Nichtwähler 1994. Eine Analyse der Bundestagswahl 1994
Ursula Feist
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Zusammenfassung
Trotz enormen Werbeaufwands und des Einsatzes zahlreicher Prominenter kam es zu keiner Wende im Wahlverhalten der Bürger/Innen im Superwahljahr 1994. Trotz des Versuchs der Regierungs-urtd der Oppositionsparteien, der Bundestagswahl 1994 den Charakter einer Richtungsentscheidung zu geben, blieb das Wahlklima eher emotionslos. Die größte Herausforderung für die Volksparteien sind die Nichtwähler. Ihr Lager ist größer als das Stimmenreservoir aller kleinen Parteien zusammen. Wahlenthaltung sollte von der politischen Klasse nicht als politisches Desinteresse gesehen werden; sie hat ihre Ursache vielmehr in sozialer Desintegration.
I. Mobilisierungskampagnen und ihre begrenzten Effekte
„Wahlen ’ 94: Alle reden davon -ich gehe hin.“ Unter dem Motto „Gemeinsam für Demokratie“ hatten sich über 200 Prominente aus Kultur, Showbusineß, Sport, Publizistik, Verbänden und Gewerkschaften an dieser Kampagne auf Initiative des Deutschen Bundestags beteiligt und als Identifikationsfiguren honorarfrei für den demokratischen Zweck hoher Wahlteilnahme geworben. Sie traten in Anzeigen, auf Plakaten, in Kino-, Radio-und TV-Spots auf. Zudem wurden die Medien von den Initiatoren der Kampagne zu entsprechenden redaktionellen Beiträgen motiviert. Im ganzen soll der so erzeugte Gegenwert der Aktion zur Stimulierung der Wahlbeteiligung ein Mediavolumen von über 20 Mio. DM dargestellt haben Gemessen an den 132 Mio. DM staatlicher Wahlkampfkostenerstattung, die den Parteien 1994 nach der Bundestagswahl, der Europawahl und den Wahlen zu den acht Landtagswahlen zustehen, ist dies ein schöner Brocken kostenloser Werbung
Abbildung 28
Tabelle 4: Bundestagswahl 1994: Saldiertes Nichtwählerkonto Quelle: infas-Wahlberichterstattung im Auftrag der ARD.
Tabelle 4: Bundestagswahl 1994: Saldiertes Nichtwählerkonto Quelle: infas-Wahlberichterstattung im Auftrag der ARD.
Was hat das Engagement der populären Vorbilder für die formaldemokratische Teilnahme im Wahljahr 1994 bewirkt? Betrachtet man nur die Wahlgänge zu den Landtagen, zum Europaparlament und zum Bundestag, läßt also die Kommunalwahlen des Jahres 1994 außer acht, so ist das Resümee schnell gezogen (vgl. Tabelle 1): Das Jahr der Demokratie', mit seinem Wechselspiel zwischen den verschiedenen Wahlebenen hat keine Wende im Wahlengagement der Bürger/Innen gebracht. Im Osten, insbesondere bei den dortigen Landtagswahlen, die nicht zugleich mit der Bundestagswahl stattfanden, wurden Tiefstände der Wahlbeteiligung beobachtet, die amerikanischen Maßstäben entsprechen; auf deutschem Boden gibt es zu so geringem Wahleifer wie 1994 kaum historische Parallelen. In.der Weimarer Zeit lag die Wahlbeteiligung bei Reichstagswahlen nie unter 75 Prozent, im Kaiserreich davor wurde sie nur zweimal, 1871 und 1881, unter 60 Prozent registriert 1. Indizien für den Wandel im Parteiensystem, verschärft durch den Ost-West-Gegensatz Was die wohlgemeinte Mobilisierungskampagne der Prominenten nicht vermochte, hat auch das hochkonzentrierte Wahljahr 1994 unter dem dramatisierenden Druck einer möglichen Richtungsentscheidung nicht geschafft, obwohl 53 Prozent der Wahlbevölkerung tatsächlich davon überzeugt waren, es ginge am 16. Oktober um eine weichen-stellende Entscheidung
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Tabelle 5: Bundestagswahl 1994: Wahlbeteiligung Quelle: infas-Wahlberichterstattung im Auftrag der ARD.
Tabelle 5: Bundestagswahl 1994: Wahlbeteiligung Quelle: infas-Wahlberichterstattung im Auftrag der ARD.
Die in der vielfältigen Analyse zur Krise des Parteiensystems bisher zusammengetragenen Indizien, wonach sich das westdeutsche Parteiengefüge in einem tiefgreifenden Wandlungsprozeß befindet, wurden nicht widerlegt, im Gegenteil; zentrifugale Kräfte auf dem Wählermarkt und starker Rückgang der Wahlbeteiligung spiegeln auch 1994 die nachlassende Bindungsfähigkeit des Parteien-systems gegenüber einer sich mehr und mehr aus-differenzierenden Gesellschaft. Unterschiedliche Lebensstile und moderne Arbeitswelten werden für die politische Orientierung maßgeblicher als traditionelle Zugehörigkeit zu Schichten und Klassen oder soziokulturellen Milieus, die das alte Parteiensystem sozial konstituiert und lange Zeit als dessen Säulen gedient haben
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Tabelle 6: Wahlbeteiligung bei einzelnen Landtagswahlen 1994 Quelle: Statistische Länderämter Sachsen-Anhalt, Sachsen und Saarland, jeweils Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik.
Tabelle 6: Wahlbeteiligung bei einzelnen Landtagswahlen 1994 Quelle: Statistische Länderämter Sachsen-Anhalt, Sachsen und Saarland, jeweils Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik.
Zugleich stößt inzwischen der Import des westdeutschen Parteiensystems, 1990 scheinbar unaufhaltsam und organisch Prämisse und Bestandteil des deutschen Vereinigungsprozesses, auf ostdeutsche Ablehnung. Mit Ausnahme der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, der ersten in der ostdeutschen Wahlserie, erwählten alle vier übrigen neuen Bundesländer gegen westdeutsche Vorbilder jeweils ein Drei-Parteien-System, bestehend aus CDU, SPD und PDS. Nur in Sachsen blieb es bei einer CDU-Mehrheit, ansonsten geben überall die Stimmen für die Linksparteien SPD und PDS rechnerisch den Ton an.
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Tabelle 7: Bundestagswahl am 16. Oktober 1994 -Motive der Nichtwähler (in Prozent) Quelle: infas, Oktober/November 1994.
Tabelle 7: Bundestagswahl am 16. Oktober 1994 -Motive der Nichtwähler (in Prozent) Quelle: infas, Oktober/November 1994.
Zwar setzten sich in den neuen Ländern die Bündnis-Grünen bei der Bundestagswahl als weitere, als vierte Partei durch, aber als Oppositionspartei sind sie von der PDS weit an den Rand gedrängt worden. Deren Bindungsfähigkeit gegenüber bestimmten, DDR-verhafteten Milieus analysiert Rainer-Olaf Schultze als Ausdruck eines doppelten Konflikts: Zum einen gibt es eine Differenz zwischen Zentrum (Berlin, die alten Bezirkshauptstädte und NVA-Standorte) und Peripherie innerhalb der ehemaligen DDR, wodurch die Nähe zur PDS heute unterschiedlich beeinflußt wird und was sich in einem gewissen Nord-Süd-Gefälle niederschlägt. Zugleich spiegelt sich in der PDS-Wahl auch ein Konflikt zwischen Ost-und Westdeutschland: Die außerordentlichen sozio-ökonomischen Disparitäten zwischen den beiden Teilen Deutschlands gerinnen zu soziostrukturellen Unterschieden *D*e*r Konflikt speist sich zudem psychologisch aus der Mentalität von Siegern und Besiegten im Wettkampf der ehemals antagonistischen Systeme von Kapitalismus und Kommunismus. Für die Unterlegenen ist dies eine depressive und verletzende Erfahrung wie jeder Verlust. Sie haben den Untergang der DDR samt ihren Werten erlebt und als Folge das Gefühl verarbeiten müssen, wie die eigene Biographie, ob systembeteiligt oder nicht, entwertet wurde.
Der Import des westdeutschen Parteiensystems in die ehemalige DDR mit seiner kurzfristigen Erfolgsbilanz entpuppt sich nun dialektisch als eine gedankenlos westzentrierte Strategie, die nicht bloß am Sentiment ostdeutscher Identität abprallt, sondern auch die Stärkung der PDS als ostdeutscher Regionalpartei gefördert hat. Die Ergebnisse der Bundestagswahl 1994 zeigen: Die politischen Kulturen in Ost-und Westdeutschland driften auseinander, und indirekt gewinnt dadurch die Entwicklung im Osten Einfluß auf das westdeutsche Parteiensystem. Die gegenwärtige Schwäche der FDP und die Öffnung der Union gegenüber den Grünen durch die gemeinsame Wahl von Antje Vollmer zur Bundestagsvizepräsidentin beschleunigten zusätzlich das Tempo dieser Entwicklung. 2. Indizien für die Krise konventioneller politische Beteiligung Nach Abschluß des Superwahljahres 1994 steht das deutsche Parteiensystem auch weiterhin unter Druck -nicht bloß durch die veränderte Parteien-landschaft mit dem neuen Ost-West-Gegensatz, vor allem auch durch die selbst bei einer nationalen Wahl nachlassende bzw. geringe Bereitschaft des Wahlvolks, sich an Wahlen zu beteiligen. Es stellt damit -im Osten noch mehr als im Westen -den formalen Modus der Interessenvermittlung durch Wählerauftrag an die Parteien in Frage, die eigentliche Legitimation für deren Handeln, wollen sie nicht wie manche Elite-Theoretiker am Ende mit einer „Demokratie ohne Volk“ dastehen. Rainer-Olaf Schultze resümiert die Ergebnisse der jüngeren Wahlsoziologie mit folgender Feststellung: „Der Wähler -daran besteht kein Zweifel -ist mobiler geworden; er handelt politisch bewußter und begegnet den repräsentativ-demokratischen Institutionen und Formen politischer Partizipation mit wachsender Skepsis.“
Die nachlassende Wahlbeteiligung ist aus dieser Sicht Zeichen eines sich verstärkenden Trends, unter dessen Einfluß sich die Politik aus der Sphäre des Staates in die Zivilgesellschaft zurückverlagert, zu der auch die Arbeitswelt mit ihrem Angebot an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten zählt, die aber nicht allen gleichermaßen offenstehen. Ohnmacht und Frustration, daß „das Gewicht der Stimme“ oder überhaupt das Gewicht der Person nicht zählt, stehen als Ergebnis allgemeinen Wertewandels gegen den Wunsch nach mehr Einfluß, nach mehr Mit-und Selbstbestimmung. Nicht Beteiligung entlang der alten konventionellen Wahlnormen ist der Schlüssel zur Überwindung der Verweigerung, sondern qualifizierte, subjektnähere Beteiligung auf allen Ebenen.
Unter diesem Blickwinkel ist der Rückgang der Wahlbeteiligung in Deutschland sicher ein Stück weit Anpassung an internationale Demokratie-Standards, er legt in seinen Strukturen aber auch Symptome einer schwelenden Legitimitätskrise der bisher akzeptierten Stellvertreter-Demokratie frei Dies mag in noch stärkerem Maße für die in Demokratie ungeübten Bürger/Innen in Ostdeutschland gelten, die offenbar manche Illusion über das, was Demokratie zu leisten vermag, verloren haben und nun nach Jahren der Pseudowahlen mit entsprechendem Zwangscharakter vom Recht zur Verweigerung reichlich Gebrauch machen. Auf jeden Fall weit häufiger, als sie den Schritt ins PDS-Lager tun. Der Dissens in Politik und Gesellschaft, den der Prozeß der Einheit auslöst, hat sich demnach vor allem durch Nichtwählen artikuliert.
3. Einflußfaktoren auf die Wahlbeteiligung
Nichtwählen ist keineswegs hinreichend erklärbar durch geringes politisches Interesse, was in sich selbst auch pure Tautologie wäre. Es ist nicht bloß Resultat fehlender Dramatik im Wahlkampf oder allein verursacht durch Verdrossenheit und Mißtrauen gegenüber der politischen Klasse, durch Zweifel an deren Kompetenz. Denn widersprüchlich genug: Das politische Interesse ist in Westdeutschland im Laufe der Jahrzehnte trotz sinkender Wählerzahlen stetig gewachsen, von knapp unter 30 Prozent Anfang der fünfziger Jahre auf nahezu 60 Prozent 1993 In den frühen Jahren der Bonner Republik war die Wahlnorm offenbar allgemein verbindlicher. Es müssen recht viele als brave Untertanen, wie amerikanische Forscher damals das Demokratieverständnis der Deutschen charakterisierten, wählen gegangen sein ohne besonders großes Interesse an Politik. Heute wird Wählen nicht mehr generell als Pflicht empfunden, da ist der Zusammenhang möglicherweise eher umgekehrt. Politischer Zynismus, also Zweifel und Mißtrauen, ist im übrigen kein neues Phänomen. Schon in den vierziger Jahren wurden in Amerika entsprechende Meßinstrumente entwickelt. Für das Sinken der Wahlbeteiligung in den letzten Jahren muß es also auch andere Ursachen geben.
Was die Wahlteilnahme wesentlich beeinflußt, haben unter anderen Jürgen W. Falter und Siegfried Schumann systematisch untersucht. Sie bestätigen die bedeutsame Rolle von Faktoren wie Alter, sozio-strukturelles Umfeld des Lebensraums von Wahlberechtigten, historische Tradition von Wahl-gebieten, etwa die Parteihochburgen, schließlich aber auch die heute zunehmend bedeutsamere, rationale Entscheidung, aus Unzufriedenheit mit dem Lauf der Politik die Stimme zu verweigern Die Forschung unterscheidet zudem traditionelle und moderne Typen von Nichtwählern. Zu den klassischen Nichtwählern zählen zunächst die „unechten“, die aus technischen Gründen gar nicht an der Wahl teilnehmen können. „Dauer-Nichtwähler“ verweigern sich aus grundsätzlichen Erwägungen, oftmals aus politischen oder weltanschaulichen Gründen. Beide Gruppen sind für die Parteien nahezu unerreichbar. Variabel ist die dritte Gruppe* die der „konjunkturellen Nichtwähler“. Ihre Zahl wechselt mit den Wahlebenen, sie ist zudem im Laufe der letzten Jahre dramatisch gestiegen. Mutmaßliche Motive sind Protest aus aktuellem Anlaß, Zweifel am Sinn des Wählens, neue Identität vor allem, bei (jungen) Frauen, radikaler Individualismus mit entsprechendem Kosten-Nutzen-Kalkül.
Die Wahlbeteiligung hängt schließlich auch von der Bedeutungshierarchie der verschiedenen Wahl-ebenen ab; trotz der allgemein niedrigen Wahlbeteiligung war dies auch 1994 der Fall. Zur Haupt-wahl, nämlich zur Bundestagswahl am 16. Oktober, lag die Wahlbeteiligung rund gerechnet maximal zwischen 17 Punkten im Osten (Sachsen-Anhalt) und 12 Punkten im Westen (Bayern) höher als bei der davon abgekoppelten Landtagswahl, die damit eher den Charakter von Nebenwahlen hatten.
Haupt-und Nebenwahlen produzieren eine unterschiedliche Mobilisierung. Das Bonner Regierungslager hat es bisher, so auch 1994 wieder, stets geschafft, seine Anhänger, die in den Zwischen-wahlen zu Hause blieben -sei es aus Unzufriedenheit, sei es aus wohlwollender Gleichgültigkeit -, bei Bundestagswahlen erneut an die Urnen zu bringen. Trotz gestiegener Nichtwählerzahlen als Indiz für abgeschwächte Legitimation der politisch Handelnden hat dieser Mobilisierungsmechanismus bisher einen Machtwechsel durch Wahlen in Bonn verhindert. Der von einer Bundestagswahl über die Zwischenwahlen zur nächsten Bundestagswahl ablaufende Mobilisierungsvorgang läßt sich als eine U-Kurve charakterisieren. Früher gehörte zu dieser Regel, daß die größte Bonner Oppositionspartei in den Zwischenwahlen von der niedrigeren Wahlbeteiligung und einem gegen die Bonner Regierungsparteien gerichteten Denkzettel profitierte. In der Wahlperiode 1990-1994 stärkten sich durch diesen Mechanismus dagegen eher die kleinen Parteien, mit Ausnahme der FDP. Im Endspurt des Wahl-jahres 1994 hat aber die SPD, nicht nur im Westen, dieses Mobilisierungsdefizit auffüllen können.
Nachfolgend wird anhand der Wahlstatistiken das Volumen der Wahlverweigerung in Ost und West dokumentiert; aufgrund von Modellrechnungen zur Wählerwanderung werden die Effekte der Mobilisierungsstärken und -schwächen für die Parteien beschrieben. Mit dem Blick auf regionale Unterschiede in der Wahlbeteiligung richtet sich das Interesse auf soziostrukturelle Faktoren, die die Wahlenthaltung beeinflussen. In diesem Zusammenhang wird das Ergebnis einer Segmentationsanalyse der 328 Wahlkreise, getrennt nach Ost und West, vorgestellt und ergänzt um eine entsprechende Segmentationsanalyse der Nichtwähler, die sich in Vorwahlbefragungen zur Wahlenthaltung bekannt haben oder unentschlossen waren. Schließlich werden die möglichen Motive von Nichtwählern näher beleuchtet.
II. Volumen der Nichtwähler und Effekte für die Parteien 1
Abbildung 26
Tabelle 2: Wahlteilnahme bei nationalen Wahlen Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, Endgültige Ergebnisse, November 1994; infas-Wahlberichterstattung zur Volkkammerwahl.
Tabelle 2: Wahlteilnahme bei nationalen Wahlen Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, Endgültige Ergebnisse, November 1994; infas-Wahlberichterstattung zur Volkkammerwahl.
1. Größenordnungen der Nichtwähler Gemessen an der Spitzenmobilisierung -in Westdeutschland war dies die Bundestagswahl 1972 mit der Entscheidung für den Kanzlerkandidaten der SPD Willy Brandt, im Osten war dies die erste und einzige freie Volkskammerwahl der DDR im März 1990 -ist die Wahlbeteiligung 1994 wie schon 1990 dramatisch niedrig. Im Westen steht dahinter eine langfristige Erosion, begleitet von der nachlassenden Bindungsfähigkeit der beiden großen Volksparteien. In Ostdeutschland war die hohe Mobilisierung wenige Wochen nach Vollzug der Einheit, also ganz kurzfristig binnen eines Jahres, auf ein mittleres Maß geschrumpft, und dieser Abwärtstrend kam auch 1994 nicht zum Stillstand. Während in den alten Ländern die Wahlbeteiligung 1994 immerhin moderat um 1, 9 Punkte anstieg, fiel sie in den neuen Bundesländern, schon 1990 deutlich unter dem Niveau des Westens, um eben die gleiche Punktzahl noch weiter zurück. Im Osten betrug so die Zahl der Nichtwähler 1994 ein gutes Viertel, im Westen knapp ein Fünftel (vgl. Tabelle 2).
Natürlich kann keine Demokratie-Theorie festlegen, welche Höhe an Wahlbeteiligung optimal für ein Gemeinwesen wäre. Eine totale Mobilisierung muß ebenso Skepsis hervorrufen wie ein extrem geringes Engagement, das etwa bei russischen Regionalwahlen zu beobachten war. Obwohl dort das Quorum für die Gültigkeit der Wahl mit 25 Prozent Wahlbeteiligung extrem niedrig angesetzt ist -in Ungarn legte man beispielsweise die Grenze bei 50 Prozent fest -, kam es in Rußland als Indiz für die aufgelöste politische Struktur, die in der Demokratie noch keinen rechten Neuanfang gefunden hat, zu einer Reihe von ungültigen Wahleh. Gemessen an der politischen Kultur Westdeutschlands zieht der Wahlsoziologe Rainer-Olaf Schultze zur Frageder Höhe von Wahlbeteiligung folgendes Resümee: „Eine Beteiligung von um oder gar unter 50 Prozent der Wahlberechtigten, wie bei der Europawahl, aber auch bei einigen Landtagswahlen der letzten Jahre in den jüngeren Altersgruppen, muß ein Warnsignal sein. Schlägt nämlich die kurzfristige Wahlenthaltung in dauerhafte politische Apathie, insbesondere in der jüngeren Generation, um, führt dies zu nachhaltigen Legitimationsproblemen für das politische System, die sicherlich schwerwiegender sein werden als die von den Konservativen als Folge gestiegener Partizipation beschworenen Regierbarkeitsprobleme.“
Die Tendenzen zur politischen Desintegration sind also im Osten, dem im Einheitsprozeß das größere Maß an Anpassung abverlangt wird, sichtlich virulenter. Andererseits haben die harten sozialen und finanziellen Opfer, die von beiden Seiten für die Einheit zu tragen sind, den Trend in die politische Verweigerung seit 1990 nicht dramatisch verschärft, so wenig wie sie am 16. Oktober dem Rechtsradikalismus eine wirkungsvolle Plattform boten.
Schon 1990 stellten die Nichtwähler die drittgrößte Formation unter den Wahlberechtigten -ein Sammelbecken, das somit größer ausfiel als die Zahl der Stimmen für alle kleinen Parteien zusammen. Dies wiederholte sich auch 1994. Die Nichtwähler als eine Art „Volkspartei“ zu bezeichnen trifft zumindest dem Volumen nach einen richtigen Kern. Im Unterschied zu den Volksparteien braucht sich das Lager der Nichtwähler wohl nicht um seinen Bestand zu sorgen.
Keine der großen Volksparteien, weder die stärkere Union, noch die schwächere SPD, hat 1994 noch ein Drittel der Wahlberechtigten hinter sich (vgl. Tabelle 3). Die Front der Verweigerer, von denen sie kein Mandat zur Interessenvermittlung erhalten haben, bekommen sie einstweilen aber nur an ihren Finanzen zu spüren. Bei der Wahlkampfkostenerstattung ist nach jüngstem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Zahl der Wähler zu berücksichtigen und nicht wie bisher die Umlage auf die Zahl der Wahlberechtigten. 2. Effekte der Mobilisierung für die Parteien Die unterschiedliche Tendenz in Ost und West, hier Zunahme der Nichtwähler, dort Rückgang, hat sich auf die Parteien in bedeutsamer Weise ausgewirkt: für die FDP nachteilig in beiden Wahlgebieten, für SPD und PDS hier wie dort zum Vorteil, während für die Union, auch für Bündnis-Grüne wie für die anderen Parteien gegensätzliche und damit gemischte Effekte zu verzeichnen waren. Welche Größenordnungen dies im einzelnen angenommen hat, dokumentiert Tabelle 4.
Die FDP wurde in beiden Wahlgebieten durch den Trend in die Wahlenthaltung dezimiert, dabei überproportional stark im Osten, wo sie 1990 als Mit-Architektin der Einheit besonders honoriert worden war. Die Union konnte im Westen aus dem Nichtwählerlager aktivieren und damit die Voraussetzungen für ihre erfolgreiche U-Kurven-Mobilisierung schaffen. Ihre Richtungskampagne, deren wichtigstes Versatzstück in der Dramatisierung der „Roten Socken“ bestand, hatte in den alten Ländern antikommunistische Affekte revitalisiert und entsprechend sich dort für die Union positiv ausgewirkt. Im Osten dagegen schien diese Kampagne eher kontraproduktiv. Jedenfalls speiste die CDU hier aus ihrem bisherigen Stimmen-Reservoir die Abwanderung ins Lager desillusionierter Nicht-wähler. Ähnlich wie der Union erging es Bündnis'90/Die Grünen, die als Partei kein konsistentes Ost-West-Profil aufzubieten hatten.
Die ostdeutsche Anti-Regierungsstimmung schlug für SPD wie PDS positiv zu Buche. Der SPD gelang es -noch erfolgreicher im Westen als im Osten -, die Zahl der Nichtwähler von 1990 zu reduzieren und große Teile dieser Gruppe diesmal für sich zu gewinnen. Nur die PDS tat es ihr gleich, wobei die Nichtwähler-Mobilisierung der PDS in Ostdeutschland nahe an das entsprechende Volumen, das die Sozialdemokraten aktivierten, heranreichte. Dies unterstreicht die besondere Konkurrenzsituation der beiden Parteien in den neuen Bundesländern. 3. Regionale Struktur der Wahlenthaltung Mehr denn je haben sich 1994 die Ländergrenzen als sozio-kulturelle Schwellen erwiesen, von denen ein bestimmtes Maß an Mobilisierung ausgeht. Neben dem schon erwähnten Ost-West-Gefälle in der Wahlbeteiligung ist eine Nord-Süd-Achse zu beobachten, nur durchbrochen von der aus dem Nord-Süd-Schema ausscherenden Reaktion der Stadtstaaten Bremen, Hamburg und auch Berlin. Hier war die Wahlbeteiligung mit Werten unter 80 Prozent ähnlich der im Süden gewesen. Bayern und Baden-Württemberg gehören traditionell zu jenen Regionen mit schwacher Wahlbeteiligung. Ein plausibles Erklärungsraster führt dies auf den Umstand zurück, daß in jenen Gebieten, in denen sich hegemonial die Vormachtstellung einer Partei herausgebildet und über lange Zeit gehalten hat, die Wahlnormen mangels effektiven Parteienwettbewerbs unterentwickelt blieben, ein politisch-kulturelles Moment, das über lange Zeit fortbestehen kann.
Das Saarland und West-Berlin sind die einzigen Westgebiete, in denen 1994 die Wahlbeteiligung rückläufig war. Zu erinnern ist daran, daß am 16. Oktober im Saarland zusammen mit der Bundestagswahl auch Landtagswahlen abgehalten wurden: eine doppelte Motivation zu wählen, die aber offenbar ausblieb. Andererseits zählt das Saarland seit jeher zu den mobilisierungsstärksten Bundesländern, und diesem Ruf blieb es auch 1994 treu. In West-Berlin sackten die Bonner Regierungsparteien besonders ab, mangelnde Wahlbeteiligung verschärfte diesen Trend.
Umgekehrt war in Mecklenburg-Vorpommern, wo ebenfalls wie im Saarland und in Thüringen zusammen mit der Bundestagswahl Landtagswahlen stattfanden, ein besonderer Mobilisierungssog zu verspüren. Im Nord-Osten stieg als einzigem der neuen Bundesländer die Wahlbeteiligung an. Etwas von diesem Mobilisierungsdruck war wohl auch in Thüringen zu erkennen, das am Ende die höchste Beteiligungsquote aller ostdeutschen Länder aufwies (vgl. Tabelle 5).
Eine Segmentationsanalyse der 328 Wahlkreise, getrennt vorgenommen nach Ost und West, bestätigt im wesentlichen die dominante Erklärungskraft der Ländergrenzen In der Analyse werden homogene Gruppen gebildet, die in sich ein ähnliches Verhalten in bezug auf die Wahlbeteiligung aufweisen. Untereinander sollten die Gruppen diskrepant sein. Dies ermöglicht, trennende Erklärungsgrößen zu bestimmen.
Für den Westen haben zur Erklärung des Anteils der Wahlbeteiligung 1994 die Bundesländer in Kombination mit dem Faktor Stadt/Land sowie der landwirtschaftlichen Nutzung die statistisch signifikanteste Bedeutung. Die Spanne der Kontraste liegt zwischen 29, 5 Prozent Nichtwählern im landwirtschaftlichen Raum Bayerns und 17, 5 Prozent in den eher ländlichen Wahlkreisen der Bundesländer Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland.
In Ostdeutschland einschließlich ganz Berlins übernehmen die Bundesländer nicht eine so erklärungskräftige Rolle wie in Westdeutschland, ausschlaggebender ist hier die Höhe des PDS-sowie des CDU-Anteils. Dort konstrastieren die Wahlkreis-gruppen mit dem höchsten und niedrigsten Anteil an Nichtwählern zwischen 28, 8 Prozent (45 eher städtisch geprägte Wahlkreise, in denen die PDS mittlere Anteile zwischen 15 und 24 Prozent aufweist, die CDU auf eher unterdurchschnittliche Resultate kam) und 18, 4 Prozent (fünf Wahlkreise in West-Berlin, in denen die PDS nur eine Rand-rolle spielt, die CDU aber überdurchschnittlich verlor). 4. Soziale Struktur der Nichtwähler Zur sozialen Struktur der Nichtwähler bemerkt der Nichtwähler-Forscher Michael Eilfort: „Frauen neigen eher zur Wahlenthaltung als Männer, junge Leute und Senioren eher als , Mittelalte*, Protestanten eher als Katholiken. Die Stadt beteiligt sich in geringerem Maße als das Land, Menschen mit geringerem Sozialstatus und Randgruppen sind teilnahmsloser als angesehene, integrierte Bürger mit höherem Bildungs-, Einkommens-und Lebensniveau.“
Welche dramatische Zuspitzung die Wahlenthaltung im Wahljahr 1994 in einigen ostdeutschen Bundesländern erfahren hat, zeigt Tabelle 6.
Angesichts der großen Wahlverweigerung junger Frauen und Männer kann man nachvollziehen, wenn sich der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Kurt Biedenkopf, über seinen Wahlsieg nach eigenem Bekenntnis nicht richtig freuen wollte
Eine Segmentationsanalyse mit dem gleichen Ziel wie bei den Wahlkreisen, nämlich die erklärungskräftigsten sozialen Variablen für die Wahlenthaltung 1994 zu finden, deckt Unterschiede zwischen Ost und West auf Um der Analyse eine ausreichende Fallzahl zugrunde zu legen, wurden neben den bekennenden Nichtwählern auch die Unentschlossenen einbezogen, nachdem sich in den ersten Analysegängen eine innere Verwandtschaft beider abgezeichnet hatte.
In Westdeutschland bildet das Modell neun in sich homogene Endgruppen ab, zwischen denen der Nichtwähler-ZUnentschlossenenanteil von 9, 5 bis nahezu 100 Prozent variiert. Tragende Variable ist in der ersten Stufe das Alter (unter 24 Jahre, 25 bis 49 Jahre, 50 Jahre und älter). Es folgen in der zweiten Stufe die Bildung und in der dritten Stufe das Geschlecht bzw. die Haushaltsgröße. Auf einer letzten Stufe sorgt auch noch der Berufs-status für eine weitere signifikante Erklärung des Nichtwählerverhaltens.
In Westdeutschland tendierten 1994 Männer in der jüngsten Altersgruppe mit niedrigerem Ausbildungsstatus zu 47 Prozent zu Wahlenthaltung und Unentschlossenheit; die entsprechende Frauen-gruppe war nahezu vollzählig unentschlossen bzw. nicht zur Wahl bereit. Bei weiterführender Bildung sprach sich nur jeder Dritte der jungen Leute gegen eine Wahlteilnahme aus. In der Altersgruppe der 25-bis 49jährigen fand sich die größte Tendenz zur Wahlabstinenz bei jenen, die einen formalen Schulabschluß unterhalb des Abiturs haben und zugleich entweder aus großen Haushalten stammen oder einen niedrigen Berufsstatus besitzen. In diesen beiden Gruppen, die wahrscheinlich eher den unteren Gesellschaftsschichten zuzurechnen sind, lag der Nichtwähleranteil zwischen 42 und 44 Prozent. Wer dagegen in dieser Altersgruppe einen hohen Berufs-oder Bildungsstatus aufweist, tendierte nur zu 24 bzw. zu 15 Prozent zur Wahlenthaltung. Die älteste Altersgruppe (über 50 Jahre) war in sich am homogensten und wies den höchsten Wahleifer auf. Aber auch hier macht die Bildung noch einen Unterschied. Über 50jährige, die eine hohe Bildung genossen haben, wollten nur zu 9, 5 Prozent ihre Stimme verweigern, die Gegengruppe immerhin zu 18 Prozent.
In Ostdeutschland bildet das Modell sechs in sich homogene Gruppen ab. Die erklärungskräftigsten Variablen sind hier: Geschlecht auf der ersten Stufe; das Alter auf der zweiten, die Bildung bzw. die Haushaltsgröße auf der dritten. Frauen tendierten in den neuen Ländern generell stärker zur Wahlenthaltung als Männer, vor allem wenn sie unter 35 Jahre alt sind und zudem noch aus großen Haushalten stammen. Bis zu 56 Prozent dieser jungen Frauen, die heute im Unterschied zu DDR-Zeiten mangels Kindertagesstätten kaum Aussichten auf berufliche Beschäftigung haben, wollten nicht wählen gehen. Der entsprechende Anteil sank auf 26 Prozent, wenn ihre familiäre Belastung und Verantwortung aus einem kleinen Haushalt herrührte. Sofern Frauen das Alter über 35 Jahre erreicht hatten, wollten sie mit 21 Prozent eher in durchschnittlicher Größenordnung wählen gehen.
Bei den Männern lag der Alterssplit bei 50 Jahren. Die älteren Männer sind -ähnlich wie in Westdeutschland die ältere Generation im ganzen -am wahleifrigsten. Nur etwa 12 Prozent wollten sich verweigern. In der Generation unter 50 Jahre führt ein Mehr oder Weniger an Bildung zu unterschiedlicher Wahlmotivation. Männer der unteren Bildungsstufen, deren Beschäftigungsperspektiven aufgrund geringer Qualifikation trübe sein mögen, bekannten sich zu zwei Fünfteln, die der Gegen-gruppe nur zu einem Fünftel als Nichtwähler.
Im sozialen Profil der Nichtwähler 1994 spiegeln sich also einerseits die vertrauten geschlechts-und altersspezifischen Unterschiede, es läßt aber auch erkennen, wie stark 1994 die sozioökonomischen Lebensbedingungen und die damit verbundenen Lebensperspektiven die Bereitschaft zur politischen Partizipation mit beeinflußt haben.5. Motive für Wahlenthaltung 1994 war ein Jahr der Demokratie für Deutschland. Würde die Dramaturgie des Wahljahres die Wahlberechtigten eher lähmen oder zum Wahlgang stimulieren, vor allem mit Blick auf den finalen Höhepunkt am 16. Oktober?
Zum Jahresbeginn signalisierten die Wirtschaftsdaten nach der schwersten Rezession eine Tendenz nach oben. An der Massenarbeitslosigkeit hatte sich aber wenig geändert, ebensowenig wie an der hohen Staatsverschuldung und den steigenden Abgaben. Regierung und Parteiensystem standen also nach wie vor unter dem Druck der Frage, wie die Arbeitslosigkeit bekämpft, die Finanzkrise gelöst, der Umbau des Sozialstaates in Angriff genommen werden soll.
Die von manchen erwartete Angleichung des Wählerverhaltens in Ost und West trat nicht ein. Trennende Tendenzen zeigten sich nicht nur in der Wahlteilnahme, sondern auch im Wahlausgang selbst. Im Westen wurde die Regierungsmehrheit geholt, der Osten wählte die Opposition. Auch in den Motiven der Nichtwähler lassen sich einige charakteristische Differenzen feststellen. Vielschichtig mischen sich Ursachen und Motive zu einem abnehmenden Wahlengagement, das seit der Volkskammerwahl 1990, einem Plebiszit für einen raschen Vollzug der deutschen Einheit, im Osten stark gesunken war.
Sowohl traditionelle als auch aktuell-situative Faktoren spielen hier eine Rolle. In Ostdeutschland fehlt es den etablierten, westlich orientierten Parteien an verankerten und fest entwickelten Partei-bindungen, die im Rahmen einer soziokulturellen Vernetzung Wähler und Wählerinnen mobilisieren können. Wählen als repräsentativ-demokratische Verhaltensnorm wird mehr als Recht, denn alsPflicht eingestuft; dies kann auch bedeuten, das demokratische Recht auf Wahlverweigerung für sich in Anspruch zu nehmen. Wählen als Bürgerpflicht, diesem Verhaltenskodex stimmten im Osten denn auch nur 38 Prozent der Wähler und Wählerinnen gegenüber 52 Prozent im Westen zu
Darüber hinaus spiegelt das Meinungsbild der ostdeutschen Nichtwähler auch Enttäuschung über die Politik und die politischen Akteure in der jüngsten Zeit. Nach der Euphorie über die Errungenschaft der Demokratie und der Hoffnung auf „blühende Landschaften“ ist Ernüchterung über das System der repräsentativen Demokratie eingekehrt, und Unzufriedenheit mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung hat sich breitgemacht. Daß ihre Illusionen verlorengegangen seien, bekannte fast ein Drittel der Nichtwähler (31 Prozent), und sie beklagen ihren mangelnden Einfluß auf Politik bzw. Politiker. Sie sind enttäuscht über das geringe Gewicht ihrer Stimme. Gegen die schlechte Politik zu protestieren, ist ebenfalls für ein knappes Drittel (32 Prozent) ein Beweggrund für die Wahlenthaltung.
Im übrigen dominiert unter den bekennenden Nichtwählern im Osten wie im Westen die Einschätzung von Kompetenzverlust und Machtversessenheit der politisch Aktiven. Nicht-Wahl gilt hier wohl als eine Variante der Wahlentscheidung, die ein Äquivalent zur Protestwahl bildet. Auf die Wahl einer anderen oder alternativen Partei als Mittel des Protests wird dabei bewußt verzichtet. So klagt jeweils etwa ein Drittel (Ost: 33 Prozent, West: 35 Prozent), es gebe zu wenige vertrauenswürdige und sachkundige Politiker. Kritik am Zustand der Parteien nennen immerhin noch ein Viertel im Westen und gut ein Fünftel im Osten als Grund für ihre Nicht-Teilnahme an der nationalen Wahlentscheidung. Neben der Parteienkritik hört man auch, es stünden keine wirklichen Alternativen unter den zur Auswahl stehenden Parteien zur Verfügung. In diesem Sinne äußerten sich 21 Prozent der Nichtwähler in Bayern anläßlich einer Befragung kurz vor der Landtagswahl im September 1994.
Das Argument „Vielzahl der Wahltermine 1994“ oder eine „Überfrachtung der Medien mit politischer Berichterstattung“ hat in Ost (13 Prozent bzw. 8 Prozent) wie West (12 Prozent bzw. 6 Prozent) nur Minderheiten vom Gang an die Urnen abgehalten.
Die politisch hochaktive Phase im Osten Deutschlands mit offener Teilnahme am politischen Geschehen hat sich immerhin nicht in ihr Gegenteil gewendet, hat nicht mangels Interesse oder aus Enttäuschung zu einem Rückzug ins Private geführt. Nur ein Viertel bekundet, kein Interesse mehr an der Politik zu haben.
Der entsprechende Wert liegt in Westdeutschland deutlich höher. Hier, wo seit Mitte der achtziger Jahre sinkende Wähleranteile der etablierten großen Volksparteien und abnehmende Mitglieder-zahlen der Parteien auflösende Parteibindungen signalisieren, verliert auch das Wählen als grund-demokratische Verhaltensnorm politischer Mitwirkung an Bedeutung. Vor dem Hintergrund eines Wertewandels, gefördert von emanzipatorischen und ökologischen Bewegungen, die in ihren Aktivitäten direktdemokratische Praktiken politischer Partizipation favorisieren, finden insbesondere in der nachrückenden Wählergeneration konventionelle Formen politischer Beteiligung im Sinne einer Bürgerpflicht -wie das Wählen -vergleichsweise weniger Anklang.
In diesem Licht -einer Abkehr von der politischen Klasse und ihrem Politikstil -ist auch im Westen das von Nichtwählern geäußerte Desinteresse an der Politik (38 Prozent) zu verstehen: als ein Motivkreis, der sich aus dem Verlust des Vertrauens in die Politiker und ihre Kompetenz, Protest gegenüber der Politik und Kritik am Zustand der Parteien zusammenschließt. Gewichtet man die Motive von Nichtwählern 1994, wird deutlich: Wahlenthaltung ist mehr und mehr eine bewußte und wohl überlegte Entscheidung, nicht bloß Resultat von politischer Apathie und Desinteresse. Neben politischer Unzufriedenheit und aktuellem Protest signalisiert Wahlverweigerung auch wachsende Skepsis gegenüber der Wahl als dem wesentlichsten Instrument repräsentativ-demokratischer und konventioneller Partizipation in ihrer Funktion der Interessenvermittlung zwischen unten und oben.
III. Zusammenfassung
Abbildung 27
Tabelle 3: Zweitstimmenanteile bei den Bundestageswahlen 1994 und 1990 Quelle: Statistisches Bundesamt, Endgültige Ergebnisse, Wiesbaden, November 1994.
Tabelle 3: Zweitstimmenanteile bei den Bundestageswahlen 1994 und 1990 Quelle: Statistisches Bundesamt, Endgültige Ergebnisse, Wiesbaden, November 1994.
Politisches Handeln durch Wählerauftrag zu legitimieren ist heute ein immer schwierigeres Unterfangen. 1994, das Jahr der Demokratie, hat keinen Durchbruch, geschweige denn Höhepunkt in der Wählermobilisierung gebracht wie etwa vor Jahren in Westdeutschland bei der Bundestagswahl 1972die Entscheidung über die Reformpolitik Willy Brandts oder 1990 in der DDR die erste freie Volkskammerwahl mit Wahlbeteiligungen von über 90 Prozent. Trotz des Versuchs der Regierungs-wie Oppositionsparteien, den Wahlkampf 1994 zu einer Richtungsentscheidung zu dramatisieren und die Lager entsprechend zu polarisieren, blieb das Wahlklima eher müde und emotionslos. Das Ergebnis war eine für nationale Wahlen schwache Wahlbeteiligung, im Westen nur leicht angestiegen, im Osten noch weiter gesunken. Gegen diesen Anschein politischer Lethargie, was die bestehenden Verhältnisse anbelangt, wirkte aber unterschwellig eine Wendestimmung, die kurz vor ihrem Ziel steckenblieb.
So setzte sich 1994 zwar erneut die sogenannte U-Kurve durch. Sie beschreibt den charakteristischen Mobilisierungsverlauf während einer Wahlperiode. Auf den Höhepunkt der Mobilisierung im Bundestagswahljahr folgte stets eine Schwäche-phase für die Regierungsparteien, die erst gegen Ende der Wahlperiode wieder aufgefangen werden konnte. Dieser U-förmige Mobilisierungsmechanismus hat bislang Machtwechsel durch Wahlen in Bonn verhindert. Denn, wer an der Regierung ist, hat es in der Hand, im entscheidenden Moment alle Instrumente der politischen Kommunikation und Mobilisierung, die dank der Regierungs-Agenda zur Verfügung stehen, weit wirkungsvoller als die Opposition zum Einsatz zu bringen.
Das Wahlergebnis 1994 reflektiert aber auch -Auswirkung des langfristigen Wandels im Parteiensystem und der veränderten politischen Achsen im vereinigten Deutschland -Widersprüche zu der bisherigen Gesetzmäßigkeit. Die größte Herausforderung für die tonangebenden Volksparteien sind dabei die Nichtwähler. Ihr Lager ist größer als das Stimmenreservoir aller kleinen Parteien zusammengenommen. Bei den Nebenwahlen des Jahres 1994 waren die Nichtwähler bereits stärkste Formation. Strukturell verschärfen sich die Mobilisierungsprobleme, so daß es ziemlich verfehlt wäre, Wahlenthaltung primär auf politisches Desinteresse zurückzuführen statt vielmehr auf soziale Desintegration. Die Problemgruppen 1994, mit unterschiedlichen Akzenten in Ost und West, sind: Junge Menschen, insbesondere junge Frauen, sowie mittlere Altersgruppen mit geringem Qualifikationspotential und somit schlechten Berufs-und Lebensperspektiven.
Ursula Feist, Diplom-Psychologin; Leiterin der Abteilung Wahlforschung bei infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft, Bonn. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Wahlverhalten, zum Wandel des Parteiensystems und zur Elitenforschung.
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