Frankreich nach den Präsidentschaftswahlen: Chancen und Grenzen des Wandels
Henrik Uterwedde
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Zusammenfassung
Mit der Wahl von Jacques Chirac ist die vierzehnjährige Ära Mitterrand beendet und der Machtwechsel zugunsten der bürgerlichen Parteien endgültig vollzogen worden. Die Präsidentschaftswahlen deuten im übrigen auf eine wachsende Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und der etablierten Politik hin, die vor allem diejenigen sozialen Gruppen erfaßt hat, die in besonderem Maße als Opfer der Krise anzusehen sind. Erstmals ist diese Krise in großem Umfang in den Medien thematisiert und die Erwartung eines grundlegenden Wandels der Politik auf breiter Ebene artikuliert worden. Der Ruf nach einem Wandel, den sich der neue Präsident weitgehend zu eigen gemacht hat, ist als Reaktion auf das zwiespältige Erbe der Ära Mitterrand anzusehen: eine weitgehend erfolgreiche Erneuerung der Wirtschaft, die jedoch nur auf Kosten erheblicher sozialer Verwerfungen erreicht wurde. Präsident Chirac hat eine ehrgeizige Politik zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und der sozialen Krise angekündigt. Angesichts schwieriger Zielkonflikte stößt sein Kurs des „Wandels“ aber schon jetzt an enge Grenzen.
I. Eine Wahl im Zeichen der Krise
Mit der Wahl von Jacques Chirac hat eine neue politische Ära begonnen, während die vierzehn-jährige Regentschaft Francois Mitterrands und eine insgesamt zehnjährige Phase sozialistischer Regierungsverantwortung ihren Abschluß gefunden hat. Der bereits mit dem überragenden Erfolg der bürgerlichen Parteien bei den Parlamentswahlen vom März 1993 eingeleitete Machtwechsel ist nunmehr perfekt: Die in Frankreich doppelköpfige Exekutive, die sowohl auf einer parlamentarischen als auch auf einer präsidentiellen Legitimation durch Wahlen beruht, ist wieder politisch homogen zusammengesetzt. Neue Konturen der Macht Die neuen Machtverhältnisse sind auf den ersten Blick eindeutiger denn je zuvor. Die Balance zwischen der Linken und der Rechten hat sich in den neunziger Jahren deutlich zugunsten der Rechten verschoben. Diese erreichte im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 60 Prozent der Stimmen (unter Einschluß des rechtsextremen Front National) und im zweiten Wahlgang knapp 53 Prozent. Damit stellt die Rechte nicht nur den Staatspräsidenten für die kommenden sieben Jahre; sie hat auch in der bis 1998 gewählten Nationalversammlung eine solide Vierfünftel-Mehrheit mit 449 von 577 Abgeordneten (davon zählen 242 zum neogaullistischen Rassemblement pour la Republique, RPR, und 207 zur konservativ-liberalen Sammlungsbewegung Union pour la Democratie Franaise, UDF). Auch die zweite Kammer, der Senat, ist seit jeher fest in der Hand der bürgerlichen Parteien 1. In den Gebietskörperschaften beherrschen RPR und UDF 71 von 95 Departements und 20 von 22 Regionen. Lediglich in den Gemeinden ist die Situation ausgeglichener; hier stellen die Rechtsparteien nur knapp die Hälfte der Bürgermeister in den größeren Städten
Innerhalb der Rechten ergibt sich ein deutliches Übergewicht des neogaullistischen RPR, der mit Abstand am besten organisierten politischen Formation im bürgerlichen Lager. Sie hält mit dem Präsidenten und dem Premierminister die Schlüsselpositionen der neuen Regierungsgewalt in Frankreich. Bezeichnend für die Schwäche der heterogen, aus verschiedenen, meist wenig organisierten Parteien zusammengesetzten UDF ist die Tatsache, daß sie über keinen eigenen aussichtsreichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl verfügte und sich auf die Unterstützung eines der beiden RPR-Kandidaten Balladur und Chirac beschränken mußte.
Indes ist die neue präsidentielle Mehrheit alles andere als homogen. Gegensätze zwischen Wirtschaftsliberalen und Staatsinterventionisten, zwischen Anhängern einer klassischen Stabilitätspolitik und einer verstärkten Wachstumsförderung, zwischen den Verfechtern einer Währungspolitik des „starken Franc“ und einer mehr binnenwirtschaftlich orientierten Strategie, zwischen Befürwortern und Gegnern des Maastricht-Vertrages über die Europäische Union durchziehen beide Regierungsparteien, vor allem aber die Partei des Präsidenten. Diese Gegensätze sind seit Beginn der neunziger Jahre wiederholt aufgebrochen und dürften die Politik des neuen Präsidenten von Anfang an begleiten
Die Linke hat zwar durch das unerwartet gute Abschneiden des Sozialisten Lionel Jospin einigen Auftrieb erfahren. Dennoch ist sie insgesamt geschwächt und zudem zersplittert. Während die Kommunistische Partei sich offensichtlich auf einem Niveau von acht bis elf Prozent der Wähler-stimmen (dies bedeutet eine Halbierung gegenüber ihren Ergebnissen bis Anfang der achtziger Jahre) halten kann, verzeichneten die im vergangenen Jahrzehnt als Regierungspartei noch dominierenden Sozialisten bei den Parlamentswahlen von 1993 und den Europawahlen 1994 empfindliche Einbußen, die die internen Richtungskämpfe erneut aufleben ließen. Ihre notwendige personelle und inhaltliche Erneuerung steckt noch in den Anfängen. Ihr Erfolg wird unter anderem davon abhängen, ob Lionel Jospin -der seine Kandidatur gegen den Willen der amtierenden Parteiführung nur durch eine Mitglieder-Urwahl durchsetzen konnte -die Dynamik seines relativ erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampfes nutzen kann, um eine moderne Partei sozialdemokratischen Zuschnitts zu schaffen. 2. Abkehr von der Politik? Über die Klärung der Machtverhältnisse hinaus geben die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 23. 1995 und 7. 1995 Aufschluß über die politische Landschaft, innerhalb derer sich der neue Präsident bewegen wird, sowie über die Befindlichkeit der Gesellschaft und ihre -durchaus widersprüchlichen -Ängste, Werte und Erwartungen.
Zum ersten hat sich die seit einigen Jahren zu beobachtende Entfremdung einer wachsenden Za 5. 1995 Aufschluß über die politische Landschaft, innerhalb derer sich der neue Präsident bewegen wird, sowie über die Befindlichkeit der Gesellschaft und ihre -durchaus widersprüchlichen -Ängste, Werte und Erwartungen.
Zum ersten hat sich die seit einigen Jahren zu beobachtende Entfremdung einer wachsenden Zahl von Wählern gegenüber der Politik im allgemeinen und den etablierten Parteien im besonderen fortgesetzt 4. Dies zeigt sich in der Wahlenthaltung, die in keiner Präsidentschaftswahl (mit Ausnahme von 1969) so hoch war wie 1995: 21, 6 Prozent im ersten, 20, 3 Prozent im zweiten Wahlgang. Dazu kommt noch der Anteil ungültiger und weißer Stimmzettel, der mit 6 Prozent im zweiten Wahlgang 1995 einen neuen Rekord erreicht hat. Schließlich hat auch die Zahl derjenigen Franzosen zugenommen, die sich gar nicht in die Wählerlisten eintragen lassen und somit aus den Wahlstatistiken völlig herausfallen: 1995 waren dies rund drei Millionen Personen, das entspricht 7 Prozent der potentiellen »Wählerschaft (1981: 3, 5 Prozent, 1988: 5, 5 Prozent). Kumuliert man alle diese Formen der Nichtbeteiligung, so erreicht sie im ersten Wahlgang 1995 geschätzte 28 Prozent (gegenüber 22, 5 Prozent bei der Präsidentschaftswahl 1988) 5.
Zum zweiten hat das Vertrauen der Wähler in die „etablierten“ Parteien der Linken und der Rechten, die in den vergangenen Jahren Regierungsverantwortung getragen haben, deutlich abgenommen: Nur 62 Prozent der Wähler stimmten im ersten Wahlgang für die drei Kandidaten Jospin, Chirac und Balladur. Knapp 38 Prozent wandten sich peripheren Kandidaten zu, davon allein 14 Prozent den linken (8, 6 Prozent für den Kommunisten Robert Hue, 5, 3 Prozent für die trotzkistische Dauerkandidatin Arlette Laguiller) und 20 Prozent den rechtskonservativen (Philippe de Villiers: 4. 8 Prozent) bzw. rechtsextremistischen Protestkandidaten (Jean-Marie Le Pen: 15, 1 Prozent).
Dabei ist vor allem der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des rechtsextremistischen Front National bemerkenswert, der zum ersten Mal bei einer nationalen Wahl die 15-Prozent-Grenze überschritten hat. In seinen Hochburgen -überwiegend die Ballungsgebiete im Norden, Osten, Südosten und dem Mittelmeerraum -ist er deutlich stärker und mit Ergebnissen über 20 Prozent teilweise die stärkste politische Formation geworden 6. Wenngleich der Front National bis auf wenige Ausnahmen politisch weiterhin isoliert bleibt, hat er sich doch in vielen Gebieten fest verankern können, was die jüngsten Kommunalwahlen erneut gezeigt haben 7.
Bemerkenswert ist ferner, daß die Abkehr von den etablierten Parteien deutlichen sozialen Mustern folgt: Während bessergestellte soziale Gruppen -wie die höheren Führungskräfte (20 Prozent) und die freien Berufe (23 Prozent) -nur wenig Neigung zu den vier extremistischen bzw.den Protestkandidaten zeigten, waren es 53 Prozent der Arbeiter, 49 Prozent der Arbeitslosen und 42 Prozent der einfachen Angestellten -diejenigen sozialen Schichten also, die unter der gegenwärtigen sozialen Krise am meisten leiden. Unter den Arbeitern hat beispielsweise Front-National-Chef Le Pen im ersten Wahlgang mit 30 Prozent die meisten Stimmen erringen können.
Ein ähnlich markantes, sozial bestimmtes Wähler-verhalten war erstmals beim Referendum über den Vertrag von Maastricht im September 1992 aufgetreten, als sich fast die Hälfte der Wähler, überwiegend aber Angehörige einfacher sozialer Schichten gegen den Vertrag über die Europäische Union ausgesprochen hatten So verwundert auch nicht, daß 52 Prozent der Maastricht-Gegner, aber nur 19 Prozent der Maastricht-Befürworter von 1992 drei Jahre später ihre Stimme den Protestkandidaten gaben 3. Eine „Krisenwahl“
In dieser starken Fragmentierung der Wählerschaft und ihrer sozialspezifischen Ausprägung spiegeln sich tiefe Brüche und Krisenerscheinungen in der französischen Gesellschaft wider: Massenarbeitslosigkeit, Verarmung und die Gefahr sozialer Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsschichten gehen einher mit einem Verlust sozialer Bindungen und Orientierungen. Angesichts der weitgehenden Ratlosigkeit linker wie rechter Regierungen gegenüber der sozialen Krise hat sich ein Gefühl der Ohnmacht und Resignation ausgebreitet, das -sicherlich mehr noch als die in den achtziger Jahren vervielfachten Skandale und Korruptionsaffären -die Entfremdung zwischen einem wachsenden Teil der Bevölkerung und der politischen Klasse befördert hat. Es ist kein Zufall, daß gerade diejenigen Bevölkerungsschichten, die die Hauptlast der Krise tragen, sich am stärksten von den tradierten Parteien abgewendet haben.
Insofern „kann man zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik von einer wirklichen Krisenwahl sprechen. Die soziale Krise, die Malaise zahlreicher einfacher Bevölkerungsschichten, der Verlust der Maßstäbe haben sich in dieser Wahl in extrem lebhafter Form ausgedrückt.. .“ Gleichzeitig ist aber auch zum ersten Mal bei einer herausragenden politischen Wahl diese Krise von nahezu allen politischen Kräften thematisiert und in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt worden. Damit ist die Problematik einer drohenden Gesellschaftsspaltung und Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsschichten in einer bislang unerreichten Eindringlichkeit und Dramatik von führenden Politikern nahezu aller Parteien diskutiert worden.
Es war in erster Linie Jacques Chirac, der die Gefahr einer Gesellschaftsspaltung, eines „sozialen Bruchs“ (fracture sociale), konsequent in den Mittelpunkt seiner Wahlaussagen stellte und erfolgreich zu einem beherrschenden Thema des Präsidentschaftswahlkampfes machte. Davon ausgehend hat er sich für eine „Erneuerung des Denkens und des Handelns“ ausgesprochen sowie einen tiefgreifenden Wandel und eine neue Logik der Wirtschafts-und Sozialpolitik angekündigt, in deren Mittelpunkt der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung stehen soll Damit traf Chirac offensichtlich die Stimmungslage und Erwartungen der Wähler am besten und konnte sich nebenbei sowohl vom Erbe der sozialistischen Regierungen als auch von der Politik seines Rivalen aus den eigenen Reihen, Premierminister Balladur, distanzieren. Der Wunsch nach Veränderungen und Reformen war für 65 Prozent der Chirac-Wähler Hauptmotiv für ihre Entscheidung. Nachwahluntersuchungen bestätigen, daß der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit für 92 Prozent der Wähler absolute Priorität besitzt
II. Der Ruf nach einem „Wandel“
Der vom neuen Präsidenten in Aussicht gestellte Wandel ist mehr als ein rhetorisch im Wahlkampf proklamierter Abschied von „ 14 Jahren Sozialismus“. Er ist als Reaktion auf eine Reihe tief-greifender, teilweise krisenhafter Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft seit den achtziger Jahren zu sehen. Demgegenüber hat Chirac eine grundlegende Neuorientierung der Wirtschafts-und Sozialpolitik proklamiert, die nicht nur die insgesamt zehnjährige Regierungspolitik der Sozialisten (1981-1986 und 1988-1993) in Frage stellt, sondern auch den Kurs der von den Rechtsparteien gestellten Cohabitations-Regierungen Chirac (1986-1988) und Balladur (1993-1995). Denn die seit der 1983 vollzogenen wirtschaftspolitischen Wende der sozialistischen Regierung verfolgte Wirtschafts-und Sozialpolitik Frankreichs ist in ihren Grundzügen von allen seitherigen Regierungen weiter verfolgt worden; sie konnte sich jahrelang auf einen weitgehenden, parteiübergreifenden politischen Konsens stützen. 1. Zwiespältiges Erbe der Ära Mitterrand Diese Politik orientierte sich vorrangig am Ziel der Preisstabilität, der marktwirtschaftlichen Struktur-anpassung, der ordnungspolitischen Liberalisierung und an einem „starken Franc“ innerhalb des Europäischen Währungssystems (EWS). Sie ordnete ihre binnenwirtschaftlichen Ziele weitgehend den außenwirtschaftlichen Zwängen und währungspolitischen Einbindungen unter, was insbesondere die Möglichkeiten für die nationale Wachstumspolitik einengte. Zusätzlich vergrößerte der von Frankreich maßgeblich mitbetriebene Ausbau des EG-Binnenmarktes (1986-1993) die europäischen Anpassungszwänge und trieb insbesondere den Abbau staatlicher Reglementierungen voran. Der ordnungspolitische Rückzug des Staates wurde ferner ab 1986 mit den Reprivatisierungen vorangetrieben.
Diese Politik hat eine Reihe von Erfolgen aufzuweisen: Ihr ist es gelungen, die bis Anfang der achtziger Jahre aus den Fugen geratenen binnen-und außenwirtschaftlichen Gleichgewichte wiederherzustellen. Das Vertrauen in die Stabilität des Franc konnte wiederhergestellt werden. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der französischen Exportwirtschaft wurde ebenso nachhaltig verbessert wie die unternehmerischen Finanzierungsspielräume und Rahmenbedingungen. Allerdings ist diese unbestreitbare Erneuerung und marktwirtschaftliche Neuorientierung der Wirtschaft noch unabgeschlossen und in sich widersprüchlich Zudem wurde sie nur um den Preis wachsender sozialer Verwerfungen erreicht.
Die Massenarbeitslosigkeit hat mit 3, 2 Millionen (12 Prozent) ein Niveau erreicht, das von den großen Staaten der Europäischen Union nur noch von Spanien übertroffen wird. Frankreich ist auch das europäische Land, in dem die Arbeitslosigkeit seit Ende der achtziger Jahre am stärksten angestiegen ist. Zusätzlich befinden sich 1, 4 Millionen Menschen (5, 3 Prozent) in ungesicherten, „prekären“ Arbeitsverhältnissen. Damit ist fast jeder fünfte Franzose von Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung betroffen. Herkömmliche Strukturen der sozialen Ungleichheit werden dadurch verfestigt, daß bestimmte Gruppen (Frauen, Ausländer, junge und wenig qualifizierte Arbeitnehmer sowie auch Arbeiter und einfache Angestellte) deutlich überdurchschnittlich betroffen sind. Langzeitarbeitslosigkeit, massive Probleme der beruflichen Ersteingliederung von Jugendlichen sowie der Zerfall traditioneller Sozialbindungen haben Verarmungsprozesse ausgelöst, die mittlerweile schätzungsweise fünf Millionen Menschen erfaßt haben Besonders augenfällig ist die soziale Krise in den städtischen Ballungszentren, vor allem in zahlreichen Trabanten-und Vorstadtsiedlungen, wo die geschilderten Probleme konzentriert auftreten und sich wiederholt in Form gewalttätiger Konflikte entladen
Die Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich trotz vielfacher Ansätze -etwa in der Arbeitsmarktpolitik, der Stadtentwicklungspolitik oder der Armutsbekämpfung -dieser Entwicklung gegenüber weitgehend als hilflos erwiesen. Weder die Sozialisten noch, in den zwei Cohabitations-Phasen 1986-1988 und 1991-1993, die bürgerlichen Parteien konnten die scheinbar unaufhaltsame Krisenspirale umkehren Damit verbreitete die Politik zunehmend ein Bild der Ratlosigkeit, ja der Resignation gegenüber diesem schleichenden Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts, was in einem gewissen Gegensatz zu der unerbittlichen Konsequenz ihrer Stabilitäts-und Währungspolitik des „starken Franc“ stand.
Zur Desorientierung der Bevölkerung trug weiterhin bei, daß mit den umfassenden Deregulierungen, Liberalisierungen und Privatisierungen der achtziger Jahre ein Abbau des tradierten französischen Interventionsstaates vollzogen, wurde, der die Nachkriegsjahrzehnte nachhaltig geprägt hatte. Die Notwendigkeit eines grundlegenden Umbaus der bisherigen Interventionsmuster ist mittlerweile unbestritten; allerdings gestaltet sich die Suche nach einem neuen, tragfähigen wirtschaftlich-sozialen Entwicklungsmodell und nach einer neuen Rolle des Staates erratisch und widersprüchlich 2. Wirtschaftspolitische Kontroversen Das offensichtliche Scheitern der Bemühungen der linken, aber auch rechten Regierungen, die wirtschaftliche und die soziale Modernisierung gleich-gewichtigvoranzutreiben, hat in den vergangenen Jahren verstärkte Zweifel an dem seit 1983 verfolgten Kurs genährt. Stein des Anstoßes waren vor allem die von Regierung und Experten wiederholt herausgestellten europäischen Einbindungen und Anpassungszwänge. Der Spielraum für eine nationale französische Wachstums-und Beschäftigungspolitik fand sich durch die Teilnahme am Europäischen Währungssystem und durch das Ziel der Europäischen Währungsunion gleich in mehrfacher Weise eingeengt.
Vor diesem Hintergrund formierten sich zunächst auf der Linken (die Kommunistische Partei sowie innerhalb der Sozialisten der Parteiflügel um Jean-Pierre Chevenement) und in den vergangenen Jahren vor allem auf der Rechten (mit Parlaments-präsident Philippe Seguin und dem früheren Innenminister Charles Pasqua als Wortführern) die Vertreter einer „anderen Politik“. Sie geißelten die Selbstfesselung einer Wirtschaftspolitik, die sich mit ihrem Kurs des „starken Franc“ de facto der Deutschen Bundesbank unterordne und eigenständige Gestaltungsspielräume unnötig beschneide, die mit ihren deflationären Wirkungen die französische Wirtschaft lähme und damit die soziale Krise verschärfe
Die Stoßrichtung dieser Kritik ist eine doppelte: Es geht zum einen um eine „andere“, stärker wachstumsbetonte Wirtschaftspolitik, um mehr Spielraum für Beschäftigung und die Überwindung der sozialen Krise zu gewinnen. Zum anderen aber geht es, über die Wirtschaftspolitik hinaus, um den Erhalt bzw. die Rückgewinnung des Gestaltungsspielraums der nationalen Politik angesichts einer fortschreitenden Internationalisierung und Europäisierung
Der Kampf gegen den Vertrag von Maastricht im Herbst 1992 verband in idealer Weise beide Elemente (Bedrohung der nationalen Souveränität; Ziel der Europäischen Währungsunion mit ihren harten stabilitäts-und haushaltspolitischen Konvergenzkriterien). Auch nach dem knappen Scheitern der Maastricht-Gegner setzten sich die Auseinandersetzungen um eine Erneuerung der Wirtschaftspolitik fort und verstärkten sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1995. Aus den Reihen Seguins und Pasquas begann eine Kritik des „Einheitsdenkens“ (pense unique), mit dem die seit 1983 vorherrschende wirtschaftspolitische Doktrin, vor allem ihre europäisch-liberale Logik, ihr elitärer und technokratischer Charakter sowie ihre Ausrichtung an ökonomischen Kennziffern statt an den realen Problemen der Menschen, angegriffen wurde
Einer der Hauptvertreter des so angegriffenen „Einheitsdenkens“ ist Alain Mine. Als Vorsitzender einer von Premierminister Balladur eingesetzten Arbeitsgruppe im Rahmen der Planification hatte er im November 1994 einen Bericht vorgelegt, der die Möglichkeit einer alternativen Politik verneinte und davor warnte, zu glauben, Frankreich könne sich den europäischen Einbindungen und Anpassungszwängen entziehen: „Angesichts der Herausforderungen der kommenden Jahre... kann Frankreich das Gewicht der Anpassungszwänge nur durch die Glaubwürdigkeit gegenüber den Märkten erleichtern, insbesondere durch den unwiderruflichen Charakter der Entscheidung für eine stabile Währung und damit durch die Verringerung der öffentlichen Defizite.“ Folglich spricht sich Mine für das Festhalten an der europäisch orientierten Wirtschafts-und Währungspolitik aus und plädiert für weitgehende Strukturanpassungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: So soll in der Sozialstaatspolitik das bisher maßgebliche Gleichheitsprinzip zugunsten eines Gerechtigkeitsprinzips aufgegeben werden; der interventionistische Staat soll einem regulierenden, „strategischen“ Staat Platz machen.
Eine Art Kontrastprogramm dazu entwickelte ein im März 1995 veröffentlichtes, viel beachtetes Buch des Präsidenten des Wirtschaftsforschungsinstituts OFCE (Observatoire Franfais des Conjonctures Economiques), Jean-Paul Fitoussi. Unter dem bezeichnenden Titel „Die verbotene Debatte“ unternimmt Fitoussi den Versuch, die seiner Ansicht nach falsche Alternative zwischen der bisherigen Wirtschafts-und Währungspolitik und der „anderen Politik“ zu überwinden Er wirft der bisher verfolgen Politik Eindimensionalität vor, weil sie in ihrer Fixierung auf die Franc-DM-Paritätvitale ökonomische und soziale Zielsetzungen sträflich vernachlässigt habe: „Kann eine Währung stark sein, wenn die Wirtschaft und die Gesellschaft ... Ungleichheiten aufweisen? Kann sich die Stärke einer Währung aus den Brüchen einer Gesellschaft, aus der Arbeitslosigkeit, der sozialen Ausgrenzung, der Armut nähren?“
Fitoussi plädiert für eine einheitliche europäische Währung, aber auch für eine stärker nachfrage-und wachstumsorientierte Politik, weil ein ausreichendes Wachstum die notwendige Voraussetzung für eine Rückkehr zum Haushaltsgleichgewicht und für eine dauerhaft stabile Währung sei. Oberstes Ziel müsse der politische Wille sein, „die Wirtschaftspolitik in den Dienst der Beschäftigung zu stellen“ und „feierlich die Rückkehr zur natürlichen Hierarchie der wirtschaftspolitischen Ziele, d. h. die absolute Priorität der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, anzukündigen“
Mine und Fitoussi können stellvertretend für die beiden Hauptströmungen der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte in Frankreich stehen: Hier ein Konzept liberaler Anpassung an die Anpassungszwänge, die von der europäischen Integration und den internationalen Märkten ausgehen; dort ein Konzept der Rückgewinnung von Spielräumen für Wachstums-und Beschäftigungspolitik (bei grundsätzlicher Bejahung der internationalen Einbindungen). Dabei ist es bezeichnend für den Klimawechsel, daß -nach jahrelanger Dominanz dep „euro-liberalen“ Thesen ä la Mine -sich nunmehr eine Strömung in den Vordergrund drängt, die einen seriösen, nicht demagogischen Weg aus der Krise sucht.
Dies ist nicht zuletzt auf den neuen Präsidenten zurückzuführen, der sich die Kritik des „Einheitsdenkens“ und die Thesen der „anderen Politik“ weitgehend zu eigen gemacht und einen neuen, voluntaristischen Ansatz zur Überwindung der sozialen Krise proklamiert hat.
III. Begrenzte Spielräume
Gewählt im Zeichen des „Wandels“, hat Jacques Chirac keinen Zweifel daran gelassen, daß er einen neuen politischen Ansatz verfolgt, der der Über-windung von Massenarbeitslosigkeit und Verarmung absolute Priorität zuschreibt. So prokla-mierte der neue Premierminister Alain Juppe in seiner Regierungserklärung vor der Nationalversammlung, sein Programm bestehe „in einem einzigen Wort: Arbeit“ Für den Präsidenten ist dies die Grundvoraussetzung für die Erneuerung des „republikanischen Paktes“ zwischen Staat und Bürgern, dessen zentrale Werte in der Chancen-gleichheit, der Solidarität, der Toleranz und im Patriotismus liegen. Es geht ihm damit auch um die Rehabilitierung der Politik und ihrer Gestaltungsfähigkeit gegenüber anonymen „Sachzwängen“ und selbsternannten Technokraten Letztlich geht es um die Widerherstellung des aus den Fugen geratenen Gleichgewichts zwischen ökonomischen Zwängen und politischem Gestaltungswillen, zwischen europäisch-internationalen Einbindungen und nationalem Handlungsspielraum, zwischen ökonomischer und sozialer Ratio
Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung haben entsprechende Akzente gesetzt Ein interministerieller Ausschuß für Beschäftigung unter der Leitung eines Staatssekretärs wurde gebildet, der alle beschäftigungswirksamen Maßnahmen sämtlicher staatlichen Ebenen koordinieren soll. Die Präfekten wurden angehalten, die lokalen, departementalen und regionalen Akteure zu mobilisieren. Zwei beschäftigungspolitische Programme wurden aufgelegt: Eine zweijährige vollständige Befreiung von den Arbeitgeberabgaben zur Sozialversicherung und eine monatliche Prämie in Höhe von 2000 Francs sollen Unternehmen zur Einstellung von Langzeit-Arbeitslosen anreizen (Contrat initiative-emploi). Die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, die eine praktische, berufsqualifizierende Ausbildung hinter sich haben, soll durch die Schaffung von Eingliederungs-Arbeitsverträgen und entsprechende finanzielle Hilfen an die Unternehmen gefördert werden (Contrat d’acces ä l'emploi). Ferner werden denjenigen Klein-und Mittelunternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, Ermäßigungen der Sozialversicherungslasten in Aussicht gestellt.
Längerfristig der Beschäftigungsförderung dienen soll auch die für den Herbst angekündigte Steuer-und Abgabenreform, deren Eckpunkte die Senkung der Soziallasten im Bereich der Niedriglöhne, die Übernahme bestimmter Finanzierungslasten der Sozialversicherung durch den Staatshaushalt und eine Senkung der Einkommen-steuerbelastung darstellen.
Im Bereich der Armutsbekämpfung wurde ein Dringlichkeitsprogramm zum Bau neuer Sozial-wohnungen für bedürftige Bevölkerungsschichten beschlossen; eine Reform der Wohnungsbauförderung mit dem Schwerpunkt der Eigentumsförderung wurde für den Herbst versprochen. Ein „nationales Programm für die städtische Integration“ soll in problembelasteten städtischen Wohnvierteln die wirtschaftliche und soziale Lage mit Hilfe von Ausnahmeregelungen verbessern helfen. Schließlich wurde für den Herbst ein Pflegegeld für pflegebedürftige ältere Personen (allocation döpendance) angekündigt.
Die Anhebung der Altersrenten und des staatlich festgelegten, branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohnes SMIC (Salaire minimum interprofessionnel de croissance) hatte ebenfalls das Ziel, den neuen Kurs zu symbolisieren, der auch auf die Stärkung der Nachfrage der Masseneinkommen setzt, um den Wirtschaftsaufschwung zu stützen. In diesem Sinne hatte Chirac schon zu Beginn des Jahres die gewerkschaftlichen Forderungen nach Lohnerhöhungen unterstützt.
Die sich abzeichnende Politik überzeugt mehr durch ihren neuen Elan und Voluntarismus als durch ihre teils widersprüchliche, teils wenig innovative inhaltliche Ausrichtung Sie steht überdies vor äußerst schwierigen Zielkonflikten: Die haushaltspolitischen Spielräume sind angesichts eines öffentlichen Schuldenstandes von gut 3 000 Mrd. Francs und einer Neuverschuldung in diesem Jahr in Höhe von über 300 Mrd. Francs äußerst begrenzt Die Reduzierung der öffentlichen Haushaltsdefizite ist damit eine zwingende Priorität für die Regierung, während das ehrgeizige Wachstums-und Beschäftigungsprogramm im Gegenteil erhebliche Mehrausgaben verlangt. Die Gegen-finanzierung durch Mehreinnahmen aus der Wachstumsbelebung, den Privatisierungserlösen (jährlich ca. 55 Mrd. Francs) und der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18, 6 Prozent auf 20, 6 Prozent wird nicht ausreichen. Chirac und Juppe haben mehrfach bekräftigt, am bisherigen Kurs der Währungspolitik (Stabilität des Franc innerhalb des EWS, Teilnahme an der Europäischen Währungsunion 1999) festzuhalten, und allen Spekulationen etwa auf eine FrancAbwertung eine Absage erteilt Angesichts der hohen Staatsverschuldung und der unklaren Finanzierungsgrundlage der neuen Wachstums-und Beschäftigungspolitik wird die Tragfähigkeit dieser Politik von den Finanzmärkten aber teilweise angezweifelt, was den Franc unter Druck bringen -und die Verantwortlichen in Paris zum Handeln zwingen könnte In diesem Zusammenhang sind schon im Vorfeld der Wahlen die kurzfristigen Zinssätze auf ein Niveau gestiegen, das um drei Prozentpunkte über dem in Deutschland und um fünf Punkte über der Inflationsrate liegt. Damit ist von der Zinspolitik vorerst kein Beitrag zur Wachstumsbelebung zu erwarten.
Angesichts dieser restriktiven Bedingungen sind, trotz des bereits begonnenen Wirtschaftsaufschwunges, keine Wunder in der Beschäftigungsentwicklung zu erwarten. Die Regierung wandert zudem auf einem schmalen Pfad zwischen den geweckten hohen Erwartungen an den „Wandel“ einerseits, den haushalts-, zins-und währungspolitischen Zwängen andererseits Bei einer Zuspitzung der Lage ist mit einem erneuten Aufleben der Debatte um eine „andere“, stärker national orientierte Politik zu rechnen. Spätestens dann wird die Nagelprobe für Chiracs Politik des „Wandels“ beginnen.
Henrik Uterwedde, Dr. phil., Dipl. -Pol., geb. 1948; seit 1974 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1994 stellvertretender Direktor am Deutsch-Französischen Institut, Ludwigsburg. Veröffentlichungen u. a.: Die Wirtschaftspolitik der Linken in Frankreich. Programm und Praxis 1974-1986, Frankfurt/M. -New York 1988; Die Europäische Gemeinschaft, Opladen 1990; (zus. mit Wolfgang Neumann) Soziale und stadtstrukturelle Wirkungen der Wohnungs-und Städtebaupolitik in Frankreich, Stuttgart 1993; (zus. mit Wolfgang Neumann) Raumordnungspolitik in Frankreich und Deutschland, Stuttgart 1994.
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