Die derzeitige Debatte über die „Kultur des Friedens“, wie sie vor allem in der UNESCO erfolgt, wird in den Zusammenhang eines differenzierten Konzepts des Friedens gestellt. Der Autor erläutert das soge-nannte „zivilisatorische Hexagon“ -ein Konzept, demzufolge Frieden in sechsfacher Hinsicht zu thematisieren ist: Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Affektkontrolle, demokratische Partizipation, Verteilungsgerechtigkeit/Faimeß und Konfliktkultur. Dieses Konzept sollte also nicht auf einzelne Wertorientierungen reduziert werden -wie es etwa geschieht, wenn beispielsweise achtenswerte Verhaltensorientierungen wie Friedfertigkeit oder Versöhnung per se schon als Inbegriff einer Kultur des Friedens bezeichnet werden. Konstruktive Konfliktbearbeitung wird als eine Resultante verfassungspolitischer, institutioneller, materieller und emotionaler Vorgaben interpretiert, die „Kultur des Friedens“ als eine darauf aufbauende Orientierung mit Eigenwert und gegebenenfalls einer Eigendynamik. Aber: Zivilisierte Konfliktbearbeitung muß immer auch von ihren immanenten Gefährdungen her betrachtet werden: Die Unkultur der Gewalt erweist sich oft genug als geschichtsmächtig, die Kultur des Friedens -obgleich überlebensnotwendig -hingegen als brüchig.
I. Einleitung
Gedanklich wird mit dem Begriff des Friedens vielerlei in Verbindung gebracht, und allermeist handelt es sich dabei nur um Schönes und Gutes: die „gute Ordnung“ oder sogar das „gute Leben“. Jedoch schon das mittelalterliche Verständnis differenzierte den Friedensbegriff in wenigstens vier Dimensionen aus: iustitia -securitas -tranquillitas -caritas. Das sollte heißen: Friede hat etwas zu tun mit einer Rechtsordnung, die -wenn gebrochen -wieder herzustellen ist; Friede ist aber auch Ausdruck von Sicherheit, also schützender und abwehrender Kraft; weiterhin: ohne Waffenruhe, Gewaltlosigkeit oder gar Ausgeglichenheit ist Friede nicht zu denken; und schließlich sollte Friede auch als ein Zeichen der Zuneigung, des Wohlwollens und der Liebe begriffen werden. So wenigstens die seinerzeitigen Vorstellungen
Wenn man bei diesen Differenzierungen für einen Augenblick die für das mittelalterliche Denken typischen ordnungsphilosophischen Annahmen nicht beachtet, so lassen sich diese Begriffe -sicherlich im Einzelfall nur unter inhaltlicher Dehnung oder Verengung -auch auf das vormittelalterliche wie das nachmittelalterliche Friedensverständnis projizieren, wenigstens insofern es um die mit dem Friedensbegriff gängigerweise einhergehenden inhaltlichen Orientierungen geht. Auch heute -an der Schwelle zum 21. Jahrhundert -ist ohne iustitia, securitas, tranquillitas und caritas Friede nicht zu denken, nur daß mit den Begriffen zum Teil ganz anderes assoziiert wird, insbesondere mit dem Begriff der iustitia.
Zu den genannten alten Bestimmungen wäre heute sicher auch die „Kultur des Friedens“ hinzuzufügen, gedacht als Werteorientierungen, Einstellungen und Mentalitäten, die dem Frieden vom Verstand und von den Gefühlen her Rückhalt geben, also in einer Friedensordnung wie geistiger bzw. emotionaler Kitt wirken und Frieden auf diese Weise absichern.
Solche gängigen Vorstellungen über Frieden und die Kultur des Friedens sind in der Regel nicht falsch, aber sie führen allermeist nicht weiter, weil sie zu etikettenhaft sind. In analytischer und in praktischer Hinsicht müssen sie, wie viele vergleichbare Assoziationen, häufig als grobe Vereinfachungen hochkomplexer Zusammenhänge gelten. Erforderlich sind heute konzeptuelle Differenzierungen, die die Anforderungen komplexer Wirklichkeit an ein Friedenskonzept leidlich widerspiegeln. In einem solchermaßen wirklichkeitsnahen komplexen Konzept wäre dann auch die „Kultur des Friedens“ zu verorten
II. „Kultur des Friedens“ im Lichte des zivilisatorischen Hexagon
An anderer Stelle wurde ein solches zeitgemäßes differenziertes Friedenskonzept zu entfalten versucht. Es thematisiert Frieden in sechsfacher Hinsicht, wobei die sechs Dimensionen je nach Ausgangslage verstärkend oder gefährdend aufeinander zurückwirken. Dieses konfigurativ zu denkende Gebilde wurde als „zivilisatorisches Hexagon“ in die friedenstheoretische Debatte eingeführt. Es soll auch den nachfolgenden Überlegungen über die „Kultur des Friedens“ zugrunde gelegt werden
Im Lichte des zivilisatorischen Hexagon wird in sozial mobilen, politisierbaren und politisierten modernen Gesellschaften Frieden durch das Zusammenwirken folgender Faktoren bewirkt: durch das Gewaltmonopol (1) und die Kontrolle des Gewaltmonopols vermittels Rechtsstaatlichkeit (2); durch Affektkontrolle, die aus Interdependenzen resul-tiert (3); durch demokratische Partizipation (4); Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und Fairneß (5) sowie durch eine aus diesen Bausteinen resultierende Konfliktbearbeitungskultur (6). Die konzeptuelle Nähe bzw. Überlappung dieser letztgenannten Dimension mit der „Kultur des Friedens“ ist offenkundig, weshalb die Frage naheliegend ist, ob die fünf zuvor genannten Dimensionen nicht nur konstitutiv für konstruktive Konfliktbearbeitung, sondern auch eine Voraussetzung für die „Kultur des Friedens“ sind.
Betrachten wir diese Bezüge, auch gleichzeitig das Schaubild erläuternd, der Reihe nach:
1. Gewaltmonopol
Das legitime Monopol staatlicher Gewalt ist für jede Friedensordnung von grundlegender Bedeutung, weil nur eine Entwaffnung der Bürger diese dazu nötigt, ihre Identitäts-und Interessenkonflikte mit Argumenten und nicht mit Gewalt auszutragen. Wenn Gewalt nicht mehr zum Handlungsrepertoire des Menschen gehört und der versuchte bzw.der tatsächliche Griff zur Gewalt negativ sanktioniert ist, wird nicht nur Frieden im Sinne der Abwesenheit von Gewalt begründet, vielmehr werden dann potentielle Konfliktparteien zur argumentativen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum gezwungen.
Die Bedeutung des Sachverhaltes wird dort dramatisch erkennbar, wo das Gewaltmonopol zusammenbricht und es zu einer Wiederbewaffnung der Bürger kommt: noch bis vor kurzem im Libanon und in Nordirland, heute u. a. in Bosnien, Liberia, Ruanda, Sri Lanka, Afghanistan und Kaschmir. Elementare Sicherheiten gehen darüber verloren; das Leben wird erneut voll des Schreckens: grausam und kurz.
Diskursive, argumentative Konfliktbearbeitung im öffentlichen Raum hat also ein intaktes Gewaltmonopol zum Hintergrund.
2. Rechtsstaatlichkeit
Das Gewaltmonopol bedarf, soll es nicht zu einer Willkürinstanz werden, der rechtsstaatlichen Kontrolle. Sie wird durch eine Vielzahl von institutioneilen Vorkehrungen abgesichert, beispielsweise durch Gewaltenteilung, das Prinzip der Öffentlichkeit usf. Im Hinblick auf konstruktive Konfliktbearbeitung ist Rechtsstaatlichkeit auch deshalb von großer Bedeutung, weil sie eine positive Ausrichtung auf vereinbarte Prozeduren, also Spielregeln, begründet. Gerade weil in modernen Gesellschaften die substantiellen Differenzen hinsichtlich von Identitäten und Interessen die Regel und nicht die Ausnahme sind, haben vereinbarte und verinnerlichte prozedurale Modalitäten der Konfliktregelung so hohe Bedeutung.
Werden die in der Verfassung niedergelegten Spielregeln mißachtet, droht nicht nur der Zusammenbruch rechtsstaatlicher Prinzipien, sondern auch eine Wiederbewaffnung der Bürger. Sachdifferenzen als den Kern und Spielregeln als etwas Oberflächliches zu betrachten, wäre eine Einschätzung, die die wirkliche Bedeutung von Übereinkommen über Prozeduren verkennt, vermittels derer unausweichliche sachbezogene Konflikte sich einhegen lassen.
Die Mißachtung von Spielregeln ist deshalb nicht bloß ein politisches Kavaliersdelikt. Andererseits müssen Spielregeln im Lichte neuer Problemlagen fortgeschrieben werden, weshalb Verfassungsstaaten, die um ihre Stabilität bemüht sind, die Verfassungsdebatte selbstkritisch zur ständigen Aufgabe machen sollten.
3. Interdependenzen und Affektkontrolle
Moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften haben den Vorzug, daß Menschen in ihnen nicht eindeutig festgelegt sind. In aller Regel haben die meisten Menschen gar keine Alternative dazu, sich als vielfältige , Rollenspieler zu betätigen: Die Anforderungen einzelner Rollen in der Familie, im Arbeitsleben, bei der Gestaltung von Freizeit und des politischen Gemeinwesens sind höchst unterschiedlicher Natur und führen dazu, daß sich Konfliktfronten in aller Regel nicht kumulieren; vielmehr kommt es zu einer Konfliktaufgliederung.
Vielfältige Rollenanforderungen implizieren jedoch Affektkontrolle; die Aufgliederung von Kon flikten (Konfliktfraktionierung) führt in aller Regel zu einer Dämpfung des Konfliktverhaltens. Beides hegt Konflikte ein: Mäßigung ist eine wesentliche Dimension konstruktiver Konfliktbearbeitung.
Konfliktverschärfung ist für eine konstruktive Konfliktbearbeitung nur dann wahrscheinlich und auch unausweichlich, wenn unter anderen Bedingungen eine Konfliktartikulation nicht möglich wird. Dann haben der Ausbruch aus den Rollen-zwängen und die Akzentuierung von Konfliktverhalten zeitweise einen funktionalen Stellenwert bei der Konfliktbewältigung.
4. Demokratische Teilhabe
Da sich modernisierende und schon gar moderne Gesellschaften in einem ständigen Wandlungsprozeß befinden, sind einmal gefundene Kompromisse immer nur Übereinkommen auf Zeit. Um den Aufbau eines potentiellen, politisch virulent werdenden Konfliktstaus zu vermeiden, ist deshalb nicht nur die Chance anhaltender demokratischer Teilhabe von schon organisierten Interessen wichtig, sondern auch die Organisationsfähigkeit noch nicht repräsentierter, bis dato nur latenter Interessen. Wo latente Interessengruppen nicht manifest werden können, besteht -zugespitzt formuliert -die Gefahr einer politischen Explosion. Man erinnere sich an das Wendejahr 1989/90 im östlichen Teil Europas!
Deshalb ist, sachlogisch gedacht, die Chance zu demokratischer Partizipation eine wesentliche Voraussetzung für anhaltende konstruktive Konfliktbearbeitung: Die Konflikte des sozialen Wandels müssen über demokratische Partizipation politisch aufgefangen werden. Wer diese einschränkt oder untergräbt, vermindert die Wahrscheinlichkeit eines friedlichen Umgangs mit unausweichlichen, aus sozialem Wandel zwangsläufig entstehenden Konflikten. Demokratische Teilhabe hingegen erlaubt es, eigene Belange und öffentlich relevante Notstände zur Sprache zu bringen. Sie erfordert aber auch -will sie funktional sein -eine Bereitschaft zu politischem Kompromiß, insbesondere dazu, Mehrheitspositionen nicht exzessiv und willkürlich auszuspielen und Minderheitenpositionen zu achten. Sie verlangt ebenso einen Sinn dafür, daß aus Minderheitenpositionen Mehrheiten werden können und daß Minderheiten, die aus spezifischen Gründen niemals zu Mehrheiten werden können, des besonderen Schutzes bedürfen.
5. Soziale Gerechtigkeit
Moderne Gesellschaften sind, nicht anders als vormodern-traditionale, durch vielfältige Ungleichheiten gekennzeichnet. Aber im Unterschied zu den vormodernen Gesellschaften ermöglichen die modernen sowohl vertikale als auch horizontale Mobilität. Sicherlich sind die Menschen in ihnen nicht grenzenlos mobil geworden, aber sie haben doch die meist bildungsmäßig bedingte Chance, ihre angestammten sozialen und geographischen Verortungen hinter sich zu lassen. Solche Mobilität ist eher die Regel als die Ausnahme, wenngleich in Krisenzeiten und in Krisenregionen drohende Abwärtsmobilität bzw. die Fixierung auf überkommene Positionen sowie die daraus resultierenden Abwehrhaltungen im Interesse der Besitzstandswahrung unübersehbar sind.
Unter den Vorzeichen von Ungleichheit und der Chance zur Mobilität wird die aktive Orientierung an sozialer Gerechtigkeit und Fairneß zu einer Art von Bestandsgarantie für konstruktive Konflikt-bearbeitung. Denn nichts ist für letztere gefährdender als der Eindruck und das Empfinden, die Gesellschaft würde systematisch die einen privilegieren und andere diskriminieren und deshalb sei Vertrauen und Hoffnung auf Fairneß illusionär. In solcher Erfahrung bzw. Erwartung liegt eine enorme Sprengkraft, die sich gegen eine konstruktive Konfliktbearbeitung auswirkt: Aus ihr resultieren Mißtrauen und Hoffnungslosigkeit, die sich alsdann leicht in eine Mißachtung von Spielregeln übersetzen können; dann baut sich Gewaltbereitschaft auf. Demgegenüber führen ernsthafte Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und Fairneß einer konstruktiven Konfliktbearbeitung materielle Substanz zu.
6. Konstruktive Konfliktbearbeitung
Sie speist sich aus den vorgenannten Vorgaben und Impulsen. Der Zwang zur argumentativen Auseinandersetzung über Identitäts-und Interessenkonflikte, die unerläßliche Orientierung an Spielregeln während der Bearbeitung von solchen Konflikten, Mäßigung in der Folge von Affektkontrolle und Konfliktfraktionierung, die Chance zur Artikulation von eigenen Belangen und Beschwerden sowie schließlich die erfahrbaren Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und Fairneß -sie alle haben zwar nicht zwangsläufig eine konstruktive Konfliktbearbeitung zum Ergebnis, aber sie erhöhen doch, vor allem als Ergebnis eines aus ihrem Zusammenwirken entstehenden Gesamteffektes (Synergie), deren Wahrscheinlichkeit. Gewissermaßen verdichten sich die genannten fünffachen Erfahrungen in einer politischen Verhaltensweise, dergemäß die Pluralität von Identitäten und Interessen nicht nur als selbstverständlich und unentrinnbar unterstellt wird, sondern der konstruktive Umgang mit Konflikten als Ausdruck zivilisierten Verhaltens, ja als eine zivilisatorische Errungenschaft begriffen wird.
III. Konstruktive Konfliktbearbeitung und die Kultur des Friedens
Konstruktive Konfliktbearbeitung, so wurde festgestellt, ist das Ergebnis von Vorgaben und Impulsen der aufgezeigten Art. Aber natürlich vermag sie auch ein Eigengewicht zu gewinnen und vermittels von Rückkoppelungen stabilisierend und verstärkend auf die sie verursachenden Instanzen zurückzuwirken. Mit anderen Worten: Konstruktive Konfliktbearbeitung kann als Orientierung zu einem Eigenwert werden und damit auch eine Eigendynamik entwickeln. Sie hätte dann Folgewirkungen weit über den öffentlich-politischen Raum hinaus und damit eine allgemeine Ausstrahlungskraft. Konstruktive Konfliktbearbeitung und politische Kultur wären, so betrachtet, gewissermaßen ein und dasselbe, einsozialisiert und internalisiert als allgemeine Tugenden: als Toleranz und Kompromißbereitschaft, als Mäßigung und Konfliktfähigkeit, als Sensibilität für Spielregeln; als Vertrauensbereitschaft bei gebotenem nüchternen Mißtrauen; als Engagement bei kühlem Sinn für erforderliche Distanz; als Selbstbewußtsein bei gleichzeitiger Anerkennung des Anderen; als Sinn für das wohlverstandene Interesse, in dem das eigene Interesse, aber auch dasjenige von anderen reflektiert wird
Begreift man Kultur als die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung (einschließlich der sie tragenden Geistesverfassungen und Werteinstellungen), dann ließe sich ohne weiteres als Kultur des Friedens die Summe jener Orientierungen bezeichnen, die hier unter dem Stichwort der konstruktiven Konfliktbearbeitung und entsprechender allgemeiner Verhaltens-tugenden erörtert wurden. „Kultur des Friedens“ ist damit als Konzept inhaltlich klar markiert. Gemeint ist mit ihm die Gesamtheit der Werteorientierungen, Einstellungen und Mentalitäten, die im öffentlich-politischen Raum und darüber hinaus dazu beitragen, daß Konflikte verläßlich konstruktiv bearbeitet werden. Das Konzept sollte also nicht auf einzelne Werteorientierungen, Einstellungen und Mentalitäten reduziert werden -wie es etwa geschieht, wenn beispielsweise achtenswerte Verhaltensorientierungen wie Friedfertigkeit oder Versöhnung per se schon als Inbegriff einer Kultur des Friedens bezeichnet werden. Vielmehr gewinnt das Konzept seine Konturen erst durch seine Verortung in jener übergeordneten Problemstellung moderner Gemeinwesen, die als zentrale Friedensaufgabe zu begreifen ist: Ermöglichung und Sicherung friedlicher Koexistenz in potentiell und tatsächlich identitäts-und interessenmäßig zerklüfteten Gesellschaften. Das ist aber eine komplexe Aufgabe. Das heißt, das Konzept der „Kultur des Friedens“ bedarf einer analytischen Rückbindung an friedenstheoretische Überlegungen, die die Konstitutionsbedingungen von Frieden differenziert zu bezeichnen vermögen.
Das zivilisatorische Hexagon ist ein solches analytisches Angebot -mit konstruktiver Konfliktbearbeitung trotz Fundamentalpolitisierung als operativem Ziel. Das Konzept einer Kultur des Friedens -zumindest sein nicht hintergehbarer Kern -läßt sich nur auf solchem (oder ähnlich differenziertem) Wege begründen
IV. Immanente Gefährdungen und allgemeine Problemlagen
Wie in früheren Darlegungen zum zivilisatorischen Hexagon explizit ausgeführt, so muß auch an dieser Stelle betont werden, daß es sich dabei nicht um ein ultrastabiles, d. h. um ein gegen beliebige Einwirkungen erschütterungsfestes Gebilde handelt, sondern um eine eher fragile Architektur, die von jedem der sechs Punkte her potentiell einbruchsgefährdet ist. Ist ihr Aufbau eine -rückblikkend betrachtet -realhistorische Kompositionsleistung, so ist ihr Zerfall als Ergebnis anhaltender immanenter Gefährdungen unschwer vorstellbar. Denn werden Konflikte des sozialen Wandels, die in modernen Gesellschaften unausweichlich sind, nicht frühzeitig und angemessen aufgefangen, verhält sich das Gebilde also im Hinblick auf den sozialen Wandel nicht anpassungsfähig und gegebenenfalls auch innovativ, dann drohen angesichts solcher Defizite die konstruktive Konfliktbearbeitung und die Kultur des Friedens in die Unkultur von Gewalt umzuschlagen.
Das Zerfalls-oder Zusammenbruchsszenario (idealtypisch im Libanon nach 1976 durchexerziert, jüngst in Ex-Jugoslawien zum Teil wiederholt) sieht dann in etwa wie folgt aus: Die Chancen-und Verteilungsungerechtigkeit nimmt objektiv zu, und sie wird in wachsendem Maße auch als skandalös wahrgenommen. Die verfassungsmäßig festgelegten Formen und Formeln der Koexistenz -die Spielregeln -verlieren an Legitimität. Die Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung beginnt brüchig zu werden; sie verliert ihre Bindekraft. Punktuell, später dann auf breiterer Basis kommt es zur Reprivatisierung von Gewalt, also zur Wiederbewaffnung der Bürger, schließlich zu einer sich verallgemeinernden Mißachtung und zum Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit. Die Konfliktparteien beginnen damit, sich offen zu munitionieren. Überkommene interdependente Handlungsgeflechte zerfallen, einschließlich diejenigen der Ökonomie. Affekte werden freigesetzt. Der Bürgerkrieg bricht auf breiter Front aus; es kommt zu einer nicht erwarteten Enthemmung der Affekte und zur Brutalisierung des Lebens, bis letztendlich Sieg und Niederlage bzw. die Erschöpfung der Beteiligten dem Geschehen ein Ende bereiten.
Es gibt aber nicht nur immanente Gefährdungen, sondern auch allgemeine Problemlagen, die nicht ohne weiteres, nicht einmal bei größter Anstrengung aus der Welt zu schaffen wären.
Eine erste Problemlage wird durch den elementaren Sachverhalt beschrieben, daß auch geglückte zivilisatorische Hexagone immer auf Ein-und Ausgrenzungsprozessen aufbauen müssen: Sie kennzeichnen einen räumlich umgrenzten Innenraum, in dem es Verdichtungen in institutioneller, materieller und kommunikationsmäßiger Hinsicht gibt, während die Beziehungen zu angrenzenden Räumen und zur weiteren Welt in der Regel noch nicht einer vergleichbaren Logik zivilisierter Konfliktbearbeitung unterliegen, sondern nichts weiter als Machtlagen widerspiegeln, die -wie die Erfahrung zeigt -zur Gewaltanwendung tendieren.
Angesichts der unentrinnbaren ingroup/outgroupBezüge sind deshalb auch in Ergänzung zur geglückten Zivilisierung der Binnenräume von Gesellschaften entsprechende Vorkehrungen hinsichtlich ihrer wechselseitigen Beziehungen dringend erforderlich. Die dabei wesentlichen Dimensionen für die Zivilisierung von Konfliktverhalten sind keine anderen als in den Innenräumen: Die aufgezeigten Dimensionen des zivilisatorischen Hexagon sind also prinzipiell übertragbar auf zwischenstaatliche und zwischengesellschaftliche Beziehungen Doch sind in diesen Beziehungsgefügen die Voraussetzungen für eine Architektur in Analogie zum zivilisatorischen Hexagon nur in Ausnahmefällen schon gegeben.
Zu diesen seltenen Ausnahmefällen gehört insbesondere der zwischenstaatliche und zwischengesellschaftliche Integrationsprozeß in der westlichen Hälfte Europas, der sich in den kommenden Jahrzehnten auf Gesamteuropa erweitern könnte. Aber selbst wenn man diesen durchaus außergewöhnlichen Bereich mit den Kriterien des zivilisatorischen Hexagon durchleuchten wollte, so würde man hier auf erhebliche Problemlagen stoßen: Konstruktive Konfliktbearbeitung erweist sich selbst auf dieser höheren Ebene weit weniger institutionell, materiell, partizipatorisch und auch emotional abgesichert und absicherbar und damit weit rückfallgefährdeter als innerhalb jener Gesellschaften, auf die ein solches übergeordnetes Gebilde aufbaut.
Zwar ist auf dieser höheren Ebene eine verläßliche konstruktive Konfliktbearbeitung nicht ohne Chancen, und eine Kultur des Friedens ist auch jenseits einzelner Staaten und Gesellschaften nicht ohne Aussicht auf Verwirklichung Aber beide bedürfen ganz außerordentlicher Anstrengungen, um jene übergeordneten, enge Räume übergreifenden dauerhaften Werteorientierungen, Einstellungen und Mentalitäten zu schaffen, die auch in Großräumen eine konstruktive Konfliktbearbeitung und damit friedliche Koexistenz im Sinne stabilen Friedens kognitiv und emotional absichern könnten Es geht dabei darum, ingroup/outgrowp-Beziehungsmuster durchlässig zu machen und sie zu überwölben. Aber auch dann wären sie nur abgemildert und nicht aus der Welt entfernt
Das letztgenannte Problem wird dadurch akzentuiert, daß in aller Regel die entsprechenden Beziehungen nicht von symmetrischen Ausgangslagen ausgehen, sondern von Zentrum-Peripherie-Gefällen. Diese Ausgangslage hat für eine konstruktive Konfliktbearbeitung und eine Kultur des Friedens erhebliche Folgen: Das Zentrum ist in aller Regel beherrschend und die Peripherie abhängig; oft konzentriert das Zentrum alle wesentlichen Ressourcen bei sich, während die Peripherie relativ marginalisiert ist. Wenn überdies die Peripherie durch eine Kombination von chronischen Benachteiligungen gekennzeichnet wird, baut sich ein erhebliches Konfliktpotential auf. Seine politische Virulenz übersetzt sich in Gewaltbereitschaft und tatsächliche Gewaltanwendung.
Konstruktive Konfliktbearbeitung bedarf in solchem Zusammenhang besonderer Fördermaßnahmen, die das Zentrum-Peripherie-Gefälle mildern können und gegebenenfalls abbauen helfen; sie erfordert auch besondere Vorkehrungen für Autonomie-und Minderheitenrechte. Nur dann werden die Kernelemente des zivilisatorischen Hexagon, insbesondere die Spielregeln des demokratischen Verfassungsstaates, als nicht diskriminierend empfunden, und nur dann gilt faire Teilhabe nicht von vornherein als illusionär.
Die genannten Gefälle und Asymmetrien sind heute in vielen Zusammenhängen beobachtbare politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Tatbestände; vor allem sind sie die Produktionsstätte vieler Gewalteskalationen. Im Blick auf die konstruktive Konfliktbearbeitung und eine Kultur des Friedens bedarf deshalb diese Problematik einer ganz besonderen Aufmerksamkeit: Das Aufblühen vielfältiger ethno-politischer Konflikte, die allermeist eine solche Ausgangslage zum Hintergrund haben und leicht in eine Unkultur der Gewalt überschwappen, muß nachdenklich stimmen.
V. Schlußbemerkung
Das zivilisatorische Hexagon wurde eingangs als eine politische Errungenschaft vorgestellt und die konstruktive Konfliktbearbeitung darin als ein spätes Produkt: als die Resultante von Vorgaben und vorgängigen Impulsen. Die Kultur des Friedens baut im Kern darauf auf und setzt auf adäquate Verhaltensdispositionen mit entsprechender Ausstrahlungskraft.
Die erwähnten Errungenschaften ergeben sich nicht von selbst; sie sind nicht die Ausprägungen von „Kulturgenen“. Vielmehr sind sie, weltgeschichtlich betrachtet, das zufällige, konstellationsbedingte Resultat politischer Konfliktlagen. Was aus spezifischen Konflikten machtlagenbedingt geboren wurde -zum Beispiel Toleranz angesichts der kräftemäßig nicht realisierbaren hegemonialen Durchsetzung einseitiger Positionen -, kann angesichts neuer politischer Konfliktlagen wieder zugrunde gehen. In diesem Sachverhalt liegt die Brüchigkeit zivilisatorischer Errungenschaften -so auch die der institutionellen, materiellen und mentalitätsmäßigen Orientierung an konstruktiver Konfliktbearbeitung -begründet, damit auch die Brüchigkeit einer Kultur des Friedens.
Wenngleich die Unkultur von Gewalt anhaltend Aufmerksamkeit bindet, gibt es in politisierten Gesellschaften keine Alternative zu friedlicher Koexistenz: Sie ist, bleibt und wird wahrscheinlich immer mehr die zentrale zivilisatorische Problemstellung. Denn die Welt ist nicht dabei, sich zu entpolitisieren (wie hierzulande eine vordergründige These „wachsender Politikverdrossenheit“ suggeriert); die allenthalben beobachtbare Politisierung ist keine vorübergehende Modeerscheinung. Vielmehr ist die Politisierung von Identitäten und Interessen -weil Folge weltweiter objektiver sozialer Umbauprozesse -ein säkulärer, überdies unumkehrbarer Entwicklungstrend. Auf diesem Hintergrund wird friedliche Koexistenz zur unausweichlichen Aufgabe.
Dieter Senghaas, Dr. phil., geb. 1940; Professor für Friedens-, Konflikt-und Entwicklungsforschung an der Universität Bremen. Korrespondierendes Mitglied des Forschungsinstituts der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen. Veröffentlichungen u. a.: Friedensprojekt Europa, Frankfurt a. M. 19922; Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz, Frankfurt a. M. 1994; (Hrsg.) Den Frieden denken. Si vis pacem, para pacem, Frankfurt a. M. 1995.
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