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Von einigen meiner deutschen Augenblicke. Eine Deutschstunde aus Anlaß der Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn | APuZ 23/1994 | bpb.de

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APuZ 23/1994 Von einigen meiner deutschen Augenblicke. Eine Deutschstunde aus Anlaß der Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn Begegnungen mit unserer eigenen Geschichte Zur Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn am 14. Juni 1994 Die Gründung des Museums für Deutsche Geschichte in der DDR Ist Geschichte in Museen lehrbar?

Von einigen meiner deutschen Augenblicke. Eine Deutschstunde aus Anlaß der Eröffnung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn

Hermann Glaser

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die persönlich fundierten und formulierten Rückblicke auf einige Erfahrungen in und mit der Bundesrepublik Deutschland kreisen u. a. um die Frage, ob nach beinahe fünfzig Jahren demokratischer Entwicklung der Bruch mit der unheilvollen Vergangenheit durch Trauer-und Erinnerungsarbeit eindeutig genug vollzogen ist. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen wird sodann danach gefragt, ob eine deutsch-deutsche Identität durch offenen Diskurs und gegenseitiges Einfühlungsvermögen -jenseits illusionär-harmonisierender Eindimensionalität -erreichbar ist. Ferner: Wird bei allem Wert von Streitkultur die Notwendigkeit von Synthesis als einer Alternativen „aufhebenden“ (bewahrenden, überwindenden, weiter-und höherbringenden) Kultur, erkannt werden? Wird „Modelldenken“, das die dogmatische Utopie genauso meidet wie die orientierungslose Beliebigkeit, genügend „Nischen“ für die Zivilgesellschaft schaffen können, damit durch „Entschleunigung“ das Erproben jeweils besserer Lösungen eine Chance erhält? Solche Modelle, zu Verifikation und Falsifikation auffordemd, ermöglichen pluralen Konsens und klären jeweils ein Stück Zukunft konkret auf. Antizipatorische Vernunft bedarf des Möglichkeitsraumes. Diese Erfahrungen, Fragen und bilanzierenden Feststellungen sind ein Teil der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik, ein Ferment ihrer politischen Kultur. Der historische Rückblick darf sich aber nicht mit den Fakten allein begnügen, sondern er ist stets auch dem prekären Gleichgewicht von Offenheit und Selbstvergewisserung, das heißt letztlich von Moral und Macht, verpflichtet.

„O du mein liebes Vaterland“ war eine Verszeile, die ich von meinem Vater wohl zum ersten Mal in den Sommertagen des Jahres 1944 zitiert hörte. Von den Luftangriffen waren wir aufs Land verschlagen worden; er kam für ein paar Tage Urlaub von der „Heimatfront“ zu uns -so hieß das damals, wenn man beim Luftschutz oder anderweitig kriegsverpflichtet war. Er las den Wehrmachtsbericht aus der Zeitung vor: Die Invasion der Alliierten war geglückt -Durchbruch bei Avranches. Wir suchten den Ort auf der Landkarte und waren erstaunt, daß die alliierten Panzerspitzen bereits so tief im französischen Hinterland operierten. Wir saßen in der Gartenlaube; es war ein schöner, heißer Sommertag; Mittagsstunde; panische Stunde.

Kurze Zeit später flogen hoch am Himmel die Stahlgeschwader der amerikanischen Luftwaffe vorüber, um Städte in Thüringen und Sachsen zu bombardieren. „O du mein liebes Vaterland!“ sprach er inmitten des unheimlichen Idylls, und die Szene hat sich mir tief eingeprägt: Ironie und Wehmut eines Mannes, der im Wilhelminischen Kaiserreich geboren und aufgewachsen war, in der Weimarer Republik seine Hoffnungen enttäuscht fand und nun den Nationalsozialismus in innerer Emigration erlitt -ohne daß er sich je zu einer Aktion des Widerstandes hatte aufraffen können; wir waren froh, daß er es nicht tat, denn die Angst ging um; ein defätistischer Witz schon konnte zu einem Todesurteil führen!

Die Verszeile -vermutlich ein Konzentrat aus Gottfried Kellers Text der schweizer Nationalhymne („O mein Heimatland! /O mein Vaterland! /Wie so innig feurig lieb’ ich dich!“) -, die subjektiv anverwandelte Verszeile erwies sich als eine lyrische Bilanz, bei der sich die Ahnung von der heraufziehenden Katastrophe mit der Hoffnung paarte, daß danach, nach der Sintflut, vielleicht doch ein Leben in Freiheit und Friede möglich sei. Die Stimmung war voller Lust am Untergang.

Seit den Tagen, da der totale Krieg mit der totalen Niederlage endete -das Dritte Reich bringt sich um, die Leiche heißt Deutschland (notierte Erich Kästner in sein Tagebuch) -, habe ich in Deutschland selten gehört, daß der 8. Mai 1945 als das benannt wurde, was er objektiv war: ein Augenblick der Befreiung. Leidenschaftlich identifiziere ich mich mit Hartmut von Hentig, der in einem „Text zur eigenen Person“ feststellt: „Die Jahreszahl, die in den Geschichtsbüchern für Elend, letzte sinnlose Zerstörung, nationale Erniedrigung, persönliche Vergewaltigung steht oder für die Abstraktion , Ende des Naziregimes", des tausendjährigen Reiches -markiert eines der köstlichsten Jahre meines Lebens.“ Das kann man natürlich mißverstehen; als ob der Egoismus des „Ich-bin-noch-einmaldavongekommen“ das Mitleid mit den Scheiternden betäubt habe; denn auch nach der bedingungslosen Kapitulation gab es weitere Opfer; aber nun hatte man wenigstens die Chance eines humanen Neubeginns. Deutsch konnte es wieder werden -so Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil am 10. Mai 1945 an seine deutschen Rundfunkhörer (in einer Sendereihe der BBC) -, „der Macht Achtung, Bewunderung abzugewinnen, durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist“.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist zwar des öfteren nur deshalb so herausragend-bedeutsam in Erscheinung getreten, weil die vielen anderen Politiker und Politikerinnen das demokratisch-republikanisch Selbstverständliche nicht artikulierten; aber das verstärkt sogar noch das Gewicht seiner, inmitten eben leicht-fertiger Politik formulierten, den Dreh-und Angelpunkt bundes-republikanischer Identität ansprechenden Rede vom 8. Mai 1985 (anläßlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges in Europa): „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung ... Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

Vor den Bombenangriffen evakuiert, in einer mainfränkischen Kleinstadt bei den Großeltern mit meiner Mutter lebend -dort auch konfrontiert mit dem, was ich später als „Spießer-Ideologie“ auf den Begriff zu bringen versuchte -, hörte ich einige Wochen nach Kriegsende Beethoven; ich weiß nicht, war es nun die dritte oder fünfte oder eine andere Symphonie; meine Sozialisation ließ mich jedenfalls eindeutig eine Beethovensche Symphonie identifizieren. Ich versuchte, meine dadurch ausgelöste innere Bewegung der Verwandtschaft zu erklären, was mißlang. Doch ergriff mich die Sehnsucht nach einem anderen, eben nicht kleinbürgerlich-ländlichen Leben (auch wenn ich bis heute das Idyll schätze) so stark, daß ich, allein auf dem Fahrrad, bei den amerikanischen Kontrollposten mich jeweils als ein Junge vom nächsten Dorf ausweisend, nach Nürnberg zurückkehrte, wo mich mein Vater ängstlich erwartete. Für damalige Verhältnisse war dies eine abenteuerliche Reise. Damals, an einem wunderschönen Tag des Juni 1945, trat ich in die Pedale des klapprigen Rades mit dem Glücksgefühl des befreiten Lebens. Das „Erhabene“ lag in dem Bewußtsein, daß nun, da mit der totalen Niederlage die verhängnisvolle Herkunft beendet schien, eine verheißungsvolle Zukunft offenstand. Und da erst einige Monate vorher meine Kurzsichtigkeit entdeckt worden war und ich trotz Mangel-wirtschaft noch eine Brille hatte bekommen können, sah ich, ab Bamberg auf dem Treidelweg des Kanals dahingleitend, die Welt klar, in bislang nur geahnter Perspektive, vor mir liegen. Als ich mich Nürnberg und seiner Altstadt näherte, fand ich keine Stadt mehr vor. Meine Fortwanderung endete in einer Wüste.

Doch einige Wochen später stand ich ab vier Uhr morgens an der Kasse des notdürftig reparierten Opernhauses an, um Karten für die Iphigenie zu bekommen (um zehn Uhr war Öffnung). Dritter Rang links. Es ist mir unvergeßlich, daß neben mir eine Frau weinte, als Iphigenie, übrigens noch ganz mit dem Pathos der so lange und oft genug fatal wirksamen affirmativen Kultur, auf Thoas’ Frage, ob sie denn erwarte, daß er, der Barbar, die Stimme der Wahrheit und Menschlichkeit höre, antwortete: „Es hört sie jeder/geboren unter jedem Himmel/dem des Lebens Quelle durch den Busen rein/und ungehindert fließt..

Als die Welt endete, fing sie auch wieder an; trotz des totalen Zusammenbruchs empfand man dies so; Hoffnung und Erwartung überwogen. Den physisch darbenden, mental depravierten und politisch orientierungslos gewordenen Menschen bot sich Kultur als „Überlebensmittel“ an, das begierig, meist auf dem Weg in eine neue Innerlichkeit, ergriffen wurde. Der dumpfe Provinzialismus, der das „Dritte Reich“ bestimmt hatte, konnte nun, nachdem die westlichen Alliierten die kulturellen Fenster für den Blick nach draußen wieder öffneten, langsam überwunden werden. Die Erbschaft der Zeit war schwer genug. „Ein Volk in der Masse ohne bestimmte Form des Geschmacks, im ganzen unberührt von der moralischen und ästhetischen Verfeinerung benachbarter Kulturländer, philosophisch von konfuser idealistischer Begrifflichkeit, prosaistisch dumpf und un-pointiert, ein Volk der Praxis mit dem -wie seine Entwicklung lehrt -alleinigen biologischen Ausweg zur Vergeistigung durch das Mittel der Romanisierung oder der Universalierung, läßt eine antisemitische Bewegung hoch, die ihm seine niedrigsten Ideale phraseologisch verzaubert, nämlich Kleinbausiedlungen, darin subventionierten, durch Steuergesetze vergünstigten Geschlechtsverkehr; in der Küche selbstgezogenes Rapsöl, selbstbebrüteten Eierkuchen, Eigengraupen; am Leibe Heimatkurkeln, Gauflanell und als Kunst und Innenleben funkisch gegrölte Sturmbannlieder. Darin erkennt sich ein Volk. Ein Turnreck im Garten und auf den Höhen Johannisfeuer -das ist der Vollgermane. Ein Schützenplatz und der zinnerne Humpen voll Bock, das sei sein Element. Und nun blicken sie fragend die gebildeten Nationen an und erwarten mit einer kindlich anmutenden Naivität deren bewunderndes Erstaunen.“

Gottfried Benn, der auf diese Weise das vorausgegangene NS-Unkulturbewußtsein charakterisierte, wurde insofern zu einer der geistigen Schlüsselfiguren der Trümmerzeit, als seine Dichtung Weltflucht und Weltsucht in sich verschmolz. Auf der einen Seite sah er im Gehirn einen Irrweg, was dem weiterwirkenden Irrationalismus entsprach; auf der anderen wies er den Weg ins gelobte Land urbaner Freiheit und rationaler Welt-Anschauung. Der Lyriker, für Benn die wichtigste Spezies unter den Künstlern, könne gar nicht genug wissen, er könne gar nicht genug arbeiten; er müsse an allem nahe dran sein, er müsse sich orientieren, wo die Welt heute halte, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde stehe.

Mit Benns Ambivalenz identifizierte sich ein Teil der jungen studentischen Generation, die nicht so recht wußte, ob sie aus der Not eine Tugend machen und „innerlich“ bleiben sollte, oder ob sie die Trutzburgen der Seele verlassen, die Mauern metaphorischen Hochmuts schleifen und sich in den Strudel großstädtischer Modernität stürzen sollte. Benn artikulierte die Widersprüchlichkeiten des die Trümmerzeit prägenden mentalen Struktur-musters:

-Absage an die Eitelkeit der Welt, wobei die Introspektion durchaus auch kokette Züge trug;

-Fernweh nach einem besseren Leben (das sich z. B. an den goldenen Jahren der Weimarer Republik orientierte und die Verdumpfung durch den nationalsozialistischen Provinzialismus beklagte);

-Unterwegssein in Richtung Zukunft, das die Hoffnung auf Ankunft bald rhapsodisch, bald ironisch, bald skeptisch, bald konkretistisch durchspielte.

„O du mein liebes Vaterland!“ Ich habe in meiner Jugendzeit dieses „liebe Vaterland“ gehaßt. Die nationalsozialistische Wirklichkeit hat mich traumatisch bestimmt: Wie mit Überheblichkeit die Stärkeren die Schwachen verfolgten und verhöhnten. Wie etwa in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 den Juden die Läden und Wohnungen zerstört und ihre Möbel auf die Straßen und Höfe heruntergeworfen wurden. Wie die Kinder schrien, die Frauen, und auch die Männer, weinten ... Dieses böse Vaterland verdichtet sich für mich, auf der Suche nach der so gern verlorenen Zeit, in makabren Genrebildern; es sind Bilder von „zerbrochenen Häusern“, in denen bürgerliche Wohlanständigkeit nicht mehr wohnte; deren Fassaden aber weiterhin schmuck gehalten wurden. Drinnen wie draußen waltete das Sekundärtugendsystem; das Gute, Schöne und Wahre wurde seiner moralischen Wirksamkeit beraubt, bis nurmehr Hülsen blieben, in die man jedwede Barbarei stecken konnte.

Da waren etwa die Schulzes. Grundlage der Solidität war ein mehrstöckiges Haus aus der Gründerära, seit langem Familienbesitz. Der Großhandel für Molkereiprodukte war am Anfang nicht umfangreicher als ein Kleinhandel. Erst ein dreirädriger Hanomag, dann ein vierrädriger Elektrokarren mit hohem gelben Aufbau. Der Umsatz stieg. Der Hof war stets sauber gekehrt. Auf der Terrasse über dem Lager wurde jeden Montag die Wäsche aufgehängt. Und das Vorgärtchen und die Beete bei der Einfahrt waren stets geharkt und gesprengt, die leeren Eierkisten und Butterschachteln säuberlich rechts hinten aufgestapelt. Unterm Birnbaum wurde das Fallobst regelmäßig gelesen. Der Efeu um die Fenster war säuberlich geschnitten. Und der Sohn wuchs ins Geschäft hinein; und die Töchter bekamen solide Männer; später wurde eine geschieden. Der alte Schulze war bereits frühmorgens an der Arbeit. Milch zur Vesper und dicke gelbe Butter auf kernigem Schwarzbrot.

Und am Sonntag Familienausflug; später motorisiert. Wenn die Tür vom Lagerraum offenstand, roch es kühl-appetitlich nach Molkereiprodukten. Alles war so frisch wie die Menschen in den Heften der „Staatlichen Milchversorgung“, in denen über lange Monate hinweg die ganze Nibelungensage in

Bildern erzählt wurde. Siegfried und Kriemhild -das sah man -aßen sicher viel Butter und tranken Buttermilch; ranziger schaute Hagen drein. Es war gediegenes Glanzpapier, und hinten im Heft las man die Lobpreisung von offener und Flaschen-Frischmilch; später war es dann Magermilch, die leicht bläulich schimmerte, wenn sie aus den großen Bottichen mit der Kelle geschöpft wurde.

Eines Nachts schellte es nebenan ganz laut und lang; da unser Wohnzimmer genau dem Eingang vom Nachbarhaus gegenüberlag, machten wir das Licht aus und lauschten. Der SA-Kamerad Schulze sollte mit den Kameraden zum Großeinsatz -in einer Stunde, und alles sei geheim. Nach einer halben Stunde war er marschbereit; Schaftstiefel, Schulterriemen, Braunhemd mit Hakenkreuz-binde und auf dem weißen Haar die Mütze; Schnauzbart; er war so jovial. In dieser Nacht zerschlugen sie den Juden die Wohnungen und Läden. Am nächsten Morgen war das Braunhemd schon gewaschen und hing auf der Terrasse über dem Lager; ganz allein flatterte es im Morgen-wind; die große Wäsche war gerade erst gewesen. Schulze in seinem weißen Kittel stapelte die Eier-kisten säuberlich aufeinander, rechts hinten im Hof neben dem Birnbaum.

Die Biedermänner mit den blutigen Händen, die Schreibtischtäter mit den weißen Westen, die Mitläufer mit vorauseilendem Gehorsam, die Gleichgültigen mit dem Wegsehblick -sie machten den allergrößten Teil des Volkes im „lieben Vaterland“ aus. Hurtig vollzogen sie bei Kriegsende den „Kleiderwechsel“. Sie sind wesentlich verantwortlich für die „zweite Schuld“: die versäumte Trauer-arbeit. Sie erzogen neue Generationen zu Opportunisten; zogen Anpasser auf, Aufpasser an. Trotz der Erschütterung, die etwa das Tagebuch der Anne Frank, die amerikanische Fernsehserie Holocaust, neuerdings Steven Spielbergs Film Schindlers Liste bewirkten (neben der zeitgeschichtlichen Aufklärungsarbeit der Verlage und Medien) -essentiell hat sich die Mehrheit der Deutschen mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen nicht auseinandergesetzt.

Nach einer neuen Umfrage des Emnid-Instituts ist jeder zweite Deutsche -im Westen sind es viel mehr Menschen als im Osten -der Meinung (obwohl fast zwei Drittel der Bundesbürger in Ost und West die Zahl der ermordeten Juden mit etwa sechs Millionen nicht bezweifeln), „daß wir heute nach der deutschen Wiedervereinigung nicht soviel über den Holocaust reden, sondern besser einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen sollten“. Die Studie läßt keinen Zweifel an der fort-5 dauernden antisemitischen Grundstimmung in Deutschland zu; fast jeder Dritte zum Beispiel vertritt die Meinung, die Juden übten zuviel Einfluß auf das Weltgeschehen aus. 37 Prozent lehnen es ab, auch in Deutschland eine zentrale Gedenkstätte in Erinnerung an den Völkermord zu errichten; 28 Prozent können sich einen jüdischen Bundespräsidenten nicht vorstellen.

Im Sinne juristischer Sühne kann die Mehrheit der Deutschen voll „beruhigt“ sein. Die größten geschichtsbekannten Verbrechen, so hat es Jörg Friedrich (der sich auch sehr um die Aufarbeitung des Materials der 13 Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bemüht hat) formuliert, wurden mit dem „größten Resozialisationswerk“ abgeschlossen. Die 1958 von den Justizministern der Länder eingerichtete „Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ konnte zwar dank ihres hervorragenden und couragierten Leiters, des früheren Staatsanwalts Adalbert Rückeri, umfangreiche Ermittlungen durchführen; aber für eine Sühne war es oft zu spät. Vor allem fehlte der staatsmoralische Impetus, die notwendigen Gerichtsverfahren auch einzuleiten, um die furchtbare Schuld der vielen einzelnen (wie der Gesamtheit des deutschen Volkes) aufzudecken. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Dritten Reich wurde eine schlüssige Beweisführung schwerer. Bei „Schreibtischtätern“ war zudem das juristische Beurteilungsinstrumentarium inadäquat. (Man kann annehmen, daß 250000 bis 300000 Deutsche aktiv am Morden, sozusagen mit eigenen Händen, beteiligt waren.)

Armin Mohler hatte bereits 1962 die Schließung der zeitgeschichtlichen Archive gefordert -man müsse erst Zeit gewinnen; die war aber längst gewonnen. Den meisten Verbrechern kam man zwar auf die Spur, man belangte sie aber nicht.

Deutsches Doppelleben reüssierte angesichts einer an Erinnerungs-wie Trauerarbeit uninteressierten Öffentlichkeit und Politik. Jüngst wurde wieder einmal, am Beispiel des Juristen und bayerischen Kultusministers Theodor Maunz, deutlich, wie sehr die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung vom Ungeist der opportunistischen Heuchelei und Lüge zersetzt war und wohl noch ist. Schreibtischtäter blieben, man könnte seit Hans Globke Fall um Fall aufführen, in einem erschreckenden Maße ehren-werte Mitglieder der Gesellschaft. Und nicht nur die Schreibtischtäter fanden weite Unterstützung. Man erinnere sich, welche Hilfe der Massenmörder Dr. Joseph Mengele fand, als er in Südamerika untertauchte; man denke überhaupt an die Fluchtaktionen vieler nationalsozialistischer Verbrecher, die, auch mit Hilfe antisemitischer Kirchenvertreter (mit Rom als Vermittlungszentrale), gelangen.

Tempi passati? Keineswegs. Einer der wichtigsten brandstiftenden staatsrechtlichen Biedermänner, Carl Schmitt, erlebt zur Zeit eine Renaissance -gerade bei einer Justiz, deren Unfähigkeit zur trauernden Reflexion der eigenen unheilvollen Vergangenheit erst kürzlich wieder der Frankfurter Kongreß in Erinnerung an den Auschwitz-Prozeß vor dreißig Jahren und an die damaligen (weitgehend erfolglosen) Bemühungen des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer um Klärung der Justizmorde im Dritten Reich dokumentierte.

Die Abschlußsätze des „Oratoriums in 11 Gesängen“ in Die Ermittlung von Peter Weiss, der sein Material dem Auschwitz-Prozeß entnahm, werden weiter intoniert werden; die „roten Teppiche“ für den staatsmännischen Empfang der Urheber politischer, z. B. ethnozentrischer, Untaten und Massenmorde liegen bereit -es muß nur alles „vorüber“ sein:

„Wir alle das möchte ich nochmals betonen haben nichts als unsere Schuldigkeit getan selbst wenn es uns oft schwerfiel und wenn wir daran verzweifeln wollten Heute da unsere Nation sich wieder zu einer führenden Stellung emporgearbeitet hat sollten wir uns mit anderen Dingen befassen als mit Vorwürfen die längst als verjährt angesehen werden müßten.“

Das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ -von den westlichen Alliierten initiiert, von einem Verfassungskonvent in Herrenchiemsee vorbereitet, vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitet wie verabschiedet und am 23. Mai 1949 verkündet -war keineswegs „bewegt von der Hoffnung aller Deutschen“. Diese Formulierung, wie sie der Grundsatzausschuß im Parlamentarischen Rat für die Präambel des Verfassungswerkes vorgeschlagen hatte (bei der endgültigen Fassung verzichtete man dann darauf), spiegelt aber mit ihrem „edlen Pathos“ die Gesinnung der demokratischen Kräfte, die endlich Wirkungsmöglichkeiten bekamen. Vor allem die Grundrechte -im natürlichen Recht wurzelnde, vom positiven Recht nicht geschaffene, sondern diesem vorgegebene Menschenrechte -machten deutlich, daß hier ein Staat und eine Gesellschaft geschaffen werden sollten, die auf einem ethischen Fundament basierten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ob eines solchen Optativs müßte doch eigentlich jeder in Verfassungspatriotismus „erschauern“: tief ergriffen begreifen, daß es sich lohnt, in stetem Bemühen die Ideen des Rechtsstaates, des Sozialstaates, des Kulturstaates vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Das sollte nicht -wenn nötig -von scharfer Kritik abhalten. Nachtgedanken schärfen die Sensibilität für die Tagesarbeit. Nähe über Distanz. Trotz allem -und da ist oft viel an berechtigter Verdrossenheit -ist meine Verbundenheit mit diesem Staat unerschüttert geblieben. Wie könnte man diese Verbundenheit auch aufgeben, wenn man sich der bösartigen Gegenwelt vor 1945 erinnert?

Meine Allergie gegenüber denjenigen ist stark, die diese Demokratie aus tiefgreifender Gleichgültigkeit oder ideologischer Voreingenommenheit heraus monoton attackieren -ohne jede Liebe, ohne jede Zuneigung zu dem, was sie doch auch trägt. Aber ich erschrecke auch, wenn ich bedenke, daß eben dieser Staat und seine Gesellschaft, vor allem seine Familien und Schulen, solche Kälte hervorgebracht haben und ständig weiter (re-) produzieren.

Dennoch bin ich optimistisch, wenn ich das moralische Klima, die geistige Situation von heute mit derjenigen vor fünfzig oder sechzig Jahren vergleiche, da man doch kaum einen aufgeklärten Kopf finden, ein integres Verhalten erleben, ein offenes Wort hören konnte; der Geist nicht dort, wo er wollte, sondern nur dort, wo er sollte, wehte. Es mag schon sein, daß die moralische Widerstandskraft nachläßt, wenn es einem gut oder zu gut geht. Aber diejenigen, die meist selbst in vollen Zügen den Wohlstand dieses Staates nutzen und ihn konstant diffamieren, gehen mir genauso auf die Nerven wie diejenigen, denen ihre abendländische Überheblichkeit aus allen Poren schwitzt. Ich hatte genug Möglichkeit, monströse Kulturheuchelei zu erleben; aber wenn man auf der anderen Seite zu viel Frustrationsaggressivität erfährt, gewinnt man selbst einem Satz wie „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ eine gewisse Sympathie ab. -Der „Jargon der Eigentlichkeit“ widerte mich stets an; inmitten des „Jargons der Dialektik“ tut manchmal freilich ein „einfaches“ gutdeutsches Wort recht wohl. Der Leerlauf des Historismus konnte mich bis zum Ekel reizen; doch der geschichtslose Dogmatismus, der dann den Westen charakterisierte, warf mich auf die Tradition zurück. Das warenästhetische „Frischwärts“ der Jugend flößt mir Widerwillen ein; das Altern der Avantgarde bereitet mir einen gewissen Genuß.

Im Tagebuch einer Schnecke von Günter Grass heißt es: „Nur wer den Stillstand im Fortschritt kennt und achtet, wer schon einmal, wer mehrmals aufgegeben hat, wer auf dem leeren Schneckenhaus gesessen und die Schattenseiten der Utopie bewohnt hat, kann Fortschritt ermessen.“

Doch auf den „Schattenseiten der Utopie“ zu wohnen, war nicht besonders attraktiv. Die protestierende, dadurch zunächst reüssierende linke Jeunesse doree (links schreiben, rechts dinieren) kam auf dem propagierten langen Marsch durch die Institutionen nicht wirklich voran. Sieht man von der kleinen Gruppe derjenigen ab, die in den Terrorismus abtrieben, so war die Sogkraft des ursprünglich verhaßten Systems mit seinen Karriereanreizen, vor allem auch des warenästhetisch gestylten schöneren Lebens so groß, daß man sich über verschiedene Zwischenstationen rasch aus dem Engagement zurückzog und gerne wieder in das Establishment integrierte -in linken Boutiquen und Kneipen sich der verflossenen großen Revolution nostalgisch erinnernd.

Hatten in der Zeit der Studentenrevolte Kunst und Ästhetik nur eine geringe Rolle gespielt -die Zeit der „schönen Selbsttäuschungen“ habe ein Ende, meinte Hans Magnus Enzensberger 1967 -, so wurde in den siebziger und achtziger Jahren Kultur wieder zu einem wichtigen Element der Selbstfindung, was die Innerlichkeit der Trümmerzeit in anderer Form erneut erstehen ließ. Kommunikation und Sozialisation wurden gewissermaßen privatisiert. „Beziehungskisten“ und Orgasmusschwierigkeiten beschäftigten junge Menschen mehr als politische und gesellschaftliche Fragestellungen. „Wie auf einer endlosen Wendeltreppe jagen sie im Gebäude der eigenen und fremden Konflikte hinauf und hinunter. Sie sind in einer Hetze, die kaputtmacht. Sie sind Jäger und Gejagte in einem. Besonders aktiv werden sie, wenn ihnen jemand zu nahe kommt, emotional oder körperlich. Dann fangen sie nervös und ängstlich an, ihre Schwierigkeiten herunterzuleiern, als ob sie eine tibetanische Gebetsmühle drehten.“ (Jörg Bopp) „Tunix“ wurde zur beliebten Parole. Man klammerte sich an den objektiven Faktor Subjektivität, wobei Narziß als neuer Sozialisationstyp entdeckt wurde.

Die Ambivalenz der dann folgenden, wieder extrovertierten Postmoderne hat Jürgen Habermas als „neue Unübersichtlichkeit“ charakterisiert. Das Potential des utopischen Denkens, das Gegenwart wie Zukunft auf humane Ziele hin zu strukturieren vermöge, sei zurückgegangen. Postmoderner Beliebigkeitskult durchwirbelt die Misere und kreiert bewußtloses Glück. Nach Georg Hensel würde Luthers Verweigerung des Widerrufs heute -im Gefolge der inzwischen weltberühmten Parole des Philosophen Paul Feyerabend: „Anything goes“ -lauten: „Hier stehe ich, ich kann auch anders.“ Gedankliche Anstrengung ist degoutant. Geliebt wird wieder der Dandy, dessen mokanter Charme sich vor allem darin gründet, daß er an nichts glaubt, sich über nichts aufregt und nichts bewegen will. Zum Dandy paßt stets ein Fin de siede. Nur die Topoi wechseln: im Rokoko der Park mit Rotunde, Ende des 19. Jahrhunderts das Boudoir, heute die Boutique. Das Gemeinsame: die Unterordnung der Wahrheit unter den Reiz. Plaisir. „Als Plaisir ist der Mensch Subjekt. Das heißt: So wenig wie das Faktum des Denkens kann das Faktum des Plaisir bestritten werden, ob es nun mit richtigen oder mit unrichtigen Vorstellungen, mit lauteren oder mit unlauteren Mitteln operiert. Plaisir ist Plaisir.“ (Niklas Luhmann) „Behübschung“ heißt die Parole. Und: „Nach uns die Sintflut!“ Diese aufzuhalten, hat man keinen besonderen „Bock“. Theorie ist „out“, Praxis ist „in“; erkenntnisleitendes Interesse -was soli’s ...

Die postmoderne Jugendkultur, so Bernd Guggenberger, ist geprägt durch die Absage an alles Visionäre und Utopische, an alles Ferne und Hehre, an Ordnung und Sinn, an Ziel und Zukunft, an Idyllen und Ideen. Man ist, weil man ißt; und man ißt, was schmeckt. Und wem der „Big Mac“ näher ist als die „Große Verweigerung“ (Herbert Marcuse), der scheut sich nicht, dies auszusprechen. „, Wir sagen ja zur modernen Welt', tönt die Freiwillige Selbstkontrolle 4, , liebt, was Euch kaputtmacht 1 ... Wenn man Plastik und Beton eh’ nicht wegkriegt (und Denver und Dallas und Mc Donalds und Mickymaus) -dann ist es am besten, man fährt darauf ab!“

Postmoderne Kunst: Die Konservativen sind richtig glücklich, daß nun überall draufloserzählt, -gemalt, -musiziert wird und „Botschaften“ nicht mehr gefragt sind. Die Taube bei Patrick Süskind ist keine Friedenstaube, die ein Manifest im Schnabel trägt; sie entspricht nur noch den narrativen Erwartungen: Sie ist eine Taube. Die Ästhetisierung der Kunst kompensiere als spezifisch moderne Ersatzverzauberung die moderne Entzauberung der Welt, meinte schon Max Weber. Dieser Trend erreicht offensichtlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt.

Die Lust an der Verantwortungs-losigkeit und die Absage an die Bemühung, den Menschen „weiterzubringen“ (durch geistige Herausforderung), macht postmoderne Kunst zu einem wichtigen Faktor kapitalistischer Vermarktungsstrategien.

Andy Warhols Losung: „All is pretty“ schließt ein, daß alles verkäuflich ist. „Die Kunst der Postmoderne in der Rolle des Handlangers bei der affirmativen Zurschaustellung dessen, was ohnehin so und nicht anders ist, Kunst als PR-Agentur des Bestehenden, zuständig für dessen Putz, Reklame, Zierat, Kosmetik.“ (Peter Niebaum) So ist es durchaus signifikant, daß landauf, landab, souffliert von geschickten Galeristen, die extensive Subventionierung bildender Kunst mit dem Argument gefordert wird, daß ihre Präsentation in Kunstsammlungen, Kunsthäusern, Kunstmuseen einen wichtigen Standortvorteil bei der Ansiedlung wirtschaftlicher Unternehmen verheiße. HighTech umgibt sich mit Soft Art; eine Ökonomie, die in Richtung Zweidrittelgesellschaft zunehmend auf Sozialdarwinismus rekurriert, baut sich mit Hilfe postmoderner Kunst eine abschirmende Fassade, die Transparenz durch Blendwerk ersetzt.

Posthistorie impliziert das Gefühl bzw. die Über-zeugung, daß von Geschichte eigentlich nichts mehr zu erwarten sei. In sich geschlossene Kreisläufe funktionieren weiter, Veränderungen aber erscheinen unwahrscheinlich, man richtet sich im Festgefügten, Gegebenen ein. Die „Wende“ mit folgender Vereinigung hat freilich die erstarrten Verhältnisse wieder (etwas) zum Tanzen gebracht.

Nach Homer hat Odysseus bei den Phäaken den Sänger Demodokos aufgefordert, die Geschichte von der Eroberung Trojas zu berichten. Als der seiner Bitte nachkommt und die Geschichte von der List des Odysseus, dem hölzernen Pferd, vorträgt, da beginnt Odysseus zu weinen. Im Lied des Demodokos -so Peter Bürger bei seiner Deutung der „Tränen des Odysseus“ -sei der Held der eigenen Vergangenheit als einer Welt, in die er nicht mehr einzugreifen vermag, begegnet. „Der Sänger nimmt ihm sein vergangenes Tun und sein Wissen davon ... Die Erzählung, und nur sie, ist fortan der Ort der Wahrheit. Odysseus wird erzählt. Das Lied holt ihn ein, überholt ihn, und er bleibt zurück als einer, der sein eigenes Zurückbleiben beweint.“

Was Odysseus erlebt, ist der Lauf der Welt (er registriert dies freilich mit besonderer Empfindsamkeit): Das Subjekt, gealtert, wird hinsichtlich seiner Mitwirkungsmöglichkeit „enteignet“; es hat Glück, wenn sein Tun noch in der „Erzählung“ weiterlebt, und sei es nur für eine kurze Zeit -denn nicht nur (wie Friedrich Schiller geradezu optimistisch feststellt) das Gemeine geht, sondern sehr viele gute Taten fallen klanglos in den Orkus hinab. Die gegenwärtige Situation der Bundesrepublik wirft aber viel gewichtigere Fragen auf, als es die persönliche „Enteignung“ jeweils bedeutet: -Wird der demokratisch-freiheitliche Geist der Bundesrepublik erhalten und weiter tradiert werden, oder wird sich das Zündeln rechtsextremer Kräfte zum Flächenbrand ausweiten? -Wird es gelingen, die Option der sozialen Marktwirtschaft im Sinne eines ethischen Utilitarismus (das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl anstrebend) wieder so zu konkretisieren -z. B. durch einen auf lange Zeit wirksamen Lastenausgleich daß das geeinte Deutschland aufgrund wirtschaftlicher Stabilität keinen Nährboden für die Feinde der Demokratie mehr liefert? Wird vor allem der Skandal der Arbeitslosigkeit beseitigt werden können, indem man z. B. weitgehend die zu deren Milderung notwendigen, bald 150 Milliarden DM für die Bezahlung von Arbeit verwendet -und zwar auf dem Human-Sektor, wodurch Sekundärprävention vermieden werden kann, d. h. mit Hilfe von Primärprävention die dafür benötigten Ressourcen einzubringen und damit auch kollektive Frustration wie Frustrationsaggressivität abzubauen wären. -Wird die „Zivilgesellschaft“ in der Lage sein, die Korruption des politischen Lebens (mit einem hemmungslosen, der demokratischen Gesittung hohnsprechenden Amigo-Egoismus) so zu „verarbeiten“, daß eine innere Erneuerung der Parteien möglich und die für antizipatorische Vernunft so wichtige repräsentative Demokratie -bei Stärkung basisdemokratischer Elemente -nicht nur erhalten, sondern revitalisiert wird? -Wird der bereits seit längerem sich vollziehende Generationenwechsel -die Ablösung derjenigen, die aus der bitteren Erfahrung des Dritten Reiches heraus das Fundament für eine rechtsstaatliche Demokratie legten und sie über Jahrzehnte gestalteten, die trotz vieler gegenläufiger Strömungen (welche für die „zweite Schuld“ verantwortlich sind) im Sinne des von Theodor W. Adorno formulierten neuen kategorischen Imperativs, daß Auschwitz sich nicht mehr ereignen dürfe, dachten und handelten -, wird dieser vom üblichen Generationenwechsel essentiell sich abhebende Ablösungsprozeß „aufhebenden“ Charakter haben: das Erreichte bewahren, es fort-, weiter-und höherentwickeln? -Wird das durch „Westernization" (auch „Americanization“) geprägte kulturelle und zivilisatorische Savoir-vivre bundesrepublikanischer Lebensart vom Provinzialismus mit seiner weiterwesenden Spießer-Ideologie erdrückt oder unterminiert werden -zumal die Sehnsucht nach Regression aus unglücklichem Bewußtsein ins bewußtlose (Konsum-) Glück auch in der früheren Bundesrepublik hinter wechselnden Fassaden ausgeprägt vorhanden geblieben ist? Oder wird es gelingen, das deodorante, von postmoderner Beliebigkeit bestimmte „Frischwärts“ wieder zur geistigen Strömung werden zu lassen? Auf antizipatorische Vernunft käme es an und auf eine solche, die um Synthesis (die Begrenzungen der Subsysteme überwindend) sich bemüht. Das Entweder-Oder wäre in Richtung auf das „Und“ (Titel eines Aufsatzes von Wassily Kandinsky 1927) zu überwinden. Die Frage lautet (klassisch gesprochen): Wie kann Wahrheit mit Schönheit, Technik mit Kunst, Wirtschaft mit Politik usw. kombiniert werden? Welche Realitäten, Rationalitäten werden möglich, wenn die kommunikativen Codes aufeinander angewendet, miteinander verschmolzen werden und dabei ein Weder-Noch, ein Drittes, Neues entsteht, das wiederum Neues ermöglicht und auf Dauer stellt?

Wer in der Demokratie schläft, erwacht in der Diktatur. Es ist zu spät, wenn man die Not-wendigkeit des eigenen, persönlichen Handelns erst dann begreift, wenn das Haus des Nachbarn brennt.

Wir haben in der Bundesrepublik freilich bereits den Zustand erreicht, daß wir die den demokratischen Staat in seinen Grundfesten erschütternden Brand-und Mordanschläge gegen Minderheiten nicht nur imaginierend befürchten, sondern real-existierend erleben müssen. Wir haben nicht nur den Anfängen demokratischer Gefährdung, sondern einem bereits fortgeschrittenen Erosionsprozeß der Republik zu wehren. „Niemand möge glauben, daß die Grundvoraussetzungen der Demokratie -Gewaltenteilung, Pluralismus, Herrschaft des Rechts -für ihr Funktionieren genügen. Zwar sind diese Strukturen unerläßlich, aber sie reichen nicht aus. Es kommt auf das gesamtgesellschaftliche Klima an, auf die Gesinnung der Bürger und ihren staatsbürgerlichen Anstand. Institutionen und Gesetze allein tun es nicht. Entscheidend ist das Verhalten eines jeden einzelnen.“ (Marion Gräfin Dönhoff) Lyrisch formuliert: „Freundbruder aus Wolfsland wir wollen/Unsere Blicke anzünden an etwas glauben.“ (Sarah Kirsch)

Auf den Odysseus-Mythos rekurrierend: Die Tränen der nun zurücktretenden und in die Vergangenheit „versetzten“ verfassungspatriotischen Akteure der Bundesrepublik Deutschland werden versiegen, wenn die neuen, jungen Subjekte des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, insgesamt gesellschaftlichen Lebens die Zukunft aus der Herkunft dieses für die deutsche Geschichte einmaligen, humane Hoffnung beflügelnden Staatswesens weiterentwickeln. Das wäre als „schwierige Arbeit“ mit einem heiteren Pessimismus, einem engagierten Skeptizismus, einem (nicht von Odysseus, sondern von Sisyphos abgeschauten) zweifelnden Enthusiasmus zu leisten.

Der Rückblick auf einige meiner „deutschen Augenblicke“ ist für mich immer -nicht nur bei dieser Gelegenheit des persönlich-autobiographisch eingefärbten Nachdenkens über den Sinn eines „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ -von einem dichterischen Sonntags-wort Hans Magnus Enzensbergers, das am Werktag zu beachten wäre, überwölbt:

„... ungeduldig im namen der zufriedenen verzweifeln

geduldig im namen der verzweifelten an der Verzweiflung zweifeln

ungeduldig geduldig im namen der unbelehrbaren lehren.“

Fussnoten

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Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 1928; Honorarprofessor für Kulturvermittlung an der Technischen Universität Berlin; von 1956 bis 1990 Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg. Mitglied des PEN; Vorsitzender des Deutschen Werkbundes. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit J. Lehmann und A. Lubos) Wege der deutschen Literatur (2 Bände); Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert; Spurensuche. Deutsche Familienprosa; Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (3 Bände); Behagen und Unbehagen in der Kulturpolitik; Bildungsbürgertum und Nationalismus. Politik und Kultur im Wilhelminischen Deutschland; Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne.