Die nunmehr einjährige Erfahrung der Mitgliedschaft in der EU ist in Finnland mit nüchterner Akzeptanz im allgemeinen positiv bewertet worden. Man ist sich einig, daß die Union eine Organisation im Werden ist, die sich flexibel an wirtschaftliche und politische Tatsachen und Zwänge in einem Europa des Umbruchs anpassen muß, wobei die gemeinsamen Hauptziele -Freiheit, Wachstum, Wohlstand, Stabilität und Sicherheit -für alle Europäer gleichermaßen gelten. Finnland erlebt einen Strukturwandel seines Wirtschaftslebens, der mit der EU-Mitgliedschaft und der Anpassung an die EU-Normen zusammenfällt. Die Mitarbeit in der EU -wie z. B. bei den Vorbereitungen zur Regierungskonferenz und zur Wirtschaftsund Währungsunion (WWU) -hat eine erwünschte Stabilität in der finnischen Finanzpolitik erzeugt. Das schier unlösbare Problem der Arbeitslosigkeit in der EU stimmt das mit demselben Übel kämpfende Finnland bedenklich. Die Verwirklichung der WWU sowie die Durchführung der notwendigen Ost-Erweiterung werfen schwierige Fragen auf, die auch unter Beachtung von Sicherheitsaspekten gelöst werden müssen. Ein erfreuliches Ereignis ist die Gründung der EU-Ostsee-Region: Sie wird eine wichtige Grundlage für die Erweiterung dort schon bestehender Zusammenarbeit sein. Die Beziehungen zum neuen Rußland sind zahlreich und für Finnland außerordentlich bedeutsam. Die angespannte Lage im Baltikum bedeutet allerdings eine Gefahr für die Sicherheit im Ostseeraum, d. h. für Europa insgesamt, sollte nicht den baltischen Staaten energisch seitens des Westens geholfen werden, sich gegen Drohungen und äußeren Druck zu wehren. Finnland selbst fühlt sich nicht bedroht. Seine Sicherheitspolitik stützt sich nicht auf militärische Allianzen, sondern auf eine eigene starke Verteidigung, ist aber für eine Zusammenarbeit, wie die „Partnerschaft für den Frieden“, offen. Ein neuer Schritt ist der Einsatz in Bosnien unter NATO-Oberkommando. Zusammenfassend ist zu bemerken, daß die EU-Bürokratie mehr darauf achten sollte, dem gewöhnlichen* Bürger die EU-Ziele verständlich und nutzbringend darzustellen. Durch sinnvolle Anwendung des Subsidiaritätsprinzips würde die Mitarbeit in der EU verstärkt und diese sich wiederum der konkreten Wirklichkeit in den Mitgliedstaaten nähern. Finnland hält es für äußerst wichtig, daß die drei baltischen Staaten seitens der EU und besonders der Ostseeanrainerstaaten jegliche Unterstützung beim weiteren Aufbau ihrer Demokratie und Marktwirtschaft erhalten, damit sie in dieser entscheidenden Übergangsphase sich erfolgreich gegen Drohungen und äußeren Druck zur Wehr setzen können.
Zu Beginn des Jahres 1996 blickt Finnland auf die ersten zwölf Monate seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union zurück -auf eine für sich genommen kurze Zeitspanne, die aber von zahlreichen neuen Inhalten und Aktivitäten erfüllt wurde. Nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres scheint sich das Resultat der beratenden Volksabstimmung über einen Beitritt zur Union (vom 16. 10. 1994) mit einer Wahlbeteiligung von 74 Prozent bei 57 Prozent abgegebenen Ja-Stimmen zu bestätigen. Die Einstellung der Bevölkerung zur Mitgliedschaft ist 1995 durch mehrere Gallup-Umfragen geprüft worden: Sie ist stabil und positiv geblieben (im November: 56 Prozent Befürworter und nur 26 Prozent EU-Gegner).
Das finnische Parlament entschied sich am 2. 11. 1994 mit der großen Mehrheit von 152 zu 45 Stimmen (von 200) für die Mitgliedschaft. Auch der Landtag der autonomen Region Ahvenanmaa (Aalandinseln) votierte mit 26 zu 4 Stimmen für den Beitritt. Beide Abstimmungen gehören in der Sache wie verfassungsrechtlich zu den bei weitem wichtigsten in der Geschichte dieser Volksvertretungen, da der Beschluß auch Souveränitätsrechte berührt.
Bereits am 25. 10. 1994 wurde der ehemalige Minister Erkki Liikanen als Kandidat für die Position eines EU-Kommissars vorgeschlagen, und am 24. 11. 1994 erkor man die 16 Europaparlamentarier aus den Reihen der Abgeordneten des finnischen Parlaments. Anzumerken ist, daß die im äußersten Norden auf drei Staaten verteilt lebenden fünf lappländischen Hauptstämme verfassungsgemäß noch nicht in den Parlamenten Norwegens, Schwedens oder Finnlands als Lappen vertreten sind (Gesamtzahl rund 35 000, davon 3 000 in Finnland). Diese autonome Rechte besitzende Urbevölkerung darf nicht mit den Einwohnern des Regierungsbezirks Lappland (Lapinlääni/Finnland) verwechselt werden, der ca. 60 000 km 2 umfaßt und etwa 40 000 Einwohner hat.
Im großen und ganzen hat sich 1995 an der Verteilung der Anhänger und Gegner der EU in Finnland nicht viel geändert: Während die im Norden wohnende ländliche Bevölkerung sich gegenüber der EU-Mitgliedschaft eher ablehnend verhält, wird sie von der südlicher und in den Ballungsgebieten lebenden Stadt-und Landbevölkerung mit-getragen (in Helsinki beispielsweise betrug der Anteil der Nein-Stimmen nur 26 Prozent, im Südwesten 40 Prozent, aber im Regierungsbezirk Lappland rund 56 Prozent). Das Ja zur Union wurde also durch die städtische Bevölkerung entschieden.
Nur ein Jahr früher -am 1. 1. 1994 -war ein anderer, für die weitere Entwicklung sehr bedeutsamer vorbereitender Schritt in Richtung der europäischen Integration getan worden: Der Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zwischen den zwölf EU-Staaten und den fünf EFTA-Ländern (Finnland, Schweden, Norwegen, Island und Österreich) trat damals in Kraft. Finnland gehörte der EFTA seit 1961 an; die Schweiz hingegen trat als EFTA-Land dem EWR nicht bei.
Vom Gesichtspunkt des wirtschaftlich-sozialen Integrationsprozesses aus betrachtet, sollte besonders erwähnt werden, daß Finnland zusammen mit den vier anderen nordischen Staaten im Nordischen Rat schon seit 1955 einen Großraum bildet, in dem moderne Gesetze mit historisch verankerten Rechtsnormen weitgehend harmonisiert sind -so bestehen auch heute u. a. ein gemeinsamer Arbeitsmarkt, gemeinsame Sozialversicherungen, Paß-und Visafreiheit. Letztere erklärt die Beharrlichkeit, mit welcher Dänemark, Finnland und Schweden auch für Norwegen die Gültigkeit des Schengener Abkommens sichern wollen.
Die enge wirtschaftliche, politische und gesellschaftlich-kulturelle Zusammenarbeit zwischen den durch gemeinsame Geschicke miteinander verbundenen nordischen Völkern (das Großfürstentum Finnland gehörte über 600 Jahre lang als dessen östliche Staatshälfte zum Königreich Schweden) hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der gut aufeinander eingespielten Staaten-gruppe beständig und in einer erstaunlich flexiblen Weise vertieft -wenn man etwa bedenkt, daß Island, Norwegen und Dänemark Abkommen mit der NATO schlossen, Schweden und Finnland hingegen ihre Neutralitätspolitik betrieben. Seit dem 18. 4. 1994 hat Finnland im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ Anteil an den Aktivitäten der NATO. Im Jahre 1996 wird Finnland, das sich schon seit 1955 an Blauhelm-Operationen derUNO mit Zehntausenden von Beobachtern und Soldaten beteiligt hat, erstmalig an der von der UNO sanktionierten, von der NATO geführten Friedensmission im ehemaligen Jugoslawien mitwirken.
I. Parlament, Regierung und Wirtschaft
Die vielfältigen Veränderungen, die der Integrationsprozeß in Europa hervorruft und die bei weitem nicht abgeschlossen sind, werden nach Ansicht der finnischen Öffentlichkeit recht zufriedenstellend vom Parlament und von der Regierung gehandhabt. Den „dritten Pol“ bildet der Staatspräsident, der laut Verfassung (nicht unähnlich den Präsidenten Frankreichs oder der USA) die Verantwortung für die auswärtigen Beziehungen Finnlands trägt. Zusätzlich zu den Ausschüssen für die nordische Zusammenarbeit in Regierung und Parlament wurden neue, die EU-Thematik konzentriert behandelnde Organe eingerichtet, die in die entsprechenden Ministerien übergreifen. Ohne den Beamtenapparat auszuweiten, ist man bemüht, den für unsere Verhältnisse überaus großen Anfall an Informationen, Direktiv ven und Instruktionen zu meistern, die fast täglich aus Brüssel eintreffen und in die beiden Landessprachen Finnisch und Schwedisch -der schwedischsprachige, vollkommen gleichgestellte Bevölkerungsanteil beträgt rd.sechs Prozent -übersetzt werden müssen. Unverzichtbar für nordische Demokratien ist Offenheit und Transparenz, womit gemeint ist, daß der Bürger und die Presse das gleiche Recht haben, EU-Fragen betreffende Beschlüsse, Direktiven usw. -und ihre Entwürfe und Vorlagen in den Behörden oder Ausschüssen des Parlaments -einzusehen, wie traditionell vergleichbare Akte und Handlungen auf kommunaler und staatlicher Ebene in Finnland. So ist im Parlament der sogenannte Große Ausschuß (mit der Funktion eines Oberhauses/Bundesrates) nun zur wichtigsten EU-Zwischeninstanz aufgestiegen. Man hat in der Presse mit einiger Zufriedenheit feststellen können, daß in allen prinzipiellen Fragen der Zusammenhalt der Regierung (allgemeine Wahlen fanden Anfang 1995 statt) bisher überraschend gut gewesen ist, wenn man bedenkt, daß der Regierungskonsens in einem wirklich breiten Spektrum erreicht werden muß: Die Sozialdemokraten stellen sieben Minister (63 Abgeordnete), die Sozialisten zwei (22), die Konservativen fünf (39), die liberale Schwedenpartei zwei (12) und die Grünen einen (9); hinzu kommt ein parteiungebundener Landwirtschaftsminister. Der Ministerpräsident Paavo Lipponen ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei. Der Staatspräsident Martti Ahtisaari (seit 1. 3. 1994 für sechs Jahre gewählt) gehört derselben Partei an. Der Großteil der erwähnten Parteien (oder ihre Vorgänger) war schon vor 90 Jahren im ersten Einkammer-Parlament Finnlands vertreten. In der Opposition befindet sich heute nur eine große alte Partei: die (ehemals bäuerliche) Zentrumspartei mit 44 Abgeordneten. Ihr Parteivorsitzender Esko Aho war Ministerpräsident von 1991 bis 1995. Zur Opposition gehören noch vier kleine Splitterparteien mit zusammen elf Abgeordneten.
Die Beschlüsse zur EU-Mitgliedschaft wurden also von der vorherigen Regierung gefaßt, die unter der Leitung von Esko Aho auch die Verhandlungen führte, wobei die Konservativen und die Schwedische Volkspartei mitwirkten und die Sozialdemokraten zwar in der Opposition waren, nicht aber gegen die EU stimmten. Dieser Umstand kann als Beweis gelten für die Stabilität der Bemühungen, über den Rahmen der EFTA und des EWR hinaus an der Integration Europas mitzuwirken.
Das parlamentarische System Finnlands sieht vor, daß die Beschlußfassung über außen-und sicherheitspolitische sowie staatsrechtliche Fragen ausschließlich dem Parlament zusteht. Dies wirft eine Reihe möglicher Probleme auf: Kann „Brüssel“ (Mehrheits-) Beschlüsse fassen, die mit den nationalen Interessen Finnlands unvereinbar sind, die also nicht befolgt werden können, und deswegen eine Suspendierung der Mitgliedschaft zur Folge haben könnten? Wie stellt sich der Staatspräsident zu einer EU-Entscheidung, die vom finnischen Parlament abgewiesen wird? Demnach gilt es, die Entwicklung innerhalb der EU, z. B. bei der Vorbereitung der Agenda der Regierungskonferenz 1996/1997, sorgfältig zu beobachten und an der Formulierung von Standpunkten und Zielrichtungen mitzuarbeiten.
Um die Bereitschaft zu verstehen, nicht auf dem halben Wege stehen zu bleiben, d. h. sich auf die bisherige Mitgliedschaft im EWR zu beschränken, soll hier auf einige Fakten und Bedingungen des finnischen Wirtschaftslebens hingewiesen werden. Zunächst die geographische Lage: Bei einer Gesamtfläche von 338 000 km 2 beträgt die Länge der Nord-Süd-Achse 1 200 km. Im nördlichen Drittel leben nur etwa 200 000 Einwohner, im süd-südwestlichen Fünftel des Landes etwa drei Viertel der Gesamtbevölkerung von fünf Millionen (die Region Helsinki-Espoo-Vantaa hat allein eine Million Einwohner). Das bedeutet sehr große Unterschiede im Inneren des Landes mit einer nach Norden und Nordosten hin immer spärlicheren Bevölkerung. Es gibt keine bedeutenden Bodenschätze, aber viel Nadel-und leichten Laub-wald (Kiefern, Tannen und Birken). Ein hoher Energiebedarf (1, 7 mal höher als der OECD-Durchschnitt pro Einwohner) entsteht wegen des kalten Klimas für die Beheizung (22 Prozent), für den Verkehr (13 Prozent) und für die (holzverarbeitende) Industrie (bis zu 40 Prozent). Über 60 Prozent der Energie muß importiert werden (Mittelwert in Europa 42 Prozent), hauptsächlich Kohle, Öl und Naturgas. Die eigene Kernkraft liefert etwa 15 Prozent des Bedarfs. Finnland ist vergleichbar mit einer Insel, denn etwa 80 Prozent des gesamten Außenhandels wird über die Ostsee abgewickelt (bei strengen Wintern mit Hilfe von Eisbrechern). Lübeck und Kopenhagen liegen etwa 1 000 km von den Häfen an der finnischen Südküste entfernt, bis Stockholm sind es 300 km, bis Tallin (Estland) hingegen nur 80 km. Der Anteil der OECD-Länder am Export Finnlands betrug 1994 78, 3 Prozent, davon entfielen 48, 8 Prozent auf die EU und 18, 8 Prozent auf die EFTA (mit Schweden). Deutschland ist vor Schweden und Großbritannien mit rund 14 Prozent Export-und 17 Prozent Importanteilen der größte Handelspartner Finnlands.
II. Vom Europäischen Wirtschaftsraum zur Europäischen Union
Die erwähnten geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten wurden im Zuge der EU-Vorverhandlungen ganz besonders sorgfältig nach allen Seiten hin ausgelotet -mit dem Ergebnis, daß auf dem einheimischen Binnenmarkt die stattlich angewachsene Verschuldung, die ungünstige Veränderung im Arbeitskräfteangebot und im Außenhandel die neuen integrationsbedingten Marktverhältnisse sowie die neuen Nachbarschaften im Ostseeraum zu den wichtigsten Faktoren gehören. Zugleich sollte auch der Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung in der Russischen Föderation nicht außer acht gelassen werden, besonders in der etwa 15 Millionen Einwohner umfassenden nordwestlichen Region Rußlands mit der größten Metropole an der Ostsee -der 5, 5-Millionen-Stadt St. Petersburg.
Zunächst stellte sich die Frage, ob man den EWR verlassen sollte, um Vollmitglied in der EU zu werden. Man war sich im klaren, daß der EWR Beschlüsse der EU nur interpretieren konnte und sie zu akzeptieren hatte, er aber keinen direkten Einfluß auf die unmittelbare Beschlußfassung in den verschiedenen Organen der EU besaß. Außerhalb der EU und ihrer Normenbildung zu stehen würde für die lebenswichtige Exportindustrie Finnlands objektiv eine Schwächung durch vermehrte Markthindernisse bedeuten.
Eine Mitgliedschaft in der EU mußte finnischen Unternehmern die gleichen Rechte und den gleichen Schutz gewähren wie den übrigen, oft mit uns konkurrierenden Unternehmen der EU-Länder. Aus dem gemeinsamen EU-Raum heraus würden sich auch bessere Exportmöglichkeiten weltweit ergeben. Auch die Vorteile beim grenzüberschreitenden Binnenverkehr auf den Land-und Wasserstraßen stellen einen für uns wichtigen Preisfaktor dar.
Noch einschneidendere Wirkungen des EU-Beitritts sind auf anderen Gebieten zu erwarten. Bei der für Finnland historisch einmaligen Arbeitslosenrate von rd. 18 Prozent ist die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen eine unbedingte Notwendigkeit. Die erwähnte Umstrukturierung des Wirtschaftslebens ist noch in vollem Gange: Während beispielsweise bei Kriegsende der Anteil der ländlichen Bevölkerung noch etwa 30 Prozent ausmachte und der Anteil der Agrarproduktion am Bruttosozialprodukt bei etwa 20 Prozent lag, ist heute die Land-und Forstwirtschaft nur noch mit je drei Prozent vertreten. Zum Vergleich: 30 Prozent der Beschäftigten sind im Industrie-und Bausektor tätig, 65 Prozent im Sektor Dienstleistung und Transport.
Bei einem vorrangigen Platz im Export für die holzverarbeitende Industrie (Schwerpunkte Papier und Zellstoff), die Metallindustrie (führend in der Herstellung von Papiermaschinen und Spezial-schiffen) sowie die Elektronik müssen die durch eine erhöhte Effektivität freigewordenen Arbeitskräfte mittels großer Investitionen produktiv beschäftigt werden. Die EU-Mitgliedschaft, deren nicht unbedeutender Folgeeffekt Stabilität im Innern und Zugehörigkeit zu einem wohlstrukturierten Markt sein sollte, verspricht ein weiterhin günstiges Investitionsklima für EU-und internationale Anleger. Außer in der Land-und Forstwirtschaft sind größere Strukturanpassungen, die auf den Export Einfluß haben, jedoch nicht zu erwarten.Die seit mehreren Jahren sehr günstige Wachstumsrate der finnischen Produktion (1950-1994 im Durchschnitt 3, 6 Prozent, 1992-1994 sogar 5, 0 Prozent, Ende 1995 2, 5 Prozent) sowie die im Vergleich zur europäischen Durchschnittsrate (1994: 3, 8 Prozent) gemäßigte Inflationsrate von 1. 7 Prozent begünstigen Investitionsentschlüsse. Das allgemein hohe Ausbildungsniveau und die modernen Forschungs-und Entwicklungszentren (die nördlichsten High-Tech-Zentren Europas liegen in Oulu/Rovaniemi) bilden eine solide Basis für weitere Expansionen in verschiedenen Produktionseinrichtungen -auch zusammen mit anderen EU-Ländern.
Mit nur fünf Millionen Einwohnern stellt Finnland selbst lediglich einen begrenzten Markt dar, sowohl für die Eigenproduktion als auch für EU-und Drittländer. Es gilt also, die Produktionskosten zu drosseln und die durch die großen Entfernungen und das Klima bedingten Nachteile durch noch höhere Effizienz auszugleichen. In einer Hinsicht wird jedoch eine gewisse „Ineffizienz“ trotz des EU-Beitritts bestehen bleiben, und zwar in der Land-und Forstwirtschaft. Schon aus sicherheitspolitischen Gründen können große Flächen des Landes nicht entvölkert bzw. die eigene, unabhängige Lebensmittelversorgung gefährdet werden, indem man -aus Brüsseler Sicht unrentable -Einzelhöfe aufgibt. Charakteristisch für Finnland ist es ja, daß die landwirtschaftlich genutzte Fläche (8 Prozent, Wälder und Einöden hingegen 69 Prozent, Binnengewässer und Sümpfe rund 10 Prozent ausmachen. Der Waldbesitz (ausgenommen der staatlich verwaltete Wald im hohen, unbewohnten Norden) befindet sich zu über 80 Prozent in den Händen der bäuerlichen Bevölkerung, deren hauptsächlicher Reichtum somit „im Walde wächst“ und dessen Wert durch die Konjunktur der Welthandelspreise für Papier und Zellstoff bestimmt wird. Bei einem Holzbestand von 356 nr pro Einwohner und einem jährlichen Zuwachs von 14. 7 nf Holz pro Einwohner werden jährlich nur etwa 1, 8 Prozent des Waldbestandes industriell verwertet. Die Pflege des Waldes ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, sondern Herzenssache eines jeden Finnen.
Der bevorstehende Strukturwandel betrifft also weniger die Hauptsäulen der Industrie als den Übergang der landwirtschaftlichen Produktion zu neuen, hochwertigen Erzeugnissen. Die Abnahme der Besiedlung in den Grenzgebieten wird mit der Schaffung neuer mittelständischer und Kleinbetriebe durch Regional-und Strukturfonds der EU bereits aufgehalten. Da das Unternehmertum seit eh und jeh den Großteil unserer Wirtschaftsdynamik verkörpert hat, sind seine Kreativität und Einsatzbereitschaft in den heutigen Zeiten des Umbruchs besonders gefordert.
III. Finanzpolitik und Währungsunion
Nicht weniger wichtig für eine weitere Straffung der Anpassungsvoraussetzungen im Hinblick auf die Kriterien der EU ist die Angleichung der Finanz-und Währungspolitik an die Konvergenz-forderungen. Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für die Mitwirkung an der Ausarbeitung der Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) in allen ihren Aspekten. Noch „floatet“ die Finnmark (sie besteht als eigene Währung seit 1860), aber seit 1992 ist sie im Verhältnis zu den Leitwährungen zunehmend erstarkt. Die günstige Zahlungsbilanz der letzten Jahre hat es möglich gemacht, einen Teil der überhöhten Staatsschulden im Ausland abzutragen, und die Unternehmen beeilen sich, die Betriebe zu sanieren und sie auf die kommenden Reformen vorzubereiten. Sollen die Konvergenzbedingungen der WWU erfüllt werden -und dies ist die mehrfach in aller Klarheit ausgedrückte Absicht der Regierung -, so müßte die Finnmark schon 1996 oder spätestens Anfang 1997 fest an die starken Währungen gebunden werden, während die niedrige Inflationsrate und das relativ geringe Haushaltsdefizit -erreicht durch harte Sparmaßnahmen -den Kriterien genügen; allerdings bereitet die recht hohe Verschuldungsrate (Ziel: 60 Prozent; gegenwärtiger Stand: 64, 4 Prozent) doch erhebliche Sorgen. Es wird zu Recht betont, daß schon die Zielsetzung Finnlands, unter den ersten Staaten der EU zu sein, die der WWU beitreten, einen günstigen Einfluß auf die Ausrichtung der Budgetpolitik und die Handhabung der Staatsfinanzen ausübt. Nicht ganz zu Unrecht wird behauptet, daß das hohe Ziel der WWU/EU-Mitgliedschaft Finnlands als Vorwand für das Herunterfahren der bisherigen, mittlerweile zu kostspieligen sozialen Sicherheit dient. Das Beispiel des mit uns in diesem Sinne vergleichbaren, aber bedeutend reicheren Schweden macht deutlich, daß ein gerechtes, umfassendes soziales Sicherheitsnetz nicht auf einem Modell beruhen darf, das alle Jahre durch neue nationale oder internationale Anleihen aufgepolstert wird. Die überraschend große Arbeitslosigkeit und die jahrgangsbedingte große Zahl von rüstigen (und damit teuren) Rentnern beschleunigen auf ihre Weise die notwendigen, aber leider harten Sparbeschlüsse.
Die Frage des „Ob und Wie“ der Europäischen Währungsunion wird in der finnischen Presse seit Monaten eifrig diskutiert, und man verfolgt mit großem Interesse die Kommentare und Analysen dazu in der europäischen Öffentlichkeit. Die gegensätzlichen Ansichten, die von führenden Politikern und Ökonomen geäußert werden, scheinen darauf hinzuweisen, daß es sich um ein ganzes Knäuel von ungelösten Problemen handelt. Sowohl der Erfolg der globalen Effekte, der durch die Beschlüsse erzielt werden soll, als auch die Mittel zur Erreichung der gesteckten Ziele und zudem die Mechanismen, wodurch die WWU auch in Krisenzeiten der einzelnen Mitgliedstaaten (früher reguliert durch Auf-bzw. Abwertungen der eigenen Währung) gewährleistet werden soll, scheinen Gegenstand heftiger Dispute zu sein. Auch die Meinungsumfragen in vielen EU-Ländern vermitteln den Eindruck einer eher abwartenden oder gar mißtrauischen, emotionsgefärbten Einstellung zu den geplanten Maßnahmen.
Es ist also nicht nur eine wirtschaftliche und finanzielle Zweckmäßigkeit, deren Diktat die Maastricht-Staaten sich unterwerfen wollen, sondern die WWU als „Symbol“ hat -wie alle grundlegenden Integrationsschritte -wichtige „makropolitische“ Beweggründe, Ursachen und Ziele. Die kohimende Regierungskonferenz wird hoffentlich vieles klarstellen, und bis zum Jahre 2002 dürfte auch die endgültige Form und Funktionsweise der WWU -wenn sie, wie jetzt konzipiert, zustande kommt -präzisiert sein.
Man hofft, daß zugleich mit Finnland Schweden ebenfalls zu den ersten Ländern gehören wird, die an der WWU teilnehmen können. Am Rande ist dabei durchaus notiert worden, daß es denkbar wäre, zuerst für die WWU einen „harten Kern von einigen Staaten“ zu schaffen, damit die Durchführung der Währungsunion überhaupt möglich wird. In letzter Zeit hat man zudem in der Diskussion über den „harten Kern“ auch eine Koppelung des Problems der WWU mit der Osterweiterung der Union feststellen können. Ohne einen „harten Kern“, ohne (Teil-) WWU könnte es -so hört man -die Europäische Union einfach nicht wagen, neue, in ihrer inneren und wirtschaftlichen Entwicklung sehr ungleiche Staaten als Mitglieder aufzunehmen. Dieses objektiv richtige „westliche“ Problem stößt aber sehr schnell und hart auf ein entsprechendes „östliches“ -auf das des allgemeinen (nicht nur militärpolitischen) Sicherheitsbedürfnisses und der Stabilitätssehnsucht der dem Totalitarismus entronnenen Staaten und Völker. Einerseits bedeutet die EU-Mitgliedschaft für diese Staatengruppe die Expansion des bereits integrierten westlichen Wirtschaftsraums mit seiner finanz-und handelspolitischen Ordnung nach Mittel-und Osteuropa. Die mögliche stufenweise Integration in die EU ist andererseits für die neuen Mitglieder gleichzusetzen mit der Anerkennung, daß sie nun (wie in der OSZE oder dem Europarat -aber bedeutend stärker) wieder als vollwertige europäische Staaten akzeptiert werden; was umgekehrt heißt, daß sie eben nicht als solche Länder gelten wollen, die man aus Europa ausschließt, wodurch sie wieder „ost-europäisch“ werden und -in purer Konsequenz und ohne viel Aufhebens -dem Einflußgebiet der östlichen euro-asiatischen Kernwaffen-Großmacht und deren „legitimen Sicherheitsbedürfnissen“ (welche ja kleine und schwache Nachbarländer bekanntlich weder haben noch haben dürfen) zugeordnet werden. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint es für viele Politiker und Ökonomen angebracht, den europäischen Integrationsprozeß auf noch viel zahlreicheren, auch sicherheitspolitischen Ebenen zu analysieren. Man fragt sich auch, worauf die Dynamik der EU beruht, wer welche Zielsetzungen formuliert, um wirtschaftlichen und sozialen Zwängen zu genügen. In welchem Verhältnis steht das Gelingen der wirtschaftlichen Integration zur Wahrung künftiger sicherheitspolitischer Interessen ganz Europas, d. h. zur nächsten Entwicklungsphase der NATO, der WEU wie auch der OSZE?
IV. Die Bürger im Integrationsprozeß
Für Außenstehende erscheint die gewaltige Arbeit, die in Brüssel und in den Hauptstädten im Zuge der Integrationsbemühungen geleistet wird, durchaus überzeugend, wenn auch sehr abstrakt. Sie ist kaum in ihrer Ganzheit zu erfassen oder zu überblicken. Vieles, was für sechs oder zwölf Mitgliedstaaten noch „machbar“ war, läßt sich bei einer Erweiterung schwerlich -und vielleicht ist es auch nicht notwendig -millimetergenau und kunstgerecht in Direktiven bewältigen. Portugal oder Griechenland können kaum Finnland oder Schweden klimatisch oder geographisch bedingte Petitessen vorschreiben: Dies tun sie auch nicht, und ebensowenig umgekehrt. Das Prinzip einervernünftigen Subsidiarität erscheint also für uns Nordländer -an eigene Entschlußkraft gewöhnt und auf eigene Initiative vertrauend -als ein verläßliches Mittel, den gesunden Menschenverstand und die freiheitlichen Rechte eines unabhängigen Bürgers, der überdies in kommunaler und staatlicher Selbstverwaltung bestens geschult ist, weiterhin gelten zu lassen.
Schon die Bedürfnisse der nördlichsten Teile Finnlands mit den Möglichkeiten der südlichen Landesteile in Einklang zu bringen -und dies bei ständig wechselnden Welthandelskonjunkturen, Energiekosten und Ernteaussichten -ist ein Unterfangen, das jährlich durch Verhandlungen zwischen den Tarifparteien, im Parlament durch Budgetabstimmungen und dergleichen geregelt werden muß. Wie kann man also bei einer Erweiterung der EU vermeiden, daß fehlerhafte Beschlüsse zu Ungerechtigkeiten führen?
Weil man glaubt, daß die WWU eine wichtige Voraussetzung für eine weitere Tätigkeit der EU überhaupt ist, will man auch aus prinzipiellen Gründen und zur Stärkung der EU als Ganzes die Schaffung der WWU unterstützen. Eine im November 1995 durchgeführte Meinungsumfrage zur WWU ergab beispielsweise, daß die insgesamt noch relativ unbekannte WWU mit Vorbehalten positiv bewertet wurde, weil u. a. ein Preisvergleich zwischen Ländern und Waren bei einheitlicher Währung leichter würde (61 Prozent), Währungsrisiken vermieden (52 Prozent) und die wirtschaftlichen Prognosen exakter werden würden (43 Prozent). Man konnte sich dagegen nicht vorstellen, daß die WWU sich günstig auswirken könnte auf die Besteuerung (nur 20 Prozent waren dieser Meinung) oder auf die Verminderung der Arbeitslosigkeit (17 Prozent), die Verbesserung der Regionalpolitik (15 Prozent), den Anstieg des Lohneinkommens (10 Prozent nahmen es an) oder eine Stärkung der Rolle der Gewerkschaften (7 Prozent).
Diese Umfrage bestärkt den Eindruck der großen Nüchternheit, mit der sich die Finnen gegenüber der eigenen Lage, den Möglichkeiten Finnlands in der EU und den Institutionen der EU insgesamt verhalten. Es gibt keine Euphorie, aber auch keinen ausgesprochenen Pessimismus, hingegen recht viel Realismus. Das bisher überzeugendste Ergebnis des ersten EU-Jahres ist wohl die auf 1, 4 Milliarden Finnmark bezifferte Preisentlastung durch eine etwa zehnprozentige Preissenkung bei Lebensmitteln (teilweise hervorgerufen durch einen um zehn Prozent angestiegenen Import). Erfreulicherweise sind viele Studien-, Ausbildungs-, Austausch-und Forschungsprojekte jetzt durch von der EU geförderte Einrichtungen wie ERASMUS oder COMETT erweitert worden. Einige Städte und Landesteile haben den Rahmen der traditionellen Partnerschaften nach Skandinavien und Deutschland überschritten und gut funktionierende Euro-Region-Abkommen geschlossen (z. B. Oulu mit Baden-Württemberg, die Universität Oulu mit der Universität Ulm).
Hervorzuheben ist jedoch die Skepsis, mit der die Möglichkeit der Union bewertet wird, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Es war demzufolge einer der wichtigsten Wünsche, die Staats-präsident Athisaari und Ministerpräsident Lipponen zur Ratssitzung nach Madrid (Dezember 1995) mitnahmen, daß die Frage der Arbeitsbeschaffung auf die Agenda der Regierungskonferenz gesetzt werden sollte. „Die Wirtschafts-und Sozialpolitik der EU ist für den einzelnen Bürger keinesfalls überzeugend, wenn es heute schon in (West) Europa über 18 Millionen Arbeitslose gibt und eine ganze Generation vielleicht ein Leben lang keinen ständigen, der Ausbildung angemessenen Arbeitsplatz finden kann“ -so lautet eines der oft wiederholten Argumente der Euro-Zweifler.
Die theoretisch einwandfreien Bedingungen der Konvergenz werden wohl -sofern überhaupt erfüllbar -in der ersten Phase der WWU kaum zur schnellen Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit beitragen können. Soziale Konflikte innerhalb der EU werden durch das Dilemma verstärkt, immer mehr Mittel durch die Ost-Erweiterung in Anwärterländer abfließen zu lassen, wodurch die Möglichkeiten kompensatorischer Fonds zum Ausgleich der Arbeitslosigkeit im „Westen“ bzw. „Norden“ immer stärker begrenzt werden. Bei einem Ausbleiben effektiver Hilfe für die Anwärterstaaten droht aber eine noch größere sozialökonomische und politische Katastrophe, die die Union vor eine Zerreißprobe stellen würde, die auch die Zukunft Gesamteuropas nicht unberührt lassen könnte. Wo können die Milliarden an „Euros“ beschafft werden, damit die Völker Europas geeint zu Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit zurückfinden können? Welche Verantwortung ruht schon heute auf den europäischen Politikern, damit die „alte Kluft“ sich nicht in eine „neue“ der Enttäuschung, Unsicherheit und Verzweiflung wandelt? Ist das nur eine fiskalische Aufgabe? Oder noch härter gefragt: Was soll geschehen, um ein Scheitern der WWU-Pläne zu verhindern, wenn als Folge eines mißlungenen Versuchs das „freie“ Europa nur aus einer Gruppe von Kernländern bestehen würde, mit Stabilitätsund Katastrophenfonds für Randländer und einem guten Wort der Hoffnung für die übrigen? Es gilt also die Integrationspläne dem „Mann auf der Straße“ verständlich zu machen. Er soll begreifen können, daß ihm die EU heute und die WWU morgen persönlich Nutzen bringen wird. Private und staatliche Institutionen in Finnland betreiben daher eine weitgefächerte Informationsarbeit, die die Integrationsprojekte, die Funktionen der Kommission und des Rats, die Regierungskonferenz und schließlich die WWU insgesamt vorstellt. Aufklärung und Fakten helfen auch hier, Falschinformationen und Gerüchte zu bekämpfen. Die EU hat gewiß Gegner mit weitreichenden Zielen; auch über sie muß gesprochen werden. Mit Recht fragt der bekannte finnische Kolumnist und Diplomat Max Jakobson (in: Helsingin Sanomat vom 15. 12. 1995), „ob denn die Politiker heute nicht mehr ihren Macchiavelli lesen? Dieser warnte doch den Fürsten, daß nichts so schwierig wäre, wie die Einrichtung von neuen Institutionen, denn alle widersetzen sich ihnen: die einen, weil sie aus den alten Nutzen ziehen, die anderen, weil sie nicht wissen, ob sie aus den neuen etwas gewinnen werden. Niemand erkennt im voraus den wahren Nutzen der Neuerung.“ Jakobson meint auch, daß man in Finnland vielleicht die politische Bedeutung der WWU noch nicht voll erkannt habe, die aber für Finnland von größtem Gewicht sei: „Der beherrschende Einfluß Deutschlands in der Ostsee-Region ist eine Realität, ganz unabhängig davon, ob die WWU verwirklicht wird oder nicht. England und Frankreich, deren Ressourcen und strategischen Ziele nicht in unsere Region hineinreichen, können diese Realität nicht egalisieren.“ Jakobson ist der Ansicht, daß durch die Wiedervereinigung und durch die Hauptstadt Berlin Deutschland sich aus der „Umarmung“ Frankreichs und Englands gelöst und seine Stellung als die Zentralmacht Europas wieder eingenommen habe. Symbolisch hierfür sei das Angebot Bundeskanzler Kohls, durch und in der EU, durch die WWU mit Europa vereint zu bleiben. „Dieses entspräche auch den Interessen Finnlands“, folgert Jakobson, der viele Anhänger dieser Auffassung im Norden hat.
V. Der Ostseeraum als EU-Region
Die Erweiterung der EU ist ein europäisches „Muß“, sie ist die Schicksalsfrage der Sicherheit Europas überhaupt, betonte Staatspräsident Ahtisaari bei seinem Besuch in Brüssel Ende letzten Jahres und meinte damit auch den Nordosten unseres Kontinents. In diesem Zusammenhang ist eine andere wichtige, mit der europäischen Integration verknüpfte Aufgabe angesprochen worden: die der Sicherheit und Zusammenarbeit aller Länder rund um die Ostsee. Mit der energischen Unterstützung auch seitens der Bundesregierung und Bundesaußenminister Kinkels ist die Ostsee nunmehr zur „europaeigenen Region“, dem Mittelmeer gleichgestellt, erhoben worden; dies wurde jüngst in Madrid bestätigt. Der Ansatzpunkt für diesbezügliche Überlegungen in Finnland sind die bekannten Tatsachen unserer jüngsten Geschichte:
-Der Zusammenbruch der Sowjetünion, des Warschauer Paktes und des RWG;
-die Wiedervereinigung Deutschlands;
-die Rückführung der sowjetischen Truppen auch aus dem Baltikum (außer Kaliningrad) und die Wiedererstehung der 1940 durch die Sowjetunion okkupierten drei baltischen Staaten;
-der Beginn des sozioökonomischen Evolutionsprozesses in der Russischen Föderation mit Demokratisierungs-und marktwirtschaftlichen Entwicklungsansätzen;
-das Entstehen der GUS und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion (besonders Weißrußlands und der Ukraine);
-der Bürgerkrieg in Tschetschenien;
-das bosnische Drama.
Jeder der aufgezählten Punkte hat seine Bedeutung auch für Finnland, besonders aber eine bestimmte Entwicklung: An die Stelle der realsozialistischen Großmacht ist ein anderer, ebenfalls Kernwaffen besitzender Staat getreten, der sich in einem gewaltigen Wandlungsprozeß befindet, dessen innere Kohäsion, wirtschaftliche Kapazität, Handlungsmaximen und Absichten ungewiß und schwankend sind. Es sollte dies jedoch kein Vorwand sein, im Abseits die Entwicklung zum Besseren abzuwarten, sondern Finnland setzt darauf, schrittweise seine schon vorhandenen normalen, gutnachbarlichen und nützlichen Verbindungen sowohl zum Zentrum als auch besonders zu den benachbarten Gebieten und Wirtschaftsregionen weiter auszubauen. Finnland war der erste westliche Staat, der mit dem neuen Rußland schon 1992 einen Vertrag über den Ausbau von politischen Beziehungen schloß, auf den andere, etwa über die wirtschaftlichen Kontakte, folgten. Vom nördlichen Murmansk und der Kola-Halbinsel über Archangelsk und Russisch-Karelien (Petrozawodsk), Wologda und Nowgorod bis St. Petersburg bestehen seit Jahren immer festere lokale und regionale kooperative Beziehungen privat-und kommunalwirtschaftlicher Art zu Städten und neugegründeten privaten und genossenschaftlichen Betrieben in Stadt und Land.
Finnland hat aufgrund eines Rahmenabkommens mit Rußland gemeinsam ausgearbeitete langjährige Programme im erwähnten Grenzlandgebiet in Gang gesetzt. Hunderte von Gemeinschaftsunternehmen und Projekte im Werte von heute über 300 Millionen Finnmark (staatsgestützt) enthalten u. a. auch wichtige Elemente der Sicherheit (im weiteren Sinne des Wortes), wie z. B. Fernmeldesysteme zu russischen Kernkraftwerken, die im Gebiet Murmansk und bei St. Petersburg nur jeweils hundert Kilometer von der finnischen Grenze entfernt ihre risikoreiche Tätigkeit noch immer fortsetzen. Finnland hilft, die ungeheuren Umweltsünden des Sowjetsystems zu lindern, z. B. die Wasserschäden an einem der größten Seen Europas zu beseitigen -dem Ladoga-See. Die Reinigung der Newa und des östlichen Teils des Finnischen Meerbusens geschieht durch den von Finnland mitgeplanten und mitfinanzierten Ausbau der St. Petersburger Kanalisationsanlagen. Neue Filtrier-und Abgassysteme werden in Fabriken eingebaut, die teilweise auf ehemaligem finnischen Territorium entlang der Ostgrenze stehen. An mehreren von diesen Projekten sind heute auch internationale Finanzinstitute, wie die Weltbank EBRD (European Bank for Reconstruction and Development) und die Nordische Investitionsbank/NIB beteiligt oder werden durch TACIS-Mittel der EU ergänzt.
Rein kommerziell gehört Finnland mit einem Außenhandelsumsatz von 18, 6 Milliarden Finnmark (1994) zu den acht größten Handelspartnern und Investoren Rußlands. Rußland war seinerseits hinter der EU-Gruppe mit insgesamt 58 Prozent der zweitgrößte Handelspartner Finnlands (8, 9 Prozent).
Man ist in Finnland der Ansicht, daß die EU-Mitgliedschaft (die ja von Moskau in keiner Weise angefochten wird) zu einer Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen beiträgt. Die günstigen Transportverbindungen über die Ostsee zu modernen, gut ausgerüsteten finnischen Häfen, die hochentwickelte Infrastruktur, sichere Autostraßen und gleichspurige (mit Rußland) Eisenbahn-verbindungen schlagen eine bequeme Brücke nach St. Petersburg und über die Häfen am Bottnischen Meerbusen auch direkt in den Nordwesten Rußlands. Auch das 700 km weit von der Grenze entfernte Moskau ist gut erreichbar. Als Gateway zur EU funktioniert Finnland auch in der umgekehrten Richtung sowie als Basis gemeinsamer Projekte mit Drittländern (z. B. GUS-Staaten wie Kasachstan) und in Richtung der baltischen Staaten. Die noch immer besorgniserregende innere Situation in Rußland hat zur Folge gehabt, daß die finnischen Behörden die Zusammenarbeit sowohl mit den russischen Grenz-, Zoll-und Polizeistellen als auch mit Interpol verstärkt haben, um Waffen-, Drogen-und Menschenschmuggel nach und durch Finnland sowie terroristische Aktionen zu verhindern. Dabei sei erwähnt, daß der Strom einfacher russischer Bürger, die nach Finnland bloße Einkaufsreisen unternehmen, monatlich zunimmt (1995 etwa 200 000 Tagestouristen).
Der Wunsch Finnlands ist es, die demokratische, marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung in der russischen Gesellschaft schon jetzt konstruktiv zu stützen -im Vertrauen darauf, daß besonders in St. Petersburg alte europäische Traditionen, die geographische Nähe und die wirtschafts-und wissenschaftspolitischen Potentiale zusammen mit einer neuen Weltauffassung die jüngere Generation zu Offenheit und Kooperation mit dem Westen anspornen werden. Von gewissen russisch-nationalistischen Kreisen verbreitete Verdächtigungen, daß Finnland die im Krieg an die Sowjetunion verlorenen Landesteile, vor allem Karelien, zurückfordern wolle, werden in Finnland zurückgewiesen. Dies bestätigen auch die Meinungsumfragen und Aussagen von Politikern und hohen Militärs.
VI. Die baltischen Staaten gehören zu Europa
Besonders enge Beziehungen hat Finnland zu den wieder unabhängigen drei baltischen Staaten entwickelt, vor allem zu dem nur 80 bis 100 km südlicher gelegenen, historisch und ethnisch verwandten Estland. Die vielfältige grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die nur mit z. T. systembedingten und psychologisch begründeten Schwierigkeiten in bezug auf Rußland angelaufen ist, hat sich mit den baltischen Staaten -obwohl mit einigen Hindernissen -bedeutend günstiger entwickeln können. Während jährlich die Anzahl der Reisenden auf den Fähren zwischen Finnland und Schweden seit langem die Fünf-Millionen Grenze übersteigt, sind in diesem Jahr schon drei Millionen Finnen über Tallinn hauptsächlich nach Estland, aber auch über die Via Baltica nach Riga in Lettland, nach Litauen und weiter in Richtung Warschau gereist.
Die Bemühungen der finnischen Regierung, aber auch vieler Kommunen, Organisationen und Unternehmen zielen darauf ab, den Übergang der kleineren Staaten (Estland 1, 6, Lettland 2, 7 und Litauen 3, 7 Millionen Einwohner, Gesamtfläche 174 900 km 2, das entspricht 50 Prozent der Fläche Deutschlands) zu „westlichen" Verhältnissen so konstruktiv und effektiv mitzugestalten, daß sie in allernächster Zukunft die gesetzgeberischen, fiskalischen und sonstigen Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen können. Im Prinzip sind die Staaten bereits auf bestem Wege, denn durch Frei-handelsabkommen gehören sie bereits der EFTA an; dazu haben alle Euro-Abkommen mit Brüssel abgeschlossen. Die EU, die Weltbank usw. haben bereits Missionen vor Ort und betreuen die verschiedensten Projekte. Mit Genugtuung hat man in Finnland notiert, daß auf dem Madrider EU-Gipfel die baltischen Staaten, die alle die Vollmitgliedschaft beantragt haben, nicht als Anwärter „hintenan in die zweite oder dritte Reihe“ gestellt worden sind, sondern auf der gleichen Linie mit allen anderen Staaten stehen.
Eine besondere Aufgabe für die fünf nordischen Staaten, die ja die Selbständigkeit der Balten als erste anerkannt bzw. neu bestätigt hatten, besteht darin, die Erfahrungen des seit 1955 existierenden Nordischen Rates mit seinen erprobten Methoden und Arbeitsweisen den drei baltischen Staaten -nun im Baltischen Rat vereint -zu vermitteln. Dabei ist stets zu beachten, daß sich die drei Völker und Länder untereinander aus ethnischen, historischen, konfessionellen u. a. Gründen sehr unterscheiden und sie außerdem handelspolitisch Konkurrenten sind. Die Zusammenarbeit der „ 5 + 3“ -Staaten (Nordische Staaten und Baltikum) wird ergänzt durch den 1992 gegründeten Ostsee(anrainerstaaten) rat, zu welchem auch Deutschland, Polen und die Russische Föderation gehören (Abkürzung CBSS = Council of the Baltic Sea States).
Dank vielfältiger Initiativen, die noch Mitte der achtziger Jahre z. B. von den nördlichen Bundesländern (besonders Schleswig-Holstein) ausgegangen sind, hat jetzt durch die Nordost-Erweiterung der EU der gesamte Ostseeraum den Status einer „Europäischen Region“ erhalten. Für Finnland wie auch Schweden und Dänemark ergibt sich dadurch ein zusätzliches Instrument, um die Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten systematischer und mit größerem Ressourceneinsatz auszubauen und gleichzeitig als Hilfe zur Selbsthilfe die Voraussetzungen für die Umstrukturierung der Wirtschaft im Baltikum zu verbessern. Strategisch wichtig ist z. B. die Frage der Energie-versorgung im Ostseeraum durch den Bau eines Baltic Cercle für Stromtransfer, von neuen Öl-und Gasleitungen mit Nutzung regionaler wie örtlicher Energievorräte.
Es gilt, so schnell wie möglich Bedingungen zu schaffen, die für ein internationale Investitionen förderndes Klima günstig sind. Erst durch Zufluß von neuem Kapital kann jene Stabilität erreicht werden, die benötigt wird, um die durch Totalitarismus und Planwirtschaft entstandenen Schäden zu beheben. Dieses ist um so notwendiger, weil besonders in Estland und in Lettland als unerwünschtes Erbe der gezielten Russifizierungspolitik des Sowjetregimes in Estland bis zu 30 Prozent, in Lettland über 45 Prozent der Einwohner eingeschleuste ehemalige Sowjetbürger sind, unter ihnen gut 80 Prozent russischer Herkunft (nicht zu verwechseln mit den eigenständigen Minderheiten, die seit jeher die Staatsbürgerschaft besitzen). Diese wollen sich nur zu einem geringen Teil in die estnische oder lettische Kultur integrieren lassen, möchten aber auch nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren und haben meistens keinen ständigen Arbeitsplatz, weil die früheren Allunionsbetriebe zum größten Teil Stillstehen. Es liegt im Interesse aller Ostseeanrainer und der EU-Staaten, daß aus diesem -von der früheren sowjetischen imperialen Machtpolitik herrührenden -ethnischen Problem (das auch von den Menschenrechtsbevollmächtigten der OSZE und des Europarats beobachtet wird) keine Bedrohung der inneren Sicherheit dieser Staaten, aber auch nicht der allgemeinen Sicherheit im Ostseeraum erwächst. Gewisse nationalistische und großrussische Kreise, die eine „Integrierung“ oder „Anpassung Rußlands an Europa“ strikt ablehnen, nehmen den „völkerrechtwidrigen Status und die menschenunwürdige Behandlung der Russisch-sprechenden“ zum Vorwand, um auf Estland und Lettland politischen und wirtschaftlichen Druck auszuüben, der verstärkt wird durch Drohungen, „die Landsleute Rußlands“ mit Waffengewalt zu schützen, auch vor der „Gefahr, die von dem Vordringen der NATO ins Baltikum, vor die Tore St. Petersburgs“ ausgeht. Zu erwähnen wäre dabei, daß laut Vertrag über den Abzug der Sowjettruppen aus dem Baltikum noch etwa 80 000 ehemalige Armeeangehörige mit Familienmitgliedern privilegiert als russische Rentner und Mitbürger im Baltikum weiterleben können und dürfen.
VII. Sicherheitsaspekte im Nordosten Europas
Das reale Bedürfnis der baltischen Staaten, die Rückkehr zu Demokratie und Marktwirtschaft durch enge Kooperation und mit Hilfe der EU zu bewirken, wird aus den erwähnten Gründen ergänzt durch das Bestreben, ein größtmögliches Maß an militärischer Sicherheit durch Anlehnung an den Westen und die NATO (WEU) zu erhalten. Als „Vorstufe“ sind Verträge im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ unterzeichnet worden; die Streitkräfte erhalten Schulungen durch westliche Experten, und Einheiten beteiligen sich an NATO-Manövern wie auch an der Nordischen Brigade in Tuzla.
Für die Ostseeländer ist es nicht unwichtig, wenn in bezug auf Sicherheitsfragen unbedacht einem benachbarten Staat das Recht zugesprochen wird, in der Rolle einer sogenannten Ordnungsmacht (im Kaukasus, in Zentralasien) aufzutreten. Als solche maßt sie sich an, an ihre kleineren, jedoch souveränen Nachbarstaaten Ansprüche zu stellen, die sich auf „allgemein anerkannte Sicherheitsinteressen einer Weltmacht“ stützen. Wer definiert diese Interessen, fragt man sich im Baltikum, wie weit reichen sie dieses Mal geographisch, und wann wird die Aufteilung in Sphären der „legitimen Interessen“ wieder zum Verhandlungsobjekt zwischen anderen Staaten -über unsere Köpfe hinweg?
Es würde einen schweren Rückschlag für die Stabilisierung im nordöstlichen Ostseeraum bedeuten, wenn das westliche und nördliche Europa den baltischen Staaten in dieser Zeit nicht geeignete Hilfe leisten könnte; andernfalls würde eine unheilvolle Schwachstelle entstehen, die von Integrationsgegnern schnell und endgültig ausgenutzt werden würde. Nach den Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien wäre es für die EU-Anhänger im Norden eine herbe Enttäuschung, setzte sich nicht „in Brüsseler Kreisen“ die Einsicht durch, in Sicherheitsfragen, die die Ostseeregion als Ganzes betreffen, Festigkeit in den gemeinsam bezogenen Positionen und nüchternes Verantwortungsbewußtsein offen zu zeigen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, konsequente Maßnahmen, die Investitionen, Entwicklung und Stabilität im Wirtschafts-und Sicherheitskomplex betreffen, weiterhin energisch durchzuführen und nicht auf dem beschrittenen Wege zu zaudern Mit Blick auf den „höchsten Norden“ haben russische Militärs unlängst bestätigt, daß das nukleare Gleichgewicht „als Friedensgarantie der Welt“ und die Sicherheit Rußlands von der Stärke und Einsatzbereitschaft der russischen, mit Kernwaffen ausgerüsteten U-Bootflotte (und den strategischen Bombergeschwadern) abhängt. Murmansk mit seinen militärischen Nebenhäfen ist heute das wichtigste strategische Gebiet Rußlands, außerdem ausgestattet mit großen Kernkraftwerken und -leider sehr ungenügend geschützten -nuklearen Zwischen-und Endlagerstätten.
Im Zuge seiner Nachbarschaftspolitik betreibt Finnland seit langem und heute auf neuer Basis einen normalen Grenz-und Handelsverkehr mit Murmansk. Mit Erfolg wird wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Rußland und anderen Staaten zur Erschließung der Bodenschätze, der Erdöl-und Gasvorkommen auf der Halbinsel Kola, in der Barents-See und im Timano-Petschorsker Becken westlich vom Ural betrieben. Die EU-„Ostsee-Region“ wird „ergänzt“ durch die Tätigkeit der Parlamentarier und Experten aus acht Ländern -auch aus den USA und Kanada -im Arktischen Rat sowie in den Gremien des Rats der Barents-See-Region.
Finnland fühlt sich in seiner Sicherheit nicht bedroht. Es strebt -wie auch Schweden, dessen politische Einstellung für Finnland stets von großem Gewicht ist -keine Mitgliedschaft in der NATO an, weist aber eine Zusammenarbeit, wie z. B. in der „Partnerschaft für den Frieden“ (seit Mai 1994), nicht zurück. Die traditionelle Friedensbewahrung im Rahmen der UNO wird neuerdings durch den Einsatz eines finnischen Bataillons (im Kontingent der US-Truppen) als Teil der Nordischen Brigade auf neuer Basis erweitert. Unser Ziel ist es, weiterhin eine starke eigene Verteidigung überzeugend aufrechtzuerhalten, ohne militärische Allianzen einzugehen. Die von Finnland praktizierte Bündnisfreiheit ist als wichtiger Beitrag zur Aufrechterhaltung der Stabilität in Nordeuropa einzuschätzen. Diese Einstellung zur Hauptaufgabe der Streitkräfte Finnlands wird auch von der wehrpflichtigen Jugend mit Überzeugung mitgetragen. Die Sicherheit unserer Umgebung beschränkt sich allerdings nicht nur auf militärische Faktoren, sondern wird viel weitreichender aufgefaßt -hierzu gehören Umweltfragen und der Schutz vor Luft-und Wasserverschmutzung, die nukleare Sicherheit in Finnland und bei den Nachbarn, das Fortdauern von sozialen Spannungen, von Verbrechertum und Terrorismus, Menschenschmuggel, Drogen-und Waffenhandel. Die weitvernetzte und in vielen Bereichen schon Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit mit Nachbarländern und internationalen Organisationen, Rettungsdiensten auf dem Meer und in der Luft im Ostseeraum hat durch die neuen Organisationen der Ostsee-Region erweiterte Koordinations-und Finanzierungsmöglichkeiten bekommen, in welchen die „jüngeren Mitgliedsländer“ gerne zur Mitarbeit aufgefordert werden. Man hat in Finnland derzeit nicht das Gefühl, daß man von der fundamental wichtigen, durch mehrere Kriege verteidigten nationalen Unabhängigkeit einen Teil leichtfertig „an Brüssel“ abgegeben hätte. Die Möglichkeiten, weiterhin für die Bewahrung der Selbständigkeit nun in einem neuen, größeren Rahmen zu wirken, scheinen jedenfalls vielfältiger geworden zu sein. Hat Finnland bisher mehr an Souveränität verloren als etwa Dänemark, Irland, die Benelux-Staaten u. a.? Wieviel Selbstbestimmungsrecht würde andererseits Finnland in Zukunft vielleicht verlieren, bliebe es „außen vor“? Trotzdem ist es richtig, darauf hinzuweisen, daß in Meinungsumfragen (November 1995) mit bedeutender Mehrheit (über 60 Prozent) abgelehnt wird, daß die Beschlußfassung der EU-Organe in innen-und sozialpolitischen Fragen Finnlands erweitert würde; dasselbe gilt für Dänemark und Schweden (und ist auch eines der Hauptargumente gegen die EU-Mitgliedschaft in Norwegen). Teilweise schwer durchschaubare oder demokratisch ungenügend kontrollierte Behörden in „Brüssel“ sollten in diesen Bereichen kein Bestimmungsrecht besitzen, die Eigenart der einheimischen Strukturen nicht einengen oder abändern dürfen. Man ist im Norden vielmehr der Meinung, daß die moderne Staatengemeinschaft heute bedeutend mehr komplexe Aufgaben bewältigen kann (und auch muß) als je zuvor, aber daß dadurch das Gewicht der Nationalstaaten nicht kleiner werden muß. Die Europa-Idee dient der Zusammenarbeit, aber sie ersetzt nicht die innere Kraft, den Elan und das Gefühl der Zusammengehörigkeit des Volkes im Nationalstaat. Das Netz der starken, selbständigen Nationen -geeint in einem gemeinsamen Ziel -wird auch weiterhin das Fundament internationaler Systeme bilden -in diesem Falle der EU.
Die Union darf kein Klub von drei oder vier Groß-staaten sein, meinte Staatspräsident Ahtisaari, sondern kann nur dann als eine Union in Europa funktionieren, wenn sie von den Bürgern der einzelnen Mitgliedsländer mitgetragen und in ihrer Tätigkeit -dank vermehrter und ausreichender Transparenz und Aufklärung -begriffen und gutgeheißen wird. Aus dieser Sicht findet das Prinzip der Subsidiarität viel Verständnis und Unterstützung, weil es die Ziele der EU auf der realen Ebene der Bürger schärfer zu profilieren imstande ist.
VIII. Fazit
Das Selbstgefühl der Finnen ist erstarkt, stellte Max Jakobson (in einem Artikel zum Nationalfeiertag am 6. 12. 1995) fest, weil Finnland durch sein Ja zu Maastricht, durch die selbstgewählte EU-Mitgliedschaft als freier Staat zusammen mit den übrigen EU-Ländern in wichtigen, Europa betreffenden Fragen gleichberechtigt mitbestimmen kann. Hierzu gehört auch, daß die Finnen die Frage, ob eine EU-Mitgliedschaft ihr Gefühl der Stabilität und Sicherheit erhöhe, mit Ja beantworten. Unsere eigenen Bemühungen und Zielsetzungen scheinen denen der EU bisher zu entsprechen. Die durch ein marktgestütztes Wirtschaftswachstum erhöhte soziale Sicherheit vermehrt auch die innere Stabilität der demokratischen Mitgliedsländer und vergrößert ihre Möglichkeiten, sich an dem flexiblen und konstruktiven Prozeß in Europa zu beteiligen, der Sicherheit nicht gegen jemanden aufbaut, sondern Wohlstand und Schutz, Freiheit und Menschenwürde für die Europäer zum Ziele hat. Die Finnen wollen zu diesem historischen Prozeß des Übergangs zu neuen Formationen ihren Teil beitragen -wohl wissend, wo in Europa ihre Heimat ist und was sie zu geben vermögen.
Im zweiten Halbjahr 1999 steht Finnland die Präsidentschaft der Europäischen Union bevor, nach einer hoffentlich erfolgreichen Regierungskonferenz und mitten in der Periode der endgültigen Ausformung der WWU. Auch innenpolitisch wird es eine spannende Zeit werden: Auf die Parlamentswahlen im Frühjahr 1999 folgen im Herbst die Präsidentschaftswahlen, und Anfang 2000 finden die Kommunal-und EU-Abgeordnetenwahlen statt. Hoffentlich wird auch dann die Union den Erwartungen aller Europäer entsprechen.
Antti Karppinen, M. A., Botschafter a. D., geb. 1923; Studium der Germanistik, Slawistik und der vergleichenden Sprachwissenschaft sowie Volkswirtschaft in Helsinki; im diplomatischen Dienst tätig seit 1955, u. a. Generalkonsul in Leningrad 1973-1980, Botschafter in Prag 1980-1985 und in Bonn 1985 bis 1990; Vorstandsvorsitzender des PRO BALTICA FORUM Helsinki/Hamburg; Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung „Finnland-Institut in Deutschland“ Berlin/Helsinki. Veröffentlichungen u. a.: Zum Verhältnis Finnlands zur baltischen Region in: Boris Meissner/Dietrich A. Loeber/Cornelius Hasselblatt (Hrsg.), Außenpolitik der baltischen Staaten, Bibliotheca Baltica, Hamburg 1994.
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