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Politikwahrnehmung und Politikvermittlung in den neuen Bundesländern Was kann politische Bildung zur Festigung der Demokratie leisten? | APuZ 45-46/1994 | bpb.de

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APuZ 45-46/1994 Politikwahrnehmung und Politikvermittlung in den neuen Bundesländern Was kann politische Bildung zur Festigung der Demokratie leisten? Politische Erwachsenenbildung als Ort öffentlicher Verständigung Argumente für ein erweitertes Selbstverständnis Die politische Beteiligung junger Menschen: (k) ein Thema für die politische Bildung? Artikel 1

Politikwahrnehmung und Politikvermittlung in den neuen Bundesländern Was kann politische Bildung zur Festigung der Demokratie leisten?

Hans-J. Misselwitz

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Öffentlichkeit wird bei der Beurteilung der politischen Entwicklung in Ostdeutschland die PDS mehr beachtet als die dramatisch gesunkene Bereitschaft zur Beteiligung an Politik, wofür die hohe Wahlenthaltung ein Indikator ist. Die Symptome der Entfremdung von Politik lassen sich mit Blick auf die Entwicklung nach 1990 nicht mehr allein auf das Konto der politischen Sozialisation in der DDR verbuchen. Eine Mischung aus allgemeiner Parteienverdrossenheit, antiwestdeutschen Ressentiments und zu hohen Erwartungen, die in die demokratische Staatsform gesetzt werden, haben ihre Ursachen nicht allein in Repräsentationsdefiziten ostdeutscher Interessen im Einigungsprozeß. Das verlorene Vertrauen in die Politik hängt mit dem Dilemma zusammen, in das der Rechtsstaat als gewollte Rechtsordnung einerseits und als Instrument des Systemwechsels andererseits geraten ist, insbesondere in Fragen des Eigentumsrechtes und des rechtlichen Umgangs mit der DDR-Vergangenheit. Die politisch-psychologische Vollendung der deutschen Einheit steht an einem Scheideweg. Die geschichtlichen Erfahrungen im Osten erfordern einen Umgang mit der DDR-Geschichte als Bestandteil gemeinsamer deutscher Geschichte. Der Schlüssel dafür liegt in der Bewertung der NS-Diktatur, in deren Folge die Teilung auch ein Ausdruck der Unversöhnlichkeit der politischen Spaltung der deutschen Gesellschaft war. Nach dem friedlichen Ende des kommunistischen Experiments ist die deutsche Einheit die historische Chance, an die Stelle der einstigen Unversöhnlichkeit einen demokratischen Konsens zu setzen, der im gemeinsamen Widerstand gegen die NS-Diktatur bereits angelegt war. Die mittelfristig bleibenden Probleme des Strukturumbruches in Ostdeutschland erfordern neue Wege und Instrumente der Einbeziehung der jetzt auf politische Distanz gegangenen Gruppen. Politische Bildung, verstanden als eine Veranstaltung der Kommunikation von Politik, ist in den neuen Bundesländern als eine Strukturinvestition zu fördern. Hier könnte ein Netzwerk freier Träger eine neue Form politischer Öffentlichkeit bieten und als Orte der politischen Bildung und Partizipation die Lücke zwischen etablierter Politik und Bürger schließen helfen.

Der demokratische Herbst 1989 feiert dieser Tage in den Medien sein Jubiläum. Von seinen ursprünglichen Forderungen nach gesellschaftlichem Dialog und freien Wahlen wurde nur letztere erfüllt. Und auch da tut offenbar nur eines not, nimmt man die Sprüche der politischen Parteien ernst -Mobilisierung der Wählerschaft: „Jetzt geht’s los!“ „Damit wir es schaffen!“ „Diesmal geht’s um alles!“

Der Eindruck, es gehe nicht zuerst um politische Zustimmung, sondern vor allem um Gefolgschaft, ist kaum zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, scheint Politikvermeidung allemal angeraten. Ist der Kredit für politische Lösungen verbraucht?

Bei den vorgezogenen Landtagswahlen im Osten enthielt sich der neue Souverän nahezu mehrheitlich der Stimme. Oder anders ausgedrückt: Er wählte die Partei der Nichtwähler zur stärksten Partei. Mehr Menschen, als dem Ansehen demokratischer Institutionen zuträglich ist, haben sich im Osten von der Politik abgewandt. Wie lange verträgt sich das mit den Legitimitätsgrundlagen demokratischer Politik? Haben wir eine Demokratie ohne ausreichend Demokraten, eine Republik mit einem „halbsouveränen Volk“? Die Rehabilitierung der Politik, die Ermutigung zu politischer Partizipation ist eine der wichtigsten künftigen Aufgaben. Politische Bildung -was immer darunter zu verstehen ist -ist zumindest gefordert, Impulse für neues politisches Engagement zu geben.

I. Symptome der Entfremdung von Politik

Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen enthielten sich zwischen 42 und 45 Prozent der Wahlberechtigten der Stimme Vor dem Hintergrund dieser hohen Wahlenthaltung zielt die geräuschvolle Debatte um die Erfolge der PDS an den eigentlich besorgniserregenden Symptomen der politischen Entwicklung vorbei. Trotz beträchtlicher Zugewinne beträgt die faktische Wählerklientel der PDS lediglich 10 bis 12 Prozent des ostdeutschen Wahlvolkes. Um so erstaunlicher ist allerdings, wie wenig Aufmerksamkeit der Tatsache gewidmet wird, daß die Wähler der PDS zusammen mit den Nichtwählern mehr als die Hälfte der Ostdeutschen ergeben, die mit ihrem Verhalten bekunden, daß sie sich von der westlich geprägten und dominierten Parteienlandschaft nicht vertreten fühlen.

Selbst in Sachsen und Brandenburg, wo die Kompetenz der Regierenden unumstritten ist, haben die klaren Wahlsieger in absoluten Zahlen nur wenig an Kredit gewonnen. Obgleich mit komfortablen Mehrheiten ausgestattet, können sich die Ausnahmeerscheinungen Biedenkopf und Stolpe auf lediglich etwas mehr als 30 Prozent aktive Zustimmung im Volk berufen. Dabei haben sie von einer immer noch starken Orientierung der ostdeutschen politischen Kultur auf Konsens, Ausgleich und Verständigung profitiert. Ob man dies, wie teilweise geschieht, als vordemokratisches Relikt abtut oder als rationale Entscheidung begrüßt -es handelt sich jedenfalls um ein Politik-muster, das schon 1990 westdeutsche Politikangebote und -anbieter begünstigte. Politisches Vertrauen orientiert sich, wenn überhaupt, eher an Personen als an Programmen. Angesichts der erdrückenden Probleme neigt der Wähler weniger zum Wechsel bzw. zu Alternativen. Sachkompetenz geht vor Polemik, wovon insbesondere die jeweils Regierenden profitieren -aber auch die PDS, die über genügend qualifizierte personelle Ressourcen verfügt. Die Sieger von Dresden und Potsdam trugen überdies selbst der Entpolitisierung des Wahlkampfes Rechnung, indem sie sich als integrierende Personen präsentierten und auf landsmannschaftliche Wir-Gefühle setzten. Das Erbe der politischen Sozialisation in der DDR spielt im Zusammenhang mit der merklichen Distanz der Bürger zur Politik eine wichtige, aber keine alleinige Rolle. Als Konsequenz der Auflösung des systembedingten politischen Orientierungsrahmens ist bei den Ostdeutschen das Erfahrungswissen aus allen drei Dimensionen des Politischen tiefgreifend entwertet worden. Im Bereich der politischen Ordnungsvorstellungen (polity) gibt es zwar eine Fülle von Analogien aus dem realsozialistischen Vorwissen, aber praktisch kaum eine brauchbare. Die staatlichen, rechtlichen und politischen Institutionen und Organisationsnormen sind allesamt neu, obwohl die terminologischen Parallelen eine scheinbare Identität vorgeben. Diese Umnormierung erzeugte sowohl Hilflosigkeit als auch falsche Erwartungen.

Die Erfahrungen mit praktischer Politik (politics), Interessenartikulation und -durchsetzung, Legitimitätsbeschaffung und Organisationswissen, Kompromiß-und Konsensbildung stammen, wenn überhaupt vorhanden, aus eher privaten, das heißt aus nicht öffentlich zugänglichen oder beeinflußbaren Zirkeln -ob aus Freundeskreis oder Gremien von Organisationen oder Parteien. Die Übertragung dieser Erfahrungen führt heute ebenfalls zu Mißverständnissen in bezug auf eine öffentliche Streitkultur. Konkurrenz und auch Dissens stehen unter dem Verdacht bloßen Machtgerangels und inhaltsleeren Verfahrensstreites, statt als Mittel der Differenzierung politischer Motive und Rollen anerkannt zu werden. Demgegenüber steht „Sachpolitik“ (policy) hoch im Kurs. Man erwartet vor allem Sachlösungen. Fachkompetenz rangiert bei weitem höher als politisches Geschick.

Für die offensichtlich wachsende Distanz zur Politik sind Entwicklungen verantwortlich, die nicht nur für Ostdeutschland typisch sind. Die Motive und die soziale Herkunft der politikverdrossenen Nichtwähler sind überdies durchaus nicht einheitlich Besondere Aufmerksamkeit muß allerdings der auffällig geringen politischen Partizipationsbereitschaft und Wahlbeteiligung bei jungen Leuten unter 30 Jahren im Osten gelten Obwohl Wahlbeteiligung theoretisch immer mit politischem Interesse korreliert, ist die ostdeutsche Tendenz der Wahlenthaltung nicht in erster Linie ein Zeichen für sinkendes Interesse an Politik, da sich dieses nur wenig verändert hat Wahlenthaltung erscheint vielmehr als Reflex auf das, was sich den Ostdeutschen als Politik anbietet.

Empirische Erhebungen zeigen in Ostdeutschland ein seit 1990 ständig und alarmierend schwächer werdendes Potential für eine aktive Bereitschaft an demokratischer Mitgestaltung sowie ein dramatisch gesunkenes Ansehen des pluralistischen Parteiensystems: -In Parteien, Bürgerinitiativen oder Kommunen wenn auch nur sporadisch mitzuwirken, gaben 1991 23, 9 %, 1992 noch 15, 2 % und 1993 nur noch 13, 1 % der Befragten an. Das heißt, das aktive Potential in der Bevölkerung halbierte sich beinahe. -Auf die Frage, wie wichtig es sei, in einer Gesellschaft mit pluralistischem Parteiensystem zu leben, antworteten im Jahr 1990 89, % mit „sehr wichtig“ oder „wichtig“. 1991 waren nur noch 49, 6%, 1992 45, 5 % und 1993 schließlich nur noch 43, 1 % von der Wichtigkeit eines pluralistischen Parteien-systems überzeugt. Für „weniger wichtig“ bzw. „unwichtig“ votierten 1993 31, 2%. 1990 waren dagegen nur 2, 4 % dieser negativen Meinung gewesen. -Im Verhältnis zu den Parteien drückt sich im Vergleich zwischen 1991 und 1993 eher eine wachsende Ambivalenz denn eine klare Zuordnung aus. Ausgesprochen starke Sympathieeinbrüche hatte die F. D. P. zu erleiden (von 24, 3% auf 12, 3%). Die Sympathie für die CDU sank von 24, 8 % auf 17, 1%, aber auch die SPD gab von 36, 5% auf 31, 5 % nach. Allein die PDS konnte sich von 11, 6 % auf 16, 7 % verbessern. Das konkrete Wahl-verhalten deckte sich jedenfalls nicht mit den Sympathiewerten. Eindeutig ist allerdings, daß die Republikaner mit Sympathiewerten um 2 % kein Umfeld haben, das größer ist als die Zahl ihrer Wähler. Der Anteil derer, die die Republikaner offen ablehnen, ist weitaus am größten und hat sich von 1991 bis 1993 von 73 % auf 81 % noch verstärkt. Demgegenüber verzeichnet die PDS eine deutlich zurückgehende Ablehnungsfront von 51 % auf 41 %. Der Anteil der Indifferenten, d. h. keine Meinung zur jeweiligen Partei Äußernden, hat im gleichen Zeitraum gegenüber allen Parteien tendenziell zugenommen und schwankt zwischen 40 und 60 % bei den einzelnen Parteien. Gegenüber den Republikanern bleibt die Zahl der Unentschiedenen stabil bei 11-12 % 5). Die spezifischen Ursachen dieser Entwicklung im Osten können wegen der seit 1990 zu beobachtenden Tendenz nicht länger einseitig als Erblasten oder Bewußtseinsrückstände verrechnet werden. Die scheinbar reibungslose Übernahme der westlichen politischen Wertorientierungen und Institutionen, wie sie 1990 im ostdeutschen Meinungsspektrum und Wahlverhalten zum Ausdruck kam, bedeutete offensichtlich nicht, daß sie durch entsprechende Formen politischer Willensbildung und Selbstorganisation gedeckt bzw. getragen wäre. Der Transfer der in der Bundesrepublik bewährten Institutionen, Regelsysteme und Organisationsformen nach Ostdeutschland hat zwar für äußerliche Stabilität gesorgt, aber gleichzeitig erhebliche Repräsentationsdefizite hinterlassen Bis auf wenige Ausnahmen erscheint eine eigene politische Vertretung durch Einbindung in die westdeutsch dominierten Parteien, Gewerkschaften und Verbände neutralisiert oder durch ihre politische Vergangenheit diskreditiert. Auf den wichtigsten Positionen der neuen ostdeutschen Administrationen dominieren „Westimporte“, die mit ihren Entscheidungsroutinen und Problemdeutungen zwar die Standards der westdeutschen politischen Klasse auf den Osten übertrugen, aber damit zugleich einem Kartell westdeutscher Interessenpolitik zugerechnet werden.

Diese Tatsache der Dominanz westdeutscher Eliten im ökonomischen, politischen und administrativen Bereich Ostdeutschlands hat einem tiefen und langfristig nachwirkenden antiwestdeutschen Ressentiment in Ostdeutschland Nahrung gegeben. Unabhängig von der politischen Einstellung sehen große Teile der Bevölkerung einen Zusammenhang zwischen westdeutscher Interessenpolitik und ostdeutscher Misere. Die Rede von der westdeutschen Kolonialisierung Ostdeutschlands greift aber nicht nur als pauschales Deutungsmuster. In ihr ist auch ein kollektiver Entlastungsversuch und Rückzug aus politischer Verantwortung -einschließlich der aus der Vergangenheit resultierenden Mitverantwortung -angelegt. Dieser treibt in der Tat paradoxe Blüten.

II. Politische Spezifika der ostdeutschen Systemtransformation und ihre Folgen für die Politikwahrnehmung

Heute, vier Jahre nach der Vereinigung, steht fest, daß die Kosten, die Fristen und die Problemtiefe der Systemtransformation unterschätzt wurden. Doch nicht die gigantischen finanziellen Kosten sind das eigentliche langfristige Problem des ostdeutschen Weges der Systemtransformation, sondern seine soziostrukturellen Folgen und deren politische Bedeutung.

Die schlagartige Ausdehnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik auf das Gebiet der neuen Länder bedeutete, daß damit der Rahmen und die Grenzen der gesellschaftlichen Umgestaltung vorgegeben wurden und wegen der ostdeutschen Minderheitensituation nicht verändert werden konnten. Damit wurde gleichzeitig für die Ostdeutschen der Wechsel in ein auf hohem Standard funktionierendes System vollzogen. Der Systemwechsel und die Vereinigung sind gleichzeitige Ereignisse. Dieser Schritt ist nur mit einer kollektiven Emigration zu vergleichen -die psychologischen Folgen eingeschlossen.

Die übernommene Ordnung brachte für den einzelnen und die Allgemeinheit Vorteile, die im Vergleich mit den Entwicklungen in anderen post-kommunistischen Staaten immer wieder hervorgehoben zu werden verdienen. Hierfür haben sich die Ostdeutschen in ihrem Wahlverhalten im Jahr 1990 auch erkenntlich gezeigt. Der Preis, der dafür zu entrichten ist -eine Rechtsordnung zu übernehmen, die für bestimmte Spezifika der DDR-Sozialisation blind ist -, geht aber nicht nur zu Lasten einzelner Gruppen der Gesellschaft, sondern auch des Ansehens des Rechtsstaates. Damit sind die Vorteile der ostdeutschen Umgestaltung auch in ein unausweichliches Dilemma verstrickt: Der Rechtsstaat und seine Institutionen sind nicht mehr das Ziel, sondern ein Instrument der Gesellschaftstransformation.

Das Vorhandensein rechtsstaatlicher Regeln, das Vertrauen in die Rechtsförmigkeit der Umgestal5 tung bedeutete einerseits einen unmittelbaren Gewinn an Freiheit und Rechtssicherheit. Andererseits stellte die Anwendung des westdeutschen Rechtssystems einen abrupten Verlust an Kompetenz und Status in all den Fällen dar, in denen die westliche Gesetzgebung keine Rechtstitel für erworbene ostdeutsche Anrechte vorsah. Die Ostdeutschen mußten sich also nicht nur in neue Verhältnisse einordnen, sondern sie mußten sich auch unterordnen, wo die Westdeutschen auf Grund der in diesem System erworbenen Rechte die besseren Karten hatten. Dies bezieht sich insbesondere auf die Anerkennung von Qualifikationen, allgemeinen und privaten Eigentumstiteln sowie sozialen Ansprüchen.

Zwei besondere Erfahrungen mit dem Rechtsstaat seien in ihrer Problematik hervorgehoben: 1. Der Rechtsstaat und die Eigentumsfrage Im Sinne der Herstellung rechtsstaatlicher Bedingungen war die Trennung von Staat und Gesellschaft und damit die Beseitigung des „Volkseigentum“ genannten Staatseigentums die wichtigste Aufgabe. Privateigentum ist im Sinne des Art. 14 GG die Grundlage wirtschaftlicher Freiheit und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Die Frage, ob man Eigentümer ist, ob man über die Mittel zur persönlichen Existenzsicherung verfügt, ist für die Erfahrung mit dem Rechtsstaat nicht unerheblich. Die in den letzten Jahren vollzogene Umgestaltung der ostdeutschen Eigentumsverhältnisse hat nun Eigentumstitel aus dem grund-gesetzwidrigen „sozialistischen Eigentum“ grundsätzlich nicht unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt. Daher nehmen die Eigentümerrechte der die Rückübertragung wünschenden Alteigentümer eine Sonderstellung ein Bis 1992 wurden 1, 1 Millionen Anträge mit über 2, 5 Millionen Rückübertragungsansprüchen registriert. Die Größenordnung dieses Vorgangs verdeutlicht, daß die Betroffenheit im Osten nicht nur eine Solidarität der früher vom System Privilegierten erzwingt, sondern die Basis für ein breites antiwestdeutsches Ressentiment bildet.

Hinzu kommt, daß Rechtspositionen von DDR-Bürgern gegenüber demselben Eigentum -die zum Beispiel durch unterbezahlte Arbeitsleistungen zu Zeiten der DDR begründet werden könnten -nicht restituiert werden. Dies mag angesichts der wie auch immer zu beurteilenden Pleite der DDR-Staatswirtschaft kein Verlust im Sinne von positiven Vermögensansprüchen sein. Verloren wurden aber nicht nur vermögensrechtliche Ansprüche auf das „Volkseigentum“, wie sie das Treuhandgesetz noch einräumte, sondern -viel wichtiger -die damit verbundenen Besitzstände in der sozialistischen Gesellschaft. Drei wichtige „Errungenschaften“ sind für einen breiten Teil der Bevölkerung zwar nicht ersatzlos gestrichen, aber doch nur teilweise und für Teile der Bevölkerung gesichert: eine Beschäftigungsgarantie, eine umfassende soziale und Freizeitversorgungsgarantie sowie die „Zweite Lohntüte“ in Gestalt staatlich subventionierter Leistungen von der Wohnung bis zu Kinderversorgungseinrichtungen. Das Wegbrechen dieser sozialistischen Errungenschaften ist für die Mehrheit der heute in Lohn und Brot stehenden Ostdeutschen durch höhere Arbeitseinkommen zur Zufriedenheit substituiert. In diesem Fall hat sich der politisch offerierte und auch mehrheitlich gewollte Kern des „Währungsunion-Deals“ von 1990 -Ostvermögen gegen Westgehälter-bewährt. Das gilt nicht für die nahezu drei Millionen, die nach 1990 so oder so aus dem Erwerbsleben gedrängt wurden.

Die Einführung westlicher Standards entwertete aber nicht nur das mitgebrachte ökonomische Kapital; gleichzeitig kam es zu einer Abwertung des kulturellen und des sozialen Kapitals breiter Schichten der Bevölkerung. Das heißt, die Erfahrung der Abwicklung der für den Osten spezifischen Erwerbs-, Eigentums-und Sozialstrukturen und des damit verbundenen Kompetenz-und Statusverlustes wird je nach Betroffenheit gegen den Freiheitsgewinn des Rechtsstaates aufgerechnet. Volles bzw. viel Vertrauen in das neue Rechtssystem bekundeten 1993 11, 5 % der Ostdeutschen, sehr wenig oder überhaupt kein Vertrauen äußerten 42, 3 % 2. Der Rechtsstaat, Vergangenheitsbewältigung und Elitenwechsel Vergangenheitsbewältigung bedeutet in der Praxis die Überwindung der alten Ideologie und damit den Bruch mit den durch diese legitimierten politischen Eliten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist eine Voraussetzung der notwendigen Zukunftsgestaltung. Die Erstreckung des Grundgesetzes auf die neuen Länder hat praktisch zwei Funktionen: einerseits die Ausdehnung einer objektiven Werteordnung und damit die Rolle eines Ideologiewechsels, andererseits die Rahmensetzung für eine rechtliche Regelung des Elitenwechsels. Für die ideologische Bewertung gilt grob gesprochen die Regel, daß die nichtrechtsstaatliche Vergangenheit per se rechtswidrig war. Das ist abstrakt in der Formel vom „Unrechtsstaat DDR“ zusammengefaßt. Für die juristische Bewertung von Handlungen in der DDR bleibt auf Grund des grundgesetzlichen Rückwirkungsverbotes nach Art. 103 die normative Dimension des DDR-Rechts bestehen, ohne daß dies jedoch einer Billigung gleichkommt. Ohne Probleme können daher Rechtsverletzung oder Rechtsbeugung entsprechend DDR-Recht rechtsstaatlich verfolgt werden, wie zum Beispiel die Wahlfälscher-Prozesse zeigen. Eine Abrechnung mit den Stützen des Regimes -wie im Honecker-Prozeß und in den folgenden Prozessen geschehen auf der Basis der Erstreckung des Schuldspruches wegen Totschlages gegen die „Mauerschützen“ auf die höchsten staatlichen Verantwortlichen -ist schon problematischer. Die Kriminalisierung der Anwendung staatlicher Gewalt, auch wenn sie in diesem Falle besonders moralisch verwerflich ist, ist letztlich nicht auf den Totschlag an der Mauer zu beschränken, sondern stellt den ganzen DDR-Staat vor Gericht Die Konsequenz daraus wäre, daß damit sämtliche politischen Funktionseliten der DDR, die in das System eingebunden waren, in den Rang von Tätern und Mittätern einzustufen wären. Damit wäre eine Legitimation für den notwendigen Elitenwechsel geliefert

Eine konsequente juristische Verfolgung dieses Prinzips gerät gleichwohl an praktische wie politische Grenzen. Der Rechtsstaat erweist sich -je nachdem -entweder als inkonsequent oder als selektiv. Beides schadet seinem Ansehen. Die Klage von Bärbel Bohley: „Wir haben Gerechtigkeit gefordert und den Rechtsstaat bekommen“ gehört wohl hierher. Sie bezeichnet aber das Versäumnis des Pouvoir constituant im Jahre 1989/90, Ausnahmetatbestände für die rückwirkende Bestrafung festumrissener Straftatbestände zu schaffen.

Gesellschaftlich relevant wurde der Tatbestand eines somit allgemeinen Kriminalitätsverdachtes nur im Zusammenhang der Neugestaltung des öffentlichen Dienstes im Osten. Hier wurde zwar nicht abgeurteilt, aber über Weiterbeschäftigung von weit mehr als einer Million Menschen entschieden. Dies hat im Vergleich zu allen anderen postkommunistischen Ländern zu einer außerordentlichen Schärfe des Bruchs nicht nur mit alten staatlichen und politischen Eliten geführt. Sämtliche Mitarbeiter von nicht privatisierbaren oder unverzichtbaren staatlichen Einrichtungen, wie Polizisten, Wissenschaftler, Ärzte u. a., standen unter diesem Verdikt, dessen Auswirkungen, besonders problematisch, sich bis auf das Renten-recht erstrecken. Da sich dieses aber nicht als allgemeines Recht, sondern nur als Selektionsinstrument durchsetzen ließ, hat der Rechtsstaat auf diesem Feld verloren. Nicht nur bei den davon Betroffenen gerät der Hinweis auf den Art. 131 des Grundgesetzes, der die Rechte und Ansprüche der Angehörigen des öffentlichen Dienstes des NS-Staates in der Bundesrepublik schützte, zum politischen Skandal.

Vom Kapital der politischen Freiheitsbewegung vom Herbst 1989 und dem neuen demokratischen Selbstbewußtsein ist auch aus den genannten Gründen wenig übriggeblieben. Es geriet unter Druck des administrativ durchgesetzten Systemwechsels und schon bald in die paradoxe Lage, entweder auf die politischen Mühlen der PDS und der von ihr gesteuerten „Komitees für Gerechtigkeit“ geleitet oder in ein renitentes Ossi-Selbstbewußtsein umgewertet zu werden. Eine Wiederbelebung der Bürgerbewegung, die einst im SED-Regime einen klaren Adressaten hatte, scheitert nicht zuletzt an der Differenzierung der politischen Motive und sozialen Schicksale im vereinten Deutschland.

Die Bürgerrechtsbewegung fiel im vereinten Deutschland ausgerechnet einem Problem zum Opfer, das sie paradoxerweise auf dem Wege zu ihrer hervorragenden politischen Bedeutung im Herbst 1989 schon einmal bewältigt hatte: die Überwindung der Minderheitensituation moralisch und politisch konsequenter Systemgegner durch eine allgemeine und inklusive Öffnung für die Anliegen aller Bürger, ohne Ansehen der Herkunft. Die im Zusammenhang mit der Stasi-Debatte erfolgte und akzeptierte Image-Rückverschiebung in die Rolle der alten DDR-Opposition, diesmal nur noch im Zeit-und Kronzeugenstand, schuf eine exklusive Gesellschaft weniger und überdies durch interne Opfer-Hierarchien sich selbst dezimierender Aufrechter. Eine Solidarisierung mit den vielen, nun unter neuen Existenzsorgen lebenden und auf Grund ihrer DDR-Biographie sich benachteiligt fühlenden Landsleuten konnte so nicht wieder entstehen. Der Konsens der von den großen Parteien umkämpften gesellschaftlichen Mitte ist nach dem Wegfall des „Geh-doch-rüber“ -Arguments dabei, sich stärker nach rechts zu entwickeln. Der wachsende soziale Differenzierungsdruck in einer sich rasant ändernden Arbeitswelt erhöht den Bedarf an ideologisch begründeter Ungleichheit und Ausgrenzung. Hier liegt ein Gefahrenpotential, weil dies die Basis rechtsextremer oder nationalistischer Legitimationsbeschaffung ist, die weit in die Mitte der Gesellschaft reicht Tendenzen, auf die offensichtlichen ideologischen Fehlstellen mit einer Politik des „gesunden Volksempfindens“ zu reagieren, über den Vormarsch geschichtsrevisionistischer Positionen zu einem neudeutschen Normalitätsbegriff zu kommen, sind unübersehbar. Damit ist der demokratisch-bürgerliche Konsens, der durch Grundgesetz und westliche Wertorientierung geprägt ist, in Gefahr, als Sonderweg, als Ausdruck der Nichtsouveränität denunziert und allmählich demontiert zu werden. Aber auch das Gegenteil -das Verdrängen des Nationalen -würde insbesondere von unseren europäischen Nachbarn als problematischer Sonderweg und als Ausdruck mangelnder Souveränität erachtet werden.

Welchen Einfluß diese Debatte auf die ostdeutsche Entwicklung gewinnen wird, ist schwer abzuschätzen. Noch sind die Formierungen der politischen Lager im Osten nicht abgeschlossen, sondern von vielen gegensätzlichen Bedingungen und Faktoren überdeckt. Die etablierte Politik zog daraus den Vorteil, daß die Übertragung der tiefgreifenden sozialen Interessenkonflikte auf die politische Ebene weitgehend blockiert war und unter äußerlicher Stabilität Operationen durchgeführt werden konnten, die mit den gleichen strukturellen und existentiellen Konsequenzen in keiner gefestigten Demokratie durchsetzbar gewesen wären. Dies wird natürlich nicht auf Dauer so bleiben, sondern die Konflikte werden sich in den kommenden Jahren institutionell-organisatorisch Bahn brechen. Die soziologisch gut beschreibbaren Gruppen der „Verlierer“ im sogenannten „nachholenden Modernisierungsprozeß“ haben bisher sehr unterschiedliche politische Zuordnungen gewählt. Das noch fast ein Drittel der Bevölkerung ausmachende „traditionsverwurzelte Arbeiter-und Bauernmilieu“ ist am stärksten von der ökonomischen Strukturkrise im Osten betroffen und wird nach westdeutschem Standard und wirtschaftlicher Existenzfähigkeit dezimiert werden. 1990 hat diese Schicht noch weitgehend CDU gewählt, heute finden sich hier die meisten Nichtwähler. Eine tragende politische Verbindung mit Teilen der deklassierten Funktionseliten, die im wesentlichen nur statusmäßig zu den Verlierern gehören und den Kern der PDS-Anhängerschaft abgeben, ist nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlich und logisch ist, daß sich aus der latenten antipluralistischen und antikapitalistischen Haltung, die sich gegenwärtig entweder auf Nichtwähler oder auf die PDS politisch verteilt, ein breiteres antidemokratischantiwestliches Milieu herausdifferenziert. Da diese Schichten nicht wie die PDS zu einer selbstbewußten Minderheitsposition tendieren, ist die Gefahr nicht gering, daß Synergismen zwischen Ost und West in eine rechtsnationale Bewegung führen werden. Denn mehr als gegenwärtig werden auch im Westen soziale Deklassierungsängste durchschlagen und zu einer Hinwendung zu neuen ressentimentbeladenen Positionen führen.

Die wachsende Abneigung gegen die Politik und die damit verbundene Entfremdung von den demokratischen politischen Parteien stellt die eigentliche Gefährdung der Demokratie dar. Die Festigung des demokratischen Bewußtseins im Osten ist aber in Zukunft von den allgemeinen Motivations-und Legitimationsproblemen der Politik im Westen nicht zu trennen und muß diese von Anfang an berücksichtigen. Wenn die wirtschaftlichen Erwartungen der Ostdeutschen zwangsläufig noch bei einem großen Teil der Bevölkerung enttäuscht werden müssen, dann muß die Demokratie im Osten allerdings auf zusätzliche Fundamente gestellt werden. Die Stärkung der demokratischen Institutionen und Instrumente bedeutet vor allem, ihre Verankerung in der Gesellschaft zu fördern. Dies ist meines Erachtens eine gleichrangige Zukunftsinvestitionsaufgabe wie die ökonomischen des „Aufbaus Ost“.

Politische Bildung, die in das Befähigen und Vernetzen von bisher eher isolierten Akteuren investiert, gehört in einer Gesellschaft, deren mitgebrachte Strukturen weitgehend aufgelöst sind, zu einer solchen Zukunftsinvestition. Es handelt sich dabei im Osten -wie bei der Erhaltung der kulturellen Infrastruktur und Substanz -um die Aufgabe des Gegensteuerns gegen Abwanderung intellektueller und kultureller Ressourcen aus der Gesellschaft. Denn nur durch direkte und dauer-hafte Kommunikationsverhältnisse zwischen Politik und den verschiedenen Segmenten der Gesellschaft, durch das Zusammenwirken von Institutionen mit den Artikulatoren und Organisatoren gesellschaftlicher Interessen kann die Entfremdung zwischen Politik und Gesellschaft wirkungsvoll bekämpft werden. Die Ressourcen für die politische Ausgestaltung des durch die Verfassung garantierten demokratischen Systems müssen in der ostdeutschen Gesellschaft selbst freigesetzt bzw. entfaltet werden. Entscheidend ist, daß die demokratischen Träger der politischen Willensbildung die Einstellungen und Zugänge Ostdeutscher zur Politik organisationspolitisch so fördern, daß ohne vordergründige Einvernahme einerseits -aber auch ohne Berührungsängste andererseits -die gesellschaftliche Basis für Politik erweitert wird.

IV. Politische Bildung als Kommunikationssphäre zwischen Politik und Bürger

Die Ursachen des ostdeutschen Demokratieverdrusses resultieren zumeist aus zwei einander durchaus widersprechenden Fehlerwartungen: 1. Demokratisch ist, was meine Interessen verwirklicht. 2. Demokratisch ist, was gerecht ist.

Der moderne demokratische Verfassungsstaat basiert jedoch auf der Idee, daß es keine dem Staat vorgegebene Volonte generale gibt. Was Gemein-wille, was Gemeinwohl ist, läßt sich nicht a priori definieren. Es muß im Streit unterschiedlicher Interessen immer neu gefunden werden. Das Verlangen nach Interessenverwirklichung in Verbindung mit Demokratie geht irrtümlich von einem der Demokratie innewohnenden egalitären Prinzip aus, das Interessenbefriedigung und zugleich Gerechtigkeit garantiert. Hier liegen Ursachen von Enttäuschungen über das neue System, seine Vertreter und Institutionen. Die Aufhebung dieser Enttäuschung gelingt aber immer dann, wenn der Prozeß, in dem durchaus beide Vorstellungen wirksam sind, durchschaubar wird. Entscheidend ist also nicht nur die Erhöhung der Transparenz politischer Prozesse, sondern die Einübung in demokratische Entscheidungen, die möglichst praktische Beteiligung im Verfahren des Interessenausgleichs.

Der Hinwendung des Interesses zur politischen Praxis stehen allerdings von Seiten der Politik selbst Hindernisse entgegen. Zum einen gibt es die verbreitete Neigung von Parteien und Großverbänden, den Bereich des Konsenses, so es dem eigenen Nutzen dient, auszudehnen, den Bereich des notwendigerweise Umstrittenen einzugrenzen. So werden Entscheidungsfindungen und Güter-abwägungen verdeckt. Ersatzweise wird dann nach außen statt des Streites um die Sache nur noch der Streit um den Umgang mit der Sache inszeniert (siehe Asylkompromiß/Pflegeversicherung/Bundeswehreinsätze).

Das Übergewicht formeller Verfahren im politischen Prozeß läßt die Frage nach partizipativen und kommunikativen Elementen auf der Ebene der Vermittlung und Begründung von Politik akut werden. Der Aufbau einer demokratischen Streitkultur erfordert die Offenheit des Zugangs zum Interessenvermittlungs-und Willensbildungssystem, die Rückbindung der Beteiligten an die sie legitimierende Basis und die politische Öffentlichkeit als politische Kontrollinstanz.

Die wachsende Kommunikationsabhängigkeit demokratischer Politik berührt ein zweites Problem: Die Fundamentalnorm demokratischer Politik ist ihre öffentlich einzulösende Begründungspflicht. Öffentlichkeit ist ein konstituierendes Element der demokratischen Staatsordnung. Ihre Bedeutung wächst in dem Maße, wie sich die traditionellen und politischen Milieus auflösen und soziale Gruppenbezüge für die politische Meinungsbildung und Orientierung ausfallen. Demokratie wird somit immer kommunikationsabhängiger wegen der wachsenden Kluft zwischen der Ebene der Entscheidung und der Ebene der öffentlichen Begründung. Denn Politik ist nicht nur ein Entscheidungsfeld, sondern zugleich auch Kommunikationsprozeß.

Der von den modernen Medien organisierte Kommunikationsprozeß verdrängt jedoch politische Problemkomplexität zugunsten demonstrativer Publizität. Demonstrative Publizität bedeutet, daß politische Stäbe Timing und Themen der Öffentlichkeitsarbeit koordinieren, so daß immer mehr Kunstprodukte von Politik auf dem Markt erscheinen. Man spricht deshalb von einer neuen Oberflächenstruktur von Politik: Sprachregelungen und wenige ausgewählte Themen und Formeln sind die reduzierte Kost für die Allgemeinheit. Streitwürdige Themen und differenzierte Problemlösungsdiskussionen werden mehr und mehr vermieden. Eine Konsequenz daraus und eine Aufgabe für die politische Praxis wie für die politische Bildung ist, das von den Medien produzierte Bild der politischen Wirklichkeit zu entzerren, die verschwiegene Dramaturgie der öffentlichen politischen Inszenierung aufzuhellen. Wie ist das zu leisten? Wer den massenmedial inszenierten Streit durchschauen will, braucht mehr denn je kommunikative Kompetenz, das heißt, die Fähigkeit zur Rekonstruktion politischer Wirklichkeit. Politische Bildung ist ein anderes Wort für kommunikative Kompetenz. Sie kann allerdings nur dort erworben und wirksam werden, wo demokratische Politik ihrer Begründungspflicht nachkommt. Der Wettbewerb zwischen Expertenwissen und Alltagswissen ist das Herzstück jedes politischen Lernprozesses, und zwar nach beiden Seiten: Er informiert den Experten über die individuellen Bedürfnisse und den Laien über die Komplexität der Interessen.

Politische Bildung, verstanden als Veranstaltung der Kommunikation von Politik -also der Vermittlung und auch Beratung von Politik -, hat nach meiner Meinung eine wachsende Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen politischen Kultur. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist allerdings ein völlig neues Verständnis von politischer Bildung notwendig: Nicht mehr allein das Seminar oder die Akademie sind die Orte und Formen von Politikvermittlung und -beratung, sondern das Forum, das Gespräch und die Diskussion. Beteiligungsquoten und Interesse für die klassischen politischen Bildungsveranstaltungen sprechen eine klare Sprache. Belehrung ist nur noch selten gefragt, parteiliche Wahlveranstaltungen leiden an gähnender Leere. Authentische politische Begegnung und Auseinandersetzung, dialogische Veranstaltungen sind, wenn das Thema die Interessen trifft, attraktiv. Die Medien haben es längst verstanden, die Formen der Politikvermittlung dem Bedürfnis nach mehr Authentizität, Direktheit und Mitsprache anzupassen.

Die Frage, die in Ostdeutschland besonders schwer zu beantworten ist, ist die Frage nach den Akteuren und Strukturen für einen solchen Kommunikationsprozeß. Wer sind politische Kommunikationsträger, wenn die Parteien dafür nicht ausreichen, Bürgerinitiativen zu dünn gesät und fast alle traditionellen Strukturen von Geselligkeit und gesellschaftlicher Aktivitäten weggebrochen sind?

Die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung versucht seit einiger Zeit mit wechselndem Erfolg, in den Regionen Partner für die Installierung und gelegentlich auch einmal Inszenierung politischer Foren zu finden und sie durch finanzielle Förderung zu möglichst kontinuierlichen Anbietern von Politik aufzubauen. Solche Partner können sein: 1. Gemeinnützige und möglichst breit angelegte Vereine und Clubs. Die lokale Bindung verschafft Nähe zum Bürger, die sie den Medien voraus-haben. Sie sind Podium, Forum, Gesprächskreis vor Ort. Die Menschen sind einander vertraut. Sie geben die Tagesordnung vor. Sie haben im Träger ihren eigenen Moderator. 2. Sach-oder klientelbezogene Vereine und Initiativen. Ihre thematische oder interessengeleitete Kompetenz macht sie selbst zu Akteuren im politischen Willensbildungsprozeß. Deshalb können sie von Politikern, insbesondere auch von lokalen, nur bei Strafe ihres Untergangs vernachlässigt werden. Sie schaffen im Stil der öffentlichen Auseinandersetzung die Foren, in denen Politikvermittlung und Politikberatung eins werden.

Die Demokratie braucht die Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger. Diese Kompetenz nützt aber wenig, wenn es für sie keine Orte und Möglichkeiten gibt, sich zu bilden und zu artikulieren. Erforderlich ist ein pluralistisches und offenes Angebot von Orten möglichst verbindlicher politischer Kommunikation. Deren Anbieter sind für uns die Träger politischer Bildung im weitesten Sinne. Die Investition des Staates in eine solche Infrastruktur freier, pluralistisch agierender, auf das Engagement von Menschen gestützter Bildungsträger -besser hießen sie jedoch Öffentlichkeitsträger -ist eine Investition in eine demokratische Zukunft. Investitionen in politische Bildung, verstanden als Veranstaltungen praktischer und direkter Demokratie, stehen anderen -zumal wirtschaftlichen -Investitionen in ihrer Bedeutung nicht nach. Solche Entstehungskosten sind langfristig immer eine gute Anlage, wenn damit die Folgekosten von Politik in Grenzen gehalten werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Wahlbeteiligung betrug bei den Landtagswahlen in den Ländern Sachsen-Anhalt 54, 9%, Brandenburg 56, 2% und Sachsen 58, 4 %.

  2. Vgl. Karl Starzacher/Konrad Schacht/Bernd Friedrich/Thomas Leif (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie?, Köln 1992.

  3. Vgl. Renate Köcher, Politische Partizipation und Wahl-verhalten bei Männern und Frauen, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 11/94, S. 24-31.

  4. Ebd., S. 26ff.

  5. Sämtliche Angaben nach: Leben 93. Leben in Ostdeutschland, Daten und Feldbericht. Empirisch-methodische Arbeitsgruppe am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, Berlin 1993.

  6. Vgl. Heidrun Abromeit, Die „Vertretungslücke“. Probleme im neuen deutschen Bundesstaat, in: Gegenwartskunde, 42 (1993), S. 281-292; Helmut Wiesenthal, Blockaden, Asymmetrien, Perfektionsmängel: Ein Vergleich der Repräsentationschancen sozialer Interessen im Transformationsprozeß, Arbeitspapier 93/5 der AG Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern der Max-Planck-Gesellschaft.

  7. „Der Eindruck der Ostdeutschen, ihre Heimat wurde im Kolonialstil von den Westdeutschen erobert, ist keinesfalls nur ein subjektives Zerrbild der Realität. Auch objektiv gesehen läuft alles auf eine Kolonialisierung der Wirtschaft und Gesellschaft der ehemaligen DDR hinaus. Schon die an die neuen Bundesbürger herangetragenen Erwartungen, die westlichen Werte, Lebens-und Arbeitsstile schleunigst zu verinnerlichen, entspringt kolonialer Denkweise.“ Peter Christ/Ralf Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Bundesländer, Berlin 1991, S. 216.

  8. Vgl. Otto Kimminich, Bemerkungen zur Überleitung der Eigentumsordnung der ehemaligen DDR, in: Klaus Stern (Hrsg.) Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I, Köln 1991, S. 11.

  9. Vgl. Leben 93. Leben in Ostdeutschland. Daten und Feldbericht (Anm. 5), S. 53.

  10. Vgl. Uwe Wesel, Ein Staat steht vor Gericht, Frankfurt/M. 1994.

  11. Vgl. B. Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, Antrittsvorlesung vom 27. 4. 1994 an der Humboldt-Universität zu Berlin: „So hat der besondere deutsche Eifer bei der strafrechtlichen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit einen doppelten Grund. Er dient zugleich der Siegerjustiz und der Besiegtenexkulpation; er legitimiert den Westen, wenn er seine Eliten anstelle der alten Elite des Ostens setzt, und exkulpiert im Osten alle, die sich in den DDR-Jahren nicht als Elite oder mit Exzessen exponiert haben.“ (unveröff. Ms.)

  12. Vgl. Hans Martin Lohmann (Hrsg.), Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation, Frankfurt/M. 1994.

  13. Vgl. die von SINUS beschriebenen Lebensstil-Milieus für Ostdeutschland in: Ulrich Becker/Horst Becker/Walter

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