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What’s liberal? Der Liberalismus zwischen Triumph und Erschöpfung | APuZ 10/1995 | bpb.de

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What’s liberal? Der Liberalismus zwischen Triumph und Erschöpfung

Hans Vorländer

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Zusammenfassung

Der Befund ist paradox: Der Liberalismus hat mit seinen Forderungen nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft den Sieg über seinen sozialistischen Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme und Ideologien davongetragen, gleichzeitig aber sind liberale Parteien einem politischen Verfalls-und Auszehrungsprozeß ausgesetzt. Es scheint, als habe sich der Liberalismus totgesiegt. Der Siegeszug der liberalen Idee hat einem parteipolitisch organisierten Liberalismus weitgehend Programm und Basis entzogen. Ist der Liberalismus eine erfolgreiche und mächtige politische Tradition in Westeuropa und der westlich geprägten Welt geworden, so hat der politisch organisierte Liberalismus seine politische Mobilisierungs-und Integrationskraft weitgehend verloren. Aber auch die liberale Gesellschaft, die individuelle Freiheit, wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit und sozialen Wohlstand zu ihren Lebensgrundlagen zählt, ist faktisch verunsichert, weil sie soziale, humane und ökologische Folgekosten zeitigt, die ihren Zukunftsprospekt verdunkeln. Der Liberalismus muß sich folglich mit seinen eigenen Ambivalenzen auseinandersetzen. Ein ökonomistisch verengter Liberalismus, der sich am Ende des 20. Jahrhunderts als unreflektierter Träger wirtschaftlicher und industrieller Modernisierung verstünde und allein den ökonomische Interessen verfolgenden Wirtschaftsbürger zu seinem alten und neuen Leitbild machte, würde die Folgekosten ignorieren und extemalisieren und die Um-und Nachwelt belasten. Nur ein Liberalismus, der sein ursprüngliches Leitbild einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger einholt, hat heute seine Berechtigung und vermag, wenn er die Politik der Bindestrich-Liberalismen überwindet, seine kritisch-regulative Kompetenz für die Politik am Ende des 20. Jahrhunderts wiederzugewinnen.

Der Befund ist zunächst paradox: Die liberale Idee hat sich durchgesetzt, liberale Parteien sterben aber dahin. Hat der Liberalismus mit seinen Forderungen nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft den Sieg über seinen Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme und Ideologien davongetragen, so verschwinden liberale Parteien, die einen früher, die anderen später, im Orkus der Geschichte. Der Liberalismus, so scheint es, hat sich totgesiegt.

Das Paradoxon aber läßt sich in eine Kausalität überführen: Weil der Liberalismus erfolgreich war, ist er parteipolitisch zum Aussterben verurteilt. Die liberale Idee hat an politischer Mobilisierungs-und Integrationskraft verloren, weil die zentralen Prinzipien verwirklicht worden sind. Demokratisierung, Parlamentarisierung, Grund-und Bürgerrechte, Freiheitsrechte sind heute Bestandteil der europäischen und nordamerikanischen Demokratien. Der genuin liberale Stoff, von dem sich ein politisch eigenständig organisierter Liberalismus ernähren kann, ist heute Gemeingut geworden. Der Siegeszug der liberalen Idee hat einem parteipolitisch organisierten Liberalismus weitgehend Programm und Basis entzogen

Der Liberalismus, ursprünglich das besondere Anliegen des dritten, des bürgerlichen Standes, der sich gegen Feudalismus und Absolutismus, gegen ständisch strukturierte gesellschaftliche Hierarchien und despotische Willkürherrschaft auflehnte, gehört heute zu den allgemeinen Ordnungsprinzipien liberaler Demokratie und offener Gesellschaft. Es erscheint deshalb durchaus gerechtfertigt, vom Liberalismus als der letztlich erfolgreichsten und mächtigsten politischen Tradition in (West-) Europa und der westlich geprägten Welt zu sprechen, auch wenn der Liberalismus als soziale Bewegung schon früh, nämlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, an Momentum eingebüßt und als politische Partei sehr schnell, und mit dem Ende des Ersten Weltkriegs bleibend, an Einfluß und Bedeutung zugunsten der konkurrierenden Strömungen von Konservatismus und Sozialismus verloren hat und er in seinen Grundprinzipien bis heute politisch angefochten und intellektuell kritisiert wird. Der Liberalismus, daran kann es keinen Zweifel geben, gehört zur überparteilichen, konstitutionellen Grundausrüstung westlicher Demokratien und hat in kapitalistischen Gesellschaften die ökonomischen und weltanschaulichen Verhaltensnormen der Menschen nachhaltig geprägt.

Ob das so bleiben muß und wird, ist indes eine offene Frage. Zu schnell ist die Euphorie der europäischen Revolutionen des Jahres 1989 und die damit verbundene Hoffnung, der Transformationsprozeß der ost-und mitteleuropäischen Gesellschaften könne reibungslos nach dem liberalen Muster von Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit vollzogen werden, Ernüchterung und Enttäuschung gewichen. Und auch in den westlichen Industrieländern, in denen die Idee liberaler Demokratie in ihrer Verbindung mit den Prinzipien gesellschaftlicher Autonomie und frei-marktwirtschaftlicher Ökonomie in jahrzehntelanger Praxis eingeübt war, beginnen nun, nach dem Verlust des kommunistisch-sozialistischen Gegen-bildes, die Selbstzweifel zu nagen

Neben den sozialen und ökonomischen Spannungslagen, die sich mit dem Wegfall von Markt-grenzen verschärfen, gibt sich die „offene Flanke der offenen Gesellschaft“ zu erkennen: Sind liberale Gesellschaften im Inneren so gefestigt, daß sie die Probleme zu lösen vermögen, die sich aus der Öffnung politischer wie wirtschaftlicher Grenzen ergeben -von der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit auf globalisierten Märkten bis zu Proble-men der Migration und des Umgangs mit ethnischer und kultureller Heterogenität im Innern ohne daß sie, wie einige von ihnen in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, ihre freiheitliche Ordnung gefährden oder aufgeben? Oder könnte ein Mangel und deshalb die besondere Gefährdung der liberalen Gesellschaft gerade darin bestehen, daß diese, wie Joachim Fest schreibt, „keinen greifbaren, die Leiden und Ängste der Menschen rechtfertigenden Lebenssinn“ vermittelt? Liberale Gesellschaften halten „keinen mobilisierenden Zukunftsprospekt bereit und werfen den einzelnen auf lediglich das zurück, was er als individuelle Erfüllung begreift“ Hat sich der Liberalismus also mit seiner Emphase von individueller Freiheit, wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeit und gesellschaftlicher Modernisierung so weit überreizt, daß er nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, nicht nur seine politische Schlagkraft verloren, sondern auch seinen sozialen und kulturellen Gestaltungsanspruch verwirkt hat?

Politische Auszehrung und programmatische Fragmentierung

Nicht von Anfang an haben ideen-und parteipolitischer Liberalismus einen getrennten Entwicklungsverlauf genommen. Der Liberalismus war die Philosophie einer sozialen Bewegung, die die Revolutionen in Nordamerika und in Frankreich wie auch den deutschen Vormärz getragen hatte. In diesen Revolutionen brach sich eine neue Weit-sicht Bahn, die mit den hergebrachten feudalistischen und monarchisch-absolutistischen Traditionen nicht mehr vereinbar war. Das aufstrebende Bürgertum suchte die neue kommerzielle Gesellschaft gegen die (land-) aristokratischen Privilegien und Widerstände durchzusetzen und den Raum von Handel und Erwerb über die lokalen Märkte und Landesgrenzen hinaus auszudehnen. Politisch sollte die neue Gesellschaft nach den Prinzipien individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit verfaßt und Herrschaftsausübung an die Wahrung individueller Grundrechte und durch von repräsentativ und gewaltenteilig eingerichteten Institutionen gesetztes Recht gebunden sein.

Der Liberalismus war zunächst eine politisch-soziale Emanzipationsbewegung, die angetreten war, die bestehenden politischen und gesellschaft-liehenVerhältnisse zu überwinden, und dabei als „Bewegungspartei“ (Carl von Rotteck) die revolutionäre Einheit von Wirtschafts-und Bildungsbürgertum einerseits und Massenbewegung der Bauern und Handwerker andererseits verkörpern konnte Doch bald schon erlahmte die soziale und politische Integrationskraft des Liberalismus. Die Revolution radikalisierte sich, in sozialer wie auch in demokratischer Hinsicht. Die „liberale Partei“, wie Friedrich Julius Stahl sie in Abgrenzung von der „demokratischen Partei“ bezeichnete bestand sowohl auf einer begrenzten und repräsentativen Form der Demokratie als auch auf dem Merkmal bürgerlicher Selbständigkeit, an das beispielsweise auch die Ausübung des Wahlrechts gebunden war. Damit war aber zugleich ein Prozeß eingeleitet worden, der zur besitzindividualistischen Verengung des Liberalismus führte; aus dem sozialen Leitbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft wurde eine Ideologie des Besitz-und Bildungsbürgertums. Der Liberalismus hielt zwar zunächst noch an den zentralen politischen Forderungen nach Konstitutionalisierung der Staatsgewalt, Parlamentarisierung und Freiheitsrechten fest, wie etwa die Deutsche Fortschrittspartei 1861 bei ihrer Gründung, als „regierende“ Partei in Preußen und im gegründeten Deutschen Reich aber gab der deutsche Liberalismus Ministerverantwortlichkeit, allgemeines Wahlrecht (anstelle des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts) und politische Freiheitsrechte zugunsten sozialer und ökonomischer Status-quo-Wahrung wieder auf. Der politische Liberalismus in Deutschland suchte neue, nationale und konservative Allianzen, und wo er das nicht tat und auf seinem ursprünglichen Emanzipationsprogramm bestand, wurde er randständig

Dieser Prozeß der politischen Auszehrung und der programmatischen Fragmentierung setzte in Deutschland früher als etwa in Großbritannien ein, doch letztlich, unwiderruflich nach 1918, führte er überall dazu, daß sich der politische Liberalismus nur noch im Rahmen kleiner Parteien organisieren ließ. Dies schloß -und schließt -nicht aus, daß liberale Parteien -flüchtige -Renaissancen im Parteiensystem erleben können, die zumeist durch ihre strategische Schlüsselposition als Mehrheitsbeschafferin in Koalitions-und Regierungsbildungsprozessen begünstigt werden Doch bedeutete die programmatische Fragmentierung fast immer die Identifikation des politisch organisierten Liberalismus mit einem Bindestrich-Liberalismus, der entweder, entsprechend der richtungsideologischen Positionierung, als Rechts-oder Linksliberalismus daherkam oder der sich, gemäß der inhaltlichen Profilierung, als Bürger-rechts-, Wirtschafts-, Sozial-oder Kulturliberalismus definierte. Reformulierungen eines Gesamtliberalismus, der das Programm des revolutionären Liberalismus eingeholt und aktualisiert hätte, blieben die Ausnahme, sie fanden sich etwa im New Liberalism der englischen Liberal Party um die Jahrhundertwende oder im mit den Freiburger Thesen von 1971 verknüpften Reformliberalismus der bundesdeutschen Freidemokraten Schließlich mußte der parteipolitische Liberalismus als Folge dieser Entwicklung politischer Auszehrung und programmatischer Fragmentierung immer wieder mitansehen, wie liberale Themen und liberales Personal auswanderten und sich vielfach eine neue Organisationsheimat bei konkurrierenden Parteien und Bewegungen suchten.

Gemeinsamkeiten der liberalen Programmtradition

Welche Wege die Liberalismen in ihren jeweiligen Epochen und nationalen Unterschieden auch immer nahmen, die liberale Programm-und Ideen-geschichtekann doch als eine auf gemeinsamen Merkmalen beruhende Tradition beschrieben werden. Erstens nehmen alle Liberalismen vom Vorrang individueller Freiheit ihren Ausgang. Dieser Vorrang gründet sich auf die Überzeugung von der moralischen Autonomie und der Vernunftfähigkeit des einzelnen. Individualismus und Freiheit erhalten einen Selbstzweckcharakter. Darin brach der Liberalismus ideengeschichtlich mit der klassischen, auf die griechische Antike zurückgehenden Politiktradition. In der Unterordnung unter einen höchsten Zweck, das als „bonum commune“ oder Eudämonie (Glückseligkeit) definierte Gemeinwohl, hatte diese Tradition die eigentliche Bestimmung des einzelnen gesehen. Diese Tradition wirkte bis in das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit nach, der einzelne hatte seinen Platz in einer vorgegebenen, aus göttlichen Ursprüngen abgeleiteten kosmischen Ordnung. Der Liberalismus hingegen ordnet, ganz dem Naturrecht und der Aufklärung folgend, die Freiheit des Individuums „heteronomen“, aus Tradition, Konvention oder Religion abgeleiteten Zweckbestimmungen vor. Darin unterscheidet er sich historisch auch vom Konservatismus, wie dieser sich als Reaktion auf die Französische Revolution herausbildete. Von Benjamin Constant bis Isaiah Berlin ist die „negative“ Freiheit als Ausdruck von individueller Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zum Gegenpol der „positiven“ Freiheit der Antike und des Mittelalters herausgestellt und -von Berlin dann nachfolgend -gegen rousseauistische, hegelianische und marxistische Formen von Freiheitsverwirklichung behauptet worden

Freiheit ist, in einer Formulierung von John Stuart Mill, zuallererst „Abwesenheit von Zwang“, wobei Zwang zunächst mit der Willkürherrschaft von Despoten oder absoluten Herrschern, im Zuge der Herausbildung einer demokratischen Massengesellschaft dann aber auch mit einer egalitären, demokratischen oder über die öffentliche Meinung vermittelten „Tyrannei der Mehrheit“ identifiziert wird Gegenstand der ausgeübten Freiheit kann einmal die Verfolgung des eigenen Interesses sein, wobei es unerheblich ist, ob dieses Interesse wirtschaftlich und/oder hedonistisch motiviert ist. Die schottischen Moralphilosophen und die englischen Utilitaristen hielten beide Formen gleichermaßen für legitim. Der stärker in der humanistisch-idealistischen Tradition stehende Liberalismus -zum Beispiel Wilhelm von Humboldts, ihn rezipierend aber auch John Stuart Mills -sah in der Freiheitsausübung hingegen eher die Möglichkeit individueller Entfaltung und Selbstvervollkommnung. Und bei Kant schließlich gewinnt der Freiheitsbegriff neben seiner rationalistischen auch eine ethische Komponente. Freiheit wird emanzipativ, als zur Mündigkeit führende Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, begriffen. Gleichzeitig bedeutet Freiheit aber eben auch die aus Pflichtgefühl erfolgte Unterwerfung unter den kategorischen Imperativ und damit unter das Sittengesetz

Zweitens kennzeichnet den Liberalismus ein restriktives Staatsverständnis. Der Staat enthält in der liberalen Programmtradition eine sehr begrenzte Aufgabenzuweisung. Der Staat als der „politische Körper“ der bürgerlichen Gesellschaft, wie ihn die Vertragstheoretiker nannten, rechtfertigt seine Existenz allein durch die Zustimmung der Individuen. Seine Hauptaufgabe und zugleich der Geltungsgrund seiner Legitimität ist die Sicherung von Freiheit und Frieden im Innern. Dies geschieht idealerweise auf drei Wegen. Einmal ist der Staat gehalten, auch mittels seines „Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (Max Weber), individuelle Freiheits-, Grund-und Bürgerrechte zu gewährleisten. Des weiteren wird Machtausübung streng limitiert, konstitutionell eingehegt. Repräsentativsystem und vielfältige, horizontale wie vertikale Formen der Gewaltenteilung und manchmal auch der Gewaltenverschränkung fungieren als institutioneile Garantien individueller Freiheit. Zugleich ist der Staat mit seinen Organen an Recht und Gesetz gebunden. Und schließlich ist er gehalten, sich nicht in den Bereich individueller und gesellschaftlicher Autonomie einzumischen.

Der Liberalismus proklamierte die Trennung von Staat und Gesellschaft und sah in den engen Grenzen staatlicher Intervention die Gewähr für die volle Entfaltung individueller und gesellschaftlicher Potentiale. Wenngleich Liberale Vertrauen in den Selbstlauf von Wirtschaft und Gesellschaft gesetzt haben, war mit dem viel-zitierten Laisser-faire-Prinzip jedoch nicht grundsätzlich der sogenannte Nachtwächterstaat intendiert. Schon bei Adam Smith in seinem „Wohlstand der Nationen“ wie dann auch bei John Stuart Mill und vielen anderen liberalen Theoretikern hat der Staat Servicefunktionen im Bereich öffentlicher Aufgaben, der Infrastruktur, bei Erziehungs- und Dienstleistungsaufgaben sowie zum Teil sogar bei der sozialen Existenzsicherung verarmter Bevölkerungsgruppen Allerdings spricht die Vermutung der besseren und effizienteren Problemlösung für die Kompetenz von Individuen und Gesellschaft und deshalb gegen die staatliche Intervention.

Drittes wesentliches Merkmal der liberalen Programmtradition ist die Überzeugung von der Rationalität und Effizienz des Marktes. Der Markt sorgt über seine Mechanismen von Angebot und Nachfrage nicht nur für eine ausreichende Produktion, sondern auch für eine effiziente und gerechte Verteilung von Waren und Gütern. Voraussetzung für marktgerechtes Wirtschaften sind die freie ökonomische Betätigung des einzelnen und die Garantie des Eigentums. Die Verfolgung des individuellen Interesses hat einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen, sie sorgt für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Harmonie. Mit dem Marktprinzip verbanden Liberale aber nicht nur eine Prosperitätserwartung, sie waren zugleich davon überzeugt, daß rationale Interessen-kalküle, Arbeitsteilung, Wettbewerb und Handel auf die gesamte Gesellschaft eine gute, menschliche Leidenschaften wie Habgier, Rach-und Machtsucht zähmende und kanalisierende Auswirkung haben Und schließlich sollten Markt und Freihandel durch die Schaffung eines Geflechts zwischengesellschaftlicher Beziehungen auch eine Pazifizierung der internationalen Ordnung ermöglichen -nach dem Motto: Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander.

Soziale Erneuerung des Liberalismus am Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Philosophie des Liberalismus lief in ihrer Intention auf eine grundlegende Rechtfertigung des neuen Handels-und Industriezeitalters hinaus. Der Liberalismus des späten 17. und 18. Jahrhunderts dachte die kommerzielle Gesellschaft voraus, ohne ihre sozialen und ökonomischen Auswirkungen, die erst um die Wende ins 20. Jahrhundert mit der Ausbildung des Industriekapitalismus in ihrer vollen Schärfe und Tragweite deutlich wurden, absehen und theoretisch antizipieren zu können. Schwächen und Grenzen des Liberalismus wurden deutlich, die ihn als politische Partei an Bedeutung und Einfluß verlieren ließen und die die liberale Theorie dort zu Reformulierungsbemühungen zwangen, wo der Liberalismus nicht zu einer den Status quo verteidigenden Klassenideologie werden wollte. Diese reformliberalen Bewegungen formierten sich an der Wende in das 20. Jahrhundert, reagierten auf das Anwachsen von sozialistischer und Arbeiterbewegung, hatten dort, wo sie früh die Anpassung an die veränderten Verhältnisse zu vollziehen suchten, wie in England, großen, allerdings temporär begrenzten Erfolg, konnten aber dort, wo der Parteiliberalismus ohnehin schon geschwächt und gespalten war wie im Deutschland des Kaiserreichs, keine nachhaltige Wirkung entfalten

Doch unabhängig vom konkreten politischen Schicksal des organisierten Liberalismus vermochten die Erneuerungsbemühungen programmatische Korrekturen zu vollziehen, die den Liberalismus zumindest ideenpolitisch auf die Verhältnisse des 20. Jahrhunderts einstellten, ohne die gesamt-liberale Perspektive aus den Augen zu verlieren. Denn wollte der Liberalismus an seinem ursprünglichen sozialen Leitbild einer klassenlosen Gesellschaft freier und gleicher, selbständiger Bürger festhalten, mußte er sich den aufbrechenden Problemen von Marktversagen, sozialer Ungleichheit und besitzindividualistischer Verengung des Freiheitsbegriffs stellen.

Der neue und soziale Liberalismus öffnete Wirtschaft und Gesellschaft dem -begrenzten -politisehen Zugriff, um auf diese Weise die sozialen und materiellen Voraussetzungen individueller Freiheitsausübung, Freiheitsmehrung und Freiheitserhaltung sicherzustellen und die Effizienz des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems zu erhöhen. Zu diesem Zweck gab der Reformliberalismus auch das bis dahin wohlgehütete Tabu einer politischen Intervention in die Produktions-und Distributionssphäre des Marktes auf Das konnte zum einen dann die Rückführung oder, wo dies nicht gelingen konnte, die Begrenzung wirtschaftlicher Konzentrations-, Trust-und Kartellbildung intendieren, das konnte aber auch -mit der Forderung nach ökonomischer Demokratie, Unternehmensmitbestimmung und Betriebsparlamentarismus -auf die innere Organisation von Industrieunternehmen und die Begrenzung von Eigentümerpositionen abzielen. Und es hieß -last, but not least -eben auch die liberale Unterstützung einer progressiven Einkommensteuer, deren Aufgabe es war, Mittel für den sozialen Ausgleich, und nicht nur für infrastruktureile oder edukative und kompensatorische Maßnahmen des Staates, bereitzustellen.

Mit der sozialen und gesellschaftspolitischen Reorientierung des Liberalismus eröffneten sich zugleich auch weiterführende Perspektiven. Daß sich nun auch Liberale über Industriepolitik den Kopf zerbrechen konnten, bewies der aus der Liberal Summer School stammende Liberal Report über „Britain's Industrial Future“ von 1928, der als Yellow Book in die Geschichte einging und für lange Zeit als die „liberale Bibel“ der englischen Liberalen galt. Und John Maynard Keynes, der sich mit seiner bekannten Rede „Am I a Liberal?“ vor der Liberal Summer School als Liberaler bezeichnete, war derjenige, der in seiner „General Theory“ über Beschäftigungs-und Nachfragepolitik das wirtschaftspolitische Instrumentarium der Regierungen des 20. Jahrhunderts erweiterte und damit einem „sozialdemokratisch“ genannten Jahrhundert die theoretische Möglichkeit eines -allerdings begrenzten -staatswirtschaftlichen Interventionismus eröffnete. Und schließlich wurde auch der Beveridge-Report von 1942 zum Eckpfeiler des britischen Wohlfahrtsstaates Damit ist nicht nur etwas über die Tradition des sozialen Liberalismus in Großbritannien in der Zwischenkriegszeit und darüber hinaus gesagt -eine Tradition, die es so in Deutschland nicht gab es zeigten sich auch die ideenpolitischen Affinitäten zwischen sozialen Liberalen und sozialen Demokraten, die sich vor dem Ersten Weltkrieg auch in den begrifflichen Unschärfen niederschlugen, als die Reformliberalen nicht wußten, ob sie sich nun „Social Liberals" oder „Liberal Socialists“ nennen sollten. Aber diese Unsicherheit in der Etikettierung belegte, daß Sozialliberale und reformistische bzw. revisionistische Kräfte des Sozialismus ein gutes Stück gemeinsam auf dem Weg zurücklegen konnten, der in die Richtung der sozialen Existenzsicherung des einzelnen und zu einer gesamtstaatlichen Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft führte

Doch hatte die Reformkonvergenz zwischen erneuertem Liberalismus und politischer Arbeiterbewegung ihre Grenzen. Sozialliberale waren und blieben in der liberalen Traditionslinie, weil sie an den zentralen liberalen Werten von Individualismus und Freiheit festhielten, auch wenn diese eine gewisse soziale Anreicherung und Neubestimmung erfuhren. Zugleich bestand die Überzeugung fort, daß Marktgesellschaft und ökonomische Freiheit tendenziell die beste Gewähr für individuelle Entfaltung und allgemeinen Wohlstand bieten. War der Eingriff des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft notwendig, um die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen von Freiheit zu erhalten, so gab es doch Unterschiede in den Staatskonzeptionen zwischen sozialistischen und liberalen Reformern.

Für sozialliberale Reformer war der Staat eben nur begrenzt die Antwort auf die soziale Frage. Er war nur von instrumenteller Bedeutung für die Verwirklichung der zentralen Werte des Liberalismus und deshalb zugleich auch Ultima ratio. Das war in Deutschland nicht immer so deutlich, es galt aber besonders für die englischen und amerikanischen Varianten des Reformliberalismus. Letzterer stand in einer starken anti-etatistischen und zugleich radikaldemokratischen Tradition und konnte deshalb auf politische Rezepte setzen, die in Europa, vor allem in Kontinentaleuropa, bereits an ihre Grenzen gestoßen waren, nämlich die Bewältigung der sozialen Frage durch Assoziationen der Selbsthilfe und die Kanalisierung der industriellen und politischen Konfliktlagen durch politische und wirtschaftliche Gegenmachtbildung. In Deutschland hatte der Staat seit jeher eine herausragend starke Stellung gegenüber der Gesellschaft; Bismarck hatte ihn auch als Daseinsvorsorgestaat begründet, so daß er auch den liberalen Reformern als das zentrale Medium gesellschaftlicher Modernisierung erschien.

Doch gerade der englische New Liberalism und der amerikanische Reformliberalismus zeigten, daß der Liberalismus durchaus einen eigenständigen Ansatz zur Bewältigung der sozialen und ökonomischen Probleme der Industriegesellschaft gefunden hatte. Er ließ es zu, soziale Existenzsicherung des einzelnen und Rahmenverantwortung des Staates für Wirtschaft und Gesellschaft zu Programmbestandteilen eines zeitgemäßen Liberalismus zu machen, ohne damit den Weg in den bürokratisierten Daseinsvorsorge-und Wohlfahrtsstaat vorzuzeichnen. Wo der Liberalismus sich auf die soziale Frage einließ und sich für die politische Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft unter dem Vorzeichen sozialer Gerechtigkeit einsetzte, hat er mit seinem doppelten Postulat von größtmöglicher persönlicher Freiheit und einer gerechten Güterverteilung ganz wesentlich am Entwurf eines liberalen Wohlfahrtsstaates und einer gemischten Wirtschaftsverfassung mitgewirkt und damit auch das politisch-theoretische Fundament mitgeschaffen für die politische Welt, die sich historisch im Wettbewerb mit konkurrierenden Wirtschafts-und politischen Systemen als über-lebensfähig(er) herausgestellt hat.

Ambivalenz des ökonomischen Neoliberalismus am Ende des 20. Jahrhunderts

Von Ralf Dahrendorf ist das 20. Jahrhundert das „sozialdemokratische Jahrhundert“ genannt worden Damit hat er zutreffend die Beobachtung eingefangen, daß die liberale Demokratie in sozialer Hinsicht ergänzt worden ist und damit erst ihre politische Stabilität gewinnen konnte. Damit ist aber auch gemeint, daß sich im 20. Jahrhundert ein im wesentlichen staatszentrierter, von allen demokratischen und sozialen Parteien formulierter Politiktypus herausbildete, der dem Sozial-und Wohlfahrtsstaat zum Durchbruch verhülfen hat. Liegt hierin ein historisches Verdienst von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, so werden am Ende des 20. Jahrhunderts Zweifel an der Finanzierbarkeit und Zukunftsfähigkeit dieses Konzeptes deutlich Die Grenzen der Finanzierbarkeit scheinen erreicht, der Daseins-und Risikovorsorgestaat droht sich selbst zu überfordern, Regelungsdichte und Bürokratie werden als Bevormundung des Bürgers, vor allem aber als Instrument der Verharzung gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen angesehen. Die Handlungsfähigkeit des Staates droht an einer Überlast von Aufgaben zu ersticken

So meldete sich bereits in den achtziger Jahren ein Liberalismus wieder zu Wort, der den Vergleich zwischen bürokratischem Wohlfahrtsstaat und Staat des Ancien regime zog und die alte Forderung neu einklagte, nämlich die Freisetzung von Individuum und Gesellschaft von bürokratischer Bevormundung bei gleichzeitiger Reduzierung der Aufgaben des Staates auf das jeweils denkbare Minimum. In Frankreich und England, aber auch in den Vereinigten Staaten, weniger jedoch in Deutschland, erwachte ein neues Interesse am Liberalismus Es handelte sich im wesentlichen um einen erneuerten Wirtschaftsliberalismus, der nun das begriffliche und politische Instrumentarium bereitstellte, um die Modernisierung veralteter Industriestrukturen und die Zurückdrängung staatlicher Wirtschafts-und Sozialinterventionismen durch eine Politik der Privatisierung, der Subventionskürzungen, der Steuersenkungen und der Freisetzung unternehmerischer Initiative zu befördern.

Der Erfolg dieser wirtschaftsliberalen Politiken war unterschiedlich, in sozialer Hinsicht auch zweischneidig, weil sie zwar wie in den USA und England den wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel beschleunigten, zugleich aber auch das soziale Gefüge zu erschüttern drohten. Dieser offensiv formulierte und teilweise aggressiv implementierte Wirtschaftsliberalismus vollzog eine -national unterschiedlich konsequente -Wende von staatlichen zu marktwirtschaftlichen Problem-lösungsansätzen. Die alte liberale Programmformel, dem einzelnen innerhalb einer freien Gesellschaft ein optimales Maß an persönlicher, politischer und wirtschaftlicher Entfaltung zu garantieren, konnte hier ökonomisch als Konzept neuer wirtschaftlicher Entfaltung in Zeiten der knappen Ressource Arbeit verstanden werden.

Zugleich gaben sich in diesem ökonomischen Neoliberalismus aber auch die Ambivalenzen zu erkennen, die dem Liberalismus generell zu eigen sind und die auch wieder zuletzt, auch und gerade nach dem Sieg des Liberalismus über seine sozialistisch-kommunistischen Gegenentwürfe, Anlaß zur Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit liberaler Konzeptionen gegeben haben. Diese Bedenken gründen in einem ökonomischen Liberalismus, der sich als unreflektierter Träger industrieller Modernisierung geriert und allein den ökonomische Interessen verfolgenden Wirtschaftsbürger zu seinem alten und neuen Leitbild macht. Ein solches Leitbild aber ignoriert oder externalisiert die sozialen, humanen und ökologischen Folgen des wirtschaftlichen Handelns. Denn in der Logik dieses Leitbildes liegt ein utilitaristisch-hedonistisches Modell individueller Interessenverfolgung, das, von den Begründern der modernen Ökonomie entworfen, zwar Grundlage des Wohlstandes der westlichen Industriegesellschaften ist. Doch es macht Natur, Um-und Nachwelt zu Untertanen von instrumenteller Vernunft und auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung abzielenden Zwecksetzungen und kann, in Ermangelung anderer als über Individualinteressen und Marktrationalität vermittelter Steuerungsmechanismen, die Folgewirkungen ökonomischen Handelns nur unzureichend berücksichtigen. Dabei kann die mit diesem Modell verbundene -frühliberale -Erwartung, daß eine „unsichtbare Hand“ (Adam Smith) den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Selbstlauf harmonisch und spontan ordnend lenkt, heute, und spätestens mit der vollen Etablierung der vom Liberalismus initiierten Industriegesellschaft, nicht mehr verfangen.

Der „Markt“ ist nach wie vor ein wichtiges, aber nicht das einzige Prinzip, das die Ökonomie lenkt und die Gesellschaft organisiert. Individuelle, ökonomische wie kulturelle, Lebenschancen des einzelnen werden heute zu einem großen Teil mit staatlichen Politiken und kollektiven Instrumenten ermöglicht und realisiert, so daß der Totalrückzug aus staatlichen Aktivitäten im Sinne einer Reindividualisierung aller individuellen wie sozialen Lebensbereichen tatsächlich den Rückfall in die vielzitierte sozialdarwinistische „Ellenbogengesellschaft“ mit enormen gesellschaftlichen Folgekosten bedeuten würde. Und zudem läßt sich die Prävention ökonomischer und vor allem technologischer Risiken nicht ohne staatliche Kontrollmechanismen gewährleisten.

Das alte Leitbild neu formuliert: die Bürgergesellschaft

Was folgt aus alledem? Hat der ideenpolitische Liberalismus noch eine Chance? Was bedeutet es, liberal zu sein in einer Zeit, in der sich die großen Richtungsideologien von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus erschöpft zu haben scheinen? Der Liberalismus trat an, die Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu verwirklichen. Er glaubte, dies über Verfassungen, die Bindung staatlicher Machtausübung an Recht und Gesetz, den Schutz der Menschen-und Freiheitsrechte, die Teilung der Gewalten und die Einrichtung eines Raumes freier wirtschaftlicher Betätigung, den Markt, erreichen zu können. Freihandel, die globale Verbreitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Geltung eines, wie Kant es formulierte, Weltbürgerrechts sollten die Beziehungen zwischen Staaten und Gesellschaften auf eine zunehmend friedlichere Grundlage stellen.

Die Attraktivität dieser Forderungen ist ungebrochen. Die Revolutionen in Ost-und Mitteleuropa suchten liberale Demokratien, marktwirtschaftliche Ordnungen und die unverbrüchliche Geltung der Menschen-und Freiheitsrechte durchzusetzen und damit wieder Anschluß zu finden an die westliche Entwicklung. Damit konnte der Liberalismus, genau 200 Jahre nach der Französischen Revolution, noch einmal triumphieren. Auch wenn die Gegenkräfte groß sind, die Eruption von wohl-bekannten Nationalismen und ethnokulturellen Konflikten in Europa an die nicht für möglich gehaltene Wiederholung der Geschichte -und an das Jahr 1914 -denken läßt, so besteht doch in den Staaten Ost-und Mitteleuropas nach der historischen Wende von 1989 eine realistische Chance der Wie.derbegründung von liberalen Bürgergesellschaften. In Westeuropa und in Nordamerika wird es zugleich darum gehen, liberale Demokratie und Bürgergesellschaft weiterzuentwickeln und die individuelle und politische Freiheit auch in der gegenwärtigen sozialökonomischen und Orientierungskrise zu behaupten.

Der Liberalismus hat also ein großes Betätigungsfeld. Doch haben sich längst auch die ehemals konkurrierenden Großideologien von Konservatismus und Sozialismus in ihren modernisierten und revidierten Varianten auf die Projekte von Demokratie und Bürgergesellschaft eingelassen, so daß der Liberalismus keineswegs ein Vertretungsmonopol für die Leitidee der Bürgergesellschaft hat -zumal er keineswegs immer seinem eigenen Leitbild politisch treu geblieben ist. Eine politische Position aber, die in der liberalen Programmtradition steht, wird vielleicht sensibler und nuancierter die Entwicklung der Bürgergesellschaft begleiten und deren grundlegende Prinzipien einklagen. Immerhin stand an der Wiege des Liberalismus die Forderung nach einer offenen Gesellschaft freier und gleicher Bürger, deren Freiheitsrechte verbürgt und deren Gleichheit garantiert war. Der Status in der Gesellschaft sollte nicht aus ererbten Privilegien, sondern allein aus den Leistungen in einem ungehinderten und gewaltfreien Wettbewerb erwachsen. Und zugleich bestand der Liberalismus nicht nur auf den ökonomischen, sondern auch auf den kulturellen Lebenschancen des einzelnen. Freiheit war ein moralisches Angebot, sich selbst zu entfalten und das eigene Potential, im Bewußtsein sozialer Verantwortung, auszuschöpfen. Die Forderung nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Autonomie lag in der Lernfähigkeit von freien Menschen und freien Gesellschaften begründet. Offene Gesellschaften sollten Gesellschaften sein, in der öffentliche Kritik die Voraussetzung von politischer Aufklärung und gesellschaftlichem Fortschritt ist. Der aktive Bürger -zugleich Bourgeois und Citoyen -ist in der Lage, ökonomische und politische Rückständigkeit zu überwinden.

Ein Liberalismus, der sein ursprüngliches Leitbild einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger ein-• holt, hat auch heute seine Berechtigung. Er versucht vor allem, die Politik der Bindestrich-Liberalismen zu überwinden und eine gesamtliberale Perspektive wiederzugewinnen. Im Rahmen der selbstreflexiven Aneignung der eigenen ideenpolitischen Tradition gewinnt dann auch das frühliberale Programm von gesellschaftlicher Autonomie und politischem Minimalismus eine noch heute geltend zu machende kritisch-regulative Kompetenz. Politischer Minimalismus bedeutet dann einmal die in der verfassungsliberalen Tradition liegende Behauptung von Privatsphäre und Bür-B gerfreiheit gegenüber öffentlicher Macht und gesellschaftlicher Maßregelung. Hier führt der Liberalismus die Rolle des Anwaltes von Rechtsstaat und Grundrechten konsequent, auch gegenüber neuen, sich aus technischen Entwicklungen ergebenden Bedrohungen individueller Lebensräume, weiter. Zu dieser Wächterrolle gehört dann auch die Wahrung weltanschaulich-kultureller Liberalität gegen staatliche Intervention, aber auch gegen Ansprüche integristischer, fundamentalistischer Weltbilder. Der Staat wird auf die neutrale Durchsetzung gesellschaftlicher Toleranz genauso wie auf die Sicherung eines größtmöglichen Freiraumes individueller Betätigung wie gesellschaftlicher Selbstorganisation verpflichtet.

Politischer Minimalismus bedeutet auch die kritische Überprüfung des Staatshandelns und die konsequente Reduzierung wachsender Staatsaufgaben. Nur durch einen erneuten „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ wird es möglich sein, den modernen „bürokratischen Anstaltsstaat“ mit seinem „Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) auf das Maß zurückzuschneiden, das neue individuelle und gesellschaftliche, ökonomische wie kulturelle Betätigungsmöglichkeiten eröffnet. Privatisierung staatlicher Unternehmen und öffentlicher Dienstleistungen kann hier ein Mittel, kein Allheilmittel sein. „Entstaatlichung“ stößt dort auf Grenzen, wo kollektive Grundsicherungen im sozialen Bereich nicht, anders als mit staatlicher Hilfe organisiert werden können, ohne individuelle Lebenschancen zu beeinträchtigen. Insofern wird ein „erneuerter“ Liberalismus, der sich auf den Boden der sozialstaatlichen Transformation stellt, immer auch ein „sozialer“ sein müssen. Dabei stellt die Tradition des sozialen Liberalismus durchaus auch Mittel und Wege nichtstaatlicher Problemlösung bereit, die individuelle und soziale Autonomie sowohl gegenüber staatlicher Intervention als auch gegenüber sozialen und ökonomischen Großorganisationen zu behaupten in der Lage sind.

Mit seiner Forderung nach politischem Minimalismus vollzieht der Liberalismus zugleich die Abkehr von einem etatistischen Politikmodell. Der moderne Dienstleistungs-und Wohlfahrtsstaat ist nicht nur auf vielen Politikfeldern überfordert, er demotiviert zudem bürgerschaftliches Engagement. Die Anonymität des administrativ-bürokratischen Systems hemmt, ja verhindert zu einem guten Teil die Entfaltung mit-und zwischenmenschlicher Tugenden wie Fürsorge und Teilen. Eine Wiederbelebung des Prinzips der Subsidiarität vermag an die Tradition von Selbsthilfe und die Bereitschaft von Bürgern zu erinnern -und auch zu appellieren -, sich stärker auf die Familie, die Nachbarschaft und die Gemeinde zu verlassen als auf zentralisierte staatliche Verwaltungs-und Wohlfahrtsbehörden

Ein Paradigmenwechsel von staatszentrierter Politik zu einer aktiven Bürgergesellschaft vermag nicht nur der Überforderung des Staates und einer auf den Staat fixierten Denk-und Erwartungshaltung des Bürgers entgegenzuwirken, er stärkt nicht nur die Kräfte der Selbsthilfe und der Selbstorganisation, sondern er trägt auch der aus der klassischen politischen Philosophie tradierten Erkenntnis Rechnung, daß ein politisches Gemeinwesen letztlich vom Engagement seiner Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten getragen wird. Alexis de Tocqueville, der große Analytiker der amerikanischen Demokratie, hatte in den freiwilligen Assoziationen die Grundlage von Freiheit und Demokratie gesehen Auch der Liberalismus wird dort, wo er Freiheit nur als negative, unpolitische Abgrenzung eines Raumes privatistischer Betätigung verstanden hat, diese republikanische Komponente bürgerschaftlichen Engagements wieder verstärkt in sein Blickfeld rücken müssen. Bürgerschaftliche Kompetenzen aber müssen durch Erziehung und Bildung erworben und durch vielfältige Beteiligungsformen erweitert werden.

Erst ein schlanker Staat und eine Freisetzung bürgerschaftlicher Aktivität auf jedweden sozialen und politischen Handlungsfeldern garantieren ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Autonomie. Autonomie kann in der bürgergesellschaftlichen Perspektive nicht die Entfesselung eines prometheischen Wirtschaftsliberalismus bedeuten, der seine sozialen, humanen und ökologischen Folgekosten ignoriert. Genauso fördert ein ökonomistisch verengter Liberalismus jene Tendenzen von Atomisierung und Entfremdung, von Vereinzelung und Materialismus, die letztlich nur den Gegenkräften des Liberalismus Vorschub leisten. Mit dem Leitbild gesellschaftlicher Autonomie ist die Überzeugung verbunden, daß Privatinitiative und Selbstorganisation die Selbstheilungskräfte von Markt und Gesellschaft aktivieren und auf diese Weise den individuellen wie kollektiven Nutzen mehren. Die Räume für freie gesellschaftliche Entfaltung können aber nur erhalten und geschaffen werden durch Dezentralisierung und Entbürokratisierung einerseits und durch Pflege des aus vielfältigen, miteinander verflochtenen oder sich überlagernden Gemeinschaften bestehenden Netzes gesellschaftlicher Strukturen -von der Familie über Nachbarschaftsinitiativen bis zu freiwilligen Assoziationen -andererseits.

Die Perspektive der liberalen Bürgergesellschaft erhebt schließlich einen über die einzelstaatliche Gesellschaft hinausgehenden Anspruch. Sie will die Gesellschaft im Inneren nach dem Grundsatz größtmöglicher Freiheit und gleicher Rechte ordnen, ohne dabei Unterschiede nach Rasse, Ethnie und Geschlecht zu machen. Die Konzeption der Bürgergesellschaft macht die Achtung vor Recht und Gesetz, gegenseitige Toleranz und die prinzipielle Beachtung der Freiheitsrechte eines jeden zu den Kriterien der Zugehörigkeit zu ihr. Die Garantie von individuellen, politischen und sozialen Bürgerrechten ist auch mit kultureller und ethnischer Heterogenität vereinbar. Deshalb verteidigt der Liberalismus den „heterogenen Nationalstaat“ (Dahrendorf) ebenso, wie er an der Utopie der auf einem Weltbürgerrecht basierenden Weltbürger-gesellschaft festhält. Der Liberalismus würde sich selbst aufgeben, wollte er vor völkischen, nationalistischen oder fundamentalistischen Tendenzen resignieren. Dann wäre der Triumph von 1989 doch nur ein Pyrrhussieg gewesen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu diesem und zu anderen Erklärungsansätzen des Zerfalls und Niedergangs liberaler Parteien Hans Vorländer, Hat sich der Liberalismus totgesiegt? Deutungen seines historischen Niedergangs, in: ders. (Hrsg.), Verfall oder Renaissance des Liberalismus? Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, München 1987, S. 9-34.

  2. Francis Fukuyama hat in seinem Essay „The End of History“, zuerst veröffentlicht in: The National Interest, Summer 1989, S. 3-18, im Liberalismus den Sieger des System-und Ideologienwettbewerbs gesehen und mit seiner These vom Ende der Weltgeschichte nicht nur suggeriert, daß der Liberalismus nun konkurrenzlos ist, sondern mit ihm auch der-im Hegelschen Sinne -„vernünftige“ Schlußpunkt ideengeschichtlicher Entwicklung gesetzt worden ist. Auf seine zahlreichen Kritiker hat Fukuyama dann sehr viel differenzierter in „Das Ende der Geschichte“, München 1992, repliziert.

  3. Joachim C. Fest, Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 31.

  4. Vgl. zusammenfassend Rainer Koch, Liberalismus und liberale Idee vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, in: H. Vorländer (Hrsg.) (Anm. 1), S. 37-56. Den Forschungsstand geben wieder: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983; Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988.

  5. Friedrich Julius Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (1863), auszugsweise abgedruckt in: Kurt Lenk/Franz Neumann (Hrsg.), Theorie und Soziologie der politischen Parteien, Bd. 1, Darmstadt-Neuwied 1974, S. 99-108.

  6. Zur Entwicklung in Deutschland James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988.

  7. Das gilt insonderheit für die bundesdeutsche F. D. P., aber nicht nur für sie. Vgl. Emil J. Kirchner (Hrsg.), Liberal Parties in Western Europe, Cambridge u. a. 1988, und die Beiträge zum politischen Liberalismus in Europa und den USA in: H. Vorländer (Hrsg.) (Anm. 1), S. 119ff.; zur F. D. P.: Hans Vorländer, Die Freie Demokratische Partei, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 266-318.

  8. Vgl. Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; Hans Vorländer, Der Soziale Liberalismus der F. D. P. Verlauf, Profil und Scheitern eines soziopolitischen Modemisierungsprozesses, in: Karl Holl/Günter Trautmann/Hans Vorländer (Hrsg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190-226.

  9. Vgl. Benjamin Constant, Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen (1819), wiederabgedruckt in: ders., Politische Schriften, hrsg. und eingeleitet von Lothar Gall, Berlin 1972, S. 363-397; Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders., Four Essays on Liberty, Oxford-New York 1969, S. 118-172.

  10. John Stuart Mill, Über Freiheit (1859), Frankfurt am Main 1969. In Mills Schrift findet der liberale Freiheitsbegriff seine reife Formulierung. Mill versucht Freiheit nicht nur gegen staatliche Macht, sondern auch gegen -despotische -Mehrheiten demokratischen Ursprungs zu sichern. Das Problem einer über die öffentliche Meinung vermittelten „Tyrannei der Mehrheit“ ist Mill durch Alexis de Tocquevilles Schilderung der amerikanischen Demokratie (Über die Demokratie in Amerika, 1835/40) als ein Problem fortgeschrittener demokratischer Gesellschaften deutlich geworden.

  11. Vgl. auch Hans Vorländer, Art. Liberalismus (II. Ethisch), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXI, Berlin-New York 1991, S. 78-83.

  12. Vgl. etwa nur John Stuart Mills differenzierte Darstellung des Laissez-faire-Prinzips im XI. Kapitel des 2. Bandes seiner Principles of Political Economy with some of their Applications to Philosophy (London 1848): Von den Gründen und Grenzen des Grundsatzes „laissez faire“ oder der Nichteinmischung des Staates, abgedruckt in: Lothar Gall/Rainer Koch (Hrsg.), Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert, 5 Bde., Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1981: 4. Bd., S. 118-162.

  13. Vgl. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1980.

  14. Vgl. Karl Holl/Günter Trautmann/Hans Vorländer (Hrsg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, und zusammenfassend: Hans Vorländer, Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft. Zur ideenpolitischen Tradition des sozialen Liberalismus in Europa und Amerika, in: liberal, 35 (1993) 4, S. 74-83.

  15. Vgl. Karl Rohe, Sozialer Liberalismus in Großbritannien in vergleichender Perspektive. Zur Gesellschaftstheorie des New Liberalism 1880 bis 1914, in: K. Holl/G. Trautmann/H. Vorländer (Hrsg.) (Anm. 14), S. 117.

  16. Vgl. zu Liberal Summer School und J. M. Keynes jetzt Michael Freeden, Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914-1939, Oxford 1986, S. 78ff., 154ff„ 137 ff. Die Namen von William Beveridge und J. Maynard Keynes werden auch von Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992, S. 84, als „Musterbeispiele für Strategische Veränderungen“ angeführt, weil sie die Kraft zur Entwicklung von Plänen hatten, „deren Realisierung die Lebenschancen vieler erhöhen sollte“.

  17. Zu den Affinitäten zwischen sozialdemokratischen und reformliberalen Theoretikern und Politikern vgl. James T. Kloppenberg, Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870-1920, New York-Oxford 1986; Peter F. Clarke, Liberals and Social Democrats, Cambridge 1978.

  18. Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 16 ff.

  19. Aus dieser Beobachtung könnte man auch die Hypothese ableiten, daß sich Sozialismus und Sozialdemokratie am Ende des 20. Jahrhunderts in einer ähnlichen Lage befinden wie der Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch die Sozialdemokratie, so ließe sich pointiert spekulieren, könnte sich totgesiegt haben, weil sie so erfolgreich in der Etablierung des Sozial-und Wohlfahrtsstaates gewesen ist.

  20. Vgl. Fritz W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Politische Vierteljahresschrift, 32 (1991), S. 621-634; Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse, Der überforderte Staat, Baden-Baden 1994.

  21. Vgl. H. Vorländer (Anm. 1).

  22. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Stuttgart 1967.

  23. So argumentieren und formulieren auch die amerikanischen Kommunitaristen, die dem Liberalismus vorwerfen, er habe genau diesen Aspekt der Gemeinschaften vernachlässigt. Gemeinschaften aber erzeugen einen Sinn für soziale Gerechtigkeit, ein Gefühl der Zugehörigkeit, kurzum: in einer Welt voller Egoismen vermögen „communities“ den Sinn für soziale Gerechtigkeit und Verantwortung sowie das Gefühl der Zugehörigkeit, also Gemeinsinn zu stärken. Vgl. Hans Vorländer, Die Ressourcen der Moral. Gemeinschaft und Demokratie in der Kommunitarismusdebatte, in: Das Parlament vom 16. 12. 1994, S. 2. Aus der wissenschaftlichen Debatte: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main-New York 1993; Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1993.

  24. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835/1840), hrsg. von Jacob G. Mayer, übers, von Hans Zbinden, München 1984.

Weitere Inhalte

Hans Vorländer, Dr. phil., geb. 1954; Studium der Politikwissenschaft, der Philosophie und Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn und Genf; seit 1993 Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Verfassung und Konsens, Berlin 1981; (Mithrsg.) Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986; (Hrsg.) Verfall oder Renaissance des Liberalismus? München 1987; (Mithrsg.) Liberale Demokratie in Europa und den USA, Frankfurt am Main-New York 1990; Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776-1920, Frankfurt am Main-New York 1995 (i. E.).