Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland -ein Überblick
Richard Hauser
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Zusammenfassung
Der Beitrag bietet einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der Armutsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Im einzelnen wird auf die „bekämpfte Armut“, d. h. die Entwicklung der Sozialhilfeempfängerzahlen, auf die „verdeckte Armut“, d. h. das Problem der Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe durch Berechtigte, sowie auf die Veränderungen der „relativen Einkommensarmut“, gemessen an einer „Armutsgrenze“ von 50 Prozent des durchschnittlichen gewichteten Nettoeinkommens aller Personen, eingegangen; auch die neuen Bundesländer werden berücksichtigt. Als Hauptergebnisse lassen sich festhalten: Erstens: Seit 1963 erfolgte ein starker Anstieg der Sozialhilfeempfängerquote, der jedoch nicht durch eine über das Einkommenswachstum hinausgehende Erhöhung der Sozialhilfeschwelle, sondern durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren sowie durch Lücken im vorgelagerten sozialen Sicherungssystem hervorgerufen wurde; wenn die Sozialhilfeempfänger auch real gesehen ihren Lebensstandard verbesserten, so sind sie doch im Vergleich zum Durchschnitt etwas zurückgeblieben. Das personenbezogene Sozialhilfe-risiko hat sich völlig gewandelt: Wiesen Mitte der sechziger Jahre noch alte Frauen das höchste Risiko auf, so sind es nunmehr die Kinder. Zweitens: Verdeckte Armut ist ein weit unterschätztes Problem; auf zwei Sozialhilfeempfänger kommen nochmals ein bis zwei Berechtigte, die ihre Ansprüche nicht geltend machen; besonders hoch ist die verdeckte Armut unter den alten Menschen. Drittens: Die relative Einkommens-armut liegt in den alten Bundesländern bei über zehn Prozent und in den neuen Bundesländern bei über sieben Prozent; während sie sich in den alten Bundesländern in den letzten Jahren kaum verändert hat, steigt sie in den neuen Bundesländern deutlich an. Viertens: Ein großer Teil der Armen ist nicht permanent arm, sondern nur zeitweise; das Verarmungsrisiko reicht jedoch bis weit in die Mittelschichten hinein. Nur ein kleiner Teil der Armen ist langfristig arm; hier besteht die Gefahr der Herausbildung einer neuen Unterschicht und der lokalen Konzentration in Armutsvierteln.
I. Zur Einführung: Was heißt „Armut“?
Bis zum Ende der siebziger Jahre herrschte in der Bundesrepublik die Vorstellung, daß die Armut der ersten Nachkriegsjahre überwunden sei. Für die wenigen vom Wirtschaftsaufschwung ausgeschlossenen und auch anderweitig nicht abgesicherten Personen würde die 1961/62 reformierte Fürsorgeregelung, die als neue „Sozialhilfe“ erstmals einen „Rechtsanspruch dem Grunde nach“ auf die staatliche Gewährleistung eines Existenzminimums statuiert hatte, als letztes Auffangnetz ausreichend Sorge tragen. Armut sei daher etwas, was nur noch in Entwicklungsländern vorkomme. Bedenklich hätte allerdings stimmen können, daß der Präsident der reichen Vereinigten Staaten bereits im Jahre 1965 innerhalb seines Landes einen „Krieg gegen die Armut“ erklärt hatte, der einerseits mit vielfältigen neuen Sozialprogrammen und andererseits mit der Festlegung einer offiziellen „Armutsgrenze“ und einer Förderung der Armutsforschung verbunden war Die Zweifel an der völligen Beseitigung der Armut mehrten sich, als die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen ihres ersten Programms zur Bekämpfung der Armut (1975 bis 1981) für alle Mitgliedsländer Armutsberichte von unabhängigen Experten erstellen ließ und dem Ministerrat einen ersten zusammenfassenden Bericht vorlegte Auch in der Bundesrepublik erschienen Untersuchungen, die ein Armutsproblem belegten In der Zwischenzeit sind von der Europäischen Union zwei weitere „Armutsprogramme“ durchgeführt worden und ein viertes liegt beschlußreif vor, wird jedoch durch ein einziges Mitgliedsland -Deutschland -blockiert Auch das neue Weißbuch der Europäischen Kommission zur Europäischen Sozialpolitik widmet dem „Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ einen eigenen Abschnitt. Und seit Mitte der achtziger Jahre haben verschiedene Länder und internationale Organisationen Armutsstudien und Berichte vorgelegt so daß man feststellen kann, daß sich nunmehr die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß es auch in reichen Industriestaaten, wie der Bundesrepublik Deutschland, ein Armutsproblem gibt Der wichtigste Streitpunkt ist dabei: Wie sind die Armen von den Nichtarmen zu unterscheiden? Eine solche Unterscheidung ist erforderlich, um Armut empirisch erfassen und den Anteil sowie die Struktur der als „arm“ charakterisierten Bevölkerungsgruppe feststellen zu können. Hierbei stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber: Die erste geht von Einkommen und Vermögen aus. Hiernach sind Personen dann nicht arm, wenn sie über ein im Familienzusammenhang ausreichendes Einkommen bzw. Vermögen verfügen, denn in einer Marktwirtschaft kann man alle zur Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums erforderlichen Güter kaufen. Das Problem der Armutsdefinition besteht dann nur darin, die Schwelle des ausreichenden Einkommens politisch festzulegen. Aus dieser Sicht folgt auch eine klare Richtlinie für die Armutsbekämpfung: Es genügt die Gewährung einer Sozialleistung, die das zu niedrige oder völlig fehlende eigene Einkommen auf die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums aufstockt. Die „richtige“ oder „falsche“ Verwendung des Einkommens liegt in der Verantwortung des Betroffenen und ist daher kein Problem der Sozialpolitik.
Die zweite Sichtweise richtet sich unmittelbar auf die verschiedenen Dimensionen der tatsächlichen Lebenslage einer Person. Hiernach sind Personen dann nicht arm, wenn keine Unterversorgungserscheinungen vorliegen, d. h. keine Unterernährung, keine unzureichende Kleidung, keine unzumutbaren Wohnverhältnisse, ein ausreichender Schutz gegen Krankheitskosten sowie ausreichende Kommunikations-und Beteiligungsmöglichkeiten an den üblichen gesellschaftlichen Aktivitäten. Liegt in einer oder in mehreren Dimensionen Unterversorgung vor, die anhand von anerkannten Mindeststandards festgestellt werden muß, so wird Armut konstatiert. Bei dieser Sichtweise ist es in einem die Selbstverantwortung betonenden Sozialstaat viel schwieriger, umfassende Armutsbekämpfungsmaßnahmen einzuleiten, denn ausreichende monetäre Sozialleistungen sind zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Vermeidung von Armut. Darüber hinaus müßten durch Beratung, Betreuung, vielfältige andere Hilfsangebote sowie allgemeinpolitische Maßnahmen auch die „falsche“ Verwendung des Einkommens, ein von den üblichen Normen abweichendes Verhalten sowie Diskriminierung und Stigmatisierung, die zu sozialer Ausschließung führen, bekämpft werden.
Bei beiden Sichtweisen ergeben sich zwei zusätzliche Fragen: Bei welcher Einkommenshöhe soll das sozio-kulturelle Existenzminimum, die sogenannte Einkommensarmutsgrenze liegen, bzw. wie sollen die entsprechenden nicht-monetären Mindeststandards festgelegt werden? Wie sollen diese Armutsgrenzen im Verlauf des wirtschaftlichen Wachstums und bei Preisniveausteigerungen angepaßt werden? Auf diese miteinander in einem engen Zusammenhang stehenden Fragen gibt es keine wissenschaftlich beweisbaren Antworten. An ihrer Stelle kann nur eine politische Entscheidung oder eine gesellschaftlich anerkannte Konvention oder ein persönliches Werturteil -gestützt auf religiöse Lehrsätze oder philosophische Prinzipien -stehen. Die Sozialwissenschaften können nur die Konsequenzen, die aus der Festsetzung bestimmter Armutsgrenzen resultieren, aufzeigen. Damit wird auch sichtbar, daß alle empirisch ermittelten Ergebnisse von der grundlegenden Entscheidung über die Armutsabgrenzung abhängig sind.
In den Sozialwissenschaften hat sich die Konvention herausgebildet, Einkommensarmut dann zu konstatieren, wenn das Nettoeinkommen der jeweiligen Person weniger als die Hälfte des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts beträgt dabei werden die Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in einem Mehr-Personen-Haushalt sowie die Bedarfsunterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen berücksichtigt Auch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat diese Grenze ihren Armutsberichten zugrunde gelegt Einen Konsens über die zu berücksichtigenden Dimensionen der Lebenslage und über die Höhe der Mindeststandards, die zur Vermeidung von Armut einzuhalten wären, gibt es bisher aber nicht. Besonders umstritten ist die Frage, ob die Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe noch als „arm“ einzustufen oder als bereits der Armutslage enthoben und damit als „nicht-arm“ zu bezeichnen sind. Dies hängt offensichtlich von dem persönlichen Werturteil ab, ob man die Höhe der Sozialhilfe als ausreichend zur Sicherung eines sozio-kulturellen Existenzminimums ansieht und ob man die Umstände der Antragstellung und des Bezugs (scharfe Einkommensüberprüfung, Pflicht zum fast völligen vorhergehenden Vermögensverbrauch, Erstattungsanspruch des Sozialamts gegenüber Verwandten ersten Grades in gerader Linie, Stigmatisierung in der öffentlichen Meinung) mit der grundgesetzlich geschützten Würde des Menschen für vereinbar hält.
Unbestreitbar kann man aber die Gruppe der Sozialhilfeempfänger, die auf das unterste Auffangnetz des Sozialstaats angewiesen sind, als eine soziale Problemgruppe bezeichnen, deren Lebensumstände auch unter Armutsaspekten der Untersuchung bedürfen. Dies wird in vielen Armutsuntersuchungen inzwischen auch so gehandhabt. Man spricht, um die Ambivalenz der Sichtweisen anzudeuten, von „bekämpfter Armut“. Schließlich muß man den Blick auch auf die „verdeckte Armut“ richten. Darunter fallen jene Personen, die ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe aus irgendwelchen Gründen nicht geltend machen und daher mit einem Einkommen, das noch unterhalb der Sozialhilfeschwelle liegt, auskommen müssen.
In den folgenden Abschnitten beschäftigen wir uns zunächst mit den Sozialhilfeempfängern; dann werden einige empirische Ergebnisse über die relative Einkommensarmut referiert; hierauf folgt eine Skizze weiterer Aspekte der Lebenslage von Einkommensarmen; den Abschluß bildet eine knappe Zusammenfassung.
II. Zur Entwicklung der Sozialhilfebedürftigkeit in Deutschland
Abbildung 2
Quelle: Statistisches Bundesamt (III B) 1994: Verfügbares Einkommen, Zahl der Haushalte und Haushaltsmitglieder nach Haushaltsgruppen -Aktualisierte Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für die Jahre 1972 bis 1993, Wiesbaden (Sonderdruck). Diagramm 2: Relative Wohlfahrtspositionen nach der sozialen Stellung des Haushaltsvorstandes, Bundesrepublik Deutschland (West) 1972-1993
Quelle: Statistisches Bundesamt (III B) 1994: Verfügbares Einkommen, Zahl der Haushalte und Haushaltsmitglieder nach Haushaltsgruppen -Aktualisierte Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für die Jahre 1972 bis 1993, Wiesbaden (Sonderdruck). Diagramm 2: Relative Wohlfahrtspositionen nach der sozialen Stellung des Haushaltsvorstandes, Bundesrepublik Deutschland (West) 1972-1993
1. Überblick Bei der Sozialhilfereform im Jahre 1961 ging man von der Erwartung aus, daß die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) im Zuge des Wirtschaftswachstums und der weiteren Verbesserung des der Sozialhilfe vorgelagerten sozialen Sicherungssystems immer mehr an Bedeutung verlieren und der zweite Zweig der Sozialhilfe, die Hilfe in besonderen Lebenslagen (HBL), das dominierende Element der Sozialhilfe würde Diese Erwartung hat sich weder in bezug auf die Empfängerzahlen noch in bezug auf die finanziellen Aufwendungen erfüllt. Der Anteil der Bevölkerung, der während eines Jahres zeitweise oder dauernd durch Hilfe zum Lebensunterhalt (außerhalb von Einrichtungen) unterstützt werden mußte, ist in den alten Bundesländern von 1, 3 Prozent (1963) auf 4, 7 Prozent (1992) angestiegen in den neuen Bundesländern stieg der Empfängeranteil von ca. 0, 8 Prozent (1990) auf 2, 8 Prozent (1992), wobei in beiden Landesteilen eine steigende Tendenz zu verzeichnen ist. Der Anteil der Empfänger von Hilfe in besonderen Lebenslagen stieg in den alten Bundesländern von 1, 5 Prozent (1963) auf 2, 6 Prozent (1992) und in den neuen Bundesländern von null (1990) auf 1, 6 Prozent (1992). Die Bruttoausgaben für HLU machten 1963 in den alten Bundesländern 0, 22 Prozent des Bruttosozialprodukts aus; im Jahr 1992 waren die Ausgaben für HLU in Gesamtdeutschland auf 0, 5 Prozent des gesamtdeutschen Bruttosozialprodukts angestiegen, d. h., ihr Anteil hatte sich mehr als verdoppelt. Der Anstieg bei den Ausgaben für HBL war noch weit stärker: Er betrug 1963 in den alten Bundesländern 0, 26 Prozent und 1992 (gesamtdeutsch) 0, 89 Prozent, d. h., es erfolgte mehr als eine Verdreifachung des Anteils am Bruttosozialprodukt. Da ein Teil der Sozialhilfeausgaben von den Sozialversicherungen oder den Familienmitgliedern zurückerstattet werden muß, liegen die Anteile der Nettoausgaben um etwa ein Fünftel niedriger.
Diese wenigen Zahlen mögen genügen, um zu zeigen, daß die Bedeutung des untersten Auffangnetzes „Sozialhilfe“ seit seiner Einführung entgegen den ursprünglichen Erwartungen wesentlich zugenommen hat. Eine weit größere Gruppe von Menschen ist zeitweise oder dauerhaft von Sozialhilfe abhängig geworden. Im folgenden wird allerdings nur noch auf die Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen (Sozialhilfeempfänger im engeren Sinn) eingegangen, da die Frage, ob das Angewiesensein auf Hilfe in besonderen Lebenslagen ebenfalls ein sozialpolitisches Problem darstellt, hier nicht behandelt werden kann. 2. Die Entwicklung der Regelsätze und der durchschnittlichen Wohlfahrtsposition der Sozialhilfeempfänger Angesichts der öffentlichen Diskussion über die angebliche Großzügigkeit der Sozialhilfe und über eine mögliche Verletzung des Lohnabstandsgebots könnte man vermuten, daß der Anstieg der Empfängerzahlen durch eine weit über das durchschnittliche Lohnwachstum hinausgehende Anhebung der Sozialhilferegelsätze verursacht sei. Dies ist aber nicht der Fall, wie Diagramm 1 zeigt.
Der Regelsatz der Sozialhilfe ist seit der Sozialhilfereform 1961/62 mit leichten Schwankungen dem Trend des Anstiegs der Nettolohn-und -gehalts-summe je Beschäftigtem gefolgt und -nominell gesehen -bis 1992 auf fast das Fünffache angestiegen Da sich das Preisniveau für einen Zwei-Personen-Rentner-und Sozialhilfeempfängerhaushalt in diesem Zeitraum nur auf das 2, 8fache erhöht hat, entstand in diesen dreißig Jahren eine reale, d. h. in Gütermengen ausgedrückte Verbesserung für die Lohnbezieher ebenso wie für die Sozialhilfeempfänger um etwa 60 Prozent. Da die Sozialhilfe auch die Miet-und Heizungskosten deckt, die in diesem Zeitraum noch stärker als der genannte Preisindex angestiegen sind (etwa auf das 3, lfache), war die Entwicklung für die Sozialhilfeempfänger sogar etwas günstiger, als es sich aus der Betrachtung der Regelsätze ergibt. Die Nettolohn-und -gehaltssumme je Beschäftigtem ist jedocheine Vergleichsgröße, die den starken Struktur-wandel der vergangenen 30 Jahre nicht erfaßt. In diesem Zeitraum hat sich einerseits der Anteil der Teilzeitbeschäftigungen erhöht und andererseits gibt es einen höheren Anteil von Zwei-Verdiener-Haushalten; außerdem hat die durchschnittliche Kinderzahl je Familie abgenommen. Um diese Veränderungen zu berücksichtigen, muß man die Entwicklung des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens, das Haushaltsgesamteinkommen, Haushaltsgröße und Kinderzahl berücksichtigt, heranziehen. Das Statistische Bundesamt Wiesbaden spricht vom verfügbaren Einkommen je Verbrauchereinheit.
Wie das Diagramm 1 zeigt, ist das verfügbare Einkommen je Verbrauchereinheit (gepunktete Linie) ab Anfang der achtziger Jahre deutlich stärker gestiegen als der Regelsatz der Sozialhilfe oder die Nettolohn-und -gehaltssumme je Beschäftigtem. Man kann daher festhalten: Der Anstieg der Sozialhilfeempfängerzahlen ist auf keinen Fall durch eine besonders großzügige Erhöhung des Regelsatzes hervorgerufen worden. Die Sozialhilfeempfänger sind vielmehr hinter der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards etwas zurückgeblieben. Diese Feststellung wird auch durch Diagramm 2 gestützt, in dem das Verhältnis der verfügbaren Einkommen je Verbrauchereinheit von neun sozialen Gruppen zum gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt der alten Bundesländer dargestellt ist; diese Verhältniszahlen werden als relative Wohlfahrtsposition einzelner Gruppen bezeichnet. Eine Wohlfahrtsposition von 100 Prozent bedeutet damit, daß die jeweilige Personengruppe ein verfügbares Einkommen je Verbrauchereinheit zur Verfügung hat, das genau dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt entspricht: Werte unter 100 Prozent kennzeichnen soziale Gruppen mit unterdurchschnittlicher, Werte über 100 Prozent solche mit überdurchschnittlicher Wohlfahrtsposition. Diese auf Berechnungen des Statistischen Bundesamtes beruhende Darstellung umfaßt einen Zeitraum von zwei Dekaden (1972 bis 1993).
Ohne auf die übrigen Gruppen näher einzugehen, kann man in bezug auf die relative Wohlfahrtsposition der Sozialhilfeempfänger (unterste Linie I) zwei Ergebnisse festhalten: Erstens lag ihre relative Wohlfahrtsposition während des gesamtenZeitraums bei etwa der Hälfte des Durchschnitts Zweitens ist ihre relative Wohlfahrtsposition im Verlauf der beiden Dekaden etwas abgesunken, und zwar von etwa 53 auf 48 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts, d. h. um etwa ein Zehntel.
Für die neuen Bundesländer sind noch keine genaueren Zahlen bekannt. Da die Sozialhilferegelsätze dort aber nur um etwa fünf Prozent unter den westdeutschen liegen, während das Lohnniveau -gemessen am Verhältnis der ost-und westdeut-sehen Bruttolohn-und -gehaltssummen je Beschäftigtem -im ersten Halbjahr 1994 nur etwa 70 Prozent betrug muß die relative Wohlfahrtsposition der ostdeutschen Sozialhilfeempfänger deutlich günstiger sein als die der westdeutschen. Allerdings kann man Zweifel hegen, ob es angebracht ist, die relative Wohlfahrtsposition der ostdeutschen Sozialhilfeempfänger am ostdeutschen Einkommensniveau zu messen, anstatt sie zu dem das deutsche Anspruchsniveau determinierenden westdeutschen Einkommensniveau ins Verhältnis zu setzen. 3. Strukturverschiebungen beim Sozialhilferisiko Sozialhilfeempfänger können aus unterschiedlichen sozialen Gruppen kommen. Je höher in einer sozialen Gruppe der Anteil der Sozialhilfeempfänger ist, desto armutsgefährdeter erscheint sie. Damit bildet der Anteil der Sozialhilfeempfänger in einer Gruppe einen Indikator für ihr Armutsrisiko. Wie Tabelle 1 zeigt, hat sich das Armutsrisiko einzelner Gruppen, differenziert nach Alter und Geschlecht, seit der Einführung der Sozialhilfe stark verändert
Insgesamt gesehen hat sich das Sozialhilferisiko -wie schon erwähnt -von 1963 bis 1992 mehr als verdreifacht. Die Empfängerquoten der Frauen und Männer haben sich aber in diesem Zeitraum weitgehend angenähert, so daß man nicht mehr -wie noch in den sechziger Jahren -von einem generell wesentlich höheren Sozialhilferisiko von Frauen sprechen kann. Während unter den Altersgruppen zu Beginn der sechziger Jahre die alten Menschen, insbesondere die alten Frauen, eine Risikoquote von weit mehr als dem Doppelten des Durchschnitts aufwiesen, sind nunmehr die Kinder und Jugendlichen am stärksten betroffen. Es müßte eine Gesellschaft -ganz unabhängig davon, ob man Sozialhilfeempfänger als arm oder nicht-arm einstuft -äußerst bedenklich stimmen, daß nunmehr etwa jedes elfte Kind eine kürzere oder längere Zeit in einem Sozialhilfeempfängerhaushalt unter starker Einschränkung seiner Entwicklungschancen aufwächst Man kann in diesem Zusammenhang von einer „Infantilisierung der Armut“ in Deutschland sprechen.
Bis Ende der siebziger Jahre war das Sozialhilfe-risiko der im früheren Bundesgebiet anwesenden Ausländer, der sogenannten Gastarbeiter, deutlich niedriger als das der Deutschen. Wie das auf Jahresendzahlen beruhende Diagramm 3 zeigt, ist das Sozialhilferisiko der Ausländer unter dem Einfluß höherer Arbeitslosenquoten dieser Bevölkerungsgruppe und der verstärkten Zuwanderung seither auf über das Vierfache der deutschen Quote angestiegen; aber auch die Quote der Deutschen hat sich in diesem Zeitraum etwa verdoppelt.
Bei den Ausländem übersteigt die Quote der Männer jene der Frauen, bei den Deutschen ist das Verhältnis umgekehrt. Da Ausländer aber lediglich ca. neun Prozent der Bevölkerung ausmachen, dominieren die deutschen Risikoquoten die Gesamtquoten. 4. Verdeckte Armut Verdeckte Armut liegt bei einer Person vor, die zwar einen Anspruch auf Sozialhilfe besitzt, ihn aber nicht geltend macht. Wenngleich der Staat hierbei Sozialausgaben „einspart“, so geschieht dies doch um den „Preis“ einer erhöhten Armut. Man könnte vermuten, daß in einem wohlorganisierten Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Fälle der Nichtinanspruchnahme eine extreme Ausnahme darstellen -um so mehr, als das Bundessozialhilfegesetz in § 5 vorschreibt, daß die Sozialhilfe einzusetzen hat, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, daß die Voraussetzungen für die Hilfegewährung vorliegen; es bedarf also nicht einmal eines Antrags des Berechtigten. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. In einer neuen holländischen Studie die auch einen Überblick über vorliegende Untersuchungen in hochentwickelten Sozialstaaten, insbesondere für Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Deutschland und USA, bietet, wird gezeigt, daß die Nichtinanspruchnahme von bedarfsabhängigen und einkommensüberprüften Sozialleistungen überall ein weit unterschätztes Problem darstellt Nichtinanspruchnahmequoten von weit über 50 Prozent wurden für manche Transfers festgestellt. In den meisten Fällen lagen die Nichtinanspruchnahmequoten zwischen 20 und 50 Prozent; auch die Einzelergebnisse der holländischen Studie, in der alle Arten von einkommens-überprüften Transfers in Rotterdam und Nijmegen untersucht wurden, ergaben ein ähnliches Bild. Für die Bundesrepublik (alte Bundesländer) liegen seit Ende der siebziger Jahre verschiedene Schätzungen vor, die eine Nichtinanspruchnahmequote der Sozialhilfe (nur HLU) zwischen 33 und 50 Prozent ergeben, d. h., daß auf zwei Sozialhilfeempfänger nochmals ein bis zwei Berechtigte kommen, die ihre Ansprüche nicht geltend machen Besonders hoch scheint die Nichtinanspruchnahmequote bei den alten Menschen zu sein. Allerdings wird es sich dabei häufig nur um entgangene Aufstockungsbeträge geringer oder mittlerer Höhe handeln. Auch wenn man bei einem verdeckten Phänomen naturgemäß keine punktgenauen Schätzungen vornehmen kann, zeigen diese mit unterschiedlichen Methoden und Datenquellen erzielten Ergebnisse doch, daß es auch in Deutschland ein beachtliches Problem der verdeckten Armut gibt.
Es wäre aber verfehlt, die Ursachen der Nichtinanspruchnahme nur im persönlichen Verhalten der Berechtigten zu suchen. Bei ihnen spielen zwar fehlende Informationen und Falschinformationen, Furcht vor Rückgriff des Sozialamts auf Kinder oder Eltern, Stolz oder Angst vor Stigmatisierung eine beachtliche Rolle; aber es ist in verschiedenen Untersuchungen gezeigt worden, daß auch die Ausgestaltung der Bedingungen für den Erhalt der einkommensüberprüften Sozialleistung und das Verhalten der Sozialämter wesentliche mitwirkende Faktoren sind
III. Zur Entwicklung der relativen Einkommensarmut
Abbildung 3
Quellen: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 13 Sozialleistungen, Reihe 2: Sozialhilfe, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Öffentliche Sozialleistungen, Reihe 1: Sozialhilfe, Kriegsopferfürsorge, I. Sozialhilfe, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnungen. Tabelle 1: Sozialhilfeempfängerquoten (Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen) in den alten und neuen Bundesländern (Jahrꋐޓ?
Quellen: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 13 Sozialleistungen, Reihe 2: Sozialhilfe, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Öffentliche Sozialleistungen, Reihe 1: Sozialhilfe, Kriegsopferfürsorge, I. Sozialhilfe, verschiedene Jahrgänge; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnungen. Tabelle 1: Sozialhilfeempfängerquoten (Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen) in den alten und neuen Bundesländern (Jahrꋐޓ?
Die Messung der relativen Einkommensarmut an einer Armutsgrenze, die bei 50 Prozent des durchschnittlichen gewichteten Nettoäquivalenzeinkommens liegt, beruht auf einigen vereinfachenden Annahmen, die man in Erinnerung rufen muß, bevor man einige zentrale Ergebnisse betrachtet: Jeder Haushalt wird so betrachtet, als ob das gesamte Einkommen in einen Pool eingebracht würde, an dem alle Mitglieder derart partizipieren, daß jedes das gleiche Wohlfahrtsniveau erreicht. Es gibt also kein „Vorbehaltseinkommen“. Bedarfsunterschiede bleiben -außer bei Kindern -unberücksichtigt. Ebensowenig können Preisunterschiede bei den gekauften Gütern, insbesondere Unterschiede bei Miet-und Heizkosten, in die Betrachtung einbezogen werden. Das Vorliegen von „Einkommensarmut“ wird also allein aufgrund eines zu niedrigen Nettoäquivalenzeinkommens im Haushaltskontext konstatiert. Vermögensbesitz wird in der Regel nicht einbezogen. Wenn Monats-einkommen zugrunde gelegt werden, kann die Einkommensarmut bei Haushalten mit starken kurzfristigen Einkommensschwankungen überzeichnet werden. Da die statistische Erhebung von Einkommen generell fehleranfällig ist, spielen auch Meßfehler eine Rolle; insbesondere ist die unterste Einkommensschicht häufig unterrepräsentiert. Außerdem besteht das systematische Problem, wie man selbsterzeugte und konsumierte Produkte, das Bewohnen einer Sozialwohnung oder andere staatliche oder betriebliche Vergünstigungen sowie die Nutzung von eigenem Wohnraum bewerten soll. Diese Meßprobleme spielen aber trotz ihrer Zahl für die Grundzüge des Gesamtbildes nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn sie insgesamt vermutlich eine leichte Tendenz zur Überschätzung der Einkommensarmut bedingen; insbesondere im Zeitvergleich verlieren sie stark an Bedeutung.
Tabelle 2 zeigt ein Ergebnis über die Einkommensarmutsquoten in West-und Ostdeutschland, wie es sich auf Basis der im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) erfragten Nettomonatseinkommen ableiten läßt Dabei wurde die 50-Prozent-Armutsgrenze jeweils getrennt entsprechend dem durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommen in den beiden Landesteilen ermittelt.
Nach der Vereinigung lag die Einkommensarmut in Westdeutschland mit Schwankungen innerhalb eines Korridors von etwa 10 bis 11, 5 Prozent. Entgegen der Vermutung einer zunehmenden Einkommensarmut, die man aufgrund der in diesem Zeitraum stark gestiegenen Sozialhilfeempfänger-quote hegen könnte, zeigen andere Berechnungen mit dem SOEP, daß die Einkommensarmut seit Mitte der achtziger Jahre in Westdeutschland nicht angestiegen, sondern innerhalb des genannten Korridors konstant geblieben oder sogar leicht gesunken ist Bei der Würdigung dieses Ergebnisses muß allerdings beachtet werden, daß das SOEP Zuwanderer, die nach 1984 in die Bundesrepublik kamen, nicht erfassen kann Daher mag es de facto doch einen leichten Anstieg gegeben haben.
In Ostdeutschland kann man seit der Vereinigung einen deutlichen Anstieg der Einkommensarmut -etwa eine Verdopplung -feststellen, wenn auch das hohe Niveau Westdeutschlands noch nicht erreicht ist. Es gibt überdies Indizien dafür, daß sich der Anstieg noch fortsetzen wird. Ein anderes Bild entstünde allerdings, würde man als Maßstab für die ostdeutsche Einkommensarmut im Hinblick auf die inzwischen weit fortgeschrittene Angleichung der Anspruchsniveaus die westdeutsche Armutsgrenze verwenden. Ohne Kaufkraftbereinigung läge die Armutsquote in Ostdeutschland dann bei etwa 23 Prozent und unter Berücksichtigung von Kaufkraftunterschieden bei etwa 16 Prozent, also deutlich höher als im Westen, aber mit abnehmender Tendenz
Das Risiko, einkommensarm zu werden, trifft -ähnlich wie das Sozialhilferisiko -nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Ausländer sind fast dreimal so häufig betroffen wie Deutsche; Arbeitslose weit häufiger als Erwerbstätige; Personen ohne Berufsausbildung weit stärker als Personen mit Fachausbildung oder höherer Schulbildung; Kinder stärker als Personen im mittleren oder höheren Alter; Getrenntlebende und Geschiedene stärker als Verheiratete oder Verwitwete; Frauen sind zwar kaum stärker betroffen als Männer, aber in der Gruppe der Alleinerziehenden, die zu fast neun Zehnteln aus alleinerziehenden Frauen besteht, befindet sich etwa ein Drittel in Einkommensarmut. Sie tragen unter allen Haushaltstypen das bei weitem höchste Einkommensarmutsrisiko.
IV. Zeitweise und dauerhafte Armut
Abbildung 4
Diagramm 3: Veränderung des Sozialhilferisikos von Ausländern und Deutschen im Zeitablauf (1980-1992) Quelle: Wirtschaft und Statistik, (1994) 7, S. 560.
Diagramm 3: Veränderung des Sozialhilferisikos von Ausländern und Deutschen im Zeitablauf (1980-1992) Quelle: Wirtschaft und Statistik, (1994) 7, S. 560.
Wenn man feststellt, daß es seit Jahrzehnten einen zunehmenden Bevölkerungsteil mit Sozialhilfebezug, einen beachtlichen Anteil verdeckt armer Personen und ebenso einen hohen Anteil von Einkommensarmen gibt dann könnte man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß sich in der Bundesrepublik eine nicht zu vernachlässigende Bevölke-rungsgruppe in permanenter Armut befinde und eine wachsende Unterschicht darstelle. Diese Schlußfolgerung wäre nur zutreffend, wenn der größte Teil der in einer Periode als arm klassifizierten Personen dauerhaft arm bliebe und sich deren Armut durch verschiedene gesellschaftliche Mechanismen sogar auf die Kinder dieser Gruppe „vererbte“, d. h., wenn der überwiegenden Mehrheit kein Entkommen aus der Armutslage möglich wäre. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.
Ein erstes Indiz dafür, daß ein beachtlicher Teil der Sozialhilfeempfänger nur für eine kurze Periode Sozialhilfe bezieht, ergibt sich daraus, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger am Jahresende immer um gut ein Drittel niedriger liegt als die Zahl aller Personen, die irgendwann während eines Jahres Sozialhilfe bezogen haben. Ein zweites Indiz läßt sich aus einer Sondererhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 1981 ableiten die zeigte, daß nur etwa ein Viertel der zu einem Stichtag gezählten Empfängerhaushalte bereits seit mehr als sieben Jahren Sozialhilfe bezog und ein weiteres Viertel zwischen drei und sieben Jahren. Dabei ist aber natürlich unbekannt, wie lange diese Haushalte in Zukunft noch Sozialhilfe beziehen werden; auch weiß man nicht, ob die zwischenzeitliche Strukturänderung bei den Sozialhilfeempfängern zu einem höheren Anteil permanenter Bezieher geführt hat. Ein drittes Indiz ergibt sich aus einer neuen Bremer Studie, die zwar nur für eine bestimmte Kohorte (Jahrgangsgruppe) von Sozialhilfeempfängern in diesem Stadtstaat repräsentativ ist, die aber ebenfalls zeigt, daß höchstens ein Viertel länger als fünf Jahre zu den Beziehern zählt und damit als langfristig von Sozialhilfe abhängig betrachtet werden muß
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Einkommens-armen. Nach den Ergebnissen des SOEP waren zwischen 1984 und 1992 2, 4 Prozent der Bevölkerung, d. h. etwa ein Viertel der an der 50-Prozent-Grenze als einkommensarm gezählten Personen, über sieben Jahre in dieser Armutslage Bei Ausländem, deren Armutsquote fast 30 Prozent erreicht, liegt der Anteil der langfristig Armen bei über sieben Prozent, macht also ebenfalls etwa ein Viertel aus.
Außerdem hat diese Längsschnittstichprobe, bei der dieselben Haushalte jedes Jahr erneut befragt werden, zu einem weiteren interessanten Resultat geführt: Das Risiko, einkommensarm zu werden, reicht bis weit in die Mittelschichten hinein; denn über 30 Prozent aller Personen sind in dem erfaßten Neun-Jahres-Zeitraum mindestens einmal in Einkommensarmut abgesunken, aber dann wieder aufgestiegen. Dabei befand sich der größte Teil (21 Prozent) höchstens drei Jahre in der Armutssituation; d. h., es handelte sich nur um eine kurzzeitige Einkommensarmut, die doch leichter zu ertragen und zu überbrücken ist als Langzeitarmut und bei der auch die dauerhaften negativen Folgen gering sein dürften. Bei Ausländern, die sich weit häufiger in den unteren Einkommensschichten befinden, waren sogar über die Hälfte von kurzzeitiger Armut betroffen.
Ein besonders gravierendes Armutsproblem besteht bei den Nichtseßhaften, die weder in der Sozialhilfestatistik noch in den Umfragen auftauchen, da sie ohne festen Wohnsitz sind Nach Schätzungen des Deutschen Caritasverbandes leben in Deutschland 150000 Menschen auf der Straße. Ein großer Teil dieser Menschen dürfte kaum mehr den Weg aus der Armut finden.
Insgesamt gesehen kann man also feststellen, daß es eine schmale Unterschicht von zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gibt, die langfristig in Armut leben muß; aber das Risiko, zeitweise in eine Armutslage abzusinken, reicht bis weit in die Mittel-schichten hinein. Generell sind die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer von kurzzeitiger und langzeitiger Armut stärker betroffen als die Deutschen.
V. Unterversorgung der Einkommensarmen in ausgewählten Dimensionen ihrer Lebenslage
Abbildung 5
Quelle: Berechnungen von Klaus Müller aus SOEP-West, Welle 7 bis 10; SOEP-Ost, Welle 1 bis 4. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) ist eine Längsschnittuntersuchung privater Haushalte in Deutschland und wird seit 1984 im jährlichen Rhythmus bei denselben Personen, Haushalten und Familien in der Bundesrepublik durchgeführt (SOEP-West). Seit Juni 1990 erfolgt eine vergleichbare Befragung in Ostdeutschland (SOEP-Ost). Vgl. G. Wagner/J. Schupp/Ulrich Rendtel (Anm. 24). Tabelle 2: Anteil der relativ einkomꋐޓ?
Quelle: Berechnungen von Klaus Müller aus SOEP-West, Welle 7 bis 10; SOEP-Ost, Welle 1 bis 4. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) ist eine Längsschnittuntersuchung privater Haushalte in Deutschland und wird seit 1984 im jährlichen Rhythmus bei denselben Personen, Haushalten und Familien in der Bundesrepublik durchgeführt (SOEP-West). Seit Juni 1990 erfolgt eine vergleichbare Befragung in Ostdeutschland (SOEP-Ost). Vgl. G. Wagner/J. Schupp/Ulrich Rendtel (Anm. 24). Tabelle 2: Anteil der relativ einkomꋐޓ?
Ein zu niedriges Einkommen führt in der Regel zu Unterversorgung in verschiedenen Dimensionen der Lebenslage. Allerdings besteht kein völlig zwingender Zusammenhang. Manchen Personen gelingt es besser, mit einem knappen Einkommen auszukommen als anderen, so daß nicht jeder Ein-kommensarme in jeder Dimension seiner Lebenslage (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Wohnungsausstattung, medizinische Versorgung, Transport-, Kommunikations-und Freizeitmöglichkeiten, Beteiligung an kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten) unterversorgt sein muß. Andererseits können auch bei Personen mit höherem Einkommen partielle Unterversorgungserscheinungen auftreten. Es gibt jedoch vielfältige Hinweise darauf, daß Einkommensarme häufiger mit Wohnraum unterversorgt sind und daß sich viele auch beim Essen, bei der Kleidung, bei der Wohnungsausstattung, bei der Freizeitgestaltung und beim Urlaub stark einschränken müssen Auch in jenen Dimensionen, die die Chancen auf einen Wiederaufstieg wesentlich mitbestimmen, nämlich beim Bildungs-und Ausbildungsstand sowie beim Gesundheitszustand, zeigen sich unter den Einkommensarmen weit höhere Anteile von Personen ohne Berufsausbildung, mit gesundheitlichen Einschränkungen und mit lang anhaltender Arbeitslosigkeit, die die beruflichen Qualifikationen entwertet.
Fazit:
Die Frage, ob es in der Bundesrepublik Armut gibt, muß man mit einem „Ja“ beantworten. Auch langfristige Armut gibt es auf der individuellen Ebene, und es besteht die Gefahr der Herausbildung einer neuen Unterschicht. Über das Ausmaß der Armut und über die Frage einer wesentlichen Zunahme in den alten Bundesländern mag man streiten; aber in den neuen Bundesländern ist ein Anstieg der Armut unbestreitbar, auch wenn er von einem sehr niedrigen Niveau aus erfolgt und die dortige Armut noch nicht das westliche Niveau erreicht hat.
Mehrere Tendenzen müßten den Bürger und die politisch Verantwortlichen aufrütteln: 1. die hohen Armutsrisikoquoten von Kindern, die zu sehr ungleichen Startchancen führen; hier ist ein besserer Familienlastenausgleich gefragt; 2. die hohen Armutsrisikoquoten von Ausländern, die deren Integrationschancen wesentlich verschlechtern; hier sind verstärkte Integrationsmaßnahmen für die seit langem anwesenden Ausländer -auch der zweiten und dritten Generation -notwendig; 3. die Tendenz zur Konzentration von armen Haushalten in einzelnen Stadtvierteln, die sich aus kommunalen Armutsberichten herauslesen läßt; hier ist der soziale Wohnungsbau und die Stadtplanung gefordert; 4. ein immer noch bestehender hoher Anteil von verdeckter Armut, der eine Herausforderung für eine bessere und klientenfreundlichere Organisation des untersten Auffangnetzes -der Sozialhilfe -darstellt, der zu seiner Bekämpfung aber auch einer öffentlichen und politischen Betonung des „Rechts auf Sozialhilfe“ statt einer verallgemeinernden Mißbrauchsdiskussion bedarf; 5. die zunehmende Anzahl von Wohnungslosen bzw. Nichtseßhaften, für die völlig unzureichend zu sorgen eines Sozialstaats unwürdig ist.
Richard Hauser, Dr. oec. publ., geh. 1936; seit 1977 Professor für Sozialpolitik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a. M.; 1986-1988 Vizepräsident der Universität Frankfurt am Main, Berater der EG-Kommission zu verschiedenen Armutsprogrammen. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Werner Hübinger) Arme unter uns: Ergebnisse und Konsequenzen der Caritas-Armutsuntersuchung, 2 Bd., Freiburg 1993; (Hrsg, mit U. Hochmuth/B. Schwarze/G. Wagner/N. Ott) Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik, Berlin 1994, 2 Bd.; (Hrsg, mit D. Döring) Soziale Sicherheit in Gefahr, Frankfurt a. M. 1995.
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