Not und Intervention in einer Welt des Umbruchs Zu Imperativen und Fallstricken humanitärer Einmischung
Tobias Debiel
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Zusammenfassung
Menschen in humanitären Notsituationen sind in den letzten Jahren durch das verhängnisvolle Zusammenwirken von Krieg, diktatorischer Gewalt, Hunger, Vertreibung sowie ökonomischer und ökologischer Verwüstung verwundbarer geworden. 1995 waren etwa 40 Millionen Menschen zum Überleben auf internationale Hilfe angewiesen. Zugleich ist es angesichts einer Chaotisierung der Kriegsführung immer schwerer, Hilfsgüter zu den Menschen zu bringen. Die internationale Gemeinschaft reagierte auf diese Entwicklungen mit einem „humanitären Interventionismus“. Eine erste Zwischenbilanz militärischen Eingreifens bleibt zwiespältig: In einigen Fällen gab es eine kurzfristige Linderung massiver Not und eine Verbesserung der Menschenrechtslage. Doch konnte bislang kein Militäreinsatz eine dauerhafte Stabilisierung in den betroffenen Ländern erreichen. Auch werden humanitär begründete Militäroperationen regelmäßig mit einer machtpolitischen Einflußsphärenpolitik vermischt. Der Autor hält trotz dieser Ambivalenzen unter restriktiven Kriterien ein militärisches Eingreifen in Extremsituationen von Völkermord und massenhaftem Sterben für ethisch legitimierbar und zeigt am Beispiel Ruandas, wie die internationale Gemeinschaft ihre Schutzfunktion vernachlässigte. Der Beitrag analysiert darüber hinaus eingehend Notwendigkeit und Probleme humanitärer Überlebenshilfe für die Opfer von Krieg, Hunger und Vertreibung. Dabei wird die Gefahr einer Entmündigung der betroffenen Menschen sowie eines politisch blinden Humanitarismus durch UN-Hilfswerke und private Hilfsorganisationen erörtert. Externe Hilfe -so unverzichtbar sie in konkreten Fällen ist -darf deshalb nach Einschätzung des Autors nicht zu einer dauerhaften Unterhöhlung nationaler, regionaler und lokaler Strukturen führen. Auch müsse konsequenter als bisher der Gefahr vorgebeugt werden, daß die politisch oder militärisch Herrschenden externe Hilfe für ihre Zwecke mißbrauchen.
Mit dem Wegfall der Blockstrukturen sind die auf den Ost-West-Konflikt und die Abschreckungslogik verengten Konzeptionen von Sicherheit endgültig obsolet geworden. Die neuen Turbulenzen brechen alte Wahrnehmungsweisen wieder auf. Die westliche Öffentlichkeit ist konfrontiert mit der grausigen Realität von Krieg, der in unserer politischen Kultur mit distanzierenden Attributen besetzt war: Es gab den Kalten Krieg und Stellvertreterkriege, Kriegführungsoptionen und Eskalationsszenarien, „low intensity warfare“ und „middle intensity warfare“, konventionelle und nukleare Kriege. Nur in Ausnahmefällen (so etwa beim Vietnam-und beim Biafra-Krieg) verdeutlichten wir uns die Barbarei von Kriegsrealitäten -wenngleich sie sehr weit entfernt waren.
In den vergangenen fünf Jahrzehnten hat es an kriegerischen Auseinandersetzungen nicht gemangelt: Zwischen 1945 und 1995 fanden nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) 194 Kriege statt, mehr als 90 Prozent von ihnen in der Dritten Welt; in der großen Mehrzahl handelte es sich um innerstaatliche Auseinandersetzungen Außerdem geschahen in Afrika und Asien Menschheitsdramen, die vom Ost-West-Konflikt überdeckt wurden: massenhaftes Sterben, das bis hin zum Völkermord ging, der Einsatz von Hunger als Waffe, der völlige Zusammenbruch ziviler Gesellschafts-wie staatlicher Ordnungsstrukturen. Welch zeitenübergreifende Provokation Thomas Hobbes’ Theorem des „Krieges aller gegen alle“ bzw.des „homo homine lupus est“ bedeutet, wurde nur selten bemerkt.
Konfrontiert mit der Tatsache, daß Krieg wieder Bestandteil der Realitätswahrnehmung geworden ist, wird nach zivilen wie militärischen Gegenmitteln gefragt -und nach moralischen Leitvorstellungen: Müssen wir uns nicht mit aller Macht der Gewalt entgegenstemmen? Oder drohen wir dem Umbruch mit der Relegitimierung von Gewalt als „ultima ratio“ zu begegnen, die allzu schnell zur „proxima ratio“ wird?
Jenseits der Frage nach der Legitimität militärischer Gewalt ist aber auch die humanitäre Hilfe, der unmittelbare Beistand in der Not mit Überlebenshilfe, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die Versorgung von Kriegsopfern, die moralisch zunächst einmal unhinterfragt geboten erscheint, erweist sich bei näherem Hinsehen alles andere als problemlos. Die internationale Gebergemeinschaft nimmt nämlich mit ihren in die Krisenregionen der Welt geleiteten Ressourcen Einfluß auf das politische Kräftespiel in den betroffenen Ländern. Westliche Nichtregierungsorganisationen (NROs bzw. Non-Governmental Organiziations, NGOs) üben häufig wichtige öffentliche Funktionen aus und untergraben mitunter die Handlungsfähigkeit und Legitimität staatlicher Herrschaft. Erweist sich damit letztlich der zivile Humanitarismus als ähnlich problematisch wie der militärische Interventionismus? Trägt er auf subtile Weise zur Unfähigkeit zerrütteter Gesellschaften bei, überlebensfähige Strukturen aus eigener Kraft aufzubauen?
Dies sind die Fragen, die ich im folgenden diskutiere Zunächst skizziere ich, welche Rolle gegenwärtig Krieg, Not und Intervention in einer turbulenten Welt des Übergangs spielen. Das zweite Kapitel steckt die Problematik militärischer Interventionen im Spannungsfeld von humanitären Begründungen und machtpolitischen Kalkülen ab. Der dritte Teil hat die Ambivalenz zwischen der Notwendigkeit humanitärer Hilfe und ihren mitunter negativen Folgewirkungen zum Gegenstand. Dieser Aspekt humanitärer Einmischung erhält in der angelsächsischen und französischen Diskussion zunehmend Beachtung; in die deutsche Debatte hat er aber bislang vergleichsweise wenig Eingang gefunden'. Im vierten Kapitel wird dann beispielhaft die Rolle der Weltgemeinschaft beim Völkermord und der Flüchtlingskrise in Ruanda untersucht -der wohl dramatischsten humanitären Katastrophe der neunziger Jahre. In den Schlußfolgerungen. soll ein Resümee der bisherigen Debatte gezogen werden.
1. Krieg, Not und Intervention in einer turbulenten Welt
Humanitäre Katastrophen sind kein Spezifikum der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Doch die Lage hat sich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten qualitativ verändert: Menschen sind in Notsituationen verwundbarer geworden. Dies hängt insbesondere damit zusammen, daß Katastrophen heute durch das Zusammenwirken ökonomischer, ökologischer und politischer Krisenfaktoren, durch die Kombination von Hunger, Gewalt und Vertreibung „komplexer“ geworden und adäquate Reaktionsmöglichkeiten erschwert sind. Das Ausmaß humanitärer Katastrophen läßt sich u. a. an der Zahl der außerhalb ihres Heimat-landes befindlichen Flüchtlinge ablesen, die sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat: Ende 1995 betrug ihre Zahl nach Angaben der Weltflüchtlingsorganisation UNHCR 27, Mio. Menschen. Hinzu kommen etwa 30 Mio. Vertriebene im eigenen Land. Etwa 40 Mio. Menschen -vor allem Flüchtlinge und Vertriebene -waren laut einer „Weltkarte des Elends“, zusammengestellt von US-Geheimdiensten, 1995 zum Überleben auf internationale Hilfe angewiesen. Das Department of Humanitarian Affairs der Vereinten Nationen listete im August 1995 13 Notlagen auf, die derart „groß oder komplex“ waren, das man nur noch durch konzertierte internationale Aktionen auf sie reagieren konnte (vgl. Über-sicht). In allen Fällen handelte es sich um politisch verursachte Notsituationen -d. h. um Folgen von Krieg, von diktatorischer Herrschaft und gesellschaftlichen Zerrüttungsprozessen.
Die Wahrnehmung humanitärer Schutzfunktionen ist in den neunziger Jahren zugleich notwendiger und problematischer denn je. Ein Report der „Ärzte ohne Grenzen“ weist darauf hin, daß humanitäre Hilfe in vielen Konfliktregionen gegenüber den achtziger Jahren erschwert ist Drei Faktoren erscheinen bedeutsam: Mit dem Ende der sicherheitspolitischen Bipolarität ist für die irregulären Kriegsparteien das Motiv entfallen, aus dem Bemühen um internationale Anerkennung heraus die Menschenrechte und humanitären Prinzipien in einem gewissen Maß zu wahren. Zweitens ist eine Aufsplitterung der Armeen bis hin zu marodierenden Banden zu beobachten, die den Alltag mit Angst erfüllen und zum völligen Zerfall verläßlicher gesellschaftlicher Strukturen führen. Der Wegfall der „disziplinierenden“ Wirkung des Ost-West-Konflikts wie auch die Chaotisierung der Kriegführung hat zudem die für Hilfs-leistungen bedeutsame Trennung von sicherem Gebiet und Kampfzone immer stärker aufgehoben. Berichte von verschiedensten Hilfsorganisationen und Experten bestätigen diese Erfahrungen
Die Staatengemeinschaft reagierte auf den Zerfall von Bürgerkriegsgesellschaften, die Zunahme humanitärer Katastrophen und die immer schwierigeren Handlungsmöglichkeiten traditioneller Hilfsoperationen mit einem „neuen Interventionismus“ Dieser Interventionismus wird zumeist unter Bezugnahme auf humanitäre Motive begründet. Jan Nederveen Pieterse hat in treffender Weise die damit verbundene, oftmals widersprüchliche Mischung moralisch-idealistischer und machtpolitisch-realistischer Elemente beschrieben: „Die Gefühlsregung, um die es hier geht, mag man als langfristiges Mitleid bezeichnen. Die Wirklichkeiten sind finsterer. Auf der einen Seite führt humanitäre Intervention 4 feierlich eine neue Art von Bürgerrecht ein, das Bürgerrecht der Menschlichkeit, während sie andererseits in den Fußstapfen konventioneller zwischenstaatlicher Politik trampelt, die sich selbst wiederum im Über-gang befindet. , Humanitäre Intervention 1 ist eine zwiegesichtige Operation: Idealismus, der in den Rädern des Realismus gefangen ist; Realismus, der durch die Realitäten überflügelt wird.“
Der „neue Interventionismus“ hat vor allem zwei Ausprägungen: den militärischen Interventionismus und den zivilen Humanitarismus. Beide Ausprägungen speisen sich aus ähnlichen Quellen, nämlich grundlegenden Veränderungen der Nord-Süd-Beziehungen: -Zum einen hat die Globalisierung der Medien-welt dazu beigetragen, daß Entwicklungen aus aller Welt innerhalb kürzester Zeit in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gelangen können -und bestimmte Katastrophen erweisen sich getreu dem Motto „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten!“ als besonders prime-time-tauglich. Auch wenn der dadurch erzeugte Druck sich nur selten in politisch-konzeptionelles Handeln übersetzt, führt er doch häufig zu symbolischem Aktionismus oder zum Verteilen von Trostpflastern in Form humanitärer Hilfsleistungen. -Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ging neben einer Reihe von Konfliktbeilegungen auch die Formänderung von Kriegen und eine Fraktionierung von Bürgerkriegsgesellschaften einher. Dem humanitären Völkerrecht, insbesondere niedergelegt in den Genfer Konventionen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977, wird dabei mehr und mehr hohngesprochen. -Militärische Eingriffe erscheinen, seit sie nicht mehr dem Risiko der Eskalation auf die Ebene des Ost-West-Konfliktes unterliegen, eher möglich. Zudem erhöhen die zunehmenden Einmischungsmöglichkeiten finanziell gut ausgestatteter NGOs des Nordens in Verbindung mit der Zerrüttung staatlicher Steuerungskapazitäten in den Konfliktregionen der Welt auch die zivile Interventionsneigung. -Schließlich wurde zwischen Frühjahr 1991 und Frühjahr 1993 die „hohe Zeit humanitären Interventionismus auf multilateraler Grundlage“ durch die Hoffnung auf eine handlungsfähige UNO genährt. Eine Art Initialzündung für die völkerrechtliche wie politikwissenschaftliche Debatte bildete die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrates, die im April 1991 den Schutz der Kurden im Nord-irak ermöglichte Weitergetrieben wurde die Diskussion durch die von UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali vorgelegte Agenda für den Frieden vom Juni 1992 und die Somalia-Intervention vom Dezember 1992, deren Fehlentwicklungen zugleich das Ende der hochgesteckten Erwartungen in einen neuen Multilateralismus einläuteten.
II. Zwischen humanitärer Pflicht und doppelter Moral: Zur Problematik militärischer Interventionen
Bereits in der Zeit des Ost-West-Konflikts gab es Fälle militärischer Intervention, in denen sich humanitäre Erwägungen mit machtpolitischen Interessen verwoben: So warfen Indiens Interventionen in Ostbengalen (1971) sowie in Sri Lanka (1987) der Sturz der Regierung von Idi Amin in Uganda durch Tansania (1979) und die Militärintervention Vietnams gegen das Pol-Pot-Regime in Kambodscha (1979) die Frage nach dem Spannungsverhältnis von moralischen und machtpolitischen Erwägungen auf. Und es gab schon vor der Auflösung der sicherheitspolitischen Bipolarität eine Debatte über die völkerrechtliche Begründbarkeit humanitärer Interventionen uni-wie multilateraler Art
Die intensivierte Diskussion über Legitimation und Probleme humanitärer Interventionell zu Beginn der neunziger Jahre hängt eng mit einer veränderten Interventionspraxis zusammen. Ab 1991 gab es im Rahmen der Vereinten Nationen eine in diesem Umfang neuartige Welle des Interventionismus, die die Souveränität der Einzelstaaten de facto in Frage stellte sowie mehr und mehr die Verletzung von Menschenrechten und humanitärer Mindeststandards zum Bezugspunkt wählte.
Fünf Fälle militärischer Intervention zum tatsächlichen oder vermeintlichen Schutz von Menschen in Not und Unfreiheit waren zwischen 1991 und 1995 zu verzeichnen: -Im Frühjahr 1991 richteten die westlichen Alliierten eine humanitäre Schutzzone für die Kurden im Nordirak ein, die der UN-Sicherheitsrat mit der bereits erwähnten Resolution 688 vom 5. April 1991 legitimiert hatte. Auch wenn zur Begründung der Maßnahme die Friedensgefährdung durch grenzüberschreitende Flüchtlingsbewegungen und nicht massive Menschenrechtsverletzungen genannt wurden, so wurde doch in der politischen Diskussion die Hoffnung gehegt, daß von nun an Menschenrechte Leitfaden für das Handeln des Sicherheitsrats werden könnten. -Am 3. Dezember 1992 genehmigte der Sicherheitsrat mit der Resolution 794 die Entsendung einer 30 000 Soldaten starken multinationalen Truppe unter Führung der USA (UNITAF) nach Somalia -ein Eingriff, den Boutros Boutros-Ghali in völkerrechtlicher Hinsicht mit der Abwesenheit jeglicher Regierung begründete UNITAF wurde im Mai 1993 durch rund 20 000 Blauhelm-Soldaten unter UN-Oberbefehl (UNOSOM II) abgelöst. Sie verließen im März 1995 das Land, ohne daß eine Konfliktregelung in Sicht war. -Am 4. Juni 1993 beschloß der Sicherheitsrat mit der Resolution 836 die Einrichtung von sechs Schutzzonen für die etwa 1, 2 Mio. bosnischen Moslems in Bosnien-Herzegowina. Doch die UNPROFOR konnte das Schutzversprechen in fataler Weise nicht einlösen, da ihre Truppenstärke nicht entsprechend aufgestockt worden war. Seit dem Abkommen von Dayton am 21. November 1995 ist eine im wesentlichen aus NATO-Truppen zusammengesetzte multinationale Streitkraft, die sogenannte Implementation Force (IFOR), im früheren Jugoslawien stationiert. -Angesichts des gezielt vorbereiteten Völkermordes an schätzungsweise 500 000 bis 800 000 Tutsi und oppositionellen Hutu in Ruanda faßte der UN-Sicherheitsrat am 17. Mai 1994 mit der Resolution 918 den (verspäteten und unzureichenden) Beschluß, eine 5 500 Mann umfassende humanitäre Schutztruppe (UNAMIR II) zu entsenden, die erst nach mehreren Monaten aufgestellt war. Am 22. Juni 1994 stimmte er nach französischem Drängen einer nationalstaatlichen und äußerst umstrittenen Intervention unter „Einsatz aller notwendigen Mittel“ (Resolution 929), der Operation Turquöise, zu. -Fünftens schließlich fand im September 1994 die US-geführte Militärintervention Restore Democracy in Haiti statt. Nach dem Scheitern multilateraler Versuche der Konfliktbeilegung hatte der Sicherheitsrat im Juli 1994 mit der Resolution 940 die Mitgliedstaaten autorisiert, „alle notwendigen Mittel“ anzuwenden, um die Wiedereinsetzung der 1990 gewählten und am 30. September 1991 durch einen Militärputsch abgesetzten Regierung von Jean-Bertrand Aristide durchzusetzen. Eine vorläufige Bilanz dieser unter Kapitel VII der UN-Charta erfolgten Militäreinsätze bleibt äußerst zwiespältig: In einigen Fällen gab es eine kurzfristige Linderung massiver Not und eine Verbesserung der Menschenrechtslage, so insbesondere im Nordirak und Haiti. Auch wurde mit dem Abkommen von Dayton vom November 1995 und dem IFOR-Einsatz eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage in Bosnien-Herzegowina erreicht. Zugleich wiesen jedoch sämtliche Interventionen erhebliche Defizite bei ihrer Durchführung auf. Bislang konnte kein Militäreinsatz eine dauerhafte Stabilisierung in den betroffenen Ländern erreichen. Insbesondere der Einsatz in Somalia muß in dieser Hinsicht als weitgehend gescheitert gelten. Vielversprechende Ansätze zur Förderung lokaler und regionaler Selbstverwaltungsstrukturen wurden nach dem martialischen Auftreten der US-Streitkräfte und der Fixierung auf die „warlords" im Februar 1994 von der UNOSOM-Mission aufgegeben, das unverzichtbare Friedenspotential der civil society -d. h. von traditionellen und religiösen Führern, von lokalen Netzwerken, Frauengruppen, Intellektuellen, NGOs etc. -verkannt
III. Zweifelhafte Neutralität: Zum Funktionswandel humanitärer Hilfe
Seit den achtziger Jahren haben im Bereich humanitärer Hilfe NGO-Diplomatie und NGO-Engagement kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. UN-Agenturen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) blieben in vielen Ländern Afrikas, aber auch in Afghanistan, auf die Zuschauertribüne verbannt, da sie erst bei Einwilligung der jeweiligen Regierung und Einigung der Konfliktparteien aktiv werden können. Wo dies nicht der Fall war, leisteten solche NGOs Hilfe, die sich einen „Humanitarismus ohne Grenzen“ auf die Fahnen geschrieben hatten. Äthiopien ist ein herausragendes Beispiel: Zwischen 1984 und 1991 wurden 80 Prozent der Nothilfe über NGOs oder unter maßgeblicher Beteiligung von NGOs an die betroffene Bevölkerung gegeben Sie leiteten damit einen Wandel ein, der zu einer qualitativen Veränderung der humanitären Hilfe geführt hat.
1. Merkmale des zivilen Humanitarismus
Im Bereich des zivilen Humanitarismus lassen sich zwei Tendenzen identifizieren, die mittlerweile auch die Struktur des Nord-Süd-Verhältnisses verändert haben Erstens findet eine Privatisierung der Entwicklungshilfe statt: Immer mehr öffentliche Gelder werden über NGOs kanalisiert, die sich heute zu vermutlich 40 Prozent aus öffentlichen Zuschüssen finanzieren und untereinander zu Oligopolen zusammenschließen Die NGOs sind mit einem Anteil von 13 Prozent an der gesamten Entwicklungshilfe 1992 zum zweitgrößten Akteur nach den bilateralen Gebern geworden Außerdem haben nördliche NGOs in vielen südlichen Ländern zunehmend originär staatliche Funktionen übernommen -und unterlaufen damit dort die Autorität von Behörden und Regierungen. Mark Duffield hat dies treffend als „Internationalisierung der öffentlichen Wohlfahrt“ bezeichnet In Mosambik beispielsweise, wo ausländische Hilfe 1991 bereits 78 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachte, haben wir es mit der fast völligen Übernahme des öffentlichen Sektors durch die internationale Hilfsgemeinschaft zu tun. Die Folgen dieser Entwicklung für die internationalen Beziehungen sind -wie Alan Fowler festhält -weitreichend: „Wo ein südlicher Staat für seine Existenz mehr von externer Hilfe als von der nationalen Wirtschaft abhängig ist, wird er faktisch zu einer lokalen Regierung in einer globalen politischen Ordnung. Souveränität ist dann bedeutungslos, wenn grundlegende Staatsfunktionen -Sicherheit, ökonomisches Management, die Auswahl und Implementierung öffentlicher Politik -nur nach externer Rückfrage und Finanzierung zu einem Mindestmaß garantiert oder übernommen werden können.“
Zweitens ist in Krisenregionen eine absolute Zunahme von Katastrophenhilfe bei gleichzeitigem Rückgang der Direktinvestitionen zu beobachten. Außerdem steigt der Anteil von Katastrophenhilfe an der Entwicklungshilfe. So haben sich die nominellen Ausgaben der OECD-Staaten für Nothilfe von Beginn der achtziger Jahre bis zu Beginn der neunziger Jahre auf 3, 2 Mrd. US-Dollar (1993) verzehnfacht. Während 1990 der Anteil von Soforthilfemaßnahmen an der staatlichen Entwicklungshilfe (ODA) bei 3 Prozent lag, macht er Mitte der neunziger Jahre bereits etwa 10 Prozent aus Die Nothilfe beläuft sich beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) mittlerweile ebenfalls auf 10 Prozent des Budgets In den USA entfällt zur Zeit mehr als die Hälfte der Unterstützung für Afrika auf Nothilfe
Auch bei UN-Organisationen, die in komplexen Notlagen aktiv sind, läßt sich der Trend steigender Nothilfe nachweisen So verwendete das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP), das ursprünglich in erster Linie eine Entwicklungs-und „Food for work“ -Organisation war, Ende der achtziger Jahre noch ein Drittel der Nahrungsmittelhilfe für Sofortmaßnahmen; Mitte der neunziger Jahre betrug der Anteil schon zwei Drittel bis vier Fünftel Auch bei UNICEF hat die Bedeutung der Nothilfe zugenommen: Machte sie Ende der achtziger Jahre noch ein Zehntel des Haushalts aus, so liegt der Anteil 1994 bei ungefähr einem Drittel Diese Tendenz zur Katastrophenhilfe ist nicht zuletzt bei den NGOs zu beachten: Der Trend wird hier noch dadurch verstärkt, daß das Fundraising eng an die Medienberichterstattung gekoppelt ist und von daher spektakuläre bzw. gut sichtbare Projekte begünstigt werden. Diese kurzfristige Orientierung am „schreienden Elend“ trägt -wie Antonio Donini zu Recht feststellt -angesichts begrenzter Ressourcen die Gefahr in sich, die tiefer liegenden Ursachen von Krieg und Unterentwicklung zu ignorieren und den Kollaps vieler Gesellschaften im verarmten Süden letztlich hinzunehmen.
2. Fallstricke humanitären Engagements
Die Bedeutungszunahme der Katastrophenhilfe wie auch die veränderte Weltlage wirken sich unmittelbar auf die Praxis humanitärer Hilfsorga-nisationen aus. So kann Katastrophenhilfe nur selten mit langfristigen Entwicklungsbemühungen abgestimmt werden und droht zum Almosen für Länder zu verkommen, die durch politische und ökonomische Entwicklungsblockaden an der Peripherie des Weltsystems stehen. Hilfsleistungen werden zudem oftmals zum integralen Bestandteil von „Bürgerkriegsökonomien“ Sie tragen zu einer erheblichen Veränderung der Wirtschaftsund Währungsbeziehungen bei, von der insbesondere die politisch und ökonomisch starken Gesellschaftsgruppen profitieren Der massive Zufluß von Nahrungsmitteln wie auch der Aufkauf von Getreide in Nachbarstaaten von Hunger bedrohter Regionen führt zu einer starken Verzerrung der lokalen Marktstrukturen. Das Resultat sind in der Regel hohe Spekulationsgewinne für Händler, kommerzielle Farmer und Transportunternehmer. Insbesondere die politisch Herrschenden verstehen es, von externer Unterstützung zu profitieren. So konnte die sudanesische Regierung beispielsweise aus der Operation Life Line 1989 die Hälfte ihres Militäretats finanzieren. Dies gelang insbesondere durch einen künstlich unterbewerteten Wechselkurs, der erhebliche Abschöpfungen beim Umtausch harter in die inländische Währung ermöglichte.
Die vielleicht größte Gefahr des zivilen Humanitarismus ist jedoch politischer Natur: Während des Kalten Krieges fand sich der Humanitarismus lange Zeit quasi in der Zwangsjacke Die UN-Agenturen, aber auch die ganz überwiegende Zahl der NGOs operierten in einem Land nur, wenn die Zustimmung hierfür vorlag und die Kooperationsbereitschaft der Regierung gegeben war. Dadurch konnten sie zwar oftmals unmittelbares Leid lindern, wurden jedoch auch von der Herrschaftsmacht, die ein Gebiet kontrollierte, instrumentalisiert. Denn diese nutzte in aller Regel Teile der Unterstützung sowie die Logistik der Hilfsorganisationen für eigene Zwecke. Zudem erhielt sie als Verhandlungspartner internationaler Organisationen eine zweifelhafte Legitimation.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts bestehen diese Dilemmata fort. Doch ist die Stellung der Hilfsorganisationen gestärkt. Von daher haben viele humanitäre NGOs ihr Mandat auch auf Menschenrechte und Konfliktlösung ausgedehnt -eine Entwicklung, die grundsätzlich zu begrüßen ist. Freilich gibt es Anzeichen dafür, daß sich die „humanitäre Internationale“ mit ihren mehrdimensionalen, oftmals konfligierenden Zielsetzungen in gewisser Weise übernommen hat. Denn in der Praxis humanitärer Aktionen dominieren nach wie vor logistische Überlegungen, Hilfe möglichst effizient zu den Menschen zu bringen. Die politische Frage aber, ob Hilfsleistungen wirklich Schutz vor den Folgen von Krieg und Vertreibung bieten, solange es nicht zu einer tragfähigen Friedensregelung gekommen ist, gerät trotz anderweitiger Beteuerungen oftmals in den Hintergrund.
IV. Die internationale Gemeinschaft und der Völkermord in Ruanda
Die angesprochenen Ambivalenzen und Gefahren des „neuen Interventionismus“ wurden in dramatischer Weise beim Völkermord in Ruanda und bei der anschließenden Flüchtlingskrise deutlich. In Ruanda fand die bislang wohl größte humanitäre Katastrophe der neunziger Jahre statt: Innerhalb von drei Monaten wurden 500 000 bis 800 000 Tutsi und oppositionelle Hutu ermordet. Vergewaltigungen und Verstümmelungen wurden in unvorstellbaren Ausmaßen begangen; die Traumatisierungen werden die Opfer, die dem Tod entkamen, ihr Leben lang verfolgen
In dem ruandischen Konflikt gab es sehr wohl Präventionsbemühungen. Insbesondere die Orga-nisation für Afrikanische Einheit (OAU) und Tansania hatten sich bemüht, eine tragfähige Friedensvereinbarung zwischen der von Uganda aus operierenden und von Tutsi dominierten Patriotischen Front (RPF), der aus Hutu bestehenden Regierung Habyarima sowie regierungskritischen Oppositionskräften zu vermitteln. Die im August 1993 abgeschlossenen Vereinbarungen von Arusha für einen Waffenstillstand und eine politische Machtteilung galten sogar als vielversprechend und sollten von der UNO implementiert werden. Doch wurden im entscheidenden Moment wichtige Hinweise auf die systematische Vorbereitung eines Völkermords durch extremistische und bis in die Regierung reichende Hutu-Kräfte im Lande von einem Großteil der Akteure in der Region und auf internationaler Ebene ignoriert oder falsch interpretiert Die UNO, die die Implementierung des Friedensabkommens überwachen sollte, versagte im April 1994 fast völlig. Dies gilt sowohl für die zuständigen UN-Abteilungen des Generalsekretariats als auch für die maßgeblichen Staaten im Sicherheitsrat, die an der Krise weitgehend desinteressiert waren oder aber allzu spezifische Interessen verfolgten -so insbesondere Frankreich, das eng mit dem Habyarima-Regime verbunden war und vermutlich noch kurz nach Beginn des Völkermordes Waffen in das Land lieferte
Insbesondere wurde es versäumt, die mit einem nur unzureichenden Mandat im Land befindlichen UN-Truppen (UNAMIR) so auszurüsten, daß sie dem Völkermord hätten Einhalt gebieten können. Statt dessen zog man nach der gezielten Ermordung von zehn belgischen Blauhelmsoldaten zunächst sogar den Großteil der Truppen zurück, obwohl der UNAMIR-Kommandierende, General Romeo Dallaire, diese Maßnahme nicht unterstützte. Für die Menschen vor Ort. die sich durch die Präsenz der UNO in einem trügerischen Gefühl von Sicherheit wiegten, war dies ein verheerender Schritt
Eine umfassende internationale Reaktion gab es erst, als mit dem militärischen Erfolg der Patriotischen Front mehrere Millionen Menschen nach Zaire und Tansania flohen. Bei der Durchführung der Hilfsmaßnahmen gab es z. T. erhebliche Koordinationsprobleme und Spannungen zwischen den Hilfsagenturen, in vielen Bereichen können die Leistungen aber in einem engeren, humanitären Sinne als durchaus eindrucksvoll gelten. Zugleich wurde jedoch die von Alex de Waal und Rakiya Omaar angesprochene Gefahr eines politisch blinden Humanitarismus deutlich So wurde es versäumt, die systematisch vorbereiteten und durchgeführten Massaker konsequent und insistierend als Völkermord zu benennen sowie die Drahtzieher durch Sanktionen (so etwa das Einfrieren ausländischer Devisenguthaben, die Verweigerung von Reisevisa etc.) zu brandmarken. Derartige Maßnahmen hätten zwar den Genozid nicht stoppen, wohl aber moralische Führung begründen können, die für konsequentes politisches Handeln in Extremsituationen -und auch danach -unabdingbar ist.
Auch hinsichtlich der Reaktion auf die Flüchtlings-krise gibt es den Vorwurf, daß die internationale Gemeinschaft in politischer Hinsicht versagt habe: Denn die Ressourcen der meisten Hilfsorganisationen wurden zunächst auf die Flüchtlingslager, die in Tansania und Zaire entstanden, konzentriert; die Opfer des Völkermords wie auch der Wiederaufbau in Ruanda gerieten dagegen zeitweise in den Hintergrund. Daß der Exodus aus Ruanda von den für den Völkermord Verantwortlichen politisch inszeniert war, wurde nicht entsprechend problematisiert. Um Hilfsgüter möglichst effizient verteilen zu können, griff man in den Lagern gar auf alte Herrschaftsstrukturen zurück und stützte damit ebenfalls die Mörder.
V. Resümee und Schlußfolgerungen
Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun für den „neuen Interventionismus" der neunziger Jahre ziehen? Angesichts der grundlegenden Dilemmata ist eine große Zurückhaltung gegenüber militärischen Interventionen angezeigt. Nur in wenigen Fällen sind Militäroperationen externer Akteure in Bürgerkriegssituationen tatsächlich erfolgversprechend. Und die Gefahr des Mißbrauchs für Großmachtinteressen ist nicht zu unterschätzen. Es ist vor allem bedenklich, daß sich in sämtlichen Interventionsfällen der neunziger Jahre (Nordirak, Somalia, ehemaliges Jugoslawien, Ruanda und Haiti) ein typisches Verlaufsmuster wiederholt hat: Dort, wo sich die UNO-Mitgliedstaaten zu entschiedenem politischen Handeln nicht durchringen können, sollen Blauhelme einer sensibilisierten Öffentlichkeit Entschlossenheit demonstrieren. Zugleich verweigert man ihnen in entscheidenden Momenten die angemessene Unterstützung und überläßt Großmächten das Kommando.
Die US-amerikanische UN-Botschafterin Made-leine K. Albright hat treffend von „Einflußsphärcn-peace-keeping“ gesprochen: Frankreich wurde die Intervention in Ruanda genehmigt, die USA führten die Operation „Restore Democracy“ in Haiti durch Durch derartige Entwicklungen entsteht, wie Edward C. Luck feststellt, „a no-win Situation -a Strategie Catch-22 -for the U. N.“ Machtlos gehalten, kann die Weltorganisation ihr Mandat nicht erfüllen und verliert ihre Glaubwürdigkeit als globaler Konfliktmanager.
Fehlt aber ein klarer Wille zu einem dauerhaften, zivilen Engagement, das die gesellschaftliche und staatliche Steuerungsfähigkeit wiederherstellt, und fehlt die multilaterale Einbindung und Kontrolle einer Operation im Rahmen der Vereinten Nationen, so kann von Interventionen nur abgeraten werden. Dennoch meine ich, daß im Falle von Völkermord, massiven Vertreibungen und einem völligen Zerfall von Gesellschaften externe Interventionen unter restriktiven Kriterien im Einzelfall ethisch durchaus zu legitimieren sind Soll das von der Commission on Global Govemance entworfene Konzept einer „globalen Nachbarschäft“ mehr sein als bloße Rhetorik, so gibt es neben der Notwendigkeit grundlegender sozioökonomischer und politischer Strukturreformen eine Schutzverpflichtung der internationalen Gemeinschaft bei massivsten Menschenrechtsverletzungen. Ansonsten wären die normativen Grundlagen der vielbeschworenen „Einen Welt“ zur Disposition gestellt.
Eine in Extremsituationen pro-interventionistische Position läßt sich allerdings nur durchhalten, wenn der allseits geforderte, institutionell, finanziell und analytisch aber nach wie vor unterentwickelte Bereich der Gewaltprävention und friedlichen Konfliktbearbeitung massiv ausgebaut wird Wohl selten zeigte sich klarer als in Ruanda, wie teuer es nicht nur an Menschenleben, sondern auch in finanzieller Hinsicht wird, wenn Präventionsbemühungen nicht konsequent verfolgt und in entschlossenes Handeln umgesetzt werden: Allein 1994 wurden schätzungsweise 1, 4 Mrd. US-Dollar für Nothilfe in Ruanda ausgegeben; dies war ein Fünftel der gesamten internationalen Aufwendungen für Not-und Katastrophenhilfe in diesem Jahr
Auch der zunehmende zivile Humanitarismus unterliegt Gefahren. Diese sind bislang nicht in der Intensität diskutiert worden, wie es beim militärischen Interventionismus der Fall ist. Internationale Hilfe, die ökonomisch wie sozial schwachen Bevölkerungsgruppen das Überleben in extremen Notsituationen ermöglicht, bleibt ein moralisches Gebot, will sich der Westen nicht in einer ebenso kurzsichtigen wie zynischen Festungsmentalität verbunkern. Engagierte NGOs und die humanitären Hilfsagenturen tragen insofern nicht nur zur Gewissenberuhigung bei, sondern stellen auch eine unabdingbare moralische Instanz im Prozeß der Globalisierung dar, der sich am „survival of the fittest“ orientiert und das „survival of the weakest“ nur allzugern vergißt.
Doch es müssen auch ernsthafte Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen werden, daß karitative Maßnahmen Krisensituationen verlängern oder gar verschärfen können Externe Hilfe -so unverzichtbar sie in vielen konkreten Fällen ist -darf nicht zu einer dauerhaften Unterhöhlung nationaler, regionaler und lokaler Strukturen führen, sondern muß auf deren Wiederherstellung bzw. Transformation abzielen. Dies bedeutet konkret, daß jede Hilfspolitik bei den lokalen gesellschaftlichen Strukturen ansetzen muß. Hierüber sollte ein Konsens unter den Hilfsorganisationen geschaffen werden, die sich ferner nicht gegenseitig durch medienwirksame Aktionen ausspielen dürfen, um ihren Anteil am Spendenmarkt zu sichern.
Humanitäre Hilfe in komplexen Katastrophen muß als Teil eines politischen Prozesses verstanden werden. Der karitative Imperativ läßt sich nur einlösen, wenn einer Instrumentalisierung durch die Herrschenden konsequent entgegengewirkt wird. Gelingt dies nicht, kann der Abbruch von Hilfe besser sein als eine Verstärkung von Unrechtsstrukturen. Die „Ärzte ohne Grenzen“ zogen sich beispielsweise aus einigen Lagern mit ruandischen Flüchtlingen in Tansania und Zaire Anfang 1995 zurück, weil sie merkten, daß ihre Hilfe letztlich die Herausbildung von „refugeewarrior communities“ unterstützte Die Führe: in den Lagern setzen nach wie vor auf eine militärische Rückeroberung der Macht und behindern eine Repatriierung.
Damit humanitäre Hilfe nicht ungewollt die Mächtigen oder ungerechte Strukturen stützt, müssen bei einem umfassenden Eingreifen der internationalen Gemeinschaft frühzeitig Akteure im Land identifiziert werden, die Interesse an einem dauerhaften Frieden haben. Kumar Rupesinghe, Generalsekretär der Londoner NGO International Alert, plädiert im Zusammenhang ziviler Konflikt-bearbeitung für die Bildung von „Friedensallianzen“, in der die verschiedensten Vertreter der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen sein sollten, die bei einer Militarisierung von Konflikten in aller Regel an den Rand gedrängt werden: gemäßigte Politiker, soziale Bewegungen, Clanälteste, traditionelle Führer und nicht zuletzt Geschäftsleute Diese Gruppen gegenüber den „warlords" zu stärken ist auch im Bereich der humanitären Einmischung eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Linderung extremer Not in einen Prozeß tragfähiger Entwicklung und dauerhaften Friedens übergehen kann.
Tobias Debiel, M. A., geb. 1963; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie in Bonn; seit 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Norbert Ropers) Friedliche Konfliktbearbeitung in der Staaten-und Gesellschaftswelt, Bonn 1995; (Hrsg. zus. mit Franz Nuscheler) Der neue Interventionismus. Humanitäre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Bonn 1996.
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