Soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb innerhalb und außerhalb der Schule Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hessen und Sachsen-Anhalt | APuZ 11/1996 | bpb.de
Soziale Ungleichheiten beim Bildungserwerb innerhalb und außerhalb der Schule Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hessen und Sachsen-Anhalt
Peter Büchner/Heinz-Hermann Krüger
/ 21 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Das Problem der Ungleichheit der Bildungschancen stellt sich nicht nur beim schulischen Lernen, sondern auch im Rahmen von außerschulischen Lern-und Lebenszusammenhängen. In Anbetracht der Wechselwirkung zwischen Schule und Freizeit sowie zwischen schulischem und außerschulischem Lernen wird nicht selten übersehen, daß schulisches Lernen und Schulerfolg durch unterschiedliche und vor allem ungleiche Teilhabechancen an außerschulischen Lern-und Bildungsmöglichkeiten entscheidend (mit) beeinflußt wird. Unter Bezugnahme auf eine größere Schülerbefragung (N = 2663; Alter: 10 bis 15 Jahre) in Hessen und Sachsen-Anhalt werden deutsch-deutsch vergleichend Ergebnisse zur herkunftsbedingt ungleichen schulischen Bildungsbeteiligung, zur ungleichemVerteilung der Belastungen im Schul-und Lebensalltag sowie zu Ungleichheiten beim außerschulischen Bildungserwerb vorgestellt. Es zeigt sich, daß mit abnehmendem sozialen Status der Herkunftsfamilie die Chancen erheblich sinken, ein Gymnasium zu besuchen, ein vergleichsweise geringes Belastungspotential zu haben und an den besonders in Westdeutschland zahlreichen Freizeitangeboten (in Vereinen und anderen Institutionen) zu partizipieren. Im Vergleich zu den herkunftsbedingten Ungleichheiten sind die Ost-West-Unterschiede weniger eindeutig. Abschließend werden einige ausgewählte kinder-, jugend-und schulpolitische Reformperspektiven entwikkelt, die geeignet sind, die „eingeschlafene“ Chancengleichheitsdiskussion (schulbezogen und erweitert auf die Chancenstruktur beim außerschulischen Bildungserwerb) zu beleben, um die teilweise gravierenden Disparitätenprobleme in angemessener Form einer Lösung näher zu bringen.
I. Einleitung
Das Thema „Bildung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit“ hat vor allem in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren in der westdeutschen bildungspolitischen Diskussion eine große Rolle gespielt. Dabei ging es im wesentlichen um den von Hansgert Peisert und Ralf Dahrendorf empirisch belegten Zusammenhang von sozialer Lage und (ungleichen) schulischen Bildungschancen Die festgestellten sozialen Benachteiligungen wurden weitgehend an den eröffneten oder verwehrten Möglichkeiten des schulischen Bildungserwerbs (also z. B.der Chance, ein Gymnasium zu besuchen und einen entsprechenden Schulabschluß zu erreichen) festgemacht. Die Chancen des Bildungserwerbs in außerschulischen Lernzusammenhängen blieben hingegen eine Rahmengröße, die lediglich unter kompensatorischen Gesichtspunkten in den Blick kam: Die Schule sollte Bildungs-und Sozialisationsmöglichkeiten eröffnen, die z. B. aufgrund der Sozialisationsbedingungen in der Familie nicht gegeben waren
Zwar ist die Durchsetzung der Forderung nach mehr schulischer Chancengleichheit wichtig genug, um als solche auch weiterhin als vorrangiges bildungspolitisches Anliegen behandelt zu werden, aber sie muß dringend ergänzt werden um die Forderung nach mehr Chancengleichheit auch beim außerschulischen Lernen bzw. beim außerschulischen Bildungserwerb. Hier kommt es vor allem auf eine Verbesserung der Teilhabe-chancen bei bildungsrelevanten und sozialisationswirksamen Lernmöglichkeiten im außerschulischen Angebotszusammenhang (d. h. über den familialen Rahmen hinaus) an. In Anbetracht der vielfach sträflich vernachlässigten Wechselwirkung zwischen Schule und Freizeit und zwischen schulischem und außerschulischem Lernen wird häufig übersehen, daß das schulische Lernen und der Schulerfolg durch unterschiedliche und vor allem ungleiche Teilhabechancen an außerschulischen Lern-und Bildungsmöglichkeiten entscheidend (mit) beeinflußt wird. Dieser Zusammenhang hat in der Chancengleichheitsdiskussion bisher nur wenig Beachtung gefunden, obwohl gerade in letzter Zeit immer wieder Versuche der Kooperation von schulischer-und außerschulischer Bildungsarbeit zu beobachten sind und die Lebens-und Freizeitsituation von Schülerinnen und Schülern zunehmend auch in der Schulreformdiskussion eine Rolle spielt
Im vergangenen Jahrzehnt ist allerdings die Schule auch als zentrale Bezugsgröße nicht nur für den formalen Bildungs-und Berechtigungserwerb, sondern auch für den außerschulischen Lebensalltag und die damit verbundenen Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen thematisiert worden Die heutigen Heranwachsenden gehen nicht nur immer länger zur Schule. Vielmehr gewinnt die Schule auch als Lebensort, als Gleichaltrigentreff und als Ausgangsbasis für außerschulische soziale Kontakte („Verabredungen“) mehr und mehr an Bedeutung Gemeinsam mit den in diesem Zusammenhang wichtigen außerschulischen Institutionen für Kinder und Jugendliche (Angebote der Kinder-und Jugendarbeit, Vereine, Musik-und Malschulen usw.) kommt der Schule neben ihrer (formalen) Bildungsfunktion (im engeren Sinne) auch eine wichtige Sozialisationsfunktion zu, die deutlich über das schulische Unterrichtsgeschehen hinaus -ja sogar weit in den Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen hineinreicht Durch die Schule wird die gesamte biographische Entwicklung der Heranwachsenden ebenso wie die Gestaltung des außerschulischen Lebensalltags wesentlich beeinflußt, so daß wir insgesamt von einem entsprechenden komplexen Interdependenzverhältnis von Schule und außerschulischen Handlungszusammenhängen ausgehen müssen, bei dem der Schule eine wichtige Filterwirkung zukommt, die bislang kaum empirisch untersucht wurde.
Schulische Bildungskarrieren wurden zwar in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft analysiert nicht aber in ihrem Wechselwirkungsverhältnis zu außerschulischen Freizeitaktivitäten und damit verbundenen Chancenstrukturen. In dieser allgemeinen Diagnose stimmen sowohl Vertreter der Schulpädagogik und Schulforschung als auch der Kindheits-und Jugendforschung weitgehend überein. Trotzdem ist bei der Erforschung dieses Themas bislang noch ein weitgehend unverbundenes Nebeneinander von Schulforschung auf der einen sowie von Kindheits-und Jugendforschung auf der anderen Seite zu konstatieren Schule und außerschulischer Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen sind in der empirischen Forschung zwei einander fremde Welten, die durch eine entsprechende wissenschaftliche Arbeitsteilung mehr oder weniger getrennt voneinander betrachtet werden Nur wenige Arbeiten berücksichtigen Zusammenhänge zwischen schulischen und außerschulischen Lern-und Lebenswelten, indem sie sich mit den Folgen der Ausweitung des Schulbesuchs auf die Bildungsbiographien von Heranwachsenden, mit der Bedeutungszunahme von Phänomenen der Schulangst und des Leistungsversagens sowie mit dem Interdependenzverhältnis von schulischen und außerschulischen Bildungskarrieren beschäftigen
Im folgenden wollen wir auf der Basis einer größeren eigenen empirischen Untersuchung auf einige Aspekte des angesprochenen Wechselwirkungsverhältnisses von schulischem und außerschulischem Lernen eingehen. Eine der zentralen Ausgangshypothesen unserer Studie, die wir mit Hilfe einer schriftlichen Befragung von über 2 600 Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 10 und 15 Jahren in ausgewählten Regionen in einem alten und einem neuen Bundesland überprüft haben besagt, daß es herkunftsbedingte soziale Chancenungleichheiten nicht nur beim schulischen Lernen (gemessen an der besuchten Schulform, dem angezielten Schulabschluß sowie den schulischen Problembelastungspotentialen) gibt, sondern daß in Wechselwirkung dazu auch herkunftsbedingte Ungleichheiten beim außerschulischen Bildungserwerb existieren, die in ihrer Summe -möglicherweise auch kumulativ -wirksam sind und dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit beim Erreichen eines gewünschten Bildungsniveaus im Wege stehen.
Wir wollen im folgenden aufzeigen, welche Ungleichheiten
-bei der schulischen Bildungsbeteiligung in West-und Ostdeutschland (nach wie vor)
erkennbar sind, -durch spezifische schulische Belastungspotentiale im Kinder-und Jugendleben gegeben sind und -es im Feld des außerschulischen Bildungserwerbs gibt.
Abschließend wollen wir dann einige kindheitsund schulpolitische Konsequenzen diskutieren, die sich aus unseren Untersuchungsergebnissen ableiten lassen.
II. Bildungsexpansion und fortbestehende Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung
Abbildung 7
Graphik 2: Besuchte Schulform nach sozialer Stellung der Herkunftsfamilie in Westdeutschland (Klassen 7-9)
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
Graphik 2: Besuchte Schulform nach sozialer Stellung der Herkunftsfamilie in Westdeutschland (Klassen 7-9)
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
In unserer Studie entsprechen die relativen Schulbesuchsquoten dem allgemeinen Trend, der auch nach der Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte für die neunziger Jahre bundesweit gilt. 1991 besuchten in der alten Bundesrepublik fast ein Drittel aller Vierzehnjährigen ein Gymnasium und nach der Vereinigung hat sich diese Entwicklungstendenz auch in den neuen Bundesländern durchgesetzt. Umgekehrt wird die Hauptschule in den Stadtstaaten ebenso wie in etlichen anderen Groß-, aber auch Mittelstädten gegenwärtig nur noch von bis 20 Prozent der 10-bis 16jährigen besucht 12.
Unterhalb dieser allgemeinen Trends gibt es jedoch auch wohnortabhängige Ungleichheiten bei der Bildungsbeteiligung, die in unsere Studie eingegangen sind. So besuchen nach Angaben der zuständigen Staatlichen Schulämter über 40 Prozent der 10-bis 15jährigen Schülerinnen und Schüler in den Großstädten Frankfurt am Main und Halle ein Gymnasium, während in der untersuchten ländlichen Region in Hessen nur gut 24 Prozent und in der ausgewählten ländlichen Region in Sachsen-Anhalt sogar nur knapp 17 Prozent der Schülerinnen und Schüler dieser Altersgruppe ein Gymnasium besuchen Dieses Stadt-Land-Gefälle finden wir bei den Hauptschulbesuchsquoten in den untersuchten Regionen in West-und Ostdeutschland nicht. Sowohl im großstädtischen als auch im ländlichen Raum in Hessen wurde die Hauptschule von etwa 15 Prozent der 10-bis 15jährigen besucht. In den Untersuchungsregionen in Sachsen-Anhalt sind es etwa 10 Prozent der betreffende Prozent der 10-bis 15jährigen besucht. In den Untersuchungsregionen in Sachsen-Anhalt sind es etwa 10 Prozent der betreffenden Schüler-jahrgänge, die zur Hauptschule gehen.
Daß insbesondere in den neuen Bundesländern die Hauptschule auf dem Wege ist, eine Schule für ganz kleine Minderheiten zu werden 14, hängt sicherlich damit zusammen, daß in den meisten neuen Bundesländern im Zuge der partiellen Implementierung des westdeutschen Schulsystems seit 1991 kein dreigliedriges Bildungswesen eingeführt wurde. Hier sind neben den Gymnasien nur sogenannte Mittelschulen bzw. Sekundarschulen eingerichtet worden, in denen in einer Schule ein Realschulbildungsgang und ein Hauptschulbildungsgang parallel angeboten werden. Die Folge ist, daß der Hauptschulbildungsgang noch weiter abgewertet wird und die meisten Schülerinnen und Schüler zumindest den Realschulbildungsgang durchlaufen wollen.
Eine Auswertung der Ergebnisse unserer Untersuchung zu den Schulbesuchsquoten unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten bestätigt den aus anderen Studien 15 bekannten Trend, wonach die Mädchen beim Gymnasialbesuch und beim Anstreben des Abiturs -in Ostdeutschland noch deutlicher als in Westdeutschland -den Jungen überlegen sind. Das beeindruckende Ausmaß der Bildungsexpansion hat für die Mädchen eine enorme Verbesserung ihrer Bildungschancen (vor allem im allgemeinbildenden Schulwesen) zur Folge gehabt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß im Gegensatz dazu die sozialen Ungleichheitsstrukturen bei der Bildungsbeteiligung weitgehend konstant geblieben sind.
Was Rainer Geißler als allgemeine Tendenz für die alten Bundesländer festgestellt hat, findet sich auch in unseren Daten wieder: Die Auslese im allgemeinbildenden Schulsystem ist keinesfalls ausschließlich Auslese aufgrund von schulischen Leistungen, sondern auch -gewollt, geduldet oder ungewollt -soziale Auslese. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn man die Bildungsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler nach der sozialen Stellung der Herkunftsfamilie im Ost-West-Vergleich differenziert analysiert (vgl. die Graphiken 1 und 2).
Die Graphiken zeigen, daß von denjenigen Schülerinnen und Schülern, die sich im 7. bis 9. Jahrgang befinden und die aus Familien mit hohem sozialen Status kommen, über 80 Prozent ein Gymnasium besuchen. Dieses Schulwahlverhalten findet sich in West-und Ostdeutschland in fast identischer Ausprägung. Für die neuen Bundesländer können wir somit einerseits vermuten, daß es zu einer schnellen Angleichung an die in Westdeutschland schon länger bekannten herkunftsbedingten Chancenungleichheiten im Bildungswesen gekommen ist. Andererseits darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Bildungssystem der DDR in den achtziger Jahren bereits in hohem Maße sozial selektiv war so daß im aktuellen Schulwahlverhalten der Eltern vielleicht auch nur tradierte Einstellungsmuster fortgeschrieben werden. Mit sinkendem Sozialstatus der Herkunftsfamilie sinkt dann sehr deutlich der Anteil derjenigen, die ihre Schulzeit in diesem Alter in einem Gymnasium verbringen. In der niedrigen sozialen Status-gruppe sind es in Westdeutschland nur noch 13, 7 Prozent der Befragten, die ein Gymnasium besuchen. In Ostdeutschland sind es sogar nur noch 2, 5 Prozent. Umgekehrt verhält es sich beim Hauptschulbesuch. Eine Hauptschule besuchen 12, 7 Prozent aller ostdeutschen und 40, 7 Prozentaller westdeutschen Kinder und jungen Jugendlichen aus der niedrigen sozialen Statusgruppe, während nur 2, 6 Prozent der westdeutschen und 0 Prozent der ostdeutschen Heranwachsenden aus Familien mit hohem sozialem Status zur Hauptschule gehen. Wir stellen also fest, daß die herkunftsbedingte Chancenungleichheit bei der Bildungsbeteiligung in den von uns untersuchten Regionen in Sachsen-Anhalt sogar noch extremer ist, als wir sie schon seit vielen Jahren in Westdeutschland kennen.
Dieses Ergebnis läßt sich sicherlich vor dem Hintergrund erklären, daß das Abitur in der DDR nur einer Minderheit von 10 bis 12 Prozent eines Altersjahrgangs vorbehalten war und daß in Sachsen-Anhalt zum Zeitpunkt der Befragung (im Jahre 1993) im Unterschied zu Hessen kaum integrative Schulformen in Gestalt von Förderstufen oder integrierten Gesamtschulen existierten. Denn Gesamtschulen tragen -das zeigen unsere Ergebnisse aus Hessen -dazu bei, weiterführende Schullaufbahnen auch für Kinder und junge Jugendliche zu ermöglichen, deren Eltern vergleichsweise geringe Bildungsaspirationen in den schulischen Ausleseprozeß einbringen.
III. Ungleiche Belastungen im Schulalltag
Abbildung 8
Graphik 3: Schulbezogene Problemlagen nach sozialem Status (in Prozent)
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
Graphik 3: Schulbezogene Problemlagen nach sozialem Status (in Prozent)
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
Eine zweite Ebene, auf der herkunftsbedingte Ungleichheitsmuster im Rahmen der Chancengleichheitsdiskussion untersucht werden müssen, ist die Ebene der objektiv gegebenen und auch subjektiv in bestimmter Weise wahrgenommenen Belastungen. Dabei gilt es, unsere Daten im Sinne unserer Ausgangshypothese daraufhin zu prüfen, ob sich auch hier Ungleichheiten in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft der von uns befragten Kinder und jungen Jugendlichen zeigen.
Als erstes haben wir zu klären versucht, ob bei den Befragten überhaupt bestimmte schulbezogene Problemlagen aufgetreten sind, um dann die Antworten in Abhängigkeit vom sozialen Status der Herkunftsfamilie auswerten zu können. Als schulbezogene Problemlagen, aus denen sich (in unterschiedlicher Form wahrgenommene) Belastungen ergeben können, haben wir dabei folgende „Tatbestände“ definiert: Nichtaufnahme in der Wunsch-schule, Klassenwiederholung, Versetzungsgefährdung, Schulwechsel und die Notwendigkeit von Nachhilfeunterricht.
Es zeigt sich zunächst im Ost-West-Vergleich, daß trotz der wendebedingten Veränderungen im Schulsystem der neuen Bundesländer ein Schulwechsel nur bei einem Viertel der Befragten vorgekommen ist; dies ist nicht wesentlich öfter als in den alten Bundesländern, wo ein Fünftel der Befragten von einem solchen Einschnitt berichten. Die Mehrheit der ostdeutschen Schülerinnen und Schüler wurde also zumindest bis zum Untersuchungszeitpunkt im Jahre 1993 weiter in ihren alten Schulen unterrichtet.
Interessant ist auch, daß in Sachsen-Anhalt nur 13, 4 Prozent der Befragten Nachhilfeunterricht haben, während in Hessen 21, 2 Prozent angeben, Nachhilfestunden zu bekommen. Offensichtlich ist vor allem die kommerziell organisierte Nachhilfe in den neuen Bundesländern noch nicht so sehr verbreitet wie im Westen, und die höhere Bildungsaspiration der Eltern hat ebenfalls noch nicht die Ausmaße erreicht, wie wir sie in den alten Bundesländern seit einiger Zeit kennen. Ähnlich wie im Freizeitsektor sind ostdeutsche Eltern zudem nicht gewöhnt, für derartige Dienstleistungen private finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Betrachtet man das Antwortverhalten aller Befragten in Abhängigkeit vom sozialen Status der Herkunftsfamilie, dann bestätigt sich unsere Vermutung, daß Kinder und junge Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialen Status deutlich stärker von allen genannten schulischen Problem-lagen (Klassenwiederholung, Nichtaufnahme in der Wunschschule, Schulwechsel, Versetzungsgefährdung, Nachhilfeunterricht) betroffen sind als Befragte aus der hohen sozialen Statusgruppe (vgl. Graphik 3).
Da mehr Kinder aus Familien mit niedrigem sozialen Status zudem (im Vergleich zu denjenigen aus Familien mit hohem sozialen Status) aufgrund ihrer subjektiven Wahrnehmung von sich sagen, -daß sie in der Schule weniger zustande bringen als andere (im Osten sagen das etwa 7 Prozent mehr und im Westen 12 Prozent mehr) und -daß die Lehrer so richtig eigentlich nie mit ihnen zufrieden sind, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen (im Osten 15 Prozent mehr, im Westen 14 Prozent mehr), wird deutlich, daß neben der faktischen größeren Betroffenheit durch schulbezogene Problemlagen auch die subjektive Wahrnehmung ihrer besonderen Betroffenheit und ihrer persönlichen Erfolgschancen ein Faktor ist, der in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden muß. Die Vermutung, daß die subjektiv wahrgenommene Belastung mit dem sozialen Status positiv korreliert, wird zusätzlich durch die Angaben der Befragten aus der unteren sozialen Statusgruppe bestätigt, die deutlich häufiger angeben, Angst zu haben, den Schulabschluß nicht zu schaffen. Immerhin 65 Prozent dieser Befragten im Osten und 49 Prozent der Befragten im Westen sind (eher) dieser Meinung.
Eine weitere Ebene der subjektiv wahrgenommenen Belastung sind die allgemeinen Sorgen, die sich Kinder und Jugendliche über Schule und über ihr Abschneiden beim schulischen Leistungswettbewerb machen. Die auch in unserer Studie deutlich werdenden hohen Bildungsaspirationen von Eltern und Heranwachsenden sind für den Westen Deutschlands schon seit längerem von Klaus Hurrelmann u. a. mit entsprechenden Folgeerscheinungen (stärkerer schulischer Belastungsdruck sowie spezifische psychosomatische Reaktionen auf entsprechend hohe schulische Leistungsanforderungen) in Verbindung gebracht werden (vgl. Graphik 4).
Während („nur") knapp ein Fünftel der ostdeutschen Befragten -von den westdeutschen Befragten sind es etwa 20 Prozent weniger -die Sorge artikuliert, weniger zustande zu bringen als andere, und Angst vor der Unzufriedenheit der Lehrer mit ihren Schulleistungen hat, sind es immerhin rund ein Drittel der befragten 10-bis 15jährigen in Ostdeutschland und über ein Fünftel in Westdeutschland, die sagen, daß sie abends im Bett Angst vor dem Abschneiden am nächsten Schultag haben und daß sie vor Prüfungen und Klassenarbeiten oft Magenschmerzen haben. Noch ausgeprägter ist bei den befragten Kindern die Sorge, in der Zukunft die Schule nicht zu schaffen. Diese Angst wird von fast der Hälfte der ostdeutschen und von knapp einem Drittel der westdeutschen Heranwachsenden artikuliert. Daß insbesondere die ostdeutschen Schülerinnen und Schüler so große biographische Verunsicherungen im Hinblick auf ihre weitere Schullaufbahn zeigen, hängt sicherlich auch mit den gestiegenen Bildungsaspirationen, vor allem aber mit der Tatsache zusammen, daß sie sich innerhalb weniger Jahre auf ein völlig anders strukturiertes, ihnen vorher unbekanntes Bildungssystem einstellen mußten.
Die Auswertung unserer Daten unter Altersgesichtspunkten zeigt das überraschende Ergebnis, daß der von den Befragten wahrgenommene Grad an allgemeiner schulischer Belastung mit zunehmendem Alter zurückgeht. Besonders deutlich wird dies bei der alltäglichen Schul-bzw. Prüfungsangst. die von knapp einem Drittel der 10-bis 12jährigen als zentraler Sorgenbereich genannt wird. Bei den 14-bis 15jährigen halbiert sich dieser Wert. Offenbar ist bei den Älteren ein Gewöhnungseffekt an die schulischen Leistungs-und Prüfungsrituale eingetreten, während sich die Jüngeren, die gerade den Schulwechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe I hinter sich gebracht haben, noch auf die veränderten Leistungsanforderungen der verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I einstellen müssen. Da Förderstufenkinder relativ hohe Schulangstwerte haben, liegt der Schluß nahe, daß der Leistungsdruck dort -entgegen der erklärten schulpädagogischen Absicht -höher ist als gemeinhin angenommen wird. Da sich auf der anderen Seite Gesamtschülerinnen und Gesamtschüler im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern aller anderen Schulformen am wenigsten Sorgen darüber machen, wie sie am nächsten Tag in der Schule abschneiden werden und ob sie in Zukunft „ihre Schule schaffen“, müßte die äußere Differenzierungspraxis in hessischen Förderstufen als Einflußgröße bei künftigen Untersuchungen dieser Art noch sehr viel genauer überprüft werden.
Interessante Befunde ergibt die Auswertung der Antworten zum Thema „Schul-und Prüfungsangst“ bei herkunftsbezogener Betrachtung. Daß die schlechten Schülerinnen und Schüler bei diesen Aussagen deutlich mehr Sorgen artikulieren als die guten, entspricht dem erwarteten Antwort-verhalten. Daß aber Befragte aus der höheren sozialen Statusgruppe durchweg deutlich geringere „Sorgen“ -Werte haben als diejenigen aus der niedrigen sozialen Statusgruppe, deutet darauf hin, daß die soziale Herkunft der Befragten eine gewichtige Einflußvariable für das Auftreten von Schulangst und Angst vor schulischem Leistungsversagen ist.
Die Heranwachsenden aus der niedrigen sozialen Statusgruppe sind somit nicht nur beim Besuch höherer Bildungsgänge deutlich benachteiligt. Auch die Schulform, die sie de facto besuchen, erleben sie -wie die Schule insgesamt -als deutlich stärker belastend als Kinder und junge Jugendliche aus Familien mit hohem sozialen Status. Daß sich eine solche subjektiv wahrgenommene Belastung wahrscheinlich negativ auf das gesamte Schulerleben und auf die Einstellung zum schulischen und außerschulischen Lernen auswirkt, liegt auf der Hand.
IV. Ungleichheiten beim außerschulischen Bildungserwerb
Abbildung 9
Graphik 4: Subjektiv wahrgenommene schulische Belastung im Ost-West-Vergleich
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
Graphik 4: Subjektiv wahrgenommene schulische Belastung im Ost-West-Vergleich
Quelle: Eigene Projektdaten aus der Schülerbefragung (Klassen 5-9) in Hessen und Sachsen-Anhalt (1993)
Die auf die schulische Bildungsbeteiligung konzentrierte Ungleichheitsforschung hat den Tatbestand des außerschulischen Bildungserwerbs und den dort in unterschiedlichem Ausmaß gegebenen Möglichkeiten zur Aneignung von kulturellem und sozialem Kapital bislang wenig berücksichtigt. Eine derart reduzierte Sichtweise übersieht die in vielerlei Hinsicht ebenfalls ungleichheitsrelevante Wechselwirkung zwischen schulischem und außerschulischem Lernen. Schon bei der Einschulung kann davon ausgegangen werden, daß Kinder aus bildungsnäheren Elternhäusern erste Lese-und Rechenfertigkeiten quasi als „Einstiegskapital“ mitbringen. Und auch mit der Wahl einer weiterführenden Schulform ist -wie die Ergebnisse unserer qualitativen Studie zeigen -in den meisten Fällen die Wahl eines entsprechenden außerschulischen Lern-, Lebens-und damit Sozialisationszusammenhanges verbunden, der auf das schulische Lernen und den schulischen Lernerfolg zurückwirkt Drei ausgewählte Gesichtspunkte des außerschulischen Bildungserwerbs -die Musik-orientierung, die Medienzentrierung und die Einbindung in Vereinsaktivitäten -und die damit verbundene Aneignung kulturellen und sozialen Kapitals sollen nun auf der Basis unserer Befragungsergebnisse etwas genauer betrachtet werden.
Als ein wichtiger Indikator für eine an dn Normen der schulischen Lerninhalte ausgerichtete Bildungsorientierung im außerschulischen Lebenszusammenhang kann z. B. das Musizieren angesehen werden. 22,5 Prozent der Befragten in Ostdeutschland und rund 40 Prozent aller Befragten in Westdeutschland spielen selbst ein Musikinstrument. Entsprechende Unterschiede kommen hier somit bereits beim Ost-West-Vergleich zum Vorschein. Die Chance, ein Musikinstrument erlernen und spielen zu können, ist in Ost-und Westdeutschland bei Kindern aus Familien mit hohem sozialen Status erheblich größer als bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status.
Untersucht man in einem zweiten Schritt diese herkunftsbedingte Chancenungleichheit noch genauer und fragt, um welche Musikinstrumente es sich im einzelnen handelt, so wird deutlich, daß die , klassischen Musikinstrumente Klavier und Geige besonders häufig von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit hohem sozialen Status erlernt werden. Bei anderen Musikinstrumenten (z. B. Gitarre, Keyboard) fallen die herkunftsbedingten Unterschiede weniger ins Gewicht.
Genau umgekehrt zu dieser Form der Musikorientierung des Freizeitverhaltens stellt sich die Situation dar, wenn man nach der Medienzentrierung des Freizeitverhaltens fragt. Hier zeigt sich in Ost-und Westdeutschland gleichermaßen die Tendenz, daß Kinder und junge Jugendliche mit einem hohen Ausstattungsniveau des Kinderzimmers mit elektronischen Medien (in erster Linie mit eigenen Fernsehgeräten) und mit einer besonders ausgeprägten Medienzentrierung ihres Freizeitverhaltens (gemessen am Fernsehkonsum) vor allem aus Familien mit niedrigem sozialen Status kommen und eher die Hauptschule besuchen als ein Gymnasium. Eine stärkere musische Ausrichtung des Freizeit-verhaltens nützt -unter schulischen Leistungsgesichtspunkten -nicht nur dem individuellen „Ansehen“ (z. B. als Mitglied des Schulorchesters); über das eigentliche Musizieren hinaus ergeben sich -quasi nebenbei -auch „nützliche“ soziale und kulturelle Lernmöglichkeiten. Demgegenüber dürfte eine stärkere Medienzentrierung des Frei-zeitverhaltens eher kontraproduktiv für eine (schul ) bildungsorientierte außerschulische Lebens-praxis sein. Wenn dies so ist, muß das herkunftsbedingt unterschiedliche Freizeitverhalten von Schülerinnen und Schülern auch unter Chancengleichheitsgesichtspunkten stärker berücksichtigt werden als bisher. So kommt es z. B. darauf an, die Teilhabechancen an bildungsrelevanten und sozialisationswirksamen außerschulischen Lernangeboten so zu verbessern, daß die beobachtbaren herkunftsbedingten Disparitäten nicht mehr zum Tragen kommen. Gleichzeitig ist auch die Frage der (schulischen) Bildungsrelevanz von Freizeitaktivitäten im Hinblick auf die schulischen Bildungsnormen kritisch zu beleuchten.
Ein weiterer wichtiger außerschulischer Handlungszusammenhang mit Relevanz für den Erwerb kulturellen und sozialen Kapitals sind die außerschulisch gegebenen Chancen zur Aneignung von allgemeinen sozialen Schlüsselqualifikationen. Dazu gehören z. B. ein kompetentes und selbständiges Zeitmanagement, Planungs-und Konfliktlösungskompetenzen, ein sozial verträgliches Durchsetzungsvermögen oder der angemessene Umgang mit Informations-und Beratungsangeboten, die im Zusammenhang mit dem Eingebundensein in die Bildungsangebote und Aktivitäten von Vereinen und anderen Institutionen angeeignet werden können. Eine Auswertung der hierfür relevanten Indikatorfragen , feste Termine in der Woche 1 und Vereinsmitgliedschaften bei Kindern und Jugendlichen zeigt zum einen große Ost-West-Unterschiede. So nehmen die Kinder und Jugendlichen in Westdeutschland durchschnittlich in der Woche mehr als 2, 5 Termine wahr, während die ostdeutschen Altersgleichen nur einen festen Termin pro Woche haben. Und während in Westdeutschland über 70 Prozent der Befragten in einem oder mehreren Vereinen sind, sind es in Ostdeutschland nur knapp die Hälfte der Befragten.
Über diese Ost-West-Unterschiede hinaus wird deutlich, daß die Termindichte pro Woche und die Mitgliedschaft in Vereinen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und der besuchten Schulform differiert. Kinder und junge Jugendliche aus den hohen sozialen Statusgruppen, die zumeist auch das Gymnasium besuchen, haben in Westdeutschland und in ähnlich ausgeprägter Tendenz auch in Ostdeutschland die meisten Termine und sind am stärksten in die Aktivitäten des Vereinslebens eingebunden. Zu befürchten ist somit nicht nur -und unsere Ergebnisse weisen in diese Richtung daß ähnlich wie im Westen Deutschlands auch in den neuen Bundesländern eine starke soziale Polarisierung bei Kindern und Jugendlichen entsteht. Auf der einen Seite finden wir Kinder und Jugendliche, die über entsprechende Nutzungskompetenzen bei Freizeitangeboten verfügen und die sich vor allem auch teure Freizeitaktivitäten, wie den Besuch von Musikschulen oder Ballettunterricht oder den Einstieg in attraktive moderne Sportarten, leisten können. Auf der anderen Seite steht die Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die nicht über entsprechende Nutzungskompetenzen verfügt oder die kein Geld für die Aneignung dieser Kompetenzen investiert.
Insgesamt sind die Heranwachsenden in Ostdeutschland im Vergleich zu ihren westdeutschen Altersgenossen aufgrund geringerer Freizeitangebote durch Kommunen, Verbände und Vereine auch strukturell benachteiligt, da sie weniger Möglichkeiten zu einem vergleichbaren kulturellen und sozialen Kapitalerwerb im Freizeitbereich haben.
Die herkunftsbedingt ungleiche Beteiligung von Kindern und jungen Jugendlichen an derartigen Freizeitangeboten ist jedoch insgesamt ein Tatbestand, der auch unter Chancengleichheitsgesichtspunkten stärker diskutiert werden muß.
V. Kinder-Jugend-und schulpolitische Perspektiven
Abschließend wollen wir in aller Kürze noch einige Gedanken formulieren, welche sich auf die Herausforderungen beziehen, die sich aus den Ergebnissen unserer Studie für die Kinder-, Jugend-und Bildungspolitik in Deutschland ergeben. In diesem Zusammenhang wollen wir exemplarisch vier wichtige Reformbereiche benennen.
Erstens: Die in unserer Studie deutlich werdenden Trends des relativen Schulbesuchs unterstreichen die sich bundesweit abzeichnende Entwicklung, die sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern in den zunehmenden Besuchsquoten der höheren Bildungsgänge zum Ausdruck kommt, während die Hauptschule auf dem Weg ist, eine „Restschule“ für Minderheiten zu werden. Bildungspolitisch sinnvoll scheint uns vor diesem Hintergrund die Einrichtung von integrierten Mittelschulen bzw. Sekundarschulen sowie auf Eltern-wunsch auch die Einrichtung von integrierten Gesamtschulen zu sein, die zugleich die Möglichkeiten bieten, der aufgezeigten hohen sozialen Selektivität des dreigliedrigen allgemeinbildenden Schulsystems strukturell entgegenzuwirken. Der Trend zu stärker integrierten Schulformen wird sich in den neuen Bundesländern auch zwangsläufig aus dem gegenwärtigen dramatischen Geburtenrückgang ergeben, vor allem dann, wenn man am bildungs-und kommunalpolitisch wünschenswerten Anspruch festhalten will, wohnortnahe Schulstandorte zu erhalten.
Zweitens: Die Durchsetzung von integrativen Schulformen mit einer höheren Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Bildungsgängen scheint uns zudem eine wünschenswerte bildungspolitische Maßnahme zu sein, um den aufgezeigten Phänomenen der Prüfungsangst und der Angst, den Schulabschluß nicht zu schaffen, entgegenwirken zu können. Zu fordern ist in diesem Zusammenhang auch die Einführung von mehr sechsjährigen Grundschulen, wie sie in Berlin und Brandenburg oder in den meisten westeuropäischen Nachbarländern bereits existieren und wie sie von den Schulreformkommissionen in Bremen und Nordrhein-Westfalen ebenfalls vorgeschlagen werden, da dadurch frühzeitige Schullaufbahnentscheidungen nach hinten verschoben werden können. Das gegenwärtige System der (schulformbezogenen) Förder-und Orientierungsstufen -das zeigen unsere Ergebnisse -hat sich unter diesem Gesichtspunkt nicht bewährt, da dort entgegen der erklärten schulpädagogischen Absicht der Auslese-und Prüfungsdruck relativ groß ist, solange -wie in Hessen -äußere Differenzierungsformen dominieren. Drittens: Das Profil dieser integrierten Schulformen und von Schule generell muß aus unserer Sicht gleichzeitig erfahrungs-und lebensweltbezo29 gen sowie wissenschaftsorientiert ausgerichtet sein. Angesichts der Tatsache, daß gegenwärtig im Durchschnitt 30 Prozent, und in einer Vielzahl von Groß-und Mittelstädten bis zu 50 Prozent eines Altersjahrgangs, das Gymnasium besuchen, muß auch das Bildungsprofil des Gymnasiums durch erfahrungsorientierte und praktische Lernkomponenten angereichert werden. Fächerübergreifende, interdisziplinäre Bildungsangebote, exemplarisches Lernen in Vorhaben und Projekten, selbstorganisiertes Lernen in stabilen, die Team-und Kooperationsfähigkeit fördernden Lerngruppen -all das sind Prinzipien, die heute im Bildungswesen generell verwirklicht werden müssen, soll die Schule die Heranwachsenden angemessen auf die Herausforderungen des aktuellen und zukünftigen technologischen und gesellschaftlichen Wandels vorbereiten.
Viertens: Angesichts der Tatsache, daß -wie von uns festgestellt -die Freizeitangebote von Kommunen, Vereinen und Verbänden im Alltagsleben der ostdeutschen Kinder und Jugendlichen immer noch eine eher randständige Bedeutung haben, sind vor allem in den neuen Bundesländern mehr Freizeitangebote auch von Seiten der Schule (z. B. im Rahmen von ganztägig offenen Schulen) erforderlich. Kurzfristig könnten hier zumindest in einigen Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt, aber auch an ausgewählten Haupt-und Realschulen in den alten Bundesländern, Modellversuche eingerichtet werden, in denen kreative Freizeitangebote vor allem für jene Kinder organisiert werden, deren Eltern den Besuch von teuren Sportangeboten oder von Ballett-oder Musikschulen nicht ermöglichen können. Die von uns skizzierte doppelte Reproduktion von sozialer Ungleichheit in schulischen wie auch in außerschulischen Lernzusammenhängen stellt jedoch nicht nur die Schule, sondern auch die Institutionen der Jugendarbeit und Jugendhilfe vor neue Herausforderungen. Dabei sollte statt Rivalität mehr Kooperation zwischen Schule und Jugendarbeit angestrebt werden, denn vielfach ist die Einrichtung von Ganztagsschulen nicht die einzige Reformalternative, zumal bei einer weiteren „Verschulung“ des Freizeitbereichs der Gefahr begegnet werden muß, daß der lange Arm der Schule noch länger wird. Nicht nur die Schule sollte sich gegenüber der außerschulischen Lebenswelt und dem Freizeitbereich öffnen und zu einer gemeinwesenorientierten Stadtteil-schule werden. Auch umgekehrt sollten die kommunalen Institutionen der Kinder-und Jugendarbeit attraktive Bildungs-und Freizeitangebote für jene Heranwachsenden anbieten, die bislang durch das Netz von Vereinsprogrammen oder von kommerziell organisierten Angeboten fallen. Hier sind kinderpolitische Initiativen auf kommunaler Ebene besonders am Platze.
Zusammenfassend läßt sich vor diesem Hintergrund festhalten, daß es aufgrund der von uns aufgezeigten sozialen Ungleichheiten in schulischen und außerschulischen Lebens-und Lernzusammenhängen insgesamt notwendig ist, die „eingeschlafene“ Chancengleichheitsdiskussion neu zu beleben und um die Komponente der Chancen-gleichheit beim Bildungserwerb auch in außerschulischen Lernzusammenhängen zu erweitern. Es muß dringend nach politischen und pädagogischen Maßnahmen und Lösungsvorschlägen gesucht werden, die geeignet sind, die bestehenden schulischen und außerschulischen Ungleichheiten beim Bildungserwerb und beim Erwerb von kulturellem und sozialem Kapital abzubauen.
Peter Büchner, Dr. rer. soc. habil., geb. 1941; Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziologie der Erziehung und des Bildungswesens an der Philipps-Universität Marburg. -Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Manuela du Bois-Reymond, Heinz Hermann Krüger u. a.) Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen Vergleich, Opladen 1994; (Hrsg. zus. mit Lynne Chisholm u. a.) Growing Up in Europe, Berlin -New York 1995; (Hrsg. zus. mit Burkhard Fuchs und Heinz Hermann Krüger) Vom Teddybär zum ersten Kuß. Wege aus der Kindheit in Ost-und Westdeutschland, Opladen 1996.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).