" ..., daß man noch da ist!“ Schwierigkeiten bei der Suche nach einem ostdeutschen Mittelstand
Michael Thomas
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Zusammenfassung
Die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland ist anhaltend problematisch. Das gilt insbesondere auch für die neu gegründeten Unternehmen und den sich herausbildenden Mittelstand. Statt tragende Säule für einen „Aufschwung Ost“ zu sein, ist dieser Mittelstand heute selbst vor gravierende Überlebensprobleme gestellt, bedarf er nach wie vor finanzieller und vor allem politischer Unterstützung. Das hier analysierte Segment der „neuen Selbständigen“, worunter spezifisch zu charakterisierende endogene Gründungen -solche aus eigener Kraft -verstanden werden, zeigt noch einige zusätzliche Probleme: Es ist strukturell sehr klein, nach Branchen und Sektoren eher ungünstig zusammengesetzt und mit sehr spezifischen Schwierigkeiten konfrontiert. Es ist so insgesamt instabil, die'Zukunftsaussichten stimmen kaum optimistisch. Dennoch stellen die bisherige Entwicklung über die letzten Jahre und die Plazierung der „neuen Selbständigen“ am Markt bemerkenswerte Fakten dar. Eine Analyse der Struktur der „neuen Selbständigen“, ihrer personalen Zusammensetzung und der sehr unterschiedlichen Passagen in die Selbständigkeit gibt Aufschlüsse über diese Entwicklung und zeigt die beachtlichen sozialen und kulturellen Potentiale dieses Segments eines ostdeutschen Mittelstandes.
I. Situation in Ostdeutschland und Problemstellung
Die Stimmung ist gedrückt zu Beginn des Jahres 1996 in Deutschland, vor allem aber im Osten des Landes. Wurden noch 1995, wenngleich weniger euphorisch als früher, vorsichtig und zurückhaltend einzelne Lichtpunkte ausgemacht -man denke an die Konjunkturlage im Bauwesen, die allgemeine Wachstumsdynamik -und am Horizont Hoffnungsschimmer, so scheinen nunmehr aus Lichtern Irrlichter geworden zu sein (gerade das Bauwesen trifft es zunehmend hart), und der Horizont hat sich eingetrübt. Wer wagt schon Prognosen; und Antworten, wie denn aus der Malaise herauszukommen sei, sind ebenso rar wie parteipolitisch eingegrenzt. Das jetzt anvisierte „Bündnis-“ und „Aktionsprogramm“ ist schon im vorhinein heftig umstritten und ruft nicht wenige Skeptiker auf den Plan.
Abbildung 12
Abbildung 3: Ausgangspositionen der „neuen Selbständigen“
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904.
Abbildung 3: Ausgangspositionen der „neuen Selbständigen“
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904.
Nachfolgend geht es aber nicht um die Situation oder Stimmung in Ostdeutschland oder der Bundesrepublik insgesamt. Nur von einem Apekt dieser groben Situationsskizze wird der Beitrag handeln. Der allerdings ist in gewisser Hinsicht Katalysator für Situation und Entwicklung generell: Es geht um die Frage nach dem ostdeutschen Mittelstand, dem -wie es früh und politisch plakativ hieß -„Motor“ marktwirtschaftlicher Struktur-anpassung und eines „selbsttragenden Aufschwungs“.
Idee und Konzept sind rasch und gründlich gescheitert. Noch ehe der Motor richtig zum Drehen und der Prozeß in Gang gekommen ist, zeichnet sich -darüber sind sich sehr unterschiedliche Interpreten einig -„eine risikoreiche zweite Etappe im , take off der ostdeutschen Wirtschaft ab“ Ist es bisher nicht gelungen, Einbrüche zu verhindern und wirtschaftlich tragfähige Strukturen zu etablieren, so bedeutet die nun „anstehende Marktbereinigung“ doch, daß 1996 die Konjunktur nicht trägt und eine noch größere Pleitewelle ins Haus steht, als dies für 1995 schon zu verzeichnen war.
Die allgemeine Lage in Ostdeutschland ist weiterhin prekär. Nicht eigene wirtschaftliche Reproduktion, also „selbsttragender Aufschwung“, sondern der Status einer „Dependenz-oder Transferökonomie“ wird diese Region wohl für längere Zeit kennzeichnen.
Für die Segmente eines ostdeutschen Mittelstands im engeren Sinn treffen diese Einschätzungen wie noch eine Reihe weiterer problematischer Fakten zu. Gerade dieses spezifisch endogene marktwirtschaftliche Potential ist nicht nur ganz offensichtlich bereits bei seinen Startchancen oder in der Herausbildung deutlich benachteiligt und somit eingegrenzt worden vor allem hat es erheblich unter dem rigorosen Abbau wirtschaftlicher Strukturen und Netzwerke, insbesondere unter der weitreichenden Deindustrialisierung zu leiden. Zudem hält sich die Dominanz etablierter marktwirtschaftlicher Akteure, bleiben Marktzugänge gesperrt, werden Aufträge monopolisiert und ungünstige Ansiedelungspräferenzen durchgehalten. Gravierende Probleme zeigen sich beispielsweise in der allgemein schlechten Zahlungsmoral, mit der viele kleine Unternehmen direkt in den Ruin fahren, in drastisch gestiegenen Gewerberaummieten und zumeist sehr kurzen Mietverträgen, was wiederum insbesondere die kleinen Unternehmen trifft, in bürokratisch verengten Finanzierungskanälen und zum Teil in'Fördermaßnahmen, die nicht nur das vielbeschworene undurchdringliche Dickicht darstellen, sondern gerade für die spezifisch ostdeutsche Klientel wenig wirksam sind.
Die „Suche“ nach dem ostdeutschen Mittelstand führt also rasch und zunächst einmal zu einem Katalog von durchaus bestandsgefährdenden Problemen. Es geht um erforderliche Marktöffnungen und Produktpräferenzen, um Eigenkapital und Liquiditätshilfe, Veränderungen im Gewerbemietrecht, Lohnkostenzuschüsse u. a. m. Der Circulus vitiosus scheint 1996 offenbar: Dringende Hilfeleistung und Heilung für den Markt („Mittelstandspolitik“), wo doch der Markt („Mittelstandswunder“) 1990 helfen und heilen sollte! Skepsis ist angebracht.
Nun soll diese Debatte um Markt, Politik und einen relevanten ordnungspolitischen Raster hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtig ist die Frage, was sich denn in den vergangenen Jahren am Markt wirklich getan hat, ob, inwieweit und mit welchen Effekten sich ein ostdeutscher Mittelstand (im genannten eingegrenzten Sinn) herausgebildet hat. Dem gelten Darstellung und Problemanalyse Dabei stellt sich die Frage, ob nicht gerade in diesem Feld viele der Schwierigkeiten und Fehlentwicklungen hausgemacht sind, nur Anpassungsprobleme darstellen und weitgehend das Unvermögen der „gelernten DDR-Bürger“ offenbaren. Die bejahende Antwort darauf ist jedenfalls in Politik, Medien und auch Wissenschaft keine Minderheitenposition. Selbst unsere Interviews weisen für einzelne der befragten „neuen Selbständigen“ erstaunliche Blauäugigkeit, völlig falsche Erwartungen und gelegentlich geradezu ein Erschrecken vor der „Härte des Marktes“ aus. Ist es so, um einen alten DDR-Spruch etwas abzuwandeln, daß die, die jetzt „sollen dürfen“, nicht „wollen können“?
Schließt sich also der Kreis, und wäre der skizzierte Circulus vitiosus wiederum einzig eine Erblast des alten Systems? Mußte also die häufig konstatierte „Unternehmerlücke“ im Osten notwendig zu einer möglichst umfassenden Substitution dieser Rolle oder Figur durch „externe“ (westdeutsche oder ausländische) Akteure führen und so mindestens am Markt konsequent einen Transformationsmodus implementieren, der jeden Gradualismus -eine schrittweise Transformation -und jegliche Brückenpassagen zwischen vorhandenen und neu zu bildenden Strukturen bzw. Anschlüsse an Endogenes als gefährliche Selbst-blockaden ausschließen kann Dieser Argumentationsfigur ist nicht so allgemein zu folgen. Hier soll die konkrete Analyse von Passagen und Verläufen eher eine gegenstandsbezogene und konkrete Antwort geben Für unser Forschungsprojekt dem das hier aufbereitete Material entnommen ist, war die Perspektive leitend, ausgehend von einer näher zu entschlüsselnden Ambivalenz der DDR-Gesellschaft gerade nach sozialen und kulturellen Voraussetzungen für die Wege in die privatwirtschaftliche Selbständigkeit zu suchen und in den Eigenarten des Transformationsprozesses Erklärungsgründe dafür zu finden, warum diese so oder so verlaufen. Zudem mußte sich mit dem Fortgang der Forschungen in gewisser Hinsicht die Fragerichtung, die bisher immanent unterstellt war, umkehren: Zieht man noch einmal die eingangs genannten besonderen Probleme und Schwierigkeiten in Ostdeutschland heran, so sind die quantitativen Rückstände und Defizite bei der Herausbildung eines ostdeutschen Mittelstandes gar nicht so erklärungsbedürftig -das sind eher die dennoch zu verzeichnenden Gründungsprozesse und Verstetigungen in diesem Segment. So aber erhält, ohne das Problem zu trivialisieren, die Antwort eines der von uns nach drei Jahren Selbständigkeit Befragten, was denn sein größter Erfolg sei, auch eine optimistische Pointe: „..., daß man noch da ist!“ 9 Damit zu einigen Fakten.
II. Zur Entwicklung eines spezifisch ostdeutschen Mittelstands
Abbildung 10
Abbildung 2: Gründung nach Sektoren der Volkswirtschaft. Berlin-Ost und Land Brandenburg (Prozent)
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904.
Abbildung 2: Gründung nach Sektoren der Volkswirtschaft. Berlin-Ost und Land Brandenburg (Prozent)
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904.
1. Trends und strukturelle Parameter Betrachtet man die Gewerbemeldestatistik für Ostdeutschland in den letzten Jahren, so zeigen sich zwei charakteristische Tendenzen, die trotz aller Unsicherheiten solcher Statistiken den Gesamttrend signifikant ausdrücken: Einerseits folgte einem ganz offensichtlichen „Anmelde-“ oder „Gründerboom“ in den Jahren 1990 (281 096 Gewerbeanmeldungen) und 1991 (292 997) ein rasches und deutliches Absinken dieser Kurve seit 1992. Andererseits stiegen die Gewerbeabmeldungen über diesen Zeitraum gerade an (von 26 694 im Jahr 1990 auf über 130 000 1995), verringerte sich also der Saldo, d. h. die Zahl der tatsächlich sich etablierenden neuen Unternehmen. Lag er 1990 bei über 250 000, so 1995 nur noch bei etwa 35 000. Das Segment privatwirtschaftlicher Selbständigkeit ist also in Ostdeutschland deutlich langsamer gewachsen, als dies ein früher Boom vielfach erwarten ließ. Die Seibständigenquote liegt zwar hier mit ca. 6, 7 Prozent (laut Mikrozensus) deutlich über der von 1989 (2, 2 Prozent, wobei der generelle Rückgang der Erwerbstätigen-zahl zu berücksichtigen ist), weist aber immer noch einen erheblichen Rückstand gegenüber Westdeutschland 2 Prozent) aus.
Ein Blick in die sektorale Aufteilung des An-und Abmeldegeschehens und die sehr unterschiedlichen Stabilisierungen -die hohe Gründungstendenz beispielsweise im Bereich Handel und Gast-gewerbe korreliert mit einer gerade hier hohen Abmeldequote (wo der „Eintritt am leichtesten“, ist der „Austritt der rascheste“) -zeigt noch deutlicher die Übereinstimmung mit den eingangs angeführten Fakten über Konkurse und die anstehende „Marktbereinigung“: Die Tendenz, daß überdurchschnittlich gerade die jungen Unternehmen gefährdet sind und wegbrechen erfährt in Ostdeutschland nicht nur ihre Bestätigung (von den 1994 insolventen Unternehmen waren 85 Prozent Gründungen nach dem 30. 6. 1990), sondern mit der spezifischen Situation heute -fällige Kreditrückzahlungen bei ausstehenden Zahlungen, auslaufende Gewerbemietverträge etc. -auch eine weitere Zuspitzung: Wenn selbst die öffentliche Hand häufig Zahlungen erheblich verzögert, dann geht eben auch das bisherige Zugpferd -der Bau -in die Knie. Hier ist jedenfalls der Stimmungsumschwung von 1995 zu 1996 besonders markant, da sich die dramatische Abwärtsbewegung fortsetzt. Dieser allgemeine Trend soll nun für die originär ostdeutschen Gründungen -also die „neuen Selbständigen“ im definierten Sinn -spezifiziert und konkretisiert werden Auffallend sind zunächst einmal einige strukturelle Parameter. So erfolgen Gründungen durch die „neuen Selbständigen“ insbesondere im Bereich von Kleinst-und Kleinunternehmen. In der Zusammenfassung zeigt sich: Nur 8, 8 Prozent der Unternehmen haben mehr als 20 Arbeitskräfte, mit über 40 Prozent dominieren die Unternehmen ohne einen weiteren bzw. mit nur einem Beschäftigten. Nahezu ein Drittel hat zwischen einem und fünf Arbeitskräften (siehe Abbildung 1, mit den absoluten Zahlen für die Unternehmen).
Aufschlußreich ist nun, daß im Verlaufe von drei Jahren, die zwischen den Befragungen lagen, bei etwa 66 Prozent der Unternehmen die Beschäftigtenzahl gleich geblieben ist, nur für 25 Prozent trifft eine Zunahme zu, während 9 Prozent die Zahl der Beschäftigten noch reduzieren mußten. Der geringe Zuwachs konzentriert sich insbesondere auf die kleinen Unternehmen in Handel und Dienstleistungen. Wenn schon „Mittelstand“, dann liegt das ostdeutsche Segment im „unteren Teil“. Das scheint so zu bleiben. Für die Zukunft hat weit über die Hälfte der von uns 1995 befragten „neuen Selbständigen“ zusätzliche Einstellungen von Mitarbeitern ausgeschlossen. Ebenso aufschlußreich ist die sektorale Verteilung der Gründungen. Gründungen erfolgten vor allem im tertiären Sektor: in den Bereichen Handel und Gastronomie sowie Dienstleistungen (siehe Abbildung 2).
Deutlich zurückgeblieben ist also der Bereich Industrie/verarbeitendes Gewerbe was zwar nach dem eingangs Gesagten wenig überraschend ist, unter dem Gesichtspunkt einer damit strukturell gesetzten hohen Instabilität des gesamten Segments der privatwirtschaftlichen Selbständigkeit in Ostdeutschland aber festgehalten werden muß: Stabilisierungen in einigen regional verankerten Unternehmen bzw. Gewerben, zum Teil in industrienahen Dienstleistungen, in Bereichen des Baugewerbes und insbesondere im Handwerk, können die Gesamtinstabilität nicht beheben. So ist folgerichtig, daß die 1995 erfolgte Evaluierung unseres Samples von 1992 eher weniger optimistisch ausgefallen ist. Zwar hat ein durchaus beachtlicher Teil der Unternehmen überlebt -eine ähnliche Tendenz weist die „Leipziger Gründer-studie“ aus -, aber über 17 Prozent der Unternehmen gaben an, daß sich in den letzten zwei Jahren Umsatz und Gewinn nicht vergrößert hätten, 26 Prozent wiesen sogar auf eine Verringerung hin. (Letzteres trifft insbesondere den Handel und das produzierende/verarbeitende Gewerbe.) Von Stabilisierung und erfolgreicher Etablierung am Markt ist auch deshalb nicht auszugehen, weil die geringe Eigenkapitalausstattung und kaum vorhandene Sicherheiten (zum Beispiel Immobilien-besitz, unserer Klientel für weniger ein der in als Drittel zutrifft) zusätzlich negativ zu Buche schla-gen: Die geringen Sicherheiten führen angesichts der durch die Bürokratie errichteten Finanzierungshindernisse zu bleibenden Engpässen; das wenige Eigenkapital muß gerade mit der gravierend erodierten Zahlungsmoral und einer noch nicht erfolgten Etablierung am Markt zur Falle werden: Selbst wenn es gelungen war, dieses Kapital durch Fördermittel aufzustocken -das Startkapital in Ostdeutschland also relativ hoch ist, aber eben mit einem niedrigen Eigenkapital korreliert -, so treffen die Zahlungsfähigkeiten viele der Unternehmen jetzt zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Und das gilt durchaus nicht nur für die „traditionell“ schwachen Segmente in Handel und Gastgewerbe, sondern auch beispielsweise für kleinere Industrieunternehmen und eben die bereits als „Problemfälle“ genannten Management-Buy-Out, denen die Eigenkapitalschwäche, fehlende Liquiditätshilfen etc. zu schaffen machen. Die Situation der sogenannten „alten Selbständigen“, d. h.derjenigen, die schon in der DDR privatwirt- schaftlich selbständig waren, ist hier in vielerlei Hinsicht ähnlich, zum Teil ist sie noch problematischer
Das Segment der „neuen Selbständigkeit“ bleibt hoch gefährdet. Es läuft tatsächlich auf die Einschätzung hinaus: Der größte Erfolg dieser Selbständigen ist die Tatsache, überhaupt noch am Markt zu sein. Aber gerade dieses Faktum hat Gewicht. Es scheint eben, stellt man die genannten Schwierigkeiten und fehlende politische Hilfe in Rechnung, nicht in erster Linie am eigenen Willen und Können zu liegen. Man ist am Markt, so die von uns befragten Akteure, hat sich den Konkurrenzbedingungen gestellt und diese bisher überstanden. Sicher, „eine langfristige Stabilität ist da nicht zu sehen“, man kann wohl nicht weit im voraus planen und projektieren, lebt weiterhin „von der Hand in den Mund“, ist sich aber bewußt, Stürme überstanden zu haben, und vermeint, „daß es schlimmer eigentlich nicht kommen kann“, daß man als kleine Firma nach mittlerweile fünfjähriger Existenz am Markt „eine reelle Chance“ hat, wenn nicht „’n krummes Ding irgendwie dazwischenkommt“. Es gab viele Probleme, erhebliches Lehrgeld wurde gezahlt. Und gerade deshalb meint man, es auch irgendwie weiter zu schaffen. Skepsis bleibt, aber auch ein verhaltener Optimismus, „so daß ich ’ne reelle Chance sah, aber auf einem bescheidenen Level, da kann man nicht reich werden, . . . und so wird es bleiben“. Die Zukunft ist vielfach offen. Die hier skizzierten strukturellen Parameter wie Selbsteinschätzungen der „neuen Selbständigen“ zeigen eine verhaltene Stabilisierung. Sie zeigen aber auch, daß „Mittelstand“, „Unternehmertum“ oder „Gewinner der Einheit“ für dieses Segment in Ostdeutschland eher nicht zutreffende Charakteristika sind. War die Aussage: „Ich will ja nicht reich werden“ eine häufig anzutreffende und offenbar den Übergang in die Selbständigkeit abstützende Maxime der „neuen Selbständigen“, so kam die Erkenntnis, daß man „nicht reich werden kann“, für viele sehr rasch. Und in der Tat: Für den größten Teil stehen die Chancen auch weiterhin schlecht. Das aber bestimmt wesentlich Interessen, Selbstwahrnehmungen, politische Artikulationen etc. Ehe dem noch einmal Aufmerksamkeit geschenkt werden soll, ist die Frage zu beantworten, wer denn nun wie den Weg in die private Selbständigkeit gegangen ist. 2. Personale und soziale Charakteristika der „neuen Selbständigen“
Natürlich hat nur ein geringer Teil der ostdeutschen Bevölkerung mit der Wende 1989 den Weg in die privatwirtschaftliche Selbständigkeit genommen. Bei 400 000 oder 500 000 Personen sind es weit unter 10 Prozent der Erwerbstätigen. Gerade das macht die Frage so interessant, woher denn die „neuen Selbständigen“ kommen, ob es besonders markante, exklusive Herkünfte bzw. Zugänge gegeben hat und welche Konsequenzen eventuell mit diesen verbunden waren bzw. sind.
Zunächst fallen zwei Besonderheiten ins Auge, die mit der Transformation auch zu erwarten waren. Das durchschnittliche Alter der ostdeutschen Gründer liegt mit ca. 41 Jahren um etwa sechs bis sieben Jahre über dem westdeutscher Gründer. Auffallend ist der recht hohe Anteil von Gründern im Alter von über 50 Jahren, während Gründerinnen auch im Osten durchschnittlich etwas jünger sind (39, 7 Jahre). Andererseits ist Qualifikati das -onsniveau relativ hoch im Sample der „neuen Selbständigen“, was den Vergleich zur Qualifikationsstruktur der ostdeutschen Erwerbstätigen insgesamt betrifft (siehe Tabelle 1), wodurch sie sich aber wiederum auch von westdeutschen Gründern unterscheiden. Diese Dominanz mittlerer und höherer Qualifikationen hat offenbar weniger mit den regionalen Spezifika von Berlin und seinem Umland zu tun (wenngleich auch die eine Rolle spielen, wie etwa der Unterschied zwischen Berlin und dem Land Brandenburg zeigt), sondern mit den starken Umbrüchen und Abbautendenzen im staatlich-politischen und wissenschaftlichen Bereich
Keine dieser genannten Strukturen ist in den drei Jahren der Selbständigkeit, die zwischen unseren beiden Untersuchungen lagen, gravierend weggebrochen. Es sind weder besonders deutlich „die Alten“ gescheitert und „die Jungen“ erfolgreich gewesen (und vice versa), noch sind Hochqualifizierte deutlich besser zurechtgekommen als etwa Arbeiter. Diese Faktoren scheinen unter den konkreten Bedingungen in Ostdeutschland weniger relevant zu sein.
Im Unterschied zu den beiden genannten strukturellen Charakteristika war schon eher überraschend, daß der Anteil von Frauen, die den Weg in die Selbständigkeit gegangen sind, nur bei ca. 28 Prozent lag. Die hohe Frauenarbeitslosigkeit und stark anhaltende Erwerbsneigung ließen einen höheren Anteil erwarten. Frauen traten offenbar stärker als „Mithelfende“ hervor, gründeten zum Teil zögerlicher (überlegter? -beispielsweise haben sie besonders auf vorhandene Branchenerfahrungen zurückgegriffen, über 73 Prozent kommen aus den Bereichen Handel/Gaststätten, in denen sie sich auch selbständig gemacht haben) und sind schließlich, wie die 1995er Evaluierung zeigt, recht solide am Markt plaziert.
Natürlich erfolgte der Übergang in die Selbständigkeit größtenteils aus einer Erwerbstätigkeit heraus. Ein Jahr vor Aufnahme der Selbständigkeit waren 92 Prozent der Befragten abhängig beschäftigt, drei Monate vor der Selbständigkeit waren das noch knapp 80 Prozent.
Schließlich ist festzuhalten, daß nur der geringste Teil der „neuen Selbständigen“ familiär „vorbelastet“ war. Während die Väter und Mütter größtenteils erwerbstätig gewesen sind, waren nur 8, 8 Prozent der Väter und 5, 6 Prozent der Mütter der Befragten als Selbständige oder mithelfende Familienangehörige tätig Sie waren also überwiegend abhängig beschäftigt, vor allem als Arbeiter oder Angestellte. Auch diesbezüglich bildete privatwirtschaftliche Tätigkeit nur für eine Minderheit aus unserem Sample einen konkreten Erfahrungshintergrund. Wie aber sieht die Frage aus, wenn man sich neben diesen personalen Faktoren eher den differenzierten sozialen Positionen, Lagen oder Schichten zuwendet? Lassen sich hier Besonderheiten und exklusive Pfade, die über die bisher charakterisierten hinausgehen, identifizieren?
Nach den für ein sozialistisches Gesellschaftssystem wie die DDR besonders relevanten Strukturierungskriterien „politische Macht“ (Zugehörigkeit zu Institutionen politischer Macht und Herrschaft) und „kulturelles. Kapital“ (in terminologischer Anlehnung an Bourdieu: Qualifikation und Bildung als Differenzierungskriterien) haben wir Konfigurationen gebildet, in welche die befragten „neuen Selbständigen“ entsprechend ihrer bisherigen Tätigkeitsbranche, dem Tätigkeitsbereich und ihrem Qualifikationsniveau „eingeordnet“ werden konnten. Danach zeigt sich, daß sich die „neuen Selbständigen“ zwar überproportional aus den höher qualifizierten Erwerbstätigen rekrutieren -gerade das belegt auch die Relevanz der genannten Strukturierungen -, nicht aber gravierend von der Gesamt-struktur der DDR-Gesellschaft zu unterscheiden sind (siehe Abbildung 3).
Offenbar sind Einstiegspfade, die nur für einzelne oder besondere soziale Lagen oder Schichten aus der DDR-Gesellschaft gelten, nicht anzutreffen. Insbesondere läßt sich nicht belegen, daß ehemalige Macht-oder Elitepositionen den Zugang dominiert hätten und bestimmte soziale Gruppen ganz ausgeschlossen gewesen wären. Eine besonders stringente Unterscheidung der Konfigurationen zeigt mit ca. 8 Prozent für die „Machtelite“ und 15 Prozent für die „Intelligenz“ wenig Spektakuläres. Dennoch gibt es einige Eigenarten und Besonderheiten, die mit dieser Art der „sozialen Auf-mischung“ der „neuen Selbständigen“ Zusammenhängen. Hier ist gerade ein Schlüssel zu sehen für die Art und Weise der Gründungsprozesse wie auch für bestimmte anhaltende soziale und kulturelle Charakteristika der „neuen Selbständigen“.
III. Wege Ostdeutscher in die privatwirtschaftliche Selbständigkeit
Abbildung 11
Tabelle 1: Qualifikationsabschluß „neuer Selbständiger“ (Angaben in Prozent)
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904
Tabelle 1: Qualifikationsabschluß „neuer Selbständiger“ (Angaben in Prozent)
Quelle: Eigene Recherchen: vgl. BISS, Neue Selbständige 1992 (Anm. 11), n = 904
1. Ausgangskonfigurationen und Branchenlogiken Die verschiedenen sozialen Gruppen oder eben: Ausgangskonfigurationen waren hinsichtlich der Chancen, im Systemumbruch ihre Erwerbspositionen zu erhalten, unterschiedlich betroffen. Während große Teile der Intelligenz und -bis auf wenige Ausnahmen -die Angehörigen des Machtapparates insgesamt diesbezüglich chancenlos waren, stellte sich die Situation für Ingenieure und Facharbeiter zumindest bei allen auch hier sichtbaren strukturellen Abbrüchen differenzierter dar. (Hierzu liegen verschiedene Verlaufsanalysen vor.)
Diese unterschiedliche „Betroffenheit“ hat sich auch partiell in der Art und Weise der Gründungswege, in deren Dauer und allem den vor Motiven für die Selbständigkeit niedergeschlagen Noch deutlicher werden Zusammenhänge zwischen den Ausgangskonfigurationen und Branchenpräferenzen. Während mit der skizzierten generellen sektoralen Verteilung der Gründungen in Ostdeutschland davon auszugehen ist, daß der größte Zustrom insgesamt und aus allen Gruppen in den Bereich Handel/Gastgewerbe und personenbezogene Dienstleistungen erfolgte, ist nicht nur die für die weiblichen Angestellten bereits aufgezeigte Ballung (von Handel/Gastgewerbe in Handel/Gastgewerbe) nachzuweisen. Vielmehr zeigen sich weitere Häufungen. So haben Angehörige der Machtelite und Intelligenz dominant eher unspezifische Gründungen in Handel, Gastgewerbe und Dienstleistungen vorgenommen. (50 Prozent der Machtelite gründeten im Dienstleistungsbereich, 30 Prozent in Handel/Gastgewerbe.) Hier fällt eine breite Streuung auf; demgegenüber gilt für große Teile der Ingenieure und Facharbeiter wiederum die „Branchenlogik“: Immerhin verlief der Weg für 35 Prozent der ersteren und 43 Prozent der zweiten in den Baubereich (das sind bei der breiten Streuung und der absoluten Dominanz des tertiären Sektors schon deutliche Tendenzen), aus dem sie auch kommen. Bau und verarbeitendes Gewerbe (dies wiederum für 16, 4 Prozent der Ingenieure) stellen darüber hinaus die „geschlossensten“ Branchen dar: Sie weisen kaum Gründungen durch branchenfremde Personen auf. Auch wenn damit einige sichtbare Unterschiede im Gründungsverhalten verbunden und letztere Branchen die insgesamt stabileren sind, kann so nicht auf den möglichen Erfolg geschlossen werden. Vielmehr zeigten die Erhebungen nach drei Jahren Selbständigkeit (1995), daß hinsichtlich Beschäftigungsentwicklung, Umsatz und Zukunftsaussichten die Angehörigen der ehemaligen Machtelite und Teile der Ingenieure Positiveres zu vermelden hatten, während bei Arbeitern/Angestellten und Angehörigen der Intelligenz der Trend deutlicher im Negativen lag. Die insgesamt unsichere und prekäre Lage setzt sich durch die einzelnen Branchen und Ausgangskonfigurationen fort.
Besonders relevant für die hier anstehende Frage erschien eine qualitative Analyse der verschiedenen Gründungswege. Erinnert man an einige der Klischees über „Seilschaften“ oder die offensichtlichen Defizite mit Blick auf unternehmerisches Handeln, Markt-und Rechtskenntnisse, ja einige problematische „mentale Erblasten“, so kann man die Antworten auf die Fragen, „wie sie es denn machen oder: gemacht haben“ schon für aufschlußreich halten. Selbst die offene Zukunftsperspektive der „neuen Selbständigen“ erhält mit dieser Retrospektive einige Konturen.
Die Gründerforschung hat sich bereits längere Zeit der schwierigen Problematik einer Gewichtung sozialer und personaler Faktoren für den Gründungserfolg zugewandt Von einer Fülle potentiell wirksamer Faktoren konnten nur sehr wenige mit einer gewissen Eindeutigkeit bestimmt werden. Für diese gewichtigen -beispielsweise für ökonomisches Kapital, Seibständigenerfahrung, Marktkenntnisse -ist offensichtlich, daß sie kaum spezifische Ressourcen für unsere Akteure darstellen konnten. Auch bezüglich Qualifikation, Branchenerfahrung und vor allem Managementkenntnissen war -betrachtet man die unterschiedlichen Handlungslogiken in Plan-und Marktwirtschaften -eher Vorsicht angeraten
Blieb zunächst die Frage, ob denn der Zufall oder: die besondere Gelegenheit eine Rolle gespielt haben; ob sich also vielleicht das Spezifische der Transformationssituation und der möglichen Über-gänge in die Selbständigkeit in solchen Konstellationen erschöpft hat.
In der Tat zeigt sich, daß viele der „neuen Selbständigen“ auf „die besondere Gelegenheit", „Einmaligkeit", „Nichtwiederholbarkeit" der Situation der Geschäftseröffnung oder Gründung verweisen. Von „viel Glück" ist die Rede in den Interviews, vom „Zufall der wichtigen Begegnung", von Situationen, die man noch gar nicht so richtig begriffen und verarbeitet hat. Eines scheint aber sicher: „Heute würde das nicht mehr so gehen!“
Das ist aufgrund der enormen Turbulenzen der Transformation in Ostdeutschland sehr plausibel, zudem gehört das „besondere Gespür“ schon zum Habitus eines Selbständigen. Dennoch erschöpfen sich darin nicht Problem und Spezifik der Gründungswege. Vielmehr zeigen sich Logiken und Passagen, die nicht auf einen solchen Zufall zu reduzieren sind, sondern ihre Erklärung in sozialen und kulturellen Voraussetzungen wie den Kontextbedingungen der Transformationsprozesse finden. 2. Handlungspassagen „neuer Selbständiger“
Auch für die „neuen Selbständigen“ -wie generell in unterschiedlichen Mobilitätsprozessen und Berufspassagen der ehemaligen DDR-Bürger seit 1989 -spielten Adaptieren und Kopieren, das „Sich-Anlehnen an den“ und „Spiegeln in dem anderen“ oft eine Rolle als erste handlungsstabilisierende Sinnstütze: ob nun negativ und distanziert -„So wie die nicht, die verkaufen ja alles!“ -oder aber positiv, um „der bessere Unternehmer“ zu sein.
Markanter waren aber zwei typologisch zu unterscheidende Arten von Passagen in die „neue Selbständigkeit“, die zudem mehr Aufschluß geben über soziale und kulturelle Charakteristika dieser neuen Sozialform(en) Das betraf für einen ersten Typus einmal die vielgestaltigen Möglichkeiten, quasi sehr direkt und durchaus erfolgreich vermittels der vorhandenen „alten“ Mentalitäten, Wertorientierungen, oft gar ideologischen Klischees, vor allem aber Verhaltensweisen und Sozialformen in das neue marktwirtschaftliche Feld einzusteigen, also mit dem „Flair realsozialistischer Antiquiertheit“ und „Modernitätsrückstände“ in die „postindustrielle neue Welt“ Ein Extrembeispiel ist der Subunternehmer, der sein tief verankertes Weltbild als langjähriger Politoffizier gerade in der neuen Firma (wieder) findet und darin das Gute der Wende sieht: „Ich hätte sonst die .. . -gesellschaft ja nicht kennengelernt!“ Die „Firmenphilosophie“ macht es.
Generell zeigten sich Gemeinschaftskulturen, „Chaosqualifikationen“, Habitusformen (Bescheidenheit) und besonders Arbeitseinstellungen, die zwar nach „Modernisierungslücken“ aussehen, in der Tat aber für die ersten Gründungsschritte relevant wurden Vieles lief hier über Selbstausbeutung, Verzicht und mit einem kaum noch zu kalkulierenden individuellen Risiko, stand aber nicht im luftleeren Raum.
Zu diesem Typus einer „Anschlußtransformation“ gehören vor allem auch diejenigen gleitenden Übergänge und Passagen, die verblüffende Ähnlichkeiten aufwiesen mit denen in entwickelten Marktwirtschaften und vom Systemunterschied scheinbar nicht tangiert wurden. Das betraf viele der Gründungen im kulturellen Bereich (Boutiquen, Buchhandlungen, Serviceeinrichtungen, Film-und Modestudios .. .), wo „die ganze Person“, das „inkorporierte kulturelle Kapital“ (d. h. mit der Person verbundene kulturelle Kompetenzen, Fähigkeiten, auch Stilisierungen) zum nahezu ausschließlich relevanten Faktor wurde. „Man verkauft sich im Grunde doch selber. “ Und das betraf insbesondere die Gründungen, die -wie zu einem großen Teil bei Ingenieuren und einigen Facharbeitern (Meistern) -direkt über die bisherige berufliche Qualifikation und Arbeitswelt erfolgten. Die aufgezeigte hohe Branchenkontinuität, die stark vertretenen Managementerfahrungen (das gaben 82, 8 Prozent der Ingenieure als wichtige Ressource an) und die hier ausgeprägt positiven Bezugnahmen auf Anknüpfungspunkte in der früheren Tätigkeit („.. . das war also ’n Wahnsinn, das hat unheimlich viel Spaß gemacht, . . . Wir waren noch nicht viel Leute, . . . wir waren damals ... also wirklich , Aktivisten der ersten Stunde 1...“) bzw. die verfügbare Qualifikation („Eh, was technische Fragen anbetrifft, da habe ich überhaupt keine Probleme. . .“) geben diesen Passagen wohl eine hohe Evidenz und Stabilität. Jedenfalls zeigte sich für diesen Typus eine handlungsstabilisierende Kontinuität trotz aller Zufälligkeiten und Transformationsturbulenzen.
Eine ganze Reihe von Passagen unterschied sich von den bisher skizzierten und konnte -im Unterschied zu dem Typus eher evolutionärer Verläufe bzw.sehr direkter Anschlüsse -in einem Typus zusammengefaßt werden, der sich durch Besonderheiten, Eigenarten und somit gerade kreative Öffnungen der Transformationssituation durch die „neuen Selbständigen“ definieren läßt. Es gab Beispiele dafür, wie gerade lebensweltliche Eigenarten und Besonderheiten der DDR-Gesellschaft -individuell-biographische oder soziale -produktiv eingesetzt wurden. Auch zeigte sich, daß die neuen Marktakteure in der Lage waren, Zumutungen und „Vorgaben“ der Transformation quasi „zu unterlaufen“ Unsere biographischen Analysen zeigten für die Berufspassagen in der DDR ein hohes Maß an individuellen, ja „individualisierten“ Verläufen: „Zweite“ oder gar „dritte“ Bildungswege, nachdem „zunächst einmal“ ein solider Beruf erlernt wurde; Karriereabbrüche, -umwege oder „Karrieren auf Zeit“; das Ausweichen in Tätigkeiten im Freizeitbereich bei nur noch lockerer Bindung an die Berufswelt (etwa durch Betreuungsaufgaben). Diese Häufungen im Sample der „neuen Selbständigen“ waren schon charakteristisch. Und sie waren verbunden mit ausgeprägten biographischen Eigensinnigkeiten, Selbststeuerungen, ja Selbstinszenierungen. Dieses „Abweichen vom Normalen“ entspricht einem berufsbiographischen Handlungsrahmen, in dem die private Selbständigkeit immer schon dagewesen zu sein schien.
Unsere Analysen zeigten sehr vielfältige und differenzierte lebensweltliche Handlungskontexte der von uns Befragten, damit zugleich habitualisierte Erfahrungen (Skills), lebensweltlich geprägte Deutungsmuster und allgemeine Kompetenzen. Beispielsweise gilt das gerade für einige der Karrieren und konkreten Arbeitswelten in Institutionen des untergegangenen Machtapparates, die von außen nur wie „sozialistische Gesinnungstempel“ ausgesehen haben. Jüngere und auf der mittleren Ebene angesiedelte „Kader“ hatten nicht nur mit fiktiven Planspielen zu tun, sondern mußten eigenverantwortlich komplexe Prozesse leiten, Versorgungslücken schließen, organisieren und ranschaffen. Sie konnten sich „Vertrauensbeziehungen“ aufbauen, die auch nach der Wende noch erhalten blieben („ Weil sie sich auf mich verlassenkonnten!“), sie haben Erfahrungen akkumuliert, die konkretem Branchen-und Management-wissen vergleichbar sind. Verallgemeinernd läßt sich festhalten, daß die „neuen Selbständigen“ vielfach in den skizzierten individuellen und sozialen Eigenarten die erforderlichen Ressourcen fanden, um Gründungsschwierigkeiten zu überwinden und zunächst vorhandene Defizite an „gewöhnlichen Ressourcen“ (Kapital, Markterfahrungen, Branchenkenntnissen) zu kompensieren. Insofern waren das Beispiele für eine kreative Situationsbewältigung und dafür, wie bestimmte soziale und kulturelle „Erblasten“ aus der DDR-Gesellschaft geradezu die Eigenschaft von „Basis-und Schlüsselqualifikationen“ für die neuen Wege in der Marktwirtschaft gewinnen konnten. Sie wurden nicht einfach erhalten und eingesetzt, sondern situationsspezifisch angepaßt, umgebaut und ermöglichten so gerade die Öffnung einer Handlungspassage (oder: der Tür in die privatwirtschaftliche Selbständigkeit; das ist mit der Schlüsselmetapher gemeint), die „eigentlich“ für sie verschlossen war. Manches entsprach da nicht „dem Plan“, wohl auch nicht einem „marktwirtschaftlichen Regelbuch“, und: So richtig passen viele der „neuen Selbständigen" bis heute nicht in ein solches
Der weitere Weg ist offen, das gilt für alle hier skizzierten Passagen. Die Situation bleibt prekär. Nur -das sollte deutlich werden -ist das nicht in erster Linie den „neuen Selbständigen“ anzulasten. Die von diesen erreichten Verstetigungen und Etablierungen am Markt, die mit den Passagen verdeutlichten sozialen und kulturellen Kompetenzen sprechen dagegen.
Michael Thomas, Dr. phil., geb. 1951; Studium der Philosophie und Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin; danach ab 1981 als Soziologe an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften; seit 1990 am Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS) und an verschiedenen sozialwissenschaftlichen Instituten in der Bundesrepublik Deutschland und den USA; zuletzt an der TU-Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Edmund Husserl. Zur Genesis einer spätbürgerlichen Philosophie, Berlin 1987; (Hrsg.) Abbruch und Aufbruch. Sozialwissenschaften im Transformationsprozeß, Berlin 1992; Aufsätze zur Sozialstrukturanalyse und soziologischen Handlungstheorie, zum Transformationsprozeß, zu den „neuen Selbständigen“.
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