Die öffentliche Beurteilung der Situation von Familien und damit auch die familienpolitische Diskussion bezieht sich häufig auf Einzelaspekte der demographischen Entwicklung, die durch statistische Basisindikatoren abgesichert erscheinen -und doch häufig zu mißverständlichen Interpretationen Anlaß geben. Die Frage, ob in den letzten Dekaden eine Abwendung von Ehe und Familie stattgefunden hat, ist deshalb nicht so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Die öffentliche Diskussion schwankt daher zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung. Was hat sich tatsächlich verändert? Nimmt zum Beispiel der Anteil der Menschen, die in Ehen und Familien leben, zugunsten von Alleinlebenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften ab? Es zeigt sich, daß substantielle Antworten auf solche Fragen nur sinnvoll sind, wenn man nach Altersgruppen bzw. Lebens-phasen unterscheidet. Der Strukturwandel der Familie heute bezieht sich vor allem auf Veränderungen im jeweiligen biographischen „Tuning“. Es findet keine grundlegende Verschiebung in der Präferenz für Lebensformen statt, sondern eine Verschiebung der Lebensphasen. Als wichtigste strukturelle Gründe für die Veränderungen werden die Bildungsexpansion und deren Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen betrachtet. Das bedeutet aber auch, Milieu-Unterschiede zu berücksichtigen, damit bestimmte Entwicklungen nicht vorschnell verallgemeinert werden. Für die zukünftige Entwicklung wird vermutet, daß die beiden Kemelemente von „Familie“, die Paarbeziehung und die Eltem-Kind-Beziehung, je für sich genommen, gestärkt werden und an Bedeutung gewinnen. Das führt allerdings paradoxerweise dazu, daß sie weiter voneinander entkoppelt werden, daß also der Strukturzusammenhang „Familie“ geschwächt wird. Eine Ablösung der Familie durch Singularisierung ist jedoch unwahrscheinlich. Ein Zukunftsproblem ist der wachsende Anteil kinderloser Paare.
I. Einleitung
Eine Analyse des gegenwärtigen Strukturwandels der Familie, die auch geeignet ist, familienpolitische Reform-Notwendigkeiten aufzuzeigen, muß zunächst -frei von politischem Handlungsdruck und ideologischen Debatten -aufzeigen, was der Stand der Dinge ist. Das ist leichter gesagt als getan. Schließlich gibt es kaum ein Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung, in dem seit Jahren so viele ausführliche Analysen auf statistischer und anderer Datenbasis vorliegen, und wo dennoch so kontroverse Einschätzungen anzutreffen sind. So werden zum Beispiel seit Jahren die immer gleichen Datenquellen herangezogen, um entweder den nahenden Untergang der Familie zu verkünden oder deren unverminderte Attraktivität zu behaupten, auch wenn viele Probleme dieser Datenquellen längst bekannt sind.
Diese Geschmeidigkeit der Daten für eine optimistische oder eine pessimistische Variante läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen. In einer neueren Veröffentlichung zur Lage der Familien heißt es: „Verheiratet Zusammenleben ist die dominierende Lebensform ... Neun von zehn minderjährigen Kindern leben bei einem Elternpaar.“ Es ist offensichtlich, daß solche Aussagen gegen die Krisen-diagnose gerichtet sind. Es sind Erfolgsmeldungen. Aber jedem geübten Krisendiagnostiker fiele es leicht, hier einzuhaken: „Ja, aber wohl nicht mehr lange ist die Ehe die wichtigste Lebensform. Und schon heute nur noch für eine knappe, relative Mehrheit; und selbst für diese nicht mehr auf Dauer. Längst nicht mehr bei allen Kindern ist es das ursprüngliche Elternpaar, und sie können nicht mehr sicher sein, daß ihre Eltern zusammenbleiben werden.“
Wir wollen zunächst die bisherige Diskussion um die Familie skizzenhaft nachzeichnen (Abschnitt II), dann zusammenfassen, was sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der privaten Lebensformen tatsächlich verändert hat (III.) und was die Gründe für diese Veränderungen sind (IV.). Um zu einer besseren Einschätzung der Frage zu kommen, was sich tiefgreifend verändert, ist es nützlich, auf bestehende Unterschiede zu achten. Damit ist hier nicht die Ost-West-Problematik angesprochen Gemeint sind Unterschiede zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und „Milieus“. Diese wurden seit den achtziger Jahren eher größer; und es gibt keine Hinweise, daß sie in absehbarer Zukunft verschwinden werden (V). Im letzten Abschnitt (VI.) wird gefragt, welche von diesen Veränderungen dauerhaft sein werden.
II. Wellen der Diskussion: Desinteresse -Dramatisierung -Beschwichtigung
Abbildung 2
Privathaushalte nach der Zahl der Haushaltsmitglieder im Deutschen Reich bzw.der Bundesrepublik Deutschland 1900-1990 Quelle: Fünfter Familienbericht, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7560, S. 61
Privathaushalte nach der Zahl der Haushaltsmitglieder im Deutschen Reich bzw.der Bundesrepublik Deutschland 1900-1990 Quelle: Fünfter Familienbericht, Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7560, S. 61
Nach vorübergehendem Desinteresse in den sechziger Jahren erwachte die Neugier der Sozialwissenschaften an privaten Lebensformen gerade zu einem Zeitpunkt wieder, als es mit der „Familie“ bergab zu gehen schien. Die demographischen Entwicklungen, die den -tatsächlichen oder vermeintlichen -Niedergang der Familie markieren, sind oft beschrieben worden. Ich fasse sie in drei Punkten zusammen:
1. Seit dem Ende des „Baby-Booms“ Mitte der sechziger Jahre gingen die jährlichen Geburtenzahlen überall in der „westlichen“ Welt kontinuierlich zurück, besonders stark in der Bundesrepublik, die Mitte der achtziger Jahre einen historischen Tief-punkt erreicht hatte: Die Geburtenrate sank auf „durchschnittlich“ 1, 3 Kinder pro Frau.
2. Im selben Zeitraum war ein starker Rückgang der Eheschließungszahlen zu registrieren, gerade bei den jüngeren Erwachsenen im „heiratsfähigen“ Alter. Dieser Abkehr von der Heirat korrespondierte ein merklicher Anstieg der Scheidungsquoten -auf ein Niveau, bei dem prognostiziert wurde, daß jede dritte Ehe wieder geschieden würde. 3. Und schließlich war eine markante Abnahme des Anteils von „Normalfamilien“ -Haushalten zu verzeichnen, mit einer entsprechenden Zunahme nicht-familialer Haushalte: kinderlose Ehepaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Wohngemeinschaften, Single-Haushalte.
Erst jetzt also, sozusagen mit der Wahrnehmung ihres Zerfalls, kam „die Familie“ -oder was davon noch übrig war -wieder ins Gespräch, in Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Von „Krise“ und Niedergang war die Rede. Wie so häufig, machten die Krisendiagnostiker gründliche Arbeit: Die Entwicklung wurde dramatisiert. Doch nicht alles, was sich seit den sechziger Jahren geändert hat, verweist auf den Niedergang von Ehe und Familie. Heute, drei Jahrzehnte nach Beginn dieser Entwicklung, läßt sich konstatieren, daß manches überzeichnet wurde:
1. Vor dem Hintergrund der fünfziger Jahre erscheint der Wandel der sechziger und siebziger Jahre als besonders heftig. In der ersten Nachkriegsdekade war eine historisch ungewöhnliche Hoch-Zeit der Familie -nie zuvor waren so viele Menschen verheiratet gewesen, schon lange hatte es nicht mehr so viele Geburten gegeben. Das gilt übrigens für viele westliche Länder, insbesondere für die USA, Schweden und die Bundesrepublik. Nimmt man nicht die fünfziger Jahre als Vergleichsmaßstab, erscheint die Lage also weniger dramatisch.
2. Der skizzierte Wandel hatte sich mit einem ungewöhnlichen Tempo vor allem zwischen 1965 und 1975 vollzogen. In den achtziger Jahren stabilisierte sich die Situation, zumindest in einigen Bereichen (was oft unbemerkt blieb, da jetzt die Krisendiagnostik erst in voller Blüte stand). Es gab wieder etwas mehr Geburten, es wurde weiterhin geheiratet, wenn auch meist in späterem Alter als früher. (Man könnte hinzufügen: Immer mehr Leute heirateten sogar mehr als einmal in ihrem Leben.) Auch die Scheidungsquoten stabilisierten sich, wenn auch auf relativ hohem Niveau Manches, was unter dem Eindruck von drastischen Ver-änderungen der jährlichen Raten als Abkehr von Heirat und Familiengründung interpretiert worden war, entpuppte sich nun „lediglich“ als biographischer Aufschub Eine ähnliche Relativierung ist auch für den gewaltigen Geburten-und Heiratsrückgang in den neuen Bundesländern zwischen 1990 und 1992 zu erwarten.
3. Schließlich muß man bei der Interpretation mancher dieser Entwicklungen vorsichtig sein. Der Rückgang der Geburtenraten zum Beispiel ist noch kein Beleg für den Niedergang der Familie oder für eine Abkehr von der Elternschaft. Er könnte sogar das Gegenteil bedeuten: Wenn zum Beispiel alle Frauen statt drei nur noch zwei Kinder bekämen, könnte dies als Hinweis für eine gesteigerte elterliche Verantwortlichkeit interpretiert werden: Zwei Kinder können besser betreut und verantwortungsvoller erzogen werden als drei oder vier Ähnlich läßt sich argumentieren mit den Scheidungsraten, deren Anstieg zunächst fast immer als Zeichen dafür angesehen wurde, daß die Ehe an Wert verliert. Inzwischen ist es nicht mehr ungewöhnlich, genau anders herum zu argumentieren: Steigende Scheidungsraten verweisen auf eine zunehmende Wertigkeit der Institution Ehe, auf steigende Ansprüche -im Gegensatz zu früher verbleibt man nicht mehr so leicht in einer „schlechten“ Ehe Ein weiteres Beispiel einer dramatisierenden Auslegung demographischer Daten ist die notorische Fehlinterpretation der Haushalts-statistik im Sinne der Aussage: „Immer mehr Men-sehen leben (lieber) allein, als bewußte Abkehr von der Ehe.“
Mit diesen Hinweisen soll die Entwicklung nicht verharmlost werden. Zweifellos hat sich in den letzten drei Jahrzehnten im Zusammenleben der Menschen eine Menge geändert. Einige dieser Veränderungen dürften tiefgreifend und dauerhaft sein. Darauf soll später genauer eingegangen werden.
III. Was hat sich in den letzten drei Dekaden verändert?
Abbildung 3
Wie groß sind die Familien?
Wie groß sind die Familien?
Hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Abkehr von Ehe und Familie stattgefunden oder nicht? Leider ist es nicht möglich, diese Frage klar und unmißverständlich zu beantworten. Das liegt daran, daß sie keineswegs so eindeutig ist. Die Frage erweist sich als äußerst vielschichtig -selbst, wenn exakt definierbar wäre, was wir mit „Familie“ meinen Mindestens drei Teilfragen lassen sich unterscheiden: 1. Wie viele Personen leben (noch) in Familien, wie viele in anderen Lebensformen? 2. Wie lange und in welchen Lebensphasen tun sie dies? 3. Wie leben sie in „Familien“ und was bedeutet „Familie“ für die Menschen, im Alltag und bezogen auf die Lebensperspektive?
Um zu vernünftigen Antworten zu gelangen, sollten diese Fragen im Zusammenhang behandelt werden. Häufig aber geschieht dies nicht, und deshalb kommen dann verzerrte, ideologische Antworten zustande. Ein Grund dafür ist, daß die Antworten auf die Teilfragen auf unterschiedliche Datenquellen zurückgehen und in verschiedenen Disziplinen und Forschungszusammenhängen behandelt werden. Antworten auf die erste Teil-frage werden meist in demographisch-statistischen Datenreihen gesucht. Die demographische Ent-Wicklung ist jedoch nur ein grober Indikator, der häufig überschätzt wird. Insbesondere kann es irreführend sein, periodische Aggregatdaten (zum Beispiel die Gesamtzahl aller Eheschließungen pro Jahr) heranzuziehen. Wichtiger sind „Kohorten-daten“ (zum Beispiel der Anteil aller jemals Verheirateten eines bestimmten Geburtsjahrgangs), die ein zuverlässigeres Bild der langfristigen Entwicklung geben können. Leider sind entsprechende Daten immer noch selten oder lückenhaft Für die zweite Teilfrage gibt es bisher nur erste Hinweise durch den Vergleich von Altersgruppen zu verschiedenen Zeitpunkten. Antworten auf die dritte Teilfrage lassen sich in erster Annäherung durch Umfrage-Ergebnisse („Wie wichtig ist für Sie die Familie?“) finden -aber dies kann nur eine grobe Annäherung sein, da die biographische Bedeutung von Familie wesentlich komplexer ist. Qualitative Studien über Lebensformen und Lebensperspektiven sowie allgemeine Analysen des Wertewandels müssen zusätzlich herangezogen werden.
Betrachten wir zunächst die oft konstatierte Herausbildung alternativer Lebensformen: Alleinleben, „living apart together“ und nichteheliche Lebensgemeinschaften, so die oft gehörte These, lösen allmählich die Familie ab. Die Vertreter der Singularisierungs-These berufen sich meist auf die Zunahme der Einpersonenhaushalte in der Haushaltsstatistik. Tatsächlich ist der Anteil der Einpersonenhaushalte ständig gestiegen; er liegt in Westdeutschland inzwischen bei etwa 35 Prozent der Haushalte. Doch dieser Anteil allein ist kein brauchbarer Indikator, wenn man etwas über „Singles“ aussagen will. Etwas mehr Sinn macht es, den Anteil der Personen zu nennen, die alleine leben (1993: 15 Prozent). Da jedoch mehr als die Hälfte dieser Personen über 55 Jahre alt ist -und die größte Gruppe unter ihnen die älteren Witwen sind -, läßt sich über „den Single“, wie er in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Abkehr von der Familie“ diskutiert wird, nur etwas Sinnvolles aussagen, wenn man die mittleren Altersgruppen betrachtet. Dabei zeigt sich: In der Altersgruppe von 25 bis 35 Jahren leben immerhin zur Zeit etwa 22 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen allein in ihrer Wohnung Bei den 35-bis 45jäh-rigen sind es noch 14 bzw. 8 Prozent. Das ist, verglichen mit dem „goldenen Zeitalter“ der Familie, nicht wenig und eine deutliche Steigerung in den letzten Jahrzehnten. Aber es ist auch keine Quote, die geeignet wäre, nun schon das Single-Zeitalter auszurufen. Ähnliches gilt für die nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Zum Beispiel stieg der Anteil der Frauen, die unverheiratet mit einem Partner Zusammenleben, in der Altersgruppe der 18-bis 35jährigen Frauen von 0, 6 auf 8, 8 Prozent (von 1972 bis 1992). Das ist ein gewaltiger Zuwachs im historischen Vergleich; aber gemessen an der Diskussion über den Zerfall der Ehe erscheint der Anteilswert doch immer noch erstaunlich niedrig. Und in der Altersgruppe der 35-bis 55jährigen liegt der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nur bei 3, 7 Prozent. Auch hier erlauben erst Kohortenanalysen sichere Aussagen über die längerfristige Entwicklung.
Aber man kann wohl heute schon sagen: Die nicht-ehelichen Lebensformen sind, im großen und ganzen, keine „neuen Lebensformen“ im Sinne einer Alternative zur herkömmlichen Ehe. Die Daten lassen vermuten, daß Alleinleben und nichteheliches Zusammenleben als Übergangsphase bzw. 8 Prozent. Das ist, verglichen mit dem „goldenen Zeitalter“ der Familie, nicht wenig und eine deutliche Steigerung in den letzten Jahrzehnten. Aber es ist auch keine Quote, die geeignet wäre, nun schon das Single-Zeitalter auszurufen. Ähnliches gilt für die nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Zum Beispiel stieg der Anteil der Frauen, die unverheiratet mit einem Partner Zusammenleben, in der Altersgruppe der 18-bis 35jährigen Frauen von 0, 6 auf 8, 8 Prozent (von 1972 bis 1992). Das ist ein gewaltiger Zuwachs im historischen Vergleich; aber gemessen an der Diskussion über den Zerfall der Ehe erscheint der Anteilswert doch immer noch erstaunlich niedrig. Und in der Altersgruppe der 35-bis 55jährigen liegt der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nur bei 3, 7 Prozent. Auch hier erlauben erst Kohortenanalysen sichere Aussagen über die längerfristige Entwicklung.
Aber man kann wohl heute schon sagen: Die nicht-ehelichen Lebensformen sind, im großen und ganzen, keine „neuen Lebensformen“ im Sinne einer Alternative zur herkömmlichen Ehe. Die Daten lassen vermuten, daß Alleinleben und nichteheliches Zusammenleben als Übergangsphase im Lebensverlauf stark an Bedeutung gewonnen haben. Sie sind somit eine „Alternative“ in bestimmten Lebensphasen, insbesondere in der Phase zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Gründung eines eigenen Familien-oder Ehehaushaltes. Sie sind, so gesehen, Alternativen zur Frühehe. Immer mehr Menschen leben vorübergehend allein oder in anderen nichtfamilialen Lebensformen -zwischen dem Auszug aus dem Elternhaus und der Gründung eines eigenen Familienhaushalts; nach einer Scheidung oder Trennung; nach dem Tod des Partners. Entscheidender als der Anteil der Alleinlebenden zu einem bestimmten Stichtag ist also die jeweilige biographische Dauer; darüber aber sagt die Haushaltsstatistik nichts 11.
Immerhin könnte der Eindruck entstehen, Ehe und Familie seien zumindest bei den jungen Erwachsenen bereits zur Lebensform einer Min-derheit geworden. Doch dieser Eindruck täuscht. Vergleicht man die Anteile von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit denen von verheirateten Paaren in verschiedenen Altersgruppen, dann findet man selbst unter den jungen Erwachsenen von 18 bis 25 Jahren bereits mehr verheiratet zusammenlebende als nichteheliche Paare. Ehe und Familie sind in den jungen Erwachsenenjahren (18 bis 25) nicht durch Alleinleben oder nichteheliche Lebensgemeinschaft übertroffen; alle diese Formen liegen bei etwa 10 Prozent 12. Die wichtigste Lebensform in dieser Altersgruppe ist, noch ledig bei den Eltern oder einem Elternteil zu wohnen (63, 7 Prozent). Etwas differenziertere Daten des „Sozio-ökonomischen Panels“ (SOEP) zeigen, daß die Bedeutung des Noch-bei-den-Eltem-Lebens im jungen Erwachsenenalter in den letzten zehn Jahren sogar noch zugenommen hat.
Und diese Daten zeigen auch: Nur in der Altersgruppe 26 bis 29 liegt, statistisch gesehen, der Tatbestand vor, der mit „Pluralisierung der Lebensformen“ angesprochen ist: Die verschiedenen Lebensformen (bei den Eltern leben; allein leben; unverheiratet Zusammenleben; verheiratet; mit Kindern) sind in dieser Altersgruppe etwa gleich stark besetzt. Bei den jüngeren Gruppen (bis 25) dominiert dagegen das Leben in der Herkunftsfamilie, bei den Älteren (ab 30) dominiert das Leben in der selbst gegründeten Familie 13. Die -je nach Standpunkt -Befürchtung oder Hoffnung, daß die Menschen sich massenhaft von Ehe und Familie abwenden, hat sich nicht bestätigt. Aber die Familien verändern ihr Gesicht: Sie sind kleiner geworden; sie werden biographisch später gegründet und sie werden häufiger wieder aufgelöst 14. Sehr viel wird zur Zeit etwa zu Themen wie Generationsbeziehungen, Verhältnis der Geschlechter oder zu Problemen wie Gewalt und neue Armut geforscht Was bedeutet „Familie“ noch für die Menschen? Über einen längeren Zeitraum konnte man eine Diskrepanz feststellen: Auf der einen Seite gab es die insbesondere durch die Massenmedien verbreitete Ideologie, in der es gewissermaßen zum guten Ton gehörte, Ehe und Familie mit Geringschätzung (oder gar Verachtung) zu belegen, während „abweichenden“ Lebensformen -besonders solchen mit großem Unterhaltungswert -ausgiebige Aufmerksamkeit gewidmet wurde Auf der anderen Seite stellen wir eine (fast) ungebrochene Zustimmung zu Ehe und Familie als Grundwerte eines guten Lebens fest, wenn wir der empirischen Sozialforschung und der Demoskopie glauben. Auf der Alltagsebene werden Ehe und Familie von einer breiten Mehrheit weiterhin geschätzt Die meisten betrachten für sich selber die Ehe immer noch als selbstverständlich, ohne deswegen aber darin eine für andere verbindliche Norm zu sehen: Im Zuge einer allgemeinen „kulturellen Liberalisierung“ ist die Toleranz gegenüber Abweichungen von der Normal-Lebensform gestiegen
Wenn auch nicht substantiell geschwächt, so hat „Familie“ als Lebenswert zumindest Konkurrenz bekommen. Es gibt zunehmend rivalisierende Werte, vor allem aus zwei Richtungen: Zum einen hat der wachsende Wohlstand immer mehr Freizeit, immer mehr Möglichkeiten der konsumorientierten „Selbstverwirklichung“ mit sich gebracht; immer mehr Möglichkeiten mehr oder weniger sinnvoller Lebensgestaltung außerhalb der Familie (und außerhalb des Berufes). Zum zweiten hat die Familie dadurch Konkurrenz bekommen, daß sie nun auch für die Frauen immer häufiger mit dem Beruf konfligiert. Anders formuliert: Der Beruf tritt als „Generator“ für Lebenssinn auch für Frauen immer mehr gleichberechtigt neben die Familie. Der Hintergrund dafür sind die Veränderungen im Bereich von Bildung und Geschlechts-rollen.
IV. Was waren die Gründe für diese Veränderungen?
Abbildung 4
Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1994, Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Band 325) Eheschließungen und Ehescheidungen
Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1994, Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Band 325) Eheschließungen und Ehescheidungen
In der ersten Phase des Versuchs, den Wandel zu erklären, war es naheliegend, aktuelle Umbrüche und Entwicklungen verantwortlich zu machen: die „Kulturrevolution“ in der westlichen Welt, die Studentenbewegung, die „Sexwelle“ und die „Pille“, etwas später die Frauenbewegung, die Alternativ-bewegung und so weiter. Es konnte begründet der Eindruck entstehen, die ideologische Front gegen die „bürgerliche“ Ehe und Familie hätte rasch Wirkung in der demographischen Entwicklung gezeigt.
Mit dem massiven Zusammentreffen mehrerer Veränderungen läßt sich das hohe Tempo des Wandels erklären. Vielleicht noch deutlicher wird dies, wenn man den Generationswechsel in Betracht zieht. Die Mitglieder der Geburtsjahr-gänge etwa um 1930 bis 1935 kamen, nach einer durch Faschismus und Krieg verdorbenen Kindheits-und Jugendphase -gesamtgesellschaftlich gesehen eine Latenzzeit, in der „normale“ Entwicklungen und Veränderungen kultureller Werte kaum möglich waren -in den fünfziger Jahren ins „heiratsfähige Alter“. Von ihnen konnte man schwerlich „hedonistische“, sexuell freizügige oder gar „antiautoritäre“ Orientierungen erwarten (wenn überhaupt irgendeine Veränderung). Sie mußten sich in der Nachkriegsphase erst einmal um die elementaren Dinge kümmern. Oftmals konnten sie erst mit Verzögerung Familien gründen. Folgerichtig wurden sie denn auch zu den Müttern und Vätern des Baby-Booms. Der Prozeß der Veränderung, der dadurch aufgehalten worden war, kam dann, durch die Nachfolgegeneration (die „Achtundsechziger“), um so heftiger wieder in Gang.
Hier liegt einer der wesentlichen Gründe für das rasche Aufkommen von Wohngemeinschaften, nichtehelichen Lebensgemeinschaften und des Eheaufschubs (der zunächst als totale Abkehr von der Ehe erschien). Mit dem Wertewandel, den diese Generation erst einmal für sich durchsetzte, verschwanden zwei traditionelle Eheschließungsgründe: Sowohl das Bedürfnis nach sexuellen Beziehungen als auch der Wunsch, das Elternhaus zu verlassen, konnten jetzt problemlos außerhalb der Ehe (aus heutiger Sicht, im Rückblick würde man eher sagen: vor der Ehe) befriedigt werden. Das gilt vor allem für jene in dieser Generation, die von der einsetzenden Bildungsexpansion profitieren konnten. Die Bildungsexpansion war eine wesentliche strukturelle Ursache für den biographischen Aufschub von Eheschließung und Familiengründung Aber grundlegender noch war, daß in ihrem Verlauf sich die Stellung der Frau, das Verhältnis der Geschlechter, der Wert von Kindern und die Bedeutung der Familie veränderten. Die Forschungen über den historischen Geburtenrückgang in unserem Kulturkreis ebenso wie die Forschungen über die Geburtenentwicklung in der Dritten Welt lassen sich alle auf einen Nenner, auf die Kurzformel bringen: Je höher das Bildungsniveau der Frauen, desto schwächer die traditionelle Gechlechtsrollendefinition, desto geringer die Kinderzahl, desto geringer die Bedeutung von Familie
Zur Erinnerung einige Zahlen: Die Studentenzahlen in Deutschland (West) stiegen von etwa 300 000 im Jahre 1960 auf etwa 1, 5 Millionen 1990. In dieser Zeit stieg der Anteil der Frauen an den Studierenden von 23 Prozent auf 38 Prozent Dabei ist vielleicht gar nicht so sehr der prozentuelle Anstieg entscheidend, sondern der Anstieg der absoluten Zahlen. Während es 1960 erst etwa 70 000 Studentinnen gab, waren es 30 Jahre später fast zehnmal so viele -über 600 000. Es wurde dadurch völlig selbstverständlich, daß Frauen studieren können. Etwa mit den Geburtsjahrgängen ab 1955 wurde ein Hochschulstudium zu einer selbstverständlichen Möglichkeit für junge Frauen Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch bei der Erwerbsbeteiligung der Frauen, auch wenn die achtziger Jahre in diesem Bereich eher als Bremse wirkten (zusätzlich verstärkt nach 1990 im Osten). Dennoch: In den mittleren Altersgruppen stiegen die Erwerbsquoten der Frauen in Westdeutschland auf etwa 70 Prozent. Und vielleicht bemerkenswerter noch: Immer mehr wurden auch verheiratete Frauen mit kleinen Kindern erwerbstätig -etwas, was vor dreißig Jahren noch stark mißbilligt worden wäre
Die Anhebung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen durch wachsende Bildungs-und Erwerbs-beteiligung stärkt ihre Position. Ihre Abhängigkeit von den Männern sinkt, die „Versorgungsehe“ verliert an Bedeutung. Sie können eher auf die Heirat verzichten -oder sie können sich leichter scheiden lassen. Vor allem aber wird für Frauen eine eigene „Berufsbiographie“ immer mehr zu einem normalen Element der Lebensperspektive. Die Beschränkung auf „Küche und Kinder“ erscheint dann geradezu als Relikt.
Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ergab sich daraus ein Spannungsverhältnis zwischen dem Familien-und Erwerbssystem. „Familie“ war bisher so strukturiert (und hatte die Funktion), durch die nichterwerbstätige Ehefrau und Mutter die anderen Systeme (Sozialpolitik, Erwerbssystem) zu entlasten. Wenn Frauen jetzt zunehmend erwerbstätig werden (genauer gesagt: wenn Berufstätigkeit zu einem festen Bestandteil ihrer biographischen Grundorientierung wird), wird die Familie deshalb nicht unwichtig für sie. Aber die Frauen sind nicht mehr in der Lage, allein für ein gutes familiales Klima zu sorgen. Die Männer müßten sich beteiligen. Aber sie tun es, nach allem, Was wir aus entsprechenden Untersuchungen wissen, bisher kaum Und warum sollten sie auch? Warum sollten sie auf ihre bisherige gesellschaftliche Integration über den Beruf verzichten? Mit moralischen Forderungen ist hier wenig getan. Diese führen allenfalls dazu, daß die Männer im öffentlichen Diskurs vorgeben, sich für die Interessen der Frauen einzusetzen. Strukturelle Veränderungen sind auf diesem Feld nur durch massive sozial-und familienpolitische Maßnahmen zu erreichen.
V. Milieu-Unterschiede
Die Bildungsexpansion wurde bereits als eine der entscheidenden Antriebskräfte des familialen Wandels dargestellt, vor allem in der Kombination mit der Frauen-Emanzipation. Um einen zweiten Aspekt der Bildüngsexpansion geht es im folgenden. Langfristig steigt die Bedeutung von Bildung für den Beruf und damit auch ihre Bedeutung für die Schichtzugehörigkeit Gleichzeitig ist aber der Zugang zum höheren Bildungssystem immer noch in hohem Maß abhängig von der sozialen Herkunft: Studienanfänger rekrutieren sich immer noch überproportional aus Familien mit höheren Bildungsabschlüssen (Abitur und Hochschulabschluß) Der Bildungshintergrund bestimmt also heute in erheblichem Maße die Milieuzugehörigkeit; davon aber hängt der Lebensstil ab, und dieser wiederum prägt die Struktur des Familienlebens -vor allem das biographische „Timing“ des Verhältnisses von Erwerbs-und Familienbiographie. Unterschiede zwischen verschiedenen Milieus lassen sich schon auf der (strukturellen) Ebene der demographischen Daten leicht belegen. Kinderlosigkeit, Einpersonenhaushalte, nichteheliche Lebensgemeinschaften, hohe Scheidungsraten -alle diese „postmodernen“ Formen kommen in Großstädten sowie in den Bevölkerungsschichten mit höherer Bildung und höherem Einkommen wesentlich häufiger vor Auch der Aufschub von Ehe und Familiengründung ist wesentlich ausgeprägter bei jungen Paaren mit hohem Bildungs-niveau, wie bei einer Langzeitstudie in Nordrhein-Westfalen gezeigt werden konnte
Für unsere Fragestellung sind auch milieuspezifische Unterschiede in ihrer biographischen Bedeutung wichtig, die durch qualitative Milieu-Studien aufgedeckt werden können. Solche Studien sind bisher immer noch selten. Mit „Milieu“ bezeichnet die Soziologie vergleichsweise homogene soziale Gruppierungen, in denen ein bestimmter Lebensstil vorherrscht Milieus unterscheiden sich voneinander durch spezifische kulturelle Selbstverständlichkeiten, typische Verhaltensmuster und bestimmte Normalitätsvorstellungen. Diese Unterschiede hängen stark von der Bildungskarriere ab. In jedem Milieu gibt es jeweils eigene Vorstellungen über das „richtige“ oder „gute“ Leben; in jedem Milieu gibt es unterschiedliche Bedeutungen von der Familie, vom Beruf, von einem Norm-Alter des Übergangs in die Elternschaft: Eine Akademikerin ist mit 28 „zu jung“ für ein Kind, im Arbeiter-milieu fast schon „zu alt“. In manchen Milieus ist Kinderlosigkeit immer noch ein Stigma, in anderen gilt es als asozial, eine große Kinderschar zu haben.
Wir haben in unserer Milieu-Vergleichsstudie zahlreiche Differenzen dieser Art festgestellt Für Akademikerpaare zum Beispiel ist langer Aufschub der Elternschaft und häufig auch Kinderlosigkeit ein typisches Phänomen; das liegt u. a. daran, daß die Frauen sich in beruflicher Hinsicht den Männern annähern, die Männer aber umgekehrt sich nicht stärker für die Familie engagieren -im Unterschied zum Altemativmilieu, wo Kinder häufiger sind, weil hier die Männer weniger Probleme haben, sich als „neue Väter“ zu sehen. Der deutlichste Unterschied zu dem Bild der Lebensführung, das die Individualisierungstheorie zeichnet, wenn sie das Umfeld von Universitäten und Medienzentren beobachtet, ergibt sich für die Milieus der einfachen Angestellten, der Arbeiter und der ländlichen Bevölkerung. Hier sind Ehe und Familie noch weitgehend selbstverständlich.
Aufgrund der steigenden Bedeutung von Bildung und ihren Konsequenzen für die Familie kann nicht damit gerechnet werden, daß diese Unterschiede allmählich verschwinden. Im Gegenteil muß eher mit einer Polarisierung der Milieus gerechnet werden: individualistische vs. familistische Milieus Polarisierungstendenzen wurden bereits empirisch festgestellt hinsichtlich der Elternschaft: Ein wachsender Teil der Paare bleibt kinderlos; Paare aber, die ein Kind bekommen, entscheiden sich (in der Regel) auch für weitere Kinder Wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Aufschubs der Familiengründung bei Studierenden und der großen Schwierigkeiten bei Akademiker-paaren, Kinder und zwei Karrieren in Einklang zu bringen, ist es durchaus möglich, daß die Kinderlosigkeit unter Akademikern weiter ansteigt, während für andere Bevölkerungsgruppen weiterhin die Zwei-Kind-Norm gültig bleibt.
VI. Wie geht es weiter?
Häufig werden Zukunftsprognosen gemacht, indem von aktuellen Erscheinungen (in bestimmten Milieus) angenommen wird, daß sie sich verstärken und ausbreiten werden. Manche Familien-forscher sagen uns zum Beispiel seit vielen Jahren, wir seien auf dem Weg in die Gesellschaft von Einzelgängern, in die „Single“ -Gesellschaft; nicht mehr „Familie“, sondern „living apart together“ (oder mildere Formen der individualisierten Partnerschaft) sei die Lebensform der Zukunft Aber diese Prognosen verallgemeinern zu schnell aus den individualisierten Milieus heraus Überzeugendere Prognosen setzen die Klärung der Frage voraus: Welche von diesen Entwicklungen sind nur vorübergehend, welche sind dauerhaft? Welche sind so tiefgreifend, daß es berechtigt ist, von einer „historischen Zäsur“, von einem „revolutionären Bruch mit der Vergangenheit“ (HoffmannNowotny) oder einem „unwiderruflichen Über-gang“ (Lesthaeghe) zu sprechen?
Heute werden solche Einschätzungen häufig unter dem Stichwort „neuer Individualisierungsschub“ oder ähnlichen Formeln („Zuwachs an individueller Autonomie“; „Selbstverwirklichung“) gegeben. Die derzeitigen Veränderungen werden als qualitativ neue Etappe im langfristigen Prozeß der Individualisierung betrachtet. Auf die vielen Probleme der Individualisierungstheorie kann hier nicht eingegangen werden Im Zusammenhang mit der hier behandelten Thematik seien nur zwei Aspekte kurz angesprochen. Zum einen: Es gibt ein breites Spektrum von demographisch-historischen Analysen, die einzelne Dimensionen der „Individualisierung“ hervorheben * *Allerdings sind sich die Autoren, die sich auf solche Ana lysen beziehen, keinesfalls darüber einig, was der Kern der Sache ist: Während für die einen „individuelle Autonomie“ im Sinne abnehmender institutioneller Kontrolle des einzelnen der entscheidende Punkt ist (Lesthaeghe), für andere „Selbstverwirklichung“, verwenden wieder andere diese Begriffe überhaupt nicht oder weisen sie zurück: „Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie“, sagt zum Beispiel Ulrich Beck. Hoffmann-Nowotny wiederum spricht von Anomie, also der Auflösung kultureller Verbindlichkeiten (verbindlicher Wertvorstellungen). Für manche ist Individualisierung vor allem mit einem Zuwachs an Entscheidungsautonomie verbunden; andere sprechen von einem Zuwachs an Optionen, der individuelle Entscheidungen unwahrscheinlicher mache, weil er zu Überforderung führe. Zu viele unterschiedliche Entwicklungen werden hier mit einem verschwommenen Begriff zusammengefaßt; einem Begriff, der deshalb unaufhörlich Mißverständnisse produziert
In unserem Zusammenhang ist ein zweites Problem vordringlicher. In den meisten der verschiedenen Varianten von „Individualisierung“ gibt es die Implikation „Zerfall der Familie“. So wenig sonst etwa die Theorien von Bellah und von Beck zusammenpassen -in beiden gibt es doch genau diese Unterstellung: Der fortschreitende Individualisierungsprozeß führe zum Zerfall der Familien Die Diskussion in den USA zeigt jedoch, daß die Annahme einer direkten Kausalität zwischen „rise of individualism“ und „decline of the family“ viel zu einfach und daher kaum haltbar ist. Zwar ist verständlich, daß gerade in den USA in den letzten Jahren die Stimmen skeptischer Beobachter immer lauter wurden, für die der Individualismus ein Krebsgeschwür ist, das den Familien-zusammenhalt aushöhle. Aber die amerikanische Entwicklung zeigt auch, daß Familie und Individualismus immer schon stark waren, ohne sich deswegen gegenseitig zu schwächen Verstärkte individuelle Autonomie oder mehr Selbstverwirklichung führen nicht unbedingt zum Verlust der Bindungsbereitschaft, sondern zur Anspruchssteigerung Das erhöht natürlich die Belastung für Beziehungen, bedeutet aber keineswegs eine Abkehr von ihnen. Im übrigen müßte genauer beachtet werden, inwiefern der „Aufstieg des Individualismus“ vor allem Aufstieg einer Idee, einer Ideologie, ist -und nicht so sehr ein tatsächlicher struktureller Wandel
Versuchen wir nun, die Ausgangsfrage noch einmal unter dem Gesichtspunkt der Irreversibilität des Prozesses zu beantworten: Sind die gegenwärtigen Entwicklungen dauerhaft und unumkehrbar? Werden die Menschen weiterhin in Familien leben oder lieber zu zweit ohne Kinder oder lieber allein? Gegenwärtig gibt es auch unter denen, die von einem radikalen Umbruch sprechen, nur noch wenige, die der Familie keine Zukunft mehr geben. Die Forschung der letzten Jahre hat (auch ihnen) gezeigt, daß es doch eine Reihe erstaunlich stabiler Aspekte gibt. Manche versuchen nun, mit vagen, ambivalenten Formeln wie „nachfamiliale“ Familie zu umschreiben, daß die Familie zwar nicht untergehe, sich aber gründlich verändere. Darauf kann man sich natürlich immer einigen; die Familie hat sich historisch immer wieder verändert. Die Frage ist nur, ob man trotz allen Wandels der historischen Formen immer noch von „Familie“ sprechen sollte. Gibt es einen stabilen Kern von „Familie“, der Bestand hat, auch wenn sich andere Elemente ändern? Wenn man zeigen könnte, daß sich der bisherige stabile Kern auflöst, dann wäre es berechtigt, vom Ende der Familie zu sprechen.
Eine Familie konstituiert sich, in der klassischen Definition, durch die Kombination zweier Differenzierungslinien: Geschlecht (heterosexuelles Paar) und Generation (Eltern/Kinder). Der stabile Kern: das sind, nach Ansicht vieler Familiensoziologen, deshalb Filiation und Ehepaar bzw. Elternschaft und Partnerschaft. In manchen Definitionen von Familie findet man als weitere Elemente das Zusammenleben (Lebens-und Wirtschaftsgemeinschaft), die Exklusivität (Nichtaustauschbarkeit) der personalen Beziehungen, die für Intimität und Solidarität sorgt, sowie die Dauerhaftigkeit dieser Beziehungen
Unter dem Aspekt der zukünftigen Entwicklung sehen wir nun zunehmend Hinweise für folgende These: Die beiden Kernelemente Paarbeziehung und Eltern-Kind-Beziehung werden jeweils für sich gestärkt, gleichzeitig lockert sich aber ihr Zusammenhang, und sie werden von anderen Elementen wie Zusammenleben, Stabilität, usw. abgekoppelt
Was spricht für die Stärkung von Paarbeziehungen? Auch nach Überzeugung der familialen Skeptiker wird sie in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren. Sie wird weiterhin angestrebt, sie bleibt weiterhin eine der zentralen, vielleicht sogar die zentrale Lebensorientierung. Die Tendenz zur Paarbildung ist ungebrochen, die Ansprüche an die Qualität der Beziehung steigen sogar noch Allerdings gibt es auch Gegentendenzen, die einzelne Aspekte der Paarbeziehung verändern oder schwächen. Das gilt zunächst für die rechtliche Legitimierung: zunehmend verzichten Paare, wenigstens temporär, auf die Heirat Die weitere Durchsetzung der Liebe als Grundprinzip der Paarbildung und ihre einzige starke Legitimationsbasis stellt die Dauerhaftigkeit der Paarbeziehung zunehmend in Frage Durch die verstärkten Anforderungen an Mobilität und den Anspruch an berufliche Selbstverwirklichung auch für Frauen lockert sich die Stabilität im Sinne des Zusammenlebens. Das dürfte also die Tendenz zu „living apart together“, zu kleineren Haushalten, aber auch zu aufgelockerten Formen des Zusammenlebens (man hat zwar eine gemeinsame Wohnung, aber die Mitglieder eines Haushalts sind stärker individualisiert) tatsächlich verstärken. Aber gerade bei dieser Beobachtung sind starke Milieu-Differenzen wahrscheinlich. „Individualisierte Partnerschaften“ dieser Art sind außerhalb des akademisch-intellektuellen Milieus kaum zu erwarten Insgesamt wird die biographische Bedeutung der Paarbeziehung nicht zurückgehen, eher wird sie gestärkt. Dies ist die eigentliche Konsequenz der „Individualisierung“, nicht etwa die Tendenz zum Single-Dasein.
Auch beim zweiten Kernelement von „Familie“, der Beziehung zu den Kindern (Filiationsbeziehung), kann von einem Bedeutungszuwachs gesprochen werden. Die Aufmerksamkeit und die elterliche Verantwortlichkeit für die psychosoziale Entwicklung des einzelnen Kindes hat sich in langfristiger Betrachtung erhöht, die Eltern-Kind-Bindungen sind deshalb, trotz mancher gegenläufiger Tendenzen, insgesamt wohl enger als früher Das gilt aber naturgemäß nur für diejenigen Paare, die Kinder bekommen. Und deren Anteil sinkt, auch wenn sie noch die große Mehrheit ausmachen. Und für einen wachsenden Teil von diesen -zur Zeit in aller Regel die Väter -ist die Dauerhaftigkeit der Filiationsbeziehung unsicher geworden.
Die Stärkung der Teilelemente (Filiation und Paarbeziehung) ist paradoxerweise ein wesentlicher Grund für ihre weitere Entkopplung: Für das „postmoderne“ Paar (Stichwort: „Selbstverwirklichung“) ist die Elternschaft vor allem des-halb ein Problem, weil gerade bei ihm die Ansprüche an die Erziehung deutlich gestiegen sind. Würde man sich auf Kinder einlassen, müßte man diesen mehr Aufmerksamkeit schenken, als die Beziehung vertragen würde. Die Neigung zur Familiengründung geht vor allem in solchen Milieus zurück, in denen ein stabiles Familienleben (samt der bisherigen Rollenverteilung) in Konflikt gerät mit den Anforderungen beruflicher Mobilität und biographischer Flexibilität
Der Anteil der dauerhaft Kinderlosen ist vielleicht ein Schlüsselproblem der zukünftigen Entwicklung -anders als die Zuwächse bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Alleinlebenden. Immerhin hat sich der Anteil kinderloser Frauen in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt: von etwa 10 auf über 20 Prozent Unter ihnen wächst die Gruppe der gut ausgebildeten und gut verdienenden „Zwei-Karrieren-Paare“. Man muß hier nicht von „freiwilliger Kinderlosigkeit“ sprechen. Oft sind es einfach die Eigendynamiken der beruflichen Entwicklung und der Paarbeziehung, die zum Aufschub der Familiengründung in eine unbestimmte Zukunft führen. Irgendwann ist es dann allerdings biologisch-biographisch zu spät.
Hier scheint es in der Tat schwierig, sich eine Trend-umkehr vorzustellen. Die Männer sind nicht bereit, wegen der „Familie“ entscheidende berufliche Abstriche zu machen. Und die Frauen werden sich die Errungenschaften seit den sechziger Jahren (neue Bildungs-und Berufsmöglichkeiten; moralische und „technische“ Durchbrüche für freiere Sexualität und Liebesbeziehungen; stärkere Unabhängigkeit von Familie, Ehe und Ehemann) nicht mehr nehmen lassen. Doch auch diese Aussagen gelten uneingeschränkt nur für die Frauen in den „individualisierten“ Milieus. Es könnte deshalb zu einer stärkeren Polarisierung zwischen kinderlosen Paaren und Familien-Paaren kommen. Wenn man sich spekulativ ähnlich weit vorwagen wollte wie es Beck oder Hoffmann-Nowotny tun, dann folgte aus den Überlegungen zur Entkopplung von Elternschaft und Partnerschaft nicht der „Single“ oder „living apart together“ als Kerngestalt der nachfamilialen Epoche, sondern eine Polarisierung zwischen Eltern-Kind-Beziehung und Partnerschaft: Auf der einen Seite Eltern-Kind-Beziehungen ohne enge Verknüpfung zur Partnerschaft (viele Allein-erziehende, viele „Stief“ -oder „Adoptiv“ -Kinder usw. -als Extremfall das „professionalisierte Elternpaar“ auf der anderen Seite Partnerschaften, deren Zweck kaum noch etwas mit Familiengründung zu tun hätte, sondern mit Selbstverwirklichung im Rahmen eines individualisierten Lebensstils.
Sollte sich die Prognose der Polarisierung zwischen Familien-Paaren und kinderlosen Paaren, die ja tendenziell auch eine Polarisierung zwischen unterschiedlichen Statusgruppen wäre, bewahrheiten, dann droht ein neues sozialpolitisches Konfliktfeld. Die Politik wäre gut beraten, diese Entwicklung sorgfältig zu beobachten und rechtzeitig zu versuchen, das darin angelegte Konfliktpotential mit geeigneten Maßnahmen zu entschärfen. Solche Maßnahmen können vielfältiger Art sein: von der steuerrechtlichen Verbesserung der Lage von Eltern (nicht: von Ehepaaren) über den Ausbau der Infrastruktur für Kinderbetreuung bis hin zu Erleichterungen für adoptionswillige kinderlose Paare. Das Ziel aller dieser Maßnahmen müßte die gesellschaftliche Aufwertung der Erziehungsarbeit sein. Vielleicht ist es langfristig unumgänglich, auch Elternschaft als Beruf anzusehen.
Günter Burkart, Dr. phil. habil., geb. 1950; Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Sozialisation im Sozialismus, Weinheim 1990; (zus. mit M. Kohli) Liebe, Ehe, Elternschaft. Die Zukunft der Familie, München 1992; Die Entscheidung zur Elternschaft, Stuttgart 1994; Individuelle Mobilität und soziale Integration. Zur Soziologie des Automobilismus, in: Soziale Welt, (1994) 2; Biographische Übergänge und rationale Entscheidungen, in: BIOS, (1995) 2.
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