Das „Gaza-Jericho-Abkommen". Eine Zwischenbilanz des Friedensprozesses im Nahen Osten
Helga Baumgarten
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Zusammenfassung
Dieser Beitrag analysiert, gestützt auf Umfragen des Palästinensischen Forschungsinstituts (CPRS) in Nablus, die in der palästinensischen Gesellschaft ein Jahr nach dem „Gaza-Jericho-Abkommen“ vorhandenen politischen Positionen zum Friedensprozeß und zur Politik der einzelnen politischen Gruppierungen. Die Stärke (kontinuierlich über 40 Prozent der Stimmen) von Yassir Arafats Fateh-Bewegung ist dabei hervorzuheben, nicht zuletzt im Vergleich mit der überraschend geringen Unterstützung aus der Bevölkerung (immer unter 20 Prozent) für die radikal-islamische Opposition. Der Friedensprozeß steckt derzeit in einer tiefen Krise, und nur weitreichende Zugeständnisse von Seiten der israelischen Führung (Siedlungsstopp, Truppenabzug aus palästinensischen Bevölkerungszentren und freie Wahlen) an ihren so ungleich schwächeren Verhandlungspartner können ihn retten. Die Chancen dafür stehen nicht gut.
Am 13. September 1993 unterzeichneten Israel und die PLO ihre „Prinzipienerklärung über vorübergehende Selbstverwaltung“ -Declaration of Principles on Interim Self-Government Arrangements (DOP) Am 4. Mai 1994 einigten sich Yassir Arafat als PLO-Vorsitzender und Yitzak Rabin als israelischer Premierminister auf das Kairoer Abkommen (Israel-PLO agreement on the Gaza Strip and the Jericho area) mit den ersten Ausführungsbestimmungen zur DOP Seit Juni 1994 schließlich leitet Yassir Arafat die Palästinensische „Selbstregierungs-Autorität“ (Palestinian Interim Self-Government Authority) in Gaza, so der von den Palästinensern verwandte Begriff
Wie sieht eine erste Bestandsaufnahme dieser historischen Abkommen und Entwicklungen aus? Damit wird sich der erste Teil dieses Beitrages auseinandersetzen. In einem zweiten Teil sollen die Punkte im Kairoer Abkommen, die sich als problematisch erwiesen haben, herausgearbeitet werden, direkt im Anschluß an die Kritik palästinensischer Intellektueller an diesem Vertrag.
Im Hauptteil schließlich werden relevante Einstellungen und politische Positionen in der palästinensischen Gesellschaft heute analysiert -Einstellungen und Positionen, die das politische Handeln dieser Gesellschaft bestimmen und von denen wiederum die palästinensische Autorität ganz entscheidend beeinflußt wird, ja von denen sie sehr direkt abhängig ist. Darf doch gerade in diesem Kontext nicht übersehen werden, wie prekär die Legitimität Arafats und seiner Regierungsmannschaft ist, da bis dato jede institutioneile Absicherung und eine daraus erwachsende Stabilität fehlen.
Diese Analyse stützt sich in ihren zentralen Teilen auf die seit September 1993, also seit der Unterzeichnung der DOP in Washington, monatlich durchgeführten Umfragen (den ersten in der modernen palästinensischen Geschichte) in der Westbank und dem Gazastreifen, für die das Center for Palestine Research and Studies in Nablus (CPRS, geleitet von Khalil Shikaki) unter der Federführung von Nader Said verantwortlich zeichnet
Abschließend wird versucht, den Platz dieser Periode in der palästinensischen historischen Entwicklung zu bestimmen, d. h. herauszuarbeiten, wie es derzeit mit den Gegensatzpaaren Revolution vs. Staatenbau (state-building) oder, noch prägnanter, mit Befreiung einerseits, Staat und staatlicher Herrschaft andererseits in der palästinensischen Zeitgeschichte steht. An dieser Stelle darf aber auch der Verweis auf den aktuellen internationalen Kontext nicht fehlen mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der unangefochtenen Machtposition der USA im Weltmaßstab, vor allem aber auch in der arabischen Region vom Golf bis zum östlichen Mittelmeer.
I. Der Zustand der palästinensischen Gesellschaft
Die generelle Atmosphäre ist derzeit bestimmt von Ernüchterung und Frustration bis hin zu regelrechter Depression. Dies wird augenfällig an den tagtäglichen Problemen, mit denen die palästinensische Gesellschaft konfrontiert ist. Ich möchte dies an fünf Problembereichen illustrieren: -Abriegelung Ost-Jerusalems und seine Heraus-trennung aus der Westbank durch in Beton gegossene Straßensperren bzw., aus der anderen Perspektive, Aussperrung der palästinensischen Bewohner von der Westbank und dem Gazastreifen aus ihrem politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und religiösen Zentrum Jerusalem (Ost). Dieser unhaltbare Zustand existiert nun schon seit dem 30. März 1993 -Nichtfreilassung aller palästinensischen Gefangenen aus israelischer Haft. Israel hat bis heute nur die in der DOP zugesagten 5 000 Palästinenser aus israelischer Haft entlassen; mehrere tausend, darunter Frauen und Jugendliche, sitzen nach wie vor aus politischen Gründen ein. -Eine verzweifelte ökonomische Situation überall in den palästinensischen Gebieten, gekennzeichnet durch massiv gestiegene Preise, u. a. im Immobilien-und Grundstücksmarkt mit Mieten, die von der Mehrzahl der Palästinenser nicht mehr bezahlt werden können, vor allem aber durch sehr hohe Arbeitslosenquoten: im November 1994 38 Prozent, davon in der Westbank 32 Prozent, im Gazastreifen sogar 48 Prozent. Im Dezember waren die entsprechenden Daten 42, 8 Prozent: 35 Prozent in der Westbank, 54 Prozent im Gazastreifen. Hinzu kommt die ebenfalls seit Frühjahr 1993 andauernde weitgehende Aussperrung der Palästinenser vom israelischen Arbeitsmarkt und ihre schrittweise Ersetzung durch aus dem Ausland importierte Arbeitskräfte. Inzwischen arbeiten schon 60000 davon im israelischen Baugewerbe. -Das Problem nicht respektierter Menschenrechte. Die nüchterne Statistik reflektiert im September 1994, ein Jahr nach der Unterzeichnung der DOP, eine „Blutspur des Friedens“. Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselen wurden in diesem einen Jahr 119 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet, davon allein 55 im Gazastreifen. 18 davon waren Kinder im Alter zwischen neun und sechzehn Jahren. 17 der Getöteten wurden durch israelische „verdeckte Einheiten“, die als Araber verkleidet in den besetzten Gebieten operieren, erschossen. Dazu sind weitere 45 Tote zu addieren, die durch israelische Zivilisten ermordet wurden, davon allein 29 in dem durch einen israelischen Siedler verübten Massaker von Hebron am 25. Februar 1994. Auf der israelischen Seite fanden im selben Zeitraum 21 Zivilisten und acht Sicherheitsleute den Tod. Das Morden geht unvermindert weiter. Bis Dezember 1994 waren auf der palästinensischen Seite 195 Tote zu beklagen, auf der israelischen Seite 91. Diese letzte Zahl ist durch den Selbstmord-Bombenanschlag von Beit Lid am 22. Januar 1995 angestiegen auf 110, während bei den Palästinensern wiederum fast täglich Menschen erschossen werden, sowohl von Sicherheitskräften als auch von Siedlern. Nicht vergessen werden dürfen die Opfer der neuen Palästinensischen Autorität: Ein Gefangener wurde während der Haft in Gaza zu Tode gefoltert (Juli 1994), ein weiterer in der Haft in Jericho (Januar 1995). Während des Freitag-Massakers vor einer Moschee in Gaza wurden 14 Palästinenser erschossen und über zweihundert in einem Zusammenstoß zwischen der islamisch-fundamentalistischen Opposition, angeführt von Hamas, und der palästinensischen Polizei verletzt. -Der nie gestoppte und seit Ende 1994 intensivierte Siedlungsbau in und um Jerusalem und in der Westbank mit immer neuen Landenteignungen, Siedlungsexpansion und Neugründungen von Siedlungen sowie einem rapide fortschreitenden Straßenbau, der ein ganzes Netz von Siedlungen in der palästinensischen Westbank mit dem Israel in den Grenzen von vor 1967 verbindet unter Umgehung palästinensischer Orte und auf der Basis extensiver Landenteignungen „im öffentlichen Interesse“. Die Auseinandersetzungen um das Dorf al-Khater, südlich von Bethlehem, wo die jüdische Siedlung Efrat „expandieren“ wollte, genauer: wo in der Nachbarschaft von Efrat neue Siedlungen gebaut werden sollten, waren nur der Auslöser, durch den auf ein immer schwelendes Problem aufmerksam gemacht wurde. Der Siedlungsbau in und um (Ost-) Jerusalem wird dabei von offizieller israelischer Seite vollständig ausgeklammert, da Jerusalem aus israelischer Sicht längst annektiert und in das israelische Staatsgebiet integriert worB den ist und damit nicht unter für die Westbank gegebene Versprechungen fällt. Inzwischen gibt es zum erstenmal in der Geschichte eine jüdische Mehrheit in Ost-Jerusalem, das heißt, daß in den Siedlungen rund um das arabische Ost-Jerusalem, das 1967 erobert und formell 1980 annektiert wurde, mittlerweile mehr jüdisch-israelische Siedler leben als Palästinenser in den noch arabischen Teilen der Ost-Stadt Und der Bauboom geht unvermindert weiter.
Nur auf diesem Hintergrund wird die eingangs gezeichnete Stimmung der Palästinenser -nach der anfänglichen Euphorie und den hohen Erwartungen unmittelbar im Anschluß an Oslo -verständlich, die weitverbreitete Verzweiflung, aber auch die Wut über das Ausbleiben des angestrebten und ersehnten Friedens. In diesem Kontext müssen auch die Attentate und Terroraktionen von Hamas bzw.der aus ihr entstandenen Izz el-Din al-Qassam-Gruppe und der Islamischer-Jihad-Gruppe gesehen werden, die gegen israelische Zivilisten und Militärs in Israel und den besetzten Gebieten verübt worden sind. Schließlich erwächst aus diesem Zusammenhang die Kritik an der palästinensischen politischen Führung unter Yassir Arafat und an den unter seiner Verantwortung geschlossenen Abkommen -ob in Oslo, Washington oder in Kairo.
II. Kritik am Kairoer Abkommen
Abbildung 2
Palästina und Israel Quelle: Globus; redaktionelle Änderungen.
Palästina und Israel Quelle: Globus; redaktionelle Änderungen.
Von der sich immer massiver äußernden Opposition auf der Straße wird Yassir Arafat inzwischen als Verräter gebrandmarkt. Viele kritisieren ihn und seine Führungsmannschaft als naiv und inkompetent. Andere konzentrieren sich ausschließlich auf den PLO-Vorsitzenden und prangern seinen autoritär-diktatorischen Stil an.
Der palästinensische Wissenschaftler und Publizist Edward Said -noch 1988 während der historischen Nationalrats-Sitzung in Algier, die einen unabhängigen Staat Palästina in direkter Nachbarschaft zu (und damit auch in Anerkennung von) Israel proklamierte, ein Anhänger und Bewunderer Arafats -klagt ihn seit Oslo des politischen Aus
Verkaufs an, der Aufgabe von unverzichtbaren historischen und politischen Positionen
Raja Shehadeh, palästinensischer Rechtsanwalt in Ramallah und Mitbegründer der Menschenrechts-organisation al-Haq (ebenfalls Ramallah), greift in seiner Kritik am Kairoer Abkommen die legalen Aspeke heraus Für ihn garantiert das Abkommen den Fortbestand des Besatzungsrechts in der Westbank und in Gaza. In diesem Abkommen heißt es: „Laws and military Orders in effect in the Gaza Strip or the Jericho Area prior to the signing of this Agreement shall remain in force, unless amended or abrogated in accordance with this agreement.“
Shehadeh vertritt die Meinung, daß die palästinensische Führung sich der darin enthaltenen Konzessionen an die israelische Seite nicht bewußt sei. Überhaupt habe man von Seiten der Arafat-Führung legalen Details erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Noch in der DOP von Oslo/Washington vom 13. September 1993 sei eben diese Frage offengelassen worden: „Both parties will review jointly laws and military Orders presently in force in remaining spheres.“
Dabei verweist Shehadeh auf die oft übersehene Tatsache, daß nicht alle Militärverordnungen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten überhaupt bekannt sind. Allein seit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern seien über hundert neue Militärverordnungen erlassen worden (bis einschließlich März 1994). Drei Punkte greift Shehadeh in seiner Kritik heraus: Jurisdiktion im Bereich der Rechtsprechung, Jurisdiktion über Land und über Wasser.
Im Bereich der Rechtsprechung stellt das Kairoer Abkommen einen historischen Einschnitt dar, indem es zum erstenmal eine juristische Trennung zwischen israelischen Siedlern und Palästinensern vornimmt: Israelische Siedler liegen seitdem außerhalb der Jurisdiktion palästinensischer Gerichte. Dies impliziert die Anerkennung durch die palästinensische Seite, daß für israelische Siedler, auch in palästinensischen Gebieten, ausschließlich israelisches Recht gilt. Damit ist die Jurisdiktion palästinensischer Gerichte über das gesamte Territorium der 1967 besetzten Gebiete zum erstenmal ausdrücklich und mit Anerkennung der Palästinenser eingeschränkt worden.
Im Bereich der Jurisdiktion über das Land ist der Einschnitt nicht weniger tiefgreifend: Seit Kairo hat die palästinensische Seite die gesamten Planungsmaßnahmen der israelischen Besatzung anerkannt und akzeptiert, daß Änderungen nur mit israelischer Zustimmung durchgeführt werden dürfen, d. h., daß Israel in dieser Frage ein absolutes Vetorecht hat (Artikel II. B. 32. b. von Annex II: Protocol Concerning Civil Affairs).
Das Kairoer Abkommen übergibt zwar in einem ersten Schritt alle Verfügungsgewalt über Wasser-fragen an die Palästinensische Autorität, schränkt aber in einem zweiten Schritt sofort wieder entscheidend ein: Das Wasserversorgungssystem für israelische Siedlungen und Militärgebiete steht nach wie vor unter israelischer Kontrolle und wird durch die israelische Wassergesellschaft Mekoroth betrieben. Auch in diesem dritten Punkt bestätigt das Kairoer Abkommen den Status quo zwischen Besatzungsmacht und Besetzten.
Seit 1979 ist die Westbank an das israelische nationale Wasserversorgungssystem angeschlossen. Bis dahin galt Militärverordnung Nr. 92, die die palästinensische Verhandlungsdelegation in Washington (vor der Unterzeichnung der DOP im September 1993) auch auf ausdrückliche Aufforderung hin nie einsehen durfte. Das Kairoer Abkommen rührt nicht an den bestehenden Proportionen im Wasserverbrauch zwischen palästinensischer Bevölkerungsmehrheit und israelischen Siedlern und dem Militär: „All pumping from water resources in the settlements and the Military Installation Area, shall be in accordance with existing quantities of drinking water and agricultural water... the Palestinian Authority shall not adversely affect these quantities“ (Annex II, Art. II. B. 31. c).
Nach letzten Angaben aus dem Jahre 1993 (Weltbankbericht über die besetzten Gebiete) verbrauchen die Palästinenser nur 15-20 Prozent des in der Westbank jährlich verfügbaren Wassers, der Rest wird von israelischen Siedlern bzw. von Israel selbst in Anspruch genommen.
In allen drei zentralen Aspekten: Rechtsprechung, Land und Wasser wurde der Status quo durch das Kairoer Abkommen aufrechterhalten und anerkannt. Für Shehadeh reflektiert sich darin nicht nur die israelische Machtüberlegenheit, der die Palästinenser kaum etwas entgegenzusetzen haben. Er konzentriert sich auf die seiner Meinung nach vermeidbaren Fehler, auf schnellstens zu eliminierende Schwächen der palästinensischen Verhandlungsführung. An erster Stelle sieht er dabei „mangelndes Interesse für die legalen Aspekte der Auseinandersetzung mit Israel“
Dieses mangelnde palästinensische Interesse für rechtliche Fragen drückte sich nicht zuletzt in der Zusammensetzung der palästinensischen Verhandlungsdelegationen aus, ob 1993 in Oslo oder 1994 in Kairo. Auf palästinensischer Seite begegnen wir zwei sehr erfahrenen und sicher herausragenden Geschäftsleuten, auf israelischer Seite wurde die Verhandlungsdelegation in Oslo sofort geändert, als sich eine ernstzunehmende Entwicklung abzeichnete: Man drängte die Politologen, die die Initiative zu den Verhandlungen ergriffen hatten, auf die Seite und holte statt dessen den Juristen (und ehemaligen Militär) Joel Singer sowie den Diplomaten Uri Savir
Noch frappierender wird die völlige Mißachtung juristischer Fragen auf der palästinensischen Seite, wenn man den ersten Beschluß Arafats als Vorsitzender der Palästinensischen Autorität betrachtet. In direktem Widerspruch zu Art. VII. 9 des Kairoer Abkommens verkündete Arafat Ende Mai 1994: „The laws, regulations and Orders in force before 5 June 1967 in the West Bank and the Gaza Strip shall remain in force until unified ... This decision shall be effective as of this date (i. e. 20. Mai 1994) and shall be served on whoever shall execute it and shall be published in the official gazette.“
Im Mittelpunkt der derzeitigen politischen Krise (seit Dezember 1994) in den besetzten Gebieten stehen die israelischen Siedlungen. Auch in dieser Frage hat das Kairoer Abkommen der israelischen Regierung weitgehend freie Hand gegeben. Zwar heißt es in Artikel II (Rückzug der israelischen Armee), daß sich die israelische Armee sofort nach Unterzeichnung des Abkommens aus dem Gaza-streifen und Jericho zurückziehen soll. In Absatz 3 wird dies jedoch sofort wieder eingeschränkt und eigentlich für null und nichtig erklärt: Die Armee zieht nicht ab, sie bezieht lediglich andere Stellungen. Denn: „In order to carry out Israel’s responsibility for external security and for internal security and public order of Settlements and Israelis, Israel shall, concurrently with the withdrawal, redeploy its remaining military forces to the Settlements and Military Installation Area, in accordance with the provisions of this Agreement.“
Wegen seiner Verantwortung für die israelischen Siedlungen, die ohne Ausnahme bestehenblieben, sowohl in Gaza als auch in der noch besetzten Westbank, kann Israel einen Rückzug der Armee nicht einleiten, obwohl es diesem im Kairoer Abkommen zugestimmt hat. Dabei geht es nicht nur um die Siedlungen selber, sondern im direkten Anschluß daran um die Verbindungswege und Straßen zwischen israelischen Siedlungen und Israel selbst. Schon hier wird deutlich, daß die Crux nicht nur des Kairoer Abkommens, sondern auch des gesamten israelisch-palästinensischen Friedensprozesses die Siedlungen sind. Ohne eine Lösung der Frage von Fortbestand oder Aufgabe dieser nach Völkerrecht illegal errichteten israelischen Siedlungen quer durch die Westbank und den Gazastreifen wird der Friedensprozeß, wenn nicht sofort scheitern, so doch auf der Stelle treten.
Ein oft übersehenes Problem scheint mir in der Definition der Palästinensischen Autorität zu liegen, wie sie das Kairoer Abkommen vornimmt (Art. IV). Danach hat die Palästinensische Autorität gleichzeitig legislative und exekutive Macht und ist zudem noch verantwortlich für die Ausübung der Rechtsprechung. Damit hat einerseits Yassir Arafat eine verführerische Basis für die Errichtung einer Spielzeugdiktatur in Gaza und Jericho von Israels Gnaden. Andererseits scheint sich hier für Israel eine Hintertür anzubieten, um die im Abkommen vorgesehenen Wahlen noch weiter hinauszuschieben. Ebenso wie die Frage der Siedlungen muß dieser Punkt schnellstens geklärt werden, um überhaupt die Möglichkeit der Herausbildung annähernd demokratischer Strukturen in der palästinensischen Gesellschaft, und das nicht zuletzt als beste Garantie für einen israelisch-palästinensischen Frieden, zu gewährleisten.
Ungeklärt ist bis dato der freie Zugang zwischen Gaza und Jericho (Artikel XI). Die Realität sieht eher so aus, daß es nur für wenige Auserwählte die Möglichkeit gibt, Gaza zu verlassen und nach Jericho zu fahren. Artikel XXIII. 6 schließlich betont, daß die Westbank und der Gazastreifen eine territoriale Einheit konstituieren und als eine solche behandelt werden sollen, gerade auch in der Übergangsphase vor einer endgültigen Lösung.
Hier ist die Realität sicher am weitesten von den Kairoer Bestimmungen entfernt. Nirgendwo in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten kann derzeit von freier Mobilität innerhalb dieser territorialen Einheit die Rede sein. Die Armee ist jederzeit befugt und wendet diese Befugnis auch oft willkürlich an, auf Straßen innerhalb der Westbank, von und nach Jericho, Straßensperren zu errichten und jeden Verkehr zu stoppen.
Mit am direktesten betroffen sind davon die Studenten aus dem Gazastreifen, die an Universitäten in der Westbank studieren. Bis Dezember 1994 hatte lediglich eine Minderheit dieser Studenten es geschafft bzw. das Glück gehabt, eine Genehmigung zu erhalten, um aus dem Gazastreifen in die Westbank zu reisen, um dort in Birzeit, Bethlehem oder Nablus an der Universität zu studieren. Viele waren gezwungen, den Gazastreifen illegal zu verlassen und illegal in der Westbank zu leben, um ihr Studium nicht unterbrechen oder ganz aufgeben zu müssen. Nach dem Selbstmord-Bombenanschlag von Beit Lid sind wieder alle Passierscheine, auch für die Studenten, null und nichtig geworden.
III. Einstellungen und politische Positionen seit Oslo 1993
Wie reagiert die palästinensische Gesellschaft auf diese desolate Situation? Nach den Ergebnissen der seit September 1993 monatlich durchgeführten Umfragen des Palästinensischen Forschungsinstituts in Nablus zu schließen, sind die politischen Einstellungen in der Westbank und dem Gazastreifen erstaunlich pragmatisch Die Mehrzahl der Bewohner in den besetzten Gebieten und in Gaza und Jericho ist offensichtlich fähig und bereit, die Ebene der Verzweiflung und Wut hinter sich zu lassen, wenn es darum geht, politisch Position zu beziehen. Die Antworten auf die Fragen der Meinungsforscher sind fast durchweg rational, gemessen an der von hoher Emotionalität geprägten soziopolitischen Umwelt des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Im September 1993 unterstützten 65 Prozent der Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen das Gaza-Jericho-Abkommen (64, 3 Prozent in der Westbank und 66, 4 Prozent im Gazastreifen). 27, 9 Prozent waren dagegen, und 6, 6 Prozent konnten sich nicht für eine Stellungnahme entscheiden. 44, 9 Prozent meinten, dieses Abkommen würde über kurz oder lang zu einem unabhängigen palästinensischen Staat führen, also zum lange gehegten nationalen Ziel aller Palästinenser, wo immer sie leben. Die PLO betrachteten über 75 Prozent als den legitimen Vertreter des palästinensischen Volkes, folgten also nicht der negativen Propaganda der radikal-islamischen Opposition (Hamas, Islamischer Jihad) bzw.der radikal-nationalistischen Opposition (PFLP, DFLP), die durch die DOP die Legitimität der PLO beeinträchtigt sahen. Im Gegenteil, knapp 45 Prozent der Bevölkerung sahen durch das Abkommen die Legitimität der PLO sogar noch gestärkt. Die Opposition verfügte über nicht mehr als 25 Prozent der Bevölkerung, die dagegen von einer Reduzierung der Legitimität der PLO seit Oslo ausgingen.
Neben der weitverbreiteten Unterstützung für die DOP fällt die enorm hohe ökonomische Erwartungshaltung vom September 1993 auf: 65, 4 Prozent waren überzeugt, die wirtschaftliche Lage würde sich verbessern, 19, 4 Prozent waren unsicher, nur 15 Prozent glaubten nicht an eine positive Veränderung in Fragen der Wirtschaft. Der große Einbruch, ein Jahr nach Oslo, findet sich denn auch in der Einschätzung der Wirtschaftslage durch die palästinensische Bevölkerung: Nur 9, 2 Prozent sagten im Herbst 1994 aus, die ökonomische Situation habe sich verbessert, 40, 8 Prozent sahen im Gegenteil eine Verschlechterung, 50 Prozent sahen keinerlei Veränderung seit September 1993.
Diese radikale Meinungsverschiebung schlägt sich überraschenderweise kaum in den dezidiert politischen Einschätzungen nieder. Auch ein Jahr nach Oslo (am 1. Oktober 1994) waren noch knapp 52 Prozent klar für den Friedens-und Verhandlungsprozeß unter der Führung der PLO und Yassir Arafats bzw. unter der Führung der Palästinensischen Autorität, eine Verschiebung nach unten von etwas mehr als 13 Prozent. Im Lager der Verhandlungsbefürworter waren sogar 23, 3 Prozent jetzt noch stärker für die Verhandlungen engagiert, 28, 5 Prozent waren unverändert dafür. Im Lager der Opposition standen insgesamt 37, 3 Prozent (1993 waren es nur 27, 9 Prozent gewesen), 10, 9 Prozent waren unsicher (1993 nur 6, 6 Prozent).
Der Umschwung in dieser Frage fällt auf den Dezember 1994, also den Monat, in dem das Problem der israelischen Siedlungen in der Westbank die politische Bühne zu dominieren begann. Zum erstenmal seit Oslo votierte eine Mehrheit der Palästinenser für den permanenten oder vorübergehenden Stopp der Verhandlungen mit Israel (52, 1 Prozent, davon 20, 6 Prozent für einen permanenten, 31, 5 Prozent für einen vorübergehenden Stopp). Nur noch 38, 7 Prozent stimmten für eine Weiterführung der Verhandlungen. Ergänzend muß zur Kenntnis genommen werden, daß inzwischen 72, 3 Prozent der Palästinenser glauben, daß Israel nicht mit Überzeugung hinter den Friedensverhandlungen steht (November-Umfrage).
In der Evaluierung der Palästinensischen Autorität überwiegt die Zurückhaltung; die Mehrzahl der Befragten meint im Herbst 1994, es sei noch zu früh, ein Urteil zu fällen, da die Führung unter Arafat erst wenige Monate vor Ort in Gaza gewesen sei (40, 8 Prozent). 30, 9 Prozent bewerten die Arbeit der Autorität positiv, 21, 2 Prozent fällen ein negatives Urteil. Die Kritiker finden sich vor allem im Gazastreifen (26, 5 Prozent), während in der Westbank nur 17, 6 Prozent sich unzufrieden äußern. Die Parteigänger der größten politischen Fraktion der Palästinenser, Fateh, sind zu 48 Prozent zufrieden mit der neuen Autorität, die des winzigen Koalitionspartners Fida (eine Abspaltung der DFLP, Democratic Front for the Liberation of Palestine, angeführt von Nayef Hawatima, mit Hauptquartier in Damaskus, links-nationalistisch orientiert) unter der Führung von Yassir Abed-Rabbo sind sogar zu 50 Prozent zufrieden mit ihrer neuen Regierung.
Die Kritiker finden sich hauptsächlich in der Opposition: Anhänger der PFLP (Populär Front for the Liberation of Palestine unter der Führung von George Habash, links-nationalistisch, aber bis 1990 weniger pro-sowjetisch als die DFLP) sind zu 53, 2 Prozent unzufrieden mit der Autorität, Anhänger der sehr kleinen radikal-islamisch orientierten Islamischer-Jihad-Gruppe, der sich vor allem durch Selbstmordkommandos in Israel hervortut, sind zu 48, 6 Prozent unzufrieden. Hamas (harakat al-muqawama al-islamiya/Bewegung des Islamischen Widerstandes, die größte radikal-islamische Organisation, 1988 aus der Muslimbrüderschaft entstanden) weist einen relativ niedrigen Anteil von 33, 1 Prozent Kritik an der Palästinensischen Autorität in Gaza auf.
In der Einschätzung durch die Befragten schneidet die palästinensische Opposition weit schlechter ab als die Palästinensische Autorität: Nur 19, 5 Pro-B zent waren ein Jahr nach Oslo mit der Politik der Opposition zufrieden (17, 5 Prozent in der Westbank, 22, 6 Prozent im Gazastreifen). Noch im Herbst 1993 hatten insgesamt 35, 5 Prozent gemeint, die Haltung der Opposition sei der der PLO-Führung vorzuziehen (31, 8 Prozent in der Westbank, 43, 2 Prozent im Gazastreifen). 33, 5 Prozent waren unzufrieden mit der Oppositionspolitik, 33 Prozent meinten, sich zu einem so frühen Zeitpunkt noch kein Urteil erlauben zu können, 13, 9 Prozent hatten keine Meinung.
Die inhaltliche Kritik an Oslo und Kairo konzentriert sich auf die Vertagung der von Israelis und Palästinensern am heißesten umstrittenen Probleme: den Status von Jerusalem, die Zukunft der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sowie die Frage der palästinensischen Flüchtlinge, die in den Kriegen 1948 und 1967 vertrieben wurden bzw. flüchteten. 59, 9 Prozent vertreten die Meinung, daß es ein Fehler der palästinensischen Führung war, diese zentralen Fragen auf die Verhandlungen über eine endgültige Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes (final Status talks) zu verschieben. Nur 31, 7 Prozent waren mit der Entscheidung der Führung einverstanden, während 8, 4 Prozent sich unsicher waren.
Die interessantesten Daten dieser ersten palästinensischen Meinungsumfragen sind sicher die Antworten auf die Frage nach der Wahlentscheidung, sollten die in Oslo verabredeten Wahlen endlich durchgeführt werden. Zum erstenmal in der palästinensischen Geschichte haben wir aussagefähige Daten über die Stärke der einzelnen politischen Gruppierungen, die in der Westbank und im Gazastreifen aktiv sind. Damit erhalten sowohl der interessierte Zeitgenosse als auch der Wissenschaftler erstmalig präzise Informationen zum palästinensischen Parteienspektrum, die verläßlicher sind als die mehr oder weniger sachkundigen Schätzungen von Journalisten und Nahostspezialisten (s. Tabelle).
Drei wichtige Ergebnisse stechen sofort ins Auge: -Fateh, die größte palästinensische politische Organisation und unter der Führung von Yassir Arafat stehend, der sowohl Präsident des Exekutivkomitees der PLO als auch Vorsitzender der Palästinensischen Autorität mit Sitz in Gaza ist (in ihrer politischen Ausrichtung gemäßigt nationalistisch, eher in der Mitte als rechts oder links anzusiedeln), erhält seit September 1993 konstant mehr als 40 Prozent der Stimmen. Es besteht also, stützt man sich auf die Nabiuser Umfragen, kein Zweifel darüber, wer die Wahlen gewinnen wird, sollten sie denn endlich stattfinden können. -Die radikal-islamische Opposition ist trotz aller Unkenrufe weit schwächer als allgemein angenommen (trotz der immer wieder von Aktivisten aus ihren Reihen durchgeführten Selbstmord-Bombenanschläge, die in der palästinensischen Gesellschaft weitgehend positiv aufgenommen werden). Die größte islamische Oppositionsgruppe Hamas erhielt bis November 1994 nie mehr als 14 Prozent der Stimmen. Erst im November 1994 stieg ihr Stimmenanteil zum erstenmal auf über 17 Prozent an, im Dezember fiel sie jedoch wieder unter die 17-Prozent-Grenze. Addiert man die Stimmen für die kleine Islamischer-Jihad-Gruppe dazu, erhielt die gesamte islamische Opposition im November 1993 17, 9 Prozent, im November 1994 21, 1 Prozent, im Dezember 1994 19, 2 Prozent. Die Auswirkungen des Massakers vor der Moschee in Gaza Mitte November 1994 schlagen sich hier deutlich nieder. -Das Lager der Unabhängigen, die sich weder für die Arafat-Führung noch für die islamische Opposition entscheiden wollen, ist überraschend groß: 23 Prozent im November und 28 Prozent im Dezember 1994. Dabei stellt sich die Frage, ob hier das Potential für eine eher liberal-demokratisch ausgerichtete Partei angesiedelt ist, das möglicher-weise von der im Dezember gegründeten Demokratischen Partei unter Führung von Haidar Abdel-Shafi, des „aufrechten alten Herrn“ aus Gaza, der für absolute Integrität und republikanische Werte steht, ausgeschöpft werden könnte Eine klare Antwort ist derzeit nicht möglich.
Durchaus vergleichbar sind die Antworten auf die Frage, wen man zum palästinensischen Präsidenten wählen wolle: Yassir Arafat erhält im November 44, 2 Prozent der Stimmen, davon 37, 2 Prozent in der Westbank und 55, 3 Prozent im Gazastreifen. Im Dezember 1994 steigt sein Stimmenanteil auf 48, 5 Prozent. Nur in Hebron -im Süden der Westbank -würde Arafat lediglich 28 Prozent erhalten. Im Dezember steigt auch dort sein Stimmenanteil auf 33, 3 Prozent. Ahmad Yassin, der in israelischer Haft festgehaltene Führer von Hamas, kommt im November auf 7 Prozent, davon 23 Prozent in der Westbank und 14, 6 Prozent im Gazastreifen. Im Dezember erhält er dagegen nur noch 18, 4 Prozent. In Hebron erhält er noch im November die Mehrheit von 40 Prozent der Stimmen. Im Dezember votieren dort nur noch knapp 25 Prozent für ihn, während Haidar Abdel-Shafi auf überraschende 16, 2 Prozent kommt. Im November erzielt Haidar Abdel-Shafi im gesamten Befragungsgebiet den dritten Platz mit 8, 9 Prozent, noch vor dem langjährigen Militanten und PFLP-Führer George Habash mit 6, 8 Prozent. Die entsprechenden Daten für Dezember sind 8, 6 Prozent bzw. 5, 8 Prozent.
Als interessant erweist sich ein Blick auf Hochburgen und Schwachpunkte Yassir Arafats: Der Norden der Westbank sowie Bethlehem, Jericho und Gaza wären im November 1994 sichere Wahlbezirke mit jeweils über 40 Prozent der Stimmen (Jericho über 50 Prozent, Gaza-Nord 46 Prozent, Rest von Gaza über 56 Prozent). In Ramallah, nördlich von Jerusalem, würde er nur 30 Prozent (Dezember 33, 7 Prozent) auf sich vereinigen können, andere würden insgesamt 37, 9 Prozent (Dezember 32, 7 Prozent) erhalten. In Hebron hieße der Wahlsieger im November Ahmad Yassin (im Dezember dagegen Arafat), während in Jerusalem die Wahl ähnlich wie in Ramallah ausgehen würde: 25 Prozent für Arafat (Dezember 31, 2 Prozent), 37, 6 Prozent für alle anderen Kandidaten zusammen (Dezember 37, 5 Prozent). Das Votum für demokratische Wahlen ist quer durch die Bevölkerung sehr hoch. In allen Umfragen sind es konstant über 70 Prozent, die sich an den Wahlen beteiligen wollen.
IV. Ausblick
Die Vereinigten Staaten sind heute ohne Zweifel die einzige globale Hegemonialmacht. In der Region Vorderer Orient ist Israel ebenso unumstritten die regionale Vormacht und hat damit ein für allemal den Status des Paria-Staates abstreifen können. Dies zeigte sich nirgends so deutlich wie auf dem im Herbst 1994 in Casablanca abgehaltenen Wirtschaftsgipfel, auf dem Israel zum ersten-mal offiziell und in aller Öffentlichkeit mit arabischen Staaten, vor allem aus der Golfregion, Zusammentreffen und verhandeln konnte. Die Palästinenser spielten auf diesem Gipfel eher die Rolle des Zaungastes.
Die politische Lösung, die sich derzeit in der Region herauskristallisiert, ist ohne Einschränkung die Lösung der USA und ihres Verbündeten Israel. Die Palästinenser sind der Juniorpartner in diesem Prozeß, auf den sie weitgehend keinen Einfluß ausüben können. Diese Tatsache muß sich der auswärtige Beobacher immer wieder vergegenwärtigen. Für die Palästinenser, die in diesem Prozeß stehen bzw. ihm ausgeliefert sind, stellt sich die Frage, inwieweit er überhaupt die Möglichkeit in sich birgt, daß das von den Palästinensern seit 1918 angestrebte politische Ziel eines unabhängigen palästinensischen Staates, für das sie nach 1948 im Rahmen-der PLO (gegründet 1964), seit 1969 unter der Führung von Yassir Arafats Fateh (gegründet Ende der fünfziger Jahre) gekämpft haben, realisiert werden kann.
Im Titel meiner historischen Analyse der palästinensischen Nationalbewegung seit 1948 19, ist angedeutet, welchen Widerspruch die Staatsgründung, das Ziel des langjährigen nationalen Befreiungskampfes, in sich birgt. Dieser Gegensatz zwischen pragmatischer Politik und revolutionärem Widerstand war niemals so deutlich und ausgeprägt wie seit Madrid 1991 bzw. Oslo 1993.
Kritiker der palästinensischen politischen Führung, Kritiker der aktuellen Situation auf der palästinensischen Seite, übersehen diesen Problembereich meist geflissentlich. Historisch gibt es bis heute kein Beispiel einer erfolgreichen, gewaltlosen und demokratischen Lösung dieses Widerspruchs. Es ist kaum zu erwarten, daß es die Palästinenser in ihrer äußerst komplizierten Situation sein werden, die diesen gordischen Knoten der Ge-schichte als erste durchschlagen können. Im Gegenteil, sie konnten sich bis heute nicht von der Besatzung befreien, die in diesen Tagen oft schwerer auf ihnen lastet als je zuvor in der nun im dritten Jahrzehnt andauernden israelischen Besetzung, die keineswegs so gutwillig ist, wie das israelische Verlautbarungen gerne zeichnen
Nicht nur für den israelischen Ministerpräsidenten Yitzak Rabin, sondern auch für Yassir Arafat, den Verantwortlichen der palästinensischen Autorität in Gaza, muß gelten, daß staatliche Herrschaft von den ihr untergebenen Bürgern akzeptiert werden muß, um Gültigkeit und Bestand zu besitzen. Für Yassir Arafat heißt das, daß die unter seiner Führung aufgebaute staatliche Autorität in Gaza so demokratisch wie möglich sein muß, um in dieser schwierigen historischen Phase breite Akzeptanz in der palästinensischen Bevölkerung zu finden. Das bedeutet, daß eine der Prioritäten im palästinensischen Staatsaufbau die Schaffung von staatlichen Institutionen sein muß, in denen an führender Position palästinensische Fachleute stehen, mit denen sich die PLO-Führer aus der Periode des nationalen Befreiungskampfes die Macht teilen müssen, so schwer ihnen dies auch fallen wird.
Gerade Yassir Arafat, der charismatische Führer des palästinensischen Nationalismus nach 1948, dürfte hier die größten Probleme haben. War es doch immer er, der im richtigen Moment die historisch anstehende Entscheidung für die Weiterentwicklung im palästinensischen Befreiungskampf traf, ob 1964/65 mit seiner Option für den bewaffneten Kampf, 1968 mit seinem Widerstand gegen einen israelischen Angriff bei Karama, vor allem aber 1974 mit der Entscheidung für die Option der Staatenbildung und letztlich der Anerkennung der Existenz Israels und schließlich 1988 mit der historischen Anerkennung Israels durch den Palästinensischen Nationalrat in Algier und der Entscheidung für die Etablierung eines palästinensischen Staates neben Israel in den Grenzen von 1948. Arafat trägt damit die historische Verantwortung sowohl für den bewaffneten Befreiungskampf der Palästinenser als auch für den durch die PLO seit 1974, endgültig 1988, eingeschlagenen Friedenskurs und Ausgleich mit Israel.
Für Arafat entscheidet sich derzeit, ob er in die Geschichte nur eingehen wird als Führer des nationalen Befreiungskampfes der Palästinenser oder ob er auch in der Lage sein wird, die Palästinenser in den Aufbaujahren eines potentiellen palästinensischen Staates anzuführen. Damit verknüpft ist das Problem, wie dieser Staat aussehen wird und ob die Erwartungen des Befreiungskampfes in ihm und durch ihn zu erfüllen sind.
Hier kann Arafat jedoch nicht im Alleingang vorgehen. Auch Israel wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Zweifel über die Bereitschaft und Fähigkeit, der Entwicklung einer demokratischen palästinensischen Gesellschaft Raum zu geben, sind derzeit bei beiden angemeldet. Und eine Antwort auf die Frage, wer die Herausbildung demokratischer Strukturen in der palästinensischen Gesellschaft dabei offensiver und entschlossener verhindert, fällt äußerst schwer.
Die letztlich entscheidende Frage aber heißt heute, ob der in Oslo und Washington eingeleitete Friedensprozeß überhaupt noch eine Zukunft hat Urteilt man ausgehend von der Situation vor Ort, so finden sich dort einige klare Antworten: Ohne eine Lösung der Siedlungsfrage, ohne den sofortigen Stopp des Siedlungshaus und der Landenteignungen ist der Friedensprozeß das Papier nicht mehr wert, auf dem er geschrieben ist. Auf das Innere der palästinensischen Gesellschaft bezogen, aber untrennbar mit der Siedlungsfrage verbunden, ist die zweite Antwort: Palästinensische Wahlen müssen in allernächster Zukunft durchgeführt werden, um den Friedensprozeß palästinensischerseits zu legitimieren und um gleichzeitig die Entwicklung einer palästinensischen Demokratie auch nur im Ansatz zu ermöglichen. Was Jerusalem betrifft, müßte zumindest eines erreicht werden: ein Stopp aller einseitigen Veränderungen innerhalb Jerusalems von Seiten Israels, d. h. vor allem Stopp weiterer Baumaßnahmen, die die Zukunft Jerusalems präjudizieren.
Ohne baldige Entscheidungen, die vor allem von Seiten Israels getroffen werden müssen, ist nur eine weitere Verschärfung der gewaltbestimmten Situation zu erwarten, die charakterisiert ist durch israelische Repression gegen die gesamte palästinensische Zivilbevölkerung und durch immer neue palästinensische Selbstmordkommandos. Ein wahrer Teufelskreis.
Helga Baumgarten, Dr. phil., geb. 1947; Studium der Geschichte, Anglistik, Politikwissenschaften und Soziologie in Tübingen, New York, London, Göttingen und Berlin; Lehrtätigkeit an der American University of Beirut, der Universität Göttingen, der F. U. Berlin und seit Anfang 1993 an der Universität Birzeit (Westbank), als Visiting Associate Professor, vermittelt durch den DAAD, für den sie als Beauftragte in der Westbank und im Gazastreifen tätig ist. Veröffentlichungen u. a.: Palästina: Befreiung in den Staat. Die palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt 1991; zahlreiche Publikationen zum Nahostkonflikt, zur Geschichte und Politik der Palästinensischen Nationalbewegung und zur Arbeitsmigration in der Region Vorderer Orient.
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