Wege aus der Krise: Wahlreform und Referenden in Italien
Peter Weber
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Zusammenfassung
Die fünfzigjährige Dauerherrschaft der Democrazia Cristiana basierte auf dem Mangel an einer praktikablen Regierungsaltemative und mündete schließlich in den Ausverkauf des Staates an die Parteien. Die politische Blockierung durch dieses Herrschaftssystem konnte erst mit der Wahlrechtsreform durch das Instrument des Referendums überwunden werden. Die Einführung des Mehrheitswahlrechts hatte weitreichende Folgen für das italienische Parteiensystem, da die politische Klasse auf die Erfordernisse der neuen Situation in keiner Weise vorbereitet war. Die Referenden wurden von den Wählern gezielt genutzt, um die Parteien für inr politisches Versagen in die Schranken zu weisen. Auch wenn die neue Regierung durch die erfolgten Veränderungen in der realen Verfassung des Landes nun eine wesentlich tragfähigere Legitimationsgrundlage hat, um den Rückstau notwendiger Reformen endlich aufzuarbeiten, werden die Referenden auch in Zukunft weiter eine wichtige Rolle bei der Modernisierung des italienischen Staates spielen.
I. Die blockierte Demokratie
Auffälligste Anomalie des politischen Systems in Italien ist das Fehlen eines normalen demokratischen Wechselspiels von Regierung und Opposition. Die fast fünfzigjährige ununterbrochene Dauerherrschaft der Christdemokraten und ihrer Verbündeten hatte schließlich zur Folge, daß die italienischen Parteien ihre Funktion als Motor der gesellschaftspolitischen Entwicklung aus den Augen verloren unfl statt dessen ihre Energien zunehmend darauf verwendeten, alle verfügbaren staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Ressourcen in einer großen Koalition des Ausverkaufs untereinander aufzuteilen. Erst mit der Wahlrechtsreform wurde der Weg und mit der Institution des Referendums das Instrument gefunden, dieses immer deutlicher zum Hemmschuh für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Italiens gewordene Herrschaftssystem aus den Angeln zu heben.
1. Parteienmacht und Parteienversagen
Als wichtigste Ursache für das Ausbleiben eines Machtwechsels in über 45 Nachkriegsjahren wurde zumeist die sperrige Präsenz der Kommunisten als stärkste Oppositionspartei angeführt, deren Machtübernahme aus vielerlei Gründen -besonders auch internationaler Natur -ausgeschlossen war. Bedeutsamer war in diesem Zusammenhang aber die weit zurückreichende Tradition, nach der das politische System Italiens letztlich immer vom Zentrum aus regiert wurde. Nach dreißig Jahren unbestrittener Dominanz der Democrazia Cristiana (DC) in dieser Position war es zu Beginn der achtziger Jahre dem Parteichef des Partito Socialista Italiano (PSI) Bettino Craxi gelungen, in die christdemokratische Domäne einzubrechen und eine strategische Schlüsselstellung in der italienischen Politik einzunehmen. Die neue Konkurrenz der beiden Bündnispartner DC und PSI um die politische Mitte hatte eine lähmende Wirkung auf die Politik der seit 1981 regierenden Fünf-Parteien-Koalition. Die Hegemonie des Zentrums gegenüber den Flügeln wurde durch diese Entwicklung aber nur noch verstärkt, und das herrschende Regierungssystem bewies mit dieser Wandlung deshalb erneut seine außerordentliche Fähigkeit zur Kooptation einer stets hinreichenden Zahl oppositioneller Kräfte, wodurch die Oppositionsparteien geschwächt und ein Regierungswechsel ausgeschlossen wurde.
Diese vielfach untersuchte Problematik war jedoch nicht der einzige Aspekt, der dazu führte, daß man im Zusammenhang mit Italien von einer „blockierten Demokratie“ sprach. Deutlich zeigte sich in den achtziger Jahren auch die offensichtliche Unfähigkeit des politischen Systems zu der vielfach angemahnten Strukturreform der Institutionen. Die Blockade ging in diesem Falle von der »beneidenswerten* 1 Machtstellung der Parteien aus, die es sich in Staat, Gesellschaft und Staatswirtschaft bequem eingerichtet hatten und deshalb überhaupt kein Interesse daran haben konnten, diese Lage durch unvorsichtige Reformen zu gefährden.
Während mit dem Zugriff auf die Staatswirtschaft, das öffentliche Bauwesen und das Gesundheitssystem die erforderlichen finanziellen Ressourcen der Parteien garantiert wurden, sicherte die weitgehende Kontrolle des staatlichen Fernsehens, der Presse, der Universitäten und der Justiz den notwendigen Konsens in Form von Wählerstimmen. Von Kritikern als Partitocrazia bezeichnet, schloß dieses System der absoluten und allumfassenden Parteienherrschaft auch den Partito Comunista Italiano (PCI) als wichtigste Oppositionspartei nicht gänzlich aus. Mit dem Begriff des Consociativismo wurde die Tatsache beschrieben, daß die Kommunisten bei vielen politischen und sozialen Entscheidungen eingebunden wurden und deshalb den meisten Gesetzesvorlagen, vor allem den ausgabe-wirksamen, ihre Zustimmung im Parlament nicht verweigerten. Nicht anders als die Regierungsparteien hatten daher auch die Kommunisten kein allzu großes Interesse an einer Änderung dieser Situation, die es ihnen ermöglichte, in relativer Unverantwortlichkeit vom weiteren Ausverkauf des Staates an die Parteien und ihre Klientel zu profitieren. Da jede Reform der Staatsverfassung, die gegen diese Praktiken nur sehr unzureichend Schutz geboten hatte, von den Parteien selbst im Parlament befürwortet werden mußte, waren alle seit Beginn der achtziger Jahre aus der Gesellschaft und von kritischen Politikern vorgetragenen Reformversuche zum Scheitern verurteilt. Die Parteiführungen waren dabei so geschickt, keineswegs jede Reform von vornherein auszuschließen: Unter der Ägide des christdemokratischen Parteichefs Ciriaco De Mita wurden im Gegenteil endlose Reformdiskussionen geführt, die jedoch alle an der Unvereinbarkeit der gegensätzlichen Positionen scheiterten
Der ergebnislose Parteienstreit über selbst kleinste Reformprojekte hatte zur Folge, daß sich eine immer stärkere Parteienverdrossenheit der Bürger aufbaute. In den Mittelpunkt des Wunsches nach Veränderung rückten daher seit Ende der achtziger Jahre immer mehr die Parteien selbst, deren Herrschaft vor allem von den Bürgern im Norden zunehmend als unproduktive und bedrückende Belastung ihrer Freiheit und wirtschaftlichen Initiative empfunden wurde 21. Die Widerstände des Parteiensystems gegen diese Schuldzuweisung drängten die Reformer bald zu einer immer radikaleren Analyse, und in der Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der politischen Spielregeln richteten die Parteienkritiker ihre Bemühungen schließlich auf das Wahlrecht.
Als einziges wirksames Reforminstrument außerhalb der absoluten Kontrolle der Parteien hatte sich inzwischen das in der Verfassung verankerte „abrogative Referendum“ (Art. 75) bewährt. Seit der ersten Abstimmung im Jahre 1973 über das Scheidungsgesetz war die Entwicklung dieses Verfassungsinstruments vor allem von dem kleinen Partito Radicale (PR) vorangetrieben worden. Mit ihren zahlreichen Referendumsinitiativen war es den Radikalen und ihrem charismatischen Parteiführer Marco Pannella wiederholt gelungen, wichtige Entscheidungen auch gegen den erklärten Willen der herrschenden Parteien durchzusetzen. Als die Parteienkritiker in den etablierten Parteien Ende der achtziger Jahre die Unmöglichkeit einer parlamentarischen Wahlrechtsreform einsehen mußten und nach einem alternativen Weg suchten, trafen sich diese beiden Bewegungen. Der Schlüssel zur Reform Das Wahlrecht der italienischen Republik war als einfaches Gesetz am 10. März 1946 verabschiedet worden und wurde seitdem nur zweimal, 1948 und 1956, leicht verändert. Der Versuch der Regierung De Gasperi (DC) zu einer weiter gehenden Reform blieb 1953 ohne Erfolg. Angesichts der scharfen ideologischen Konfrontation nach dem Krieg hat das Verhältniswahlsystem in Italien in den ersten Jahrzehnten sicherlich zur Stabilisierung der Demokratie beigetragen. Anfang der siebziger Jahre wurde dann aber erstmals deutliche Kritik von politikwissenschaftlicher Seite geübt, die sich zu diesem Zeitpunkt besonders gegen den Mechanismus der mehrfachen Präferenzstimmen richtete. Dieses System, das nur für die Abgeordnetenkammer angewendet wurde, gab den Wählern zusätzlich zu ihrer Stimme für die Partei die Möglichkeit, auf der dazugehörigen Kandidatenliste (im Wahlkreis) bis zu vier Präferenzen auszudrükken. Die tatsächliche Reihenfolge der Kandidaten auf jeder Liste ergab sich damit erst durch das Votum der Wähler.
Diese auf den ersten Blick sehr demokratisch anmutende Möglichkeit, direkten Einfluß auf die Zusammensetzung der Parlamentsfraktion zu nehmen, wurde in den großen plurinominalen Wahlkreisen (in denen je nach Größe bis zu 54 Sitze zu vergeben waren) in Wirklichkeit jedoch durch eine Reihe unvorhergesehener Praktiken außer Kraft gesetzt. Der Mißbrauch beschränkte sich dabei nicht nur auf den direkten Wahlbetrug und die Kontrolle der Stimmabgabe durch Mafia oder Camorra (mit Hilfe eines auf der vierfachen Präferenz aufbauenden Kombinationsschlüssels). Ebenfalls weit verbreitet (und dabei theoretisch durchaus legal) war, daß das unberechenbare Bürgervotum in den größeren Parteien durch Kandidatenbündnisse umgangen wurde, in denen man sich gegenseitig die Präferenzen zuschanzte. Während die lokalen Spitzenkandidaten durch die Verfügung über die zweite, dritte oder vierte Präferenzstimme ihrer Wähler oft völlig überraschend ihre weithin unbekannten, aber gefügigen „Kofferträger“ ins Parlament hievten, hatten unabhängige Kandidaten fast nie eine Chance. Die meisten Abgeordneten mußten ihre Wahl daher nicht den Wählern danken, sondern den Parteien und ihren Correnti (Strömungen, Parteiflügeln) -mächtigen wahlpolitischen Zweckbündnissen, mit deren Formierung Ende der fünfziger Jahre die ohnehin starke Parteienzersplitterung noch einen entscheidenden Schritt weiter vorangetrieben worden war. Die so entstandenen Seilschaften waren in der Regel von bemerkenswerter Stabilität und spiegelten damit den vor allem im Süden ohnehin verbreiteten Klientelismus auch im Parlament wider
Als eine Gruppe von Reformern unter Führung des Christdemokraten Mario Segni im Februar 1990 erstmals drei Referenden über die politische Verfassung des Landes beantragte, mit denen eine Reform der Wahlsysteme für die beiden Parlaments-kammern und die Kommunalversammlungen angestrebt wurde, war deshalb eines der Ziele auch die Zerschlagung des politischen Klientelismus durch Abschaffung der mehrfachen Präferenz. Über das schließlich angestrebte Wahlrecht bestand unter der Initiatorengruppe, der angesehene Politiker aus fast allen Parteien angehörten, freilich durchaus Uneinigkeit. Einen gemeinsamen Nenner bildete allerdings der Wunsch nach einem Ende der Parteienzersplitterung; weitere Zielvorstellungen waren eine stärkere Personalisierung der Wahl und eine konkrete Möglichkeit der Wähler, effektiv über die künftige Regierung zu entscheiden.
Nachdem bei der Zulässigkeitsprüfung für die Referenden durch das Verfassungsgericht zwei der vorgeschlagenen Fragestellungen abgewiesen wurden, blieb schließlich nur das Referendum über die Abschaffung der mehrfachen Präferenzstimmen bei der Wahl zur Abgeordnetenkammer übrig. Nach einer kurzen Kampagne kam es am 9. Juni 1991 zur Abstimmung, bei der mit 62, 5 Prozent eine überraschend hohe Wahlbeteiligung erzielt wurde. Ungeachtet einer breiten Ablehnungsfront führender Politiker und der wichtigsten Fernsehsender befürworteten die Italiener in diesem Referendum mit 95, 6 Prozent die Reduzierung der Präferenzstimmen von vier auf eine. Diese scheinbare „Mini-Reform“ erwies sich schließlich als eine wirkliche „politische Bombe,... nicht nur als Instrument, um das Übel des Wahlbetrugs abzuschaffen und das Spekulantentum der klientelistischen Seilschaften zu sprengen, sondern auch als der erste Schritt in Richtung auf den uninominalen Wahlkreis“
Die Folgen dieser Reform zeigten sich bereits im Wahlkampf Anfang 1992, als die verschärfte Konkurrenz um die einzige verbliebene Präferenz-stimme zu einer deutlichen Zunahme der innerparteilichen Konflikte führte. Nach den Wahlen vom 5. April aber, bei denen die Regierungskoalition aus DC, PSI, PLI (Partito Liberale Italiano) und PSDI (Partito Socialdemocratico Italiano) mit 48, 8 Prozent der Stimmen eine knappe Parlamentsmehrheit erzielte, wurde die veränderte Situation unübersehbar, als eine Reihe von Abgeordneten sich von ihren bisherigen Correnti lossagten und danach erstmals eine ernsthafte Motivation an den Tag legten, die im Wahlkampf gemachten Versprechungen auch in die Tat umzusetzen. Das Regime der bisher allmächtig waltenden Fraktions-und Unterfraktionsführungen zeigte sich gegenüber diesem neuen Selbstverständnis fast hilflos, und schon nach wenigen Wochen hatten sich die Correnti ohne allzu großes Aufsehen aufgelöst. Das Ergebnis der Präsidentenwahlen und der Regierungsbildung im Mai und Juni 1992 widersprach dann allen minuziös ausgehandelten und seit langem festgelegten Personalplanungen der alten Parteiführungen
3. Die letzte Debatte der Altparteien
Angestoßen durch die drängenden Stellungnahmen von Staatspräsident Francesco Cossiga (DC) hatten die Parteien bereits zu Beginn des Jahres 1991 ihre unterschiedlichen und zumeist unvereinbaren Vorstellungen zur Verfassungs-und Wahlrechtsreform neu formuliert. Während der Regierungskrise Anfang 1991 war das Thema zwar -wie gewohnt -aus koalitionspolitischen Gründen ausgeklammert worden, doch nach dem Erfolg des Referendums zur einfachen Präferenz und nach dem politischen Erdrutsch der Parlamentswahl vom 5. April 1992 konnte die zentrale Bedeutung dieser Reformen von niemandem mehr in Frage gestellt werden. Dies galt um so mehr, als der von Mario Segni ins Leben gerufene Paktfür die Reform und einige andere Gruppen inzwischen eine Reihe weiterer Referenden beantragt hatten, darunter erneut je eine Fragestellung zum Wahlsystem für den Senat und zur Wahl der Bürgermeister.
Auf Anregung des neuen Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro (DC) wurde deshalb im September 1992 eine gemeinsame Kommission der beiden Kammern zur Verfassungsreform gebildet, die sogenannte Bicamerale, die sich in vier Arbeitsgruppen mit den Themenkreisen „Staatsform“, „Regierungsform“, „Wahlgesetz“ und „System der Garantien“ beschäftigte. Die heftigsten Auseinandersetzungen ergaben sich -wie zu erwarten -bei der Diskussion über das Wahlrecht. Wer immer versuchte, diesen grundlegenden Mechanismus der Demokratie, durch den Parteien und Wähler miteinander in Kontakt treten und Millionen individueller Präferenzen in eine politische Entscheidung umgewandelt werden, zu verändern, sah sich im ausdifferenzierten Parteiensystem Italiens einer äußerst komplexen Interessenkoalition gegenüber, an der bisher noch alle Reformansätze gescheitert waren. Nur die drohenden Referenden brachten die Parteien nun dazu, wirklich ernsthaft nach einer Lösung zu suchen. Die jeweiligen Vorschläge blieben dabei aber weiter vornehmlich an den eigenen Wahlchancen ausgerichtet, und die Ausgangspositionen waren deshalb zunächst größtenteils unverändert Der zu diesem Zeitpunkt mit rasanter Beschleunigung einsetzende politische Wandel ließ zuverlässige Voraussagen über die möglichen Konsequenzen der verschiedenen Reformprojekte jedoch immer fragwürdiger werden.
Sogleich zum Scheitern verurteilt war das erste Anliegen der christdemokratischen Unterhändler in der Kommission, die unter dem Druck ihrer Hinterbänkler das System der plurinominalen Wahlkreise und der Präferenzen zu verteidigen suchten. Aber selbst die weiteren Rückzugslinien der Christdemokraten ließen sich schon bald nicht mehr halten. Unter dem Eindruck der gerade in diesen Monaten über die etablierten Parteien hereinbrechenden Enthüllungen im Mailänder Korruptionsskandal kam es zu dem typischen Phänomen, daß die soeben noch als revolutionäre Forderungen aufgestellten Positionen im raschen Lauf der Ereignisse schließlich als Instrumente zur Verteidigung der bestehenden Zustände erschienen
Die Verhandlungen fanden daher unter erheblichem moralischen Druck der öffentlichen Meinung statt, und den Ausschlag gab endlich, daß die wichtigsten der noch angesehenen Politiker wie Mario Segni (DC), Marco Pannella (PR), Claudio Martelli (PSI), Achille Occhetto (PDS) und Umberto Bossi (Lega Nord) sich für ein uninominales Mehrheitswahlsystem als Grundprinzip aussprachen.
Kontroversen bestanden danach noch in der Frage, wie weit dieses Mehrheitswahlsystem durch eine proportionale Quote ergänzt werden sollte. In ihrem Abschlußdokument legte sich die Bicamerale Anfang 1993 darauf fest, daß 60 Prozent der Sitze über ein uninominales Mehrheitswahlsystem (in einer entsprechenden Zahl von Ein-Mann-Wahlkreisen) und 40 Prozent über ein Verhältnis-wahlsystem vergeben werden sollten. Bis zuletzt umstritten blieb aber die Frage nach der Zahl der Wahlgänge. Eine Einigung wurde hierüber nicht mehr erzielt, da inzwischen die Referenden zur Abstimmung standen. Zumindest beim Wahlgesetz für den Senat war der Versuch der Parteien, der Volksabstimmung durch die parlamentarische Gesetzgebung noch rasch zuvorzukommen, an den Gegensätzen zwischen den Parteien gescheitert. Die Diskussion in den anderen Arbeitsgruppen der Bicamerale kam zwar teilweise zügiger voran; auch hier gelang es jedoch nicht, die Reformprojekte in konkrete Gesetzesvorschläge zu verwandeln, bevor der Erfolg der Referenden den Reformbemühungen der Parlamentarier in der laufenden Legislatur den Wind aus den Segeln nahm
II. Die neue Republik
Erfolgreicher war in der Zwischenzeit die Reform der Bürgermeisterwahlen verlaufen. Unter dem Druck des vom Komitee Segni beantragten Referendums, in dem die Ausdehnung des Mehrheitswahlrechts auf alle Kommunen gefordert wurde, einigten sich die Parteien kurz vor der Abstimmung auf einen Kompromiß, der dieses System auf alle Kommunen unter 15000 Einwohner aus-dehnte und für die größeren Städte eine Stichwahl zwischen den beiden stärksten Kandidaten bestimmte. Das diesbezügliche Referendum wurde daher wenige Wochen vor dem Abstimmungstermin vom Verfassungsgericht kassiert.
1. Die Referenden vom 18. April 1993
Die durch die intensive und letztlich erfolglose Diskussion um die Wahlrechtsreform in der Bevölkerung geweckten Erwartungen (u. a. größere Transparenz der Regierungsbildung, Ende der Korruption und Austausch der politischen Klasse) konzentrierten sich schließlich auf das von Mario Segni beantragte Referendum zum Wahlrecht für den Senat. In der italienischen Verfassung ist jedoch lediglich ein abrogatives (gesetzaufhebendes) Referendum vorgesehen -ein eher stumpfes Instrument, das es den Reformern deshalb nicht ermöglichte, das Wahlgesetz gänzlich nach ihren Vorstellungen umzuformen. Durch die Streichung eines Zusatzes im geltenden Wahlrecht war es aber möglich, das Verhältniswahlsystem für den Senat in ein Mehrheitswahlrecht umzuwandeln, in dem nur noch eine Quote von 25 Prozent der Sitze für eine proportionale Korrektur Vorbehalten blieb. In der Kampagne vor der Abstimmung waren die Parteien dann erneut enormem moralischem Druck ausgesetzt; vor allem die von den Skandalen am stärksten getroffenen Kräfte sahen sich deshalb gezwungen, gegen ihre eigentlichen Interessen für die Referenden einzutreten, um nicht jegliches Ansehen im Wahlvolk zu verlieren
Das Referendum zur Wahlreform wurde schließlich von 82, 7 Prozent der Wähler befürwortet (bei einer relativ hohen Wahlbeteiligung von 77 Prozent). Zur Abstimmung standen insgesamt acht Referenden, und im Gefolge des ersten fanden auch alle übrigen Anliegen eine Mehrheit, selbst die relativ umstrittene Straffreiheit bei geringem Drogenbesitz (55, 3 Prozent).
Am deutlichsten fielen jedoch die Ergebnisse bei den Fragestellungen aus, die sich direkt gegen die Parteienmacht richteten. Durch Volksbeschluß wurde den italienischen Parteien so die staatliche Parteienfinanzierung gestrichen (90, 3 Prozent Ja-stimmen) und die usurpierte Verfügungsgewalt über die Bestellung der Direktoren in den großen Staatsbetrieben (90, 1 Prozent) sowie in den Banken und Sparkassen (89, 8 Prozent) entwunden. Die Wähler haben damit deutlich gemacht, daß sie die Referenden ganz gezielt als ein Instrument verstehen und einsetzen, um die Parteien für ihr politisches Versagen zu bestrafen und für ihre Machtarroganz in die Schranken zu weisen
2. Das neue Mehrheitswahlrecht
Das durch das Referendum geschaffene Wahlgesetz für den italienischen Senat sieht vor, daß 237 Senatoren (75 Prozent) in einer gleichen Zahl von Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Die unterlegenen Kandidaten haben jedoch noch eine zweite Chance bei der Verteilung der restlichen 78 Sitze (25 Prozent), die anschließend in den Regionen proportional auf die Parteien ent sprechend ihrem Gesamtergebnis verteilt werden
Um dieses Wahlsystem anwenden zu können, war zunächst eine völlige Neuordnung der Wahlkreise erforderlich, die von der Regierung des neuen Ministerpräsidenten Carlo Azeglio Ciampi vorgenommen wurde. Unumgänglich war nach dem erfolgreichen Referendum aber auch eine Anpassung des Wahlsystems für die Abgeordnetenkammer geworden, für die ein entsprechendes personalisiertes Mischsystem geschaffen werden sollte. Zu einer simplen Übernahme der für den Senat getroffenen Regelung wollten die Parteien sich jedoch nicht durchringen, da sie fürchteten, daß ihre Rolle dadurch auf ein Minimum beschränkt worden wäre. Die Mehrheit beider Kammern entschloß sich deshalb zur Einführung einer Zweit-stimme, mit der die Wähler ihre parteipolitische Präferenz unabhängig von den Kandidaten zum Ausdruck bringen können.
Die parlamentarische Diskussion über diese Reform wurde über weite Strecken von den Christdemokraten bestimmt, und das Wahlgesetz für die Abgeordnetenkammer wurde schließlich nach dem Vorsitzenden der zuständigen Parlamentskommission Sergio Mattarella (DC) benannt, der schon den diesbezüglichen Vorschlag der Bicamerale ausgearbeitet hatte. Aufgrund der im Laufe der Beratungen erfolgten Modifikationen gegenüber dem Wahlgesetz im Senat ergab sich deshalb bei der Schlußabstimmung in beiden Kammern die paradoxe Situation, daß die Kräfte, die am stärksten gegen eine derart weitgehende Reform gestritten hatten, jetzt fast geschlossen für das neue Wahlgesetz stimmten, während viele derjenigen, die sich für die Referenden eingesetzt hatten, nun dagegen stimmten oder sich enthielten, darunter auch Ma-rio Segni, der sofort ankündigte, daß er seinen Kampf für ein anderes Wahlrecht fortsetzen werde.
3. Die Parteien nach der Reform
Nach über vierzig Jahren scheinbar unwandelbarer Stabilität des italienischen Parteiensystems, in denen die Konkurrenz zwischen den Parteien nur in sehr begrenztem Umfang an den Rändern der abgesteckten Wählerreservate stattfand und die gesamte politische Kultur vom ideologisch verbrämten Proporzdenken durchdrungen wurde, kam der plötzliche Übergang zu einem Mehrheitswahlrecht einem revolutionären Umsturz des gesamten politischen Koordinatensystems gleich, der zwangs-läufig weitreichende (wenn nicht sogar traumatische) Veränderungen nach sich ziehen mußte. Die nunmehr unvermeidlich gewordene Aggregation der zersplitterten Kräfte kam deshalb nach der Reform zunächst nur unter enormen Schwierigkeiten in Gang, da die meisten Altpolitiker sich immer noch von ihren ideologischen Idiosynkrasien lenken ließen.
Die Abwendung der Wähler von den etablierten Parteien hatte jedoch bereits vor der Reform eingesetzt und wurde durch die Korruptionsskandale und das neue Wahlrecht nur noch beschleunigt. Eine besondere Rolle als Katalysator kam in diesem Prozeß den im Juni und im Dezember 1993 in vielen Städten stattfindenden Kommunalwahlen zu, bei denen die Parteien durch die erstmals angewendete Direktwahl der Bürgermeister spätestens in der Stichwahl zur Aggregation gezwungen wurden
Erfolgreich erprobt wurden in diesen Wahlgängen vor allem verschiedene Formen eines linken bzw. progressiven Bündnisses. Auf der Gegenseite aber schien zunächst auch die Erfahrung der Niederlage nur wenig zu helfen, die bestehenden scharfen Gegensätze zwischen den Parteien zu überwinden, und erst in letzter Minute gelang es Anfang Februar 1994 dem Medien-Untemehmer Silvio Berlusconi, die wichtigsten Kräfte des bürgerlichen Lagers (die Regionalbewegung Lega Nord, die aus der Neofaschistischen Partei [MSI] hervorgegangenen Alleanza Nazionale, die Liberalen und Teile der Christdemokraten sowie seine eigene Bewegung Forza ltalid) in ein lockeres Wahlbündnis zu zwängen. Die Mehrheit der Christdemokraten und paradoxerweise auch der Hoffnungsträger Mario Segni entzogen sich jedoch ganz der Logik des neuen Wahlrechts und verharrten auf einer wenig plausiblen Position zwischen den beiden Lagern -wie zum Beweis für die verbreitete „Sehnsucht nach einem System, das wie eh und jeh zum Zentrum zurückkehren möge“
4. Die Bewährung des neuen Wahlrechts
Über die Kandidaturen in den Wahlkreisen wurde danach in allen drei Lagern auf wenig demokratische Art und Weise, zumeist von oben herab in direkten Verhandlungen zwischen den am jeweili-gen Bündnis beteiligten Parteiführungen entschieden. Die Ausnahmesituation und der Zeitmangel ließen wohl keine andere Lösung zu; auf die Dauer wird dieses Verfahren jedoch den in einem Mehrheitswahlsystem besonders bedeutsamen Kriterien der Basisdemokratie und Transparenz sicher nicht genügen können
Im Wahlkampf präsentierten sich den Italienern damit schließlich zwei einander gegenüberstehende Lager, deren politisches Angebot aus vielerlei Gründen noch zu wünschen übrigließ. Dennoch waren auch Fortschritte gegenüber früheren Auseinandersetzungen zu erkennen, da die Parteien endlich auf die gewohnten ideologischen Scheingefechte verzichteten und sich erstmals darauf konzentrierten, ihre Lösungsvorschläge für die realen Probleme des Landes vorzustellen. Eine entscheidende Neuerung stellte ferner die ausdrückliche Kandidatur Silvio Berlusconis für das Amt des Ministerpräsidenten dar, die den Wahlkampf über weite Strecken bestimmte. Während die Bewegung Berlusconis durch die Zugkraft ihres populären Spitzenkandidaten in der Wählergunst nach oben getragen wurde, zeigte die Allianz der Progressisten sich außerstande, durch eine entsprechend herausgestellte Gegenkandidatur ebenfalls die von den Wählern geforderte Klarheit zu schaffen und minderte damit ihre Erfolgsaussichten.
Das Wahlergebnis konnte schließlich auf den ersten Blick erneut als ein typisches Beispiel für die Widersprüchlichkeit der italienischen Politik gedeutet werden, da die relative Mehrheit der Stimmen für die Koalition Berlusconis durch das neue Wahlrecht nur in der Abgeordnetenkammer in eine klare absolute Mehrheit der Sitze umgesetzt wurde. In Wirklichkeit enthielt dieses Ergebnis aber dank der erfolgten Festlegungen im Wahlkampf dennoch einen unmißverständlichen Regierungsauftrag für den Kandidaten Berlusconi, was selbst von führenden Oppositionspolitikern anerkannt wurde und schließlich auch von dem zunächst unwilligen Verbündeten Umberto Bossi (Lega Nord) zugestanden werden mußte
Erstmals seit 1948 hat damit eine Parlamentswahl in Italien unmittelbar Klarheit über die von den Wählern gewünschte Koalition und die Person des Regierungschefs geschaffen, wozu das neue Wahlrecht sicher einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Mit dieser Entscheidung, die sich in ihrer Direktheit und Transparenz den vergleichbaren Mechanismen in Deutschland und Großbritannien annähert, wird sich die Regierung Berlusconis bei ihrer Arbeit nun auf eine wesentlich stärkere Legitimationsgrundlage stützen können als ihre Vorgänger
III. Ausblick
Die Referenden und die Wahlrechtsreform haben den Weg freigemacht, und die weiter fälligen Reformen -allen voran die Sanierung des Haushalts-defizits, die bereits begonnene Privatisierung der Staatskonzerne und die administrative Dezentralisierung -können nun von der Regierung und dem neuen Parlament mit größerer Autorität vorangetrieben werden. Die hinhaltenden Widerstände in den verkrusteten Institutionen sind freilich immer noch beachtlich und werden wohl auch den Reformern dieser Regierung noch zu bremsen wissen. Zusätzlicher Druck wird aber dadurch ausgeübt, daß inzwischen bereits vierzehn weitere Referenden beantragt wurden, die -sofern sie die formale Prüfung durch das Kassationsgericht und die Zulässigkeitsprüfung durch das Verfassungsgericht überstehen -voraussichtlich im kommenden Frühjahr zur Abstimmung kommen werden Auch eine weitergehende Verfassungsreform, die wohl nur unter Hinzuziehung der Opposition möglich sein wird, steht auf dem Programm der Koalition und soll durch den zuständigen Minister Francesco Speroni (Lega Nord) vorbereitet werden. Zu den Prioritäten gehören hier u. a. die Direktwahl des Ministerpräsidenten und die Einführung eines föderalistischen Staatsaufbaus. Die Reform des Regierungssystems ist dabei im Zusammenhang mit den durch die „friedliche Revolution“ bereits erfolgten Veränderungen der realen Verfassung des Landes zu sehen. Wie bei den Kommunalwahlen hat sich auch bei den Parlamentswahlen die Nominierung des Kandidaten für das Amt des Regierungschefs vor Beginn des Wahlkampfs als ein besonders wirksames Instrument der politischen Aggregation erwiesen (im alten System war eine derartige Festlegung fast immer vermieden worden, um innerparteiliche Konflikte zu vermeiden und den Manövrierspielraum der Parteiführung in den Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen nicht zu beeinträchtigen). Die Integrationskraft dieses Mechanismus -bei dem den konkurrierenden Kandidaten im Idealfall alsdann die Rolle der Wahlkampflokomotive für das die jeweilige Kandidatur unterstützende Parteienbündnis zufällt -dürfte unter den spezifischen Bedingungen der zersplitterten und desorientierten Parteienlandschaft in Italien heute fast noch stärker einzuschätzen sein als die des Mehrheitswahlrechts. Das erfolgreiche Beispiel Silvio Berlusconis hat daher de facto bereits einen der deutschen Kanzlerwahl nicht unähnlichen Mechanismus zur Wahl des Regierungschefs eingeführt.
Keineswegs abgeschlossen ist auch die Debatte über das Wahlsystem, das von vielen als letzte sperrige Hinterlassenschaft des alten Regimes empfunden wird. Die jüngsten Reformbemühungen richten sich dabei auf die Eliminierung der proportionalen Quote, wobei die Zielvorstellungen jedoch auseinandergehen, da die Progressisten um den Partito Democratico della Sinistra (PDS), zuletzt auch unterstützt von der Lega Nord, weiterhin für einen zweiten Wahlgang nach französischem Vorbild sind, während die Bewegung Berlusconis sich in Anlehnung an die von der Radikalen Partei beantragten Referenden für ein reines Mehrheitswahlrecht nach englischem Vorbild ausgesprochen hat.
Ein abschließendes Urteil über die durch die Referenden in Gang gekommenen Veränderungen in Italien muß insgesamt sicher positiv ausfallen. Das neue Wahlgesetz hat die Erneuerung der politischen Klasse und der politischen Kultur begünstigt, die seit Jahren ungebrochene Tendenz zur weiteren Parteienzersplitterung erstmals gestoppt, damit den politischen Prozeß sichtbar vereinfacht und das Votum der Wähler in eine handlungsfähige Parlamentsmehrheit umgesetzt. Die Aufarbeitung der durch das vorhergehende Regime akkumulierten Reformdefizite sollte daher nun endlich möglich sein. Dennoch bleibt auch ein Rest von Ungewißheit, der ein Fortdauern einiger wenig demokratischer Traditionen der ersten Republik anzeigt, deren Erbe in der politischen Kultur des Landes wohl noch lange nachwirken wird. Ob die „blockierte Demokratie“ sich nun wirklich in eine Alternanzdemokratie verwandelt hat, ist noch offen. Entscheidend wird es sein, wie die politischen Akteure in Regierung und Opposition auf die neuen Herausforderungen durch das Mehrheitswahlsystem zu reagieren wissen.
Peter Weber, geb. 1961; seit 1993 Lektor an der Fakultät Politische Wissenschaften der Universität Pisa; Korrespondent der Wochenzeitung Das Parlament. Veröffentlichungen: Zeitschriftenaufsätze zur italienischen Politik in Deutschland, Österreich und Italien.
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