Vorgänger für so unumgänglich gehalten hatte.

Die theoretischen Impulse für den Aufbruch in den siebziger Jahren wie auch die Impulse „aus der Praxis“ kamen aus ganz Europa. Eigenständige Ansätze gab es natürlich auch in der DDR, wo sich aber öffentlich wenig davon manifestieren konnte. 1968 hatte man die Ereignisse im Osten (CSSR) wie im Westen (Frankreich, Bundesrepublik) sehr genau verfolgt. Alles passierte ganz nah hinter den Grenzen; selber aber blieb man zur Passivität verurteilt. Um so mehr war man emotional an alledem stark beteiligt: -auf der einen Seite an der Reformbewegung in der ÖSSR (hier identifizierte man sich mit einer osteuropäischen Alternative zum bestehenden Realsozialismus; eine große Rolle spielte auch die Ostblock-Solidarität zu einem Land, das in vielem der DDR am nächsten stand); -auf der anderen Seite an der achtundsechziger Studenten-Revolte (also an einer Protest-Bewegung gegen das Establishment in der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, mit der man sich ebenfalls leicht identifizieren konnte).

Dieser Aufbruch vollzog sich in der DDR sowohl öffentlich wie auch unter der Oberfläche. Man kann daher von bestimmten inneren bzw. äußeren Abgrenzungsprozessen im „Lager“ der kritischen Intellektuellen sprechen. Vier solcher Abgrenzungsprozesse lassen sich darstellen; alle vier Prozesse hatten eines gemeinsam: Immer wieder hat -oder mußte -ein Teil der Betroffenen, von welchem „Lager“ auch immer, das Land verlassen; aus der (inneren) Abgrenzung wurde dann eine freiwillige oder unfreiwillige Ausgrenzung.

III.

Auf der öffentlichen, offiziellen Ebene wurden die neuen Impulse von kritischen Schriftstellern und Liedermachern aufgenommen, die damals noch an die Durchsetzung der neuen Ideen und Konzepte im Rahmen der bestehenden Ordnung glaubten. Man versuchte, in Jugendklubs Veranstaltungen zu machen, wo offen über alles diskutiert werden sollte und künstlerische Freiheit erlaubt sein sollte. Alle diese Versuche wurden aber früher oder später abgewürgt oder direkt verboten. Einige der neuen kritischen Künstler, die sich hier engagierten, kamen -damals noch als ganz junge Menschen -aus der offiziellen, von der FDJ getragenen Singe-Bewegung.

Parallel dazu -und das ist die andere Seite dieser ersten Abgrenzung (Spaltung) -tat sich aber auch einiges unter der Oberfläche: Auf der nichtoffiziellen Ebene fanden sich in einigen großen Städten (besonders in Berlin, Leipzig und im „Städtedfeieck“ Weimar-Erfurt-Jena) kritische Köpfe zusammen, die von vornherein wußten, daß sie sich nicht in die Öffentlichkeit begeben durften. So entstanden verschiedene Zirkel, Diskussionskreise von jungen Wissenschaftlern, Künstlergruppen usw., die die Notwendigkeit spürten, sich außerhalb der Verbände oder Institutionen zusammen-zutun. Zu ihnen stießen natürlich auch diejenigen Künstler und Intellektuellen, die nach dem Verbot ihrer offiziellen Veranstaltungen in den „Untergrund“ gedrängt wurden. Die so entstandenen Zirkel hatten ganz unterschiedliche Ausrichtungen, unterschiedliche politische Brisanz, und sie wurden auch mit unterschiedlichem Grad an Geheimhaltung (Konspiration) am Leben gehalten.

In der DDR war -wie erwähnt -der Einfluß der westdeutschen Linken groß. In der Bundesrepublik wurde in großen Mengen linke politisch-theoretische Literatur verfaßt, verlegt, gelesen -und von dort natürlich auch in die DDR geschmuggelt. Und die DDR war ein fruchtbarer Boden für diese Theorien und neuen Gedanken. Die linken DDR-Intellektuellen hofften in den siebziger Jahren nicht zuletzt aufgrund dieser Polit-Publizistik immer stärker, daß bald die Zeit käme, in der eine (revolutionäre) Umbruchsituation auch in der DDR entstehen würde. Vorerst aber waren sie zu rein theoretischer, halb-konspirativer bis konspirativer Arbeit verurteilt. Manche der Diskussionszirkel waren aber auch relativ apolitisch -hier wollte man sich in erster Linie ohne staatliche Reglementierung in allen möglichen Bereichen weiterbilden, um für den Aufbruch „intellektuell gerüstet zu sein“ (nennen wir sie die ); andere Bildungskreise Zirkel hatten größeren bis überspannten politischen Ehrgeiz entwickelt. In diesen Zirkeln wurde Marx gelesen und diskutiert, (euro) kommunistische Alternativen erörtert, beschäftigte man sich mit Stalinismus. Aber auch jüngste DDR-Geschichte und aktuelle Politik gehörten zu Themen, an denen man arbeitete. Die Ausrichtung reichte hier von radikalen Gruppen (Maoisten) bis zu vorsichtigeren und bedächtigen Zirkeln, deren Mitglieder z. T.den „Weg durch die Institutionen“ einschlugen -was in der Regel die Mitgliedschaft in der SED bedeutete. Außerdem gab es natürlich auch Intellektuelle, die von Theorien nicht viel hielten; es gab Versuche, Kommunen zu gründen, in Freundeskreisen kommunen-ähnliche Lebensformen auszuprobieren -ohne trockene Theorien und endlose Diskussionen. Parallel zu diesen politischen Gruppenbildungen entstanden in den siebziger Jahren die verschiedensten neuen Musik-Gruppen, Rockgruppen, die immer gleichzeitig auch eine „erweiterte Gruppen-bildung“ mit sich brachten. Und auch eine ganz neue Generation von Aussteigern wuchs heran, bei der man allerdings diesen Ausstieg/,, Abstieg“ als einen ganz bewußten Akt der Selbstbestimmung bezeichnen muß (ein Teil von ihnen war schon „von Anfang an dabei“ -also schon in den sechziger Jahren). Diese „Aussteiger mit Überzeugung“, wie ich sie nennen möchte, verzichteten von vornherein auf Hochschulbildung und auf Karrieren in „ordentlichen“ Berufen; sie waren zu den in der DDR sonst notwendigen Kompromissen nicht bereit. Begünstigt wurde das Aussteigen durch eine gewisse Liberalität des DDR-Staates, der (vor allem ab Mitte der siebziger Jahre) allmählich aufhörte, rigoros die Arbeitspflicht durchzusetzen und das sogenannte Parasitentum strafrechtlich zu verfolgen.

IV.

In der ersten Hälfte der siebziger Jahre waren also viele Intellektuelle, die nicht bereit waren, sich entmündigen zu lassen, und die sich auch direkt engagieren wollten, mit Theoretisieren, Weiterbilden und Diskutieren beschäftigt. Bewegung in Richtung zu konkreterem Handeln kam erst nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 und nach der Veröffentlichung der Streitschrift „Die Alternative“ von Rudolf Bahro. Hier setzte der sehr wichtige zweite Abgrenzungsprozeß unter den jungen, oppositionell denkenden Intellektuellen ein. Ein Teil von ihnen fand das endlose Diskutieren nicht mehr produktiv und sinnvoll und suchte andere Wege. Da jenes Selbstbewußtsein, das später die alternativen Gruppen an den Tag legten, noch nicht vorhanden war und auch die zu befürchtenden Repressionen zur Vorsicht zwangen, kam es in dieser Zeit eher zu individuellen Einzelaktionen oder Protesten, zu individuell verfaßten Protestschreiben in Betrieben und Institutionen; nur vereinzelt kam es zu Aktionen von Gruppen oder zu Unterschriftenaktionen (die wurden dann natürlich auch entsprechend hart geahndet). Diesen zweiten Abgrenzungsprozeß kann man zeitlich nicht leicht fassen -er setzte sich bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre fort.

Bei dieser zweiten Differenzierung spielten -die politischen Ereignisse in Polen und auch die praktischen politischen Erfolge der polnischen Opposition (KOR, Solidarnosc) eine große Rolle; ein („fundamentalistischer“) Teil der inoffiziell aktiven Intellektuellen blieb jedoch noch bei den Theorien und bei der Suche nach sozialistischen Reformansätzen für die DDR-Gesellschaft wie auch z. B. bei der Aufarbeitung des Jahres ’ 68 in der Tschechoslowakei. Der andere, „neu abgespaltene“ Teil wandte sich den aktuelleren polnischen Erfahrungen und zusätzlich dem komplexen Thema der Menschenrechte zu und dachte natürlich auch über die Konsequenzen für das eigene Handeln nach.

Diese Entwicklung zur praktischen politischen Arbeit schloß viele verschiedenartige Aktivitäten und Ansätze zum Handeln ein: Es entstand die unabhängige Friedensbewegung der DDR, die Ökologiebewegung wurde stärker, es entstanden verschiedene Frauengruppen, man setzte sich für Wehrdienstverweigerer ein, es ging um die Rettung von Bausubstanz und um die Schaffung alternativer Lebensräume in den Städten usw. Diesmündete beispielsweise in der Gründung der IFM 1986. Diese Gruppierung sprengte in mehrfacher Hinsicht den alten Rahmen der „vorsichtigen Gruppenbildung“ und löste sich am radikalsten von den festgefahrenen Mustern: Man entledigte sich eines großen Teils des ideologischen Ballastes, man verließ den engen Raum der privaten oder innerkirchlichen Räume und suchte ganz bewußt Kontakte zu Journalisten und Politikern aus dem Westen; und man verließ schließlich auch den „Isolationskurs“ der DDR-Linken und näherte sich nicht nur durch zahlreiche Kontakte, sondern auch ideell der Opposition im übrigen Ostblock.

Die Tendenz „weg von den Theorien“ zeigte sich z. B. auch darin, daß die Lücken, die die unbefriedigende Beschäftigung mit den Ideologien hinterließ, u. a. mit kulturellen Aktivitäten gefüllt wurden. Ehemalige Theoretiker gingen nun zu Lesungen oder privaten Theateraufführungen oder engagierten sich hier sogar selbst. Diese kulturellen Aktivitäten sind zum Begreifen der weiteren Entwicklung und der weiteren Spaltung der alternativen Bewegung sehr wichtig: Eindeutig politisch denkende und handelnde Menschen haben über mehrere Jahre eine wichtige kulturelle Funktion übernommen oder mitgetragen -ohne jeglichen vordergründig politischen Sinn und Zweck; und es steckte für sie offensichtlich kein Widerspruch darin. Und warum auch -diese Aktivitäten bargen genügend politische Brisanz. Die Notwendigkeit eines Schrittes auch zur kulturellen Autonomie haben sie also genau gespürt. Und diesen Schritt vollzogen parallel auch andere Intellektuelle und Künstler, denen es nur um die Kunst ging. Dieser Trend war also im ganzen „Untergrund“ präsent; er entstand nicht ausschließlich in Künstlerkreisen -und war auch eindeutig nicht allein das Werk der Staatssicherheit.

V.

Aus dieser Entwicklung zur kulturellen Autonomie kann man den dritten Abgrenzungsprozeß herleiten: Innerhalb der alternativen Strömungen hatte sich neben dem politischen Leben seit Anfang der achtziger Jahre allmählich ein unabhängiges kulturelles Leben „etabliert“. Es war dies ein notwendiger und legitimer Schritt zur Emanzipation vom allmächtigen Staat, der alles selber „im Griff“ haben wollte, auch jegliche Kultur -egal wie politisch oder apolitisch sie sich verstand. Die Notwendigkeit dieser Emanzipation, der kulturellen Autonomie spürten hier alle. Auch im ästhetischen Empfinden der aktiven „Macher“ und der an dieser Kunst Interessierten gab es ein großes Maß an Übereinstimmung. Vordergründig nichtpolitische Literatur und Kunst, die sich aber eindeutig zur alternativen Kultur bekannte und keine Anpassungs-Ambitionen zeigte, wurde ohne Vorbehalte akzeptiert. Unter den einzelnen Gruppierungen gab es Kontakte, Austausch, Solidarität. Selbst die apolitischen Gruppierungen hatten in dieser Zeit -durch ihr streng autonomes Selbstverständnis -ein eindeutiges politisches Gewicht.

Erst später (etwa ab Mitte der achtziger Jahre) setzten Vorbehalte, Spannungen ein (wie wir jetzt wissen -zu Recht) und auch Mißtrauen gegenüber denjenigen Künstlern, die sich nur im Ästhetischen bewegen und ganz bewußt keinen direkten Bezug auf das „real existierende“, repressive System nehmen wollten. Gemeint sind die Spannungen zwischen der weitgehend apolitisch eingestellten „Szene“ am Prenzlauer Berg auf der einen Seite und den engagierten oppositionellen oder kulturellen Gruppierungen oder einzelnen Künstlern auf der anderen Seite.

VI.

Hier haben wir es mit dem ziemlich fatalen vierten Abgrenzungsprozeß zu tun, den man jetzt nachträglich doch zum nicht geringen Teil als das Werk der Staatssicherheit sehen muß. Die Prenzlauer-Berg-Gruppierung (der sich der Verfasser bis zu Zerwürfnissen in den Jahren 1986/87 zugehörig fühlte) verließ in ihrer -von vielen schon seit Anfang der achtziger Jahre kritisierten -Künstler-Arroganz und unter dem eindeutigen Einfluß von Inoffiziellen Mitarbeitern, die dort in Schlüsselpositionen saßen (A. Anderson, R. Schedlinski), als einzige Gruppierung die solidarische Gemeinschaft der Nicht-Angepaßten, der bis dahin alle -ohne es laut zu verkünden oder kompliziert zu reflektieren -aus einfacher Solidarität angehörten. Viele Kontakte zu anderen Gruppen rissen Mitte der achtziger Jahre endgültig ab. Und hier sind die Vorwürfe gegenüber der Prenzlauer-Berg-Szene um Anderson ganz und gar berechtigt: Es wäre möglich gewesen, in der Kunst ästhetischen Herausforderungen zu folgen, sich aber im Alltag -im politischen Alltag -trotzdem solidarisch zu verhalten und die repressive Realität nicht so „konsequent“ zu ignorieren. Die Ablehnung des „Transportierens“ von politischen Inhalten in der Kunst war -wie dargelegt -ein legitimer Weg zur künstlerischen Autonomie, und dieser Weg bot sehr produktive ästhetische Alternativen zum offiziellen, gleichgeschalteten Leben im totalitären Staat. Natürlich war aber eine apolitisch orientierte Gruppe der Stasi angenehmer als die politischen Gruppierungen -auch wenn jene Gruppe nicht das war, was sich die Stasi ausdrücklich gewünscht hätte. Zur gleichen Zeit trafen in der DDR damals zwei Tendenzen aufeinander: die „sanftere“ Taktik des Sicherheitsdienstes (gemäßigte „negative Kräfte“ ließ man im allgemeinen eher in Ruhe) und die „sanftere“ Tendenz in der Ästhetik. Gleichwohl wird die ästhetisch begründete Legitimität einer „inländischen Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates“ jetzt -wie damals -zu Recht in Frage gestellt. Diese Tendenz zur „Nichteinmischung“ wurde von der Stasi bei den Versuchen der Spaltung der oppositionellen Strömungen durchaus willkommen geheißen. Eine Tatsache darf man jedoch nicht außer acht lassen: Der „ästhetisch reine“ Weg war natürlich der bequemere; hier riskierte man wesentlich weniger, man mußte dementsprechend weniger Repression und Angst in Kauf nehmen. Auch dies könnte eine Rolle bei der „rein ästhetischen“ Entscheidung für oder gegen politisches Engagement eine Rolle gespielt haben. Der „ästhetische Weg“ hatte also gewisse Vorteile; und Anderson übte zusätzlich auf viele eine nicht ganz nachvollziehbare, aber trotzdem nicht zu leugnende Faszination aus. Er hat diese Entwicklung, die zur Abspaltung des apolitischen Flügels der alternativen Künstler führte, stark forciert und durch seine Beispiel-wirkung (bei ihm lief alles reibungslos ab und es kam nie zu Repressalien) viele geblendet und an seine Person gebunden. Ein Indiz seines Einflusses etwa war, daß vergleichbare Kreise in Leipzig politisch viel brisantere Artikel publizierten, als es in der Prenzlauer-Berg-Szene in Berlin unter Einfluß und Kontrolle von ihm und von Schedlinski möglich gewesen wäre. Die Zeitschrift „Anschlag“ druckte in Leipzig z. B. Texte von Havel ab, was bei Anderson oder Schedlinski undenkbar gewesen wäre. Ein weit verbreiteter Irrtum sollte hier aber richtiggestellt werden: Was die Anzahl der Spitzel angeht, war die Prenzlauer-Berg-Szene im Vergleich zu anderen (z. B. politischen) Gruppen trotz allem alles andere als „überbesetzt“.

VII.

Der Bezirk Prenzlauer Berg war ein Lebensbereich mit relativ vielen, woanders in der DDR nicht denkbaren Freiheiten, der viele jüngere Menschen aus dem „Rest“ des Landes anzog -unabhängig davon, ob sie künstlerisch arbeiten wollten oder nicht. Der Prenzlauer Berg war ein für DDR-Verhältnisse extrem chaotischer Bezirk, in dem nicht unbedingt die Künstler die Hauptrolle spielten. Dementsprechend war auch die soge-nannte „Szene“ vom Prenzlauer Berg alles andere als homogen -man sollte hier eher von einem „Individualistengeflecht“ sprechen. Zusätzlich hatten viele der Künstler, die sich zu dieser Szene zählten, wiederum mit den Schreibenden um Anderson nichts zu tun oder wollten, wie z. B. die Spieler vom Theater „Zinnober“ (und viele andere), ganz bewußt nichts mit ihnen zu tun haben. Das wurde im Rahmen der Prenzlauer-Berg-Debatte die ganze Zeit so gut wie nicht reflektiert. Die Bezeichnung „Prenzlauer-Berg-Szene“ ist also irreführend und ungenau; der Blick von außen verwischte viel zu viele differenzierende Momente. Hier gab es (wenn man schon einengend nur vom künstlerischen Leben sprechen will) viele verschiedene „Beziehungsnetzwerke“ von Künstlern, die mehr oder weniger auch zu der kulturellen „(Gesamt-) Szene“ gerechnet werden konnten, aber mit dem engeren, durch das Stasi-Desaster leider allzugut bekannten „Kreis“ (der auch kein solcher war) um Anderson nicht in Verbindung gebracht werden sollten. In Wirklichkeit zerfiel die „(Gesamt-) Szene“ in viele kleinere Einheiten, in denen sich Menschen zusammenfanden, die sich mochten und eventuell auch gemeinsam arbeiteten.

Für die Entstehung der alternativen Kulturszene in Ostberlin war auch die besondere Situation dieser Stadt(hälfte) mitverantwortlich. Die Atmosphäre in Ostberlin war entspannter als in der übrigen „Republik“. Man konnte es hier oft relativ einfach schaffen, nur die lächerlichen und harmlosen Seiten der Stasi-Aktivitäten wahrzunehmen und die ernsteren Fakten auszublenden. Als Schutzmechanismus, als Mechanismus der Verdrängung der Angst, hat das gerade in Ostberlin gut funktioniert. Die Stasi verhielt sich hier auch ausgesprochen zurückhaltend. Man konnte sich in der Stadt in vielerlei Hinsicht relativ geschützt fühlen oder sogar mutig -man bekam nämlich mit, mit wie vielen unnötigen, unbegründeten Ängsten sich sonst die „Normalbürger“ um einen herum wegen Nichtigkeiten quälten. In der sogenannten Provinz warman in dieser Hinsicht näher an der damaligen DDR-Realität. Dort waren die Menschen mit gutem Grund ängstlicher und bei Begegnungen mit (z. B. Berliner) Spitzeln auch sensibler.

Die gleichwohl immer vorhandene Angst erklärt wenigstens teilweise, warum einige von denen, die in den alternativen Szenen besonders aktiv waren und sich in der DDR sonst strafbare Freiheiten nahmen, Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi waren. Als solche hatten sie die Rückendeckung des Staates, einen direkten Draht zu ihm. Statt einer diffusen Bedrohung war ein realer und eventuell intelligenter und freundlicher Gesprächspartner da -als Vertreter dieser Bedrohung zum Anfassen. Und als lebendiger Beweis dafür, daß die Stasi im Prinzip auch „sauber“ arbeiten und „menschlich“ sein konnte.

Die IMs haben zu der in den alternativen Lebensbereichen von innen langsam wachsenden Angst-freiheit viel -und zwar in positivem Sinne -beigetragen. Sie haben durch ihre sogenannten „Kontakte“ nicht nur ihre eigene Angst neutralisieren können, sondern durch ihre „freundschaftliche“ Anwesenheit Zuversicht in bezug auf ihre „nicht-konformen“ bis strafbaren Aktivitäten ausgestrahlt. Im nachhinein darüber zu klagen, daß gerade einige Stasi-Mitarbeiter in der alternativen Kultur oder in oppositionellen Gruppen eine so aktive Rolle übernahmen, ist nicht sehr sinnvoll. Warum manche Leute aktiv bis hyperaktiv wurden, hatte oft einen ganz speziellen Hintergrund; und hier liegt eine Erklärung dafür, warum sich gerade die Stasi-Spitzel so exponiert und so viel (geheimdienstlich auch völlig irrelevanten) Ballast auf sich geladen haben: Einerseits gehörte es zu ihrem Auftrag, sich nützlich zu machen, wichtige Arbeiten zu übernehmen, zuverlässig zu sein; andererseits haben sie durch ihre besondere Bereitschaft, Zeit und Energie zu investieren, versucht, ihre Schuld zu kompensieren. So etwas wie ein schlechtes Gewissen hatten sie wahrscheinlich doch.

Für das Funktionieren der alternativen „(Gesamt) Szene“ spielten die Spitzel ungewollt noch eine andere Rolle: Wegen ihrer gesteigerten Betriebsamkeit gerade in der Prenzlauer-Berg-Szene mußten die Führungsoffiziere im Hintergrund notgedrungen auch andere Kreise, wo Lesungen organisiert, Buch-oder Zeitschriftenprojekte realisiert wurden, in Ruhe lassen, um ihre Spitzenmänner (Anderson, Schedlinski) nicht in die Gefahr der Dekonspiration zu bringen.

Andererseits hat die Präsenz der Spitzel in der Prenzlauer-Berg-Szene sehr viel zerstört; die Spitzel haben nicht nur „Angstfreiheit“ verbreitet, sie haben auch ihre verdeckte Destruktivität mitgebracht und ihre Aggressivität -ob direkt oder indirekt -ausgelebt. Die staatlich verordnete Verlogenheit, die so verhaßt war und die man nicht mitreproduzieren wollte, wurde nun heimlich und in Mengen hereingeschleppt und gestreut -ohne eine Spur von Bewußtsein dafür, was für katastrophale Folgen das künstlerisch mit sich brachte. Ohne eine Spur von Bewußtsein, was für eine Verantwortung man auf sich nimmt, wenn man die Entscheidung trifft, sich nach vorne zu stellen und trotz einer Grundlüge einen Teil der Kultur eines sonst kulturell ziemlich ausgebrannten Landes zu repräsentieren. Das Bewußtsein dieser Verantwortung fehlt den beiden Haupthelden vom Prenzlauer Berg bis heute.

Sie und ihre diversen Verteidiger sollten sich, wenn sie weiter behaupten wollen, ihre geheime Mission hätte menschlich und künstlerisch keinen wesentlichen Schaden angerichtet, genau überlegen, was für ein Urteil sie damit indirekt über die künstlerische Sensibilität aller aus der Szene sprechen. Wenn Künstler den Kritikern oder Theoretikern etwas voraus haben sollten, dann ist es gerade die Fähigkeit, nicht rational faßbare, unter der Oberfläche lauernde Dinge als erste wahrzunehmen. Also: Wie sensibel waren dann diejenigen, die nichts von der Verlogenheit und dem Verrat gespürt haben sollten?

Und es sei hier noch einmal wiederholt: Durch die im Zentrum plazierten Top-Spitzel sowie die damit verbundene Schonung wurde verhindert, daß die zu dieser Szene gehörenden Künstler nach und nach in eine wirkliche Konfrontation mit der Macht gerieten und mit der Zeit radikaler wurden. Andernfalls hätten sie sich notgedrungen mehr um politische Dinge kümmern und die repressive Realität der DDR wesentlich schärfer kritisieren müssen -und das hätte natürlich wiederum auch ihre Arbeit geprägt. In diesem Sinne war der Einfluß der Stasi doch gravierend: Es wurde eindeutig eine Entwicklung, die zur -wie auch immer gearteten -Politisierung hätte führen müssen, unterbunden; es wurden Verbindungen zu anderen Kreisen behindert und Spannungen zu anderen Gruppen verstärkt.

Nach 1984 war die produktive, innovative, kollektiv erlebbare Zeit des Prenzlauer Bergs zu Ende. Was folgte, war zum Teil leerer Aktivismus und Weitermachen lediglich in größeren Dimensionen als früher -Weitermachen an Dingen, die Anfang der achtziger Jahre entdeckt und ausprobiert worden waren. Unter dem Einfluß von Anderson -dersich auch fortsetzte, als dieser in Westberlin lebte -wurde viel mehr auf kommerzielle Verbindungen und Produktionsmöglichkeiten geachtet als auf eine kritische Auseinandersetzung mit der teilweise auch sehr brutalen Realität. Außerdem wurde fleißig an geschwätzigen, theoretischen Texten gebastelt, die mit dem eigentlichen Schreiben oder Malen wenig zu tun hatten. Von der doppelbödigen Realität der Szene waren diese Texte jedenfalls sehr weit entfernt. Der Leerlauf der Produktion hat sich ganz deutlich 1986 bei den Lesungen in der Samariterkirche gezeigt. Es wurde immer klarer -das Polster um diese Szene war künstlich, die Lügen häuften sich; die Unechtheit bzw. das Stagnieren der Produktion war kein Zufall. Im Herbst 1987, als sich die Stasi zu einem Schlag gegen die Umweltbibliothek entschloß, dort aber trotzdem weitergearbeitet wurde, Lesungen und Diskussionen stattfanden, zeigte sich ganz deutlich, wie anachronistisch die rigide apolitische Haltung in der Prenzlauer-Berg-Szene inzwischen geworden war. Die Stimmung in der Umwelt-bibliothek war ganz anders, als man es aus der reinen Kunst-Szene gewohnt war; und man mußte dafür keinen politisch-agitatorischen Kunst-Krampf produzieren. Die Haltung in diesem Teil des Untergrunds war einfach anders. Die Kluft zwischen denen, die vorne standen, und denen, die mit berechtigten Erwartungen kamen, gab es hier nicht. Was für die Zukunft zählt und was auch bleiben wird von der Prenzlauer-Berg-Szene, das sind viele Gedichte, Fotos, Bilder und Konzerte aus diesen Jahren, die mit Andersons Aktionen und Projekten, auf die er (und nicht nur er) immer noch so stolz ist, nichts zu tun haben; bleiben werden viele Zeitschriften, die von völlig unbelasteten Autoren-(gruppen) herausgegeben wurden (Mikado, Entwerter-Oder, Liane, Ostkreuz, KONTEXT, Anschlag u. a.); was ebenfalls unberührt bleiben wird, das sind weiterhin die Stücke von der Theater-gruppe Zinnober oder von Krause-Zwieback. Was man aber künstlerisch zum großen Teil wird abschreiben müssen (unabhängig vom Marktwert der Objekte), das sind viele der Graphik-Mappen; woran man nur mit Gruseln wird denken können, sind die vielen langweiligen, emotionslosen und eklektizistischen Performances aus dem Umkreis von Anderson oder seine eigenen Gesangsleistungen als Frontmann einer Band (sein Gesang blieb ihm nämlich trotz der Verstärker und trotz des starken Willens, etwas herauszuschreien, bezeichnenderweise im Hals stecken). Und auch der Kunst-wert aller übrigen „Kunst-Mixturen“, die unter seinem Management entstanden, ist mehr als fraglich. Nicht vergessen werden sollte schließlich: Das künstlerisch „nichtoffizielle Berlin“ oder die „nichtoffizielle DDR“ bestand nicht nur aus der Szene des Prenzlauer Bergs. In jenen alternativen Bereichen der DDR entstanden viele autonome Kunstwerke, die nicht in den Büros oder den konspirativen Wohnungen der Stasi entworfen wurden, sondern nur dank des Mutes zum Widerstehen und zur Auseinandersetzung vieler eigenständiger Individuen geschaffen werden konnten.

Fussnoten

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Jan Faktor, geb. 1951 in Prag; Studium der Datenverarbeitung; verschiedene Arbeitsverhältnisse in Prag und in der Slowakei; 1978 Übersiedlung zu seiner Frau in die DDR (Ost-Berlin); Arbeit als Kindergärtner, Schlosser, Übersetzer. Bis 1989 fast ausschließlich nur in der inoffiziellen Literaturszene engagiert. Veröffentlichungen u. a.: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin 1989; Henry’s Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 und andere positive Texte aus Georgs Besudelungs-und Selbstbesudelungskabinett, Berlin 1991; Körpertexte, Berlin 1993. Publikationen in Zeitschriften wie „Mikado“, „und“, „schaden“, „ariadnefabrik“, „Kontext“ u. a.; Beteiligung an mehreren Anthologien; Nachdichtungen gemeinsam mit seiner Frau Annette Simon.