Die wichtigste Legitimation stellte für die kommunistischen Staaten die Geschichte dar. Daraus resultierte zugleich die hohe Bedeutung, die die Geschichtswissenschaft eingeräumt bekam. Am Beispiel der SED-Nationentheorie wird gezeigt, in welch engem Wechselverhältnis sich Politik und Historiographie in der DDR befanden. Die wichtigste Aufgabe der DDR-Historiker bestand in den siebziger und achtziger Jahren darin, eine „DDR-Nationalgeschichte“ von der Urgesellschaft bis zur Gegenwart zu schreiben. Das politische Ziel dabei war, den Bürgern ein „DDR-Nationalbewußtsein“ zu vermitteln. In dem Beitrag geht es sowohl um die politischen und legitimatorischen Absichten der DDR-Geschichtswissenschaft in den siebziger und achtziger Jahren als auch um eine generelle Charakteristik der DDR-Geschichtswissenschaft. Die wichtigste These lautet, daß es in der DDR auf dem Gebiet der Historiographie zur Herausbildung eines besonderen -ideologiegeprägten -Wissenschaftstypus kam.
I.
Die kommunistischen Machthaber gaben ihre Diktatur als das Ergebnis wissenschaftlicher Geschichts-und Gesellschaftserkenntnis aus. Ihre Herrschaft bedurfte deshalb einer besonderen Form von „wissenschaftlicher Politikberatung“. Die SED bemühte sich daher frühzeitig, Wissenschaftsdisziplinen zu konstituieren, die ihre Bedürfnisse befriedigen konnten. Zu diesen Fächern zählte neben der Philosophie und den Am 14. Mai 1986 fand in Stockholm eine öffentliche Diskussion über die „Deutsche Frage und Europa“ zwischen den Schriftstellern Martin Walser (Bundesrepublik) und Stefan Heym (DDR) statt. Heym äußerte dem Bericht des DDR-Botschafters in Schweden zufolge, er wisse, „daß in der Bevölkerung (der DDR -ISK) nach wie vor das Verlangen nach Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten groß sei. Es gäbe . . . auf allen Gebieten mehr Einendes als Trennendes. Die deutsche Frage sei deshalb eine nationale Frage, die auf Lösung harre. Offen sei, was für ein künftiges Deutschland das sein werde.“ Der bekannte Schriftsteller fügte noch hinzu, daß die Deutschen diese Frage selbst lösen müßten
Heym brachte nicht nur die Sehnsucht vieler ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger zum Ausdruck, sondern attackierte zugleich die offizielle Politik der SED an ihrer Achillessehne. Denn kaum etwas anderes war der SED-Führung in den siebziger und achtziger Jahren wichtiger, als zu behaupten, es gäbe weder eine offene deutsche Frage noch eine einheitliche deutsche Nation.
In dem vorliegenden Beitrag geht es darum, darzustellen, welchen Anteil die Historiker an der Popularisierung jener offiziellen Auffassung hatten, wonach sich in der DDR eine „sozialistische deutsche Nation“ gebildet habe. Diese Frage ermöglicht es, die Funktion der Geschichtswissenschaft im politischen System der DDR zu skizzieren.
Rechts-und Wirtschaftswissenschaften in hohem Maße die Geschichtswissenschaft.
Während beispielsweise die Philosophie in der DDR vor allem ideologische Funktionen zu erfüllen hatte und so zum „zweckdienlichen Rechtfertigungsmechanismus“ der Machtpraxis eingesetzt wurde bestand die wichtigste Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, den „wissenschaftlichen Nachweis“ zu führen, „daß sich die gesellschaftliche Entwicklung auf der Grundlage objektiv wirkender Gesetzmäßigkeiten“ vollziehe Immer wieder behaupteten Funktionäre und SED-Historiker kategorisch, daß die „sich objektiv vollziehenden Prozesse“ nur „richtig“ erforscht werden könnten, wenn der „verantwortungsbewußte Historiker ... sich als Beauftragter der Arbeiterklasse und der sozialistischen Gesellschaft“ fühle Aus diesem Anspruch resultierte der besondere Charakter der DDR-Geschichtswissenschaft.
Die Historiographie in der DDR war ein Produkt der SED-Herrschaft. Sie repräsentierte einen neuartigen Wissenschaftstypus, der eigens von der SED zum Zwecke der Legitimierung ihrer Herrschaft geschaffen worden war Prinzipiell war die DDR-Geschichtswissenschaft dadurch charakterisiert, daß sie politische Ansprüche zu erfüllen und ergebnisorientierte externe Vorgaben umzusetzen hatte. Ihr fehlte es weitgehend an wissenschaftsinterner Autonomie. Wissenschaftliche Rationalitätskriterien sind ebenso außer Kraft gesetzt worden, wie es ihr an methodischem, interpretatorischem und theoretischem Pluralismus mangelte. Die Deu-tungskompetenz lag bei außer-und verwissenschaftlichen Instanzen und Institutionen.
Die DDR-Geschichtswissenschaft hatte sich bis spätestens Ende der fünfziger Jahre als funktionstüchtige Disziplin herausgebildet und die „bürgerliche Historiographie“ verdrängt Die Mehrzahl der bürgerlichen Historiker war bis zum Ende der fünfziger Jahre verstorben, emigriert oder emeritiert. Allerdings existierten Relikte „bürgerlicher Geschichtswissenschaft“ teilweise bis zum Untergang der DDR.
Zwei leninistische Historikergenerationen prägten die Geschichtsforschung Die dritte wäre Anfang der neunziger Jahre in die entscheidenden Positionen nachgerückt. Auffälliges Merkmal aller Historikergenerationen war ihr parteiergebenes Verhalten, welches sich allein schon in einem sehr hohen Organisierungsgrad in der SED widerspiegelte. Obwohl sich die historischen Konzeptionen der SED-Führung mehrmals veränderten, war es stets die Aufgabe der Historiker, die DDR als gesetzmäßigen „Schluß-und Höhepunkt“ der deutschen Geschichte darzustellen. In den siebziger und vor allem achtziger Jahren blieb im Gegensatz zu den Jahren davor allerdings offen, inwieweit und vor allem wann die „kapitalistische BRD“ ebenfalls den einzigen „progressiven“ gesellschaftlichen Weg einschlagen würde. Unbestritten blieb jedoch, daß der Sozialismus/Kommunismus entsprechend der Theorie von der Abfolge der Gesellschaftsformationen weltweit „siegen“ würde Diesem ein fälligen Schema lag ein naiver Glaube zugrunde, der mit simplen Kategorien wie „Fortschritt“ und „Reaktion“ operierte, ohne daß dabei die Krisensymptome der Moderne allgemein hätten diskutiert werden können. Negative Folgen der Moderne stellten für die Marxisten/Leninisten lediglich Entwicklungen dar, die dem Kapitalismus zuzuschreiben seien und vom Sozialismus/Kommunismus restlos überwunden werden würden.
Trotz der leninistischen Basis der DDR-Geschichtswissenschaft wäre es verfehlt, jede historische Arbeit eines DDR-Historikers abzuqualifizieren. Vereinfachend könnte man sagen, je weiter sich die Arbeiten zeitlich von der Gegenwart entfernten, desto mehr genügten sie wissenschaftlichen Kriterien. Die SED-Führung beanspruchte vor allem Deutungshoheit auf den Gebieten Geschichte der Arbeiterbewegung, Deutsche Geschichte der Neuzeit (speziell 19. und 20. Jahrhundert), „Geschichte des sozialistischen Weltsystems“, Revolutionsgeschichte, Geschichte westlicher Staaten sowie Geschichte der Urgesellschaft, Kolonialgeschichte, Geschichte außer-europäischer Staaten im 20. Jahrhundert und Geschichte der Befreiungsbewegungen. Hinzu kam, daß sie Periodisierungsdiskussionen, Debatten über Begrifflichkeiten und Theoreme sowie den gesamten Komplex von Theorie, Methode und Geschichte der Geschichtswissenschaft besonders kontrollierte. Dennoch existierten Forschungsgebiete, die einer Reihe von Wissenschaftlern als Nischen dienten
Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß trotz der Ansprüche der SED in den meisten genannten Gebieten dennoch Studien produziert worden sind, die auf hohem wissenschaftlichen Niveau Erkenntnisgewinne lieferten. Allerdings befinden sich darunter kaum marxistisch orientierte Studien, weil der Marxismus als Methode praktisch kaum zur Anwendung gelangte, sondern zumeist nur in seiner leninistisch bzw. stalinistisch verbrämten Form
Es gab in der DDR nicht nur Historiker an Universitäten und Akademien, sondern ebenso an Parteihochschulen, an Hochschulen der Massenorganisationen und im SED-Apparat, die allesamt historische Werke produzierten. Dieser Fakt wird allzu häufig übersehen. An den Hochschulen der SED (z. B. Parteihochschule, Akademie für Gesellschaftswissenschaften) sind seit den sechziger Jahren rund zwanzig Prozent aller historischen Graduierungsschriften verteidigt worden, während der Anteil der Universitäten an den geschichtswissenschaftlichen Qualifikationsschriften stetig zurückging Inhaltlich gewannen in der Planwissenschaft besonders Zeitabschnitte der Neuesten Geschichte immer mehr an Gewicht, so daß zwischen 1980 und 1989 nahezu jede zweite geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit (A u. B) allein der Zeit nach 1945 gewidmet war (vgl. Tabelle).
Der DDR-Geschichtswissenschaft zu unterstellen, wie es in den letzten Jahren häufig geschah, sie hätte seit den siebziger Jahren eine Professionalisierung erfahren, scheint zumindest angesichts dieser Zahlen fragwürdig Unbestritten ist, daß Werke erschienen sind, die sich vor dem Hintergrund des üblichen Produktionsniveaus deutlich abhoben. Aber ob damit gleich der gesamten DDR-Geschichtswissenschaft Entwicklungstendenzen zugeschrieben werden können, die als „Professionalisierung“ oder als Übergang von einer selektiven zu einer integralen Betrachtungsweise ausgegeben werden können, ist auch angesichts der unveränderten politischen Rahmenbe dingungen zweifelhaft. Bei der Beurteilung der DDR-Geschichtswissenschaft muß berücksichtigt werden, daß die bleibenden wissenschaftlichen Werke Einzelleistungen in einem Dickicht von kaum wissenschaftlichen Kriterien genügenden Publikationen und unveröffentlichten Schriften gewesen sind. Die „Filetstücke“ entstanden trotz der wissenschaftsfeindlichen Atmosphäre in der DDR.
Die skizzierten grundlegenden Prämissen 'der DDR-Geschichtswissenschaft, die letztlich zur Herausbildung einer Historiographie sui generis führten, sind in den Jahren nach 1989 zunehmend aus dem Blick geraten. Nicht anders ließe sich erklären, warum die westdeutschen Evaluatoren den DDR-Historikern offensichtlich ein westliches Wissenschaftsverständnis unterstellten und erst dadurch so evaluieren konnten, als hielten sie sich in Heidelberg, Barcelona oder Vancouver auf. Die DDR-Geschichtswissenschaft entzog sich jedoch der Evaluierungspraxis. Die Evaluatoren übersahen, daß viele DDR-Historiker nicht einfach nur ausführende Figuren auf dem Schachbrett der SED-Führung waren, sondern selbst aktiv ins strategische, taktische und propagandistische Spiel eingriffen. Sie agierten eben nicht nur als der verlängerte Arm der Politik, sondern zugleich als Schulter und Kopf, die den Arm führten. Diese Verzahnung von Politik, Propaganda und Wissenschaft trat nicht zuletzt am Beispiel der SED-Nationentheorie zutage.
II.
Der VIII. Parteitag der SED, der vom 15. bis 19. Juni 1971 stattfand, ist in der DDR als zäsurbildendes Ereignis angesehen worden. Hier begann offiziell die „Ära Honecker“. Der Parteitag sanktionierte außerdem die „ruhmreiche“ Wirtschaftsund Sozialpolitik, die am Ende ein bankrottes Land zurückließ. In der Kunst und Kultur begannen vorsichtige Liberalisierungstendenzen -so zumindest die Wahrnehmung vieler Zeitgenossen bis sich mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 auch diese Wahrnehmung als Trugschluß erwies. Tatsächlich stellte der VIII. Parteitag deutschlandpolitisch eine Zäsur dar, weil sich die SED-Führung offiziell von der einheitlichen deutschen Nation verabschiedete. Fortan war in der DDR „bei der Einschätzung der nationalen Frage von ihrem Klasseninhalt“ auszugehen. Die sozialistischen Produktionsverhältnisse würden einen neuen Typus der Nation schaffen. Honecker führte aus: „Im Gegensatz zur BRD, wo die bürgerliche Nation fortbesteht und wo die nationale Frage durch den unversöhnlichen Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und den werktätigen Massen bestimmt wird, der ... im Verlauf des welthistorischen Prozesses des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus seine Lösung finden wird, entwikkelt sich bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik, im sozialistischen deutschen Staat, die sozialistische Nation.“
Honecker erteilte damit der Konzeption von Ulbricht eine Abfuhr, der an einer einheitlichen Nation festgehalten hatte. Ulbrichts Deutschland-politik lief zwar ebenfalls nicht auf eine Annäherung der beiden deutschen Staaten hinaus, aber er hatte offensichtlich an der Vorstellung festgehalten, daß eine deutsche Wiedervereinigung unter kommunistischen Vorzeichen in einem überschaubaren Zeitraum möglich sein werde.
Honeckers „Bi-Nationen-Konzept“ wurde maßgeblich hervorgerufen durch die These der sozialliberalen Koalition von den „Zwei Staaten -Eine Nation“. Die neue Ost-und Deutschlandpolitik der bundesdeutschen Regierung seit 1969/70 drängte die SED in die Defensive und verstärkte ihre Abgrenzungsbestrebungen Damit ging einher, daß sie nun stärker internationale Prozesse und Entwicklungen als Interpretationshintergrund für die eigene Politik bemühte (Moskauer Konferenz 1969). Das blieb nicht ohne Folgen für die Geschichtswissenschaft.
Die These von den zwei deutschen Nationen in den zwei deutschen Staaten hatte in der DDR bis 1989 Bestand. Sowohl neuere Analysen als auch Erhebungen aus der DDR zeigen, daß zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit der DDR-Bevölkerung der offiziellen SED-Nationentheorie, die fester Bestandteil der täglichen Propaganda wie der Lehrinhalte an den unterschiedlichsten Ausbildungsstätten von den Schulen bis zu den Universitäten war, anhing Spätestens die Revolution von 1989 zeigte, daß dieses Nationenkonzept jeglicher Grundlagen entbehrte. Mit diesem Befund freilich ist nicht unterstellt, daß nicht während der deutschen Teilungsgeschichte nachwirkende Mentalitätsveränderungen einsetzten. SED-Politiker und SED-Gesellschaftswissenschaftler bemühten sich nahezu zwanzig Jahre, die Zwei-Nationen-Theorie theoretisch zu untermauern. Vor allem der Philosoph Alfred Kosing wurde nicht müde, immer wieder aufs neue zu begründen, warum es zwei deutsche Nationen, eine sozialistische und eine kapitalistische, gebe Noch kurz vor der Revolution 1989 behauptete er, daß die „Herausbildung und weitere Konsolidierung der sozialistischen deutschen Nation in der DDR ... ein gesetzmäßiger Prozeß“ sei Da diese Konzeptionen schon mehrmals dargestellt und analysiert worden sind sei im folgenden die Haltung der Historiker zur deutschen Nation skizziert.
III.
Der holländische Historiker Jan Herman Brinks veröffentlichte 1992 eine Studie, in der er eine verblüffende These vertrat: „Der Fall der Mauer überraschte mich nicht besonders, da dies meine zentrale These praktisch bestätigt hat. nämlich daß die DDR-Geschichtswissenschaft trotz programmatischer Abgrenzung seit Mitte der 70er Jahre wieder auf , Einheitskurs lag.“ In seiner Begründung meint Brinks u. a.: „Obwohl die frühe DDR-Geschichtswissenschaft programmatisch eine Wiedervereinigung Deutschlands propagiert hat, war in ihren Arbeiten die Abgrenzung vom anderen deutschen Staat vordergründig. Die DDR-Historiker setzten dann ab 1971 schwerpunktmäßig zwar auf Abgrenzung von der Bundesrepublik, aber durch ihre Berufung auf die ganze deutsche Geschichte lagen sie oftmals auf Einheitskurs. Die Frage, ob dies absichtlich oder aber , aus Versehen geschah, läßt sich auch im nachhinein nicht sicher beantworten, weil sie wissenschaftlich nicht meßbar ist.“
Diese These ist erstaunlich, weil Brinks nachvollziehbar feststellt, daß die „Geschichtswissenschaft in der DDR . . . die Fortsetzung der Politik mit historischen Mitteln“ war Das würde in der Konsequenz der Argumentation von Brinks allerdings bedeuten müssen, daß auch das Politbüro seit Mitte der siebziger Jahre auf Einheitskurs lag. Für die Absurdität einer solcher Behauptung -die Brinks freilich selbst inkonsequenterweise nicht aufstellt -sind nähere Beweise nicht nötig. Prüfen wir also die These, ob die DDR-Historiker auf „Einheitskurs lagen
Die Propagierung einer „sozialistischen deutschen Nation in der DDR“ stellte die SED-Führung abermals vor das Problem ihrer historischen Legitimierung. Die DDR als solche war ihrer Ansicht nach geschichtlich legitimiert. Nun bedurfte es neuer „Anstrengungen“, auch die Herausbildung eines neuen Nationtypus zu begründen Der Historiker Erik Hühns, Direktor des Märkischen Museums Berlin (Ost), hatte schon 1969 vier verschiedene Typen von Nationen ausgemacht, die er in „bürgerliche“, „sozialistische“, „befreite“ und „gespaltene“ einteilte *D*ie deutsche Nation rechnete Hühns den „gespaltenen“ zu. Nach 1971 erwies sich diese Einteilung wegen der neuen Politik als obsolet. Bis zum Ende der siebziger Jahre war die offizielle Geschichtspolitik darauf orientiert, die DDR stärker als bislang in den Kontext der Geschichte des „sozialistischen Weltsystems“ einzuordnen. Das machte es zwar einfacher, das Theorem von der „sozialistischen Nation“ übergreifend zu behandeln. Es entband sie allerdings nicht davon, die „sozialistische deutsche Nation“ historisch zu verorten und vor allem so darzustellen, daß dieses Konstrukt zum Bestandteil des allgemeinen Geschichtsbewußtseins werden würde. Das konnte wiederum, soweit herrschte Einigkeit, kaum ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gelingen.
Der DDR-Geschichtswissenschaft lag ein Kontinuum zugrunde: Geschichte wurde -wenn auch unter veränderten Umständen und mit verschiedenen Begrifflichkeiten -stets in „progressive“ und „reaktionäre“ Entwicklungen und Ereignisse eingeteilt. Bis zum Ende der sechziger Jahre beriefen sich die SED-Führung und die SED-Historiker darauf, Sachwalter und Fortsetzer alles „Positiven“ aus der deutschen Geschichte zu sein. Dazu zählten zum Beispiel die Geschichte der Arbeiterbewegung oder revolutionäre Bewegungen. Diese einseitige Geschichtspolitik vermochte es aber nicht, der DDR-Bevölkerung eine auf den Staat und die Gesellschaft gerichtete Identität zu vermitteln. Selbst die Versuche, eine solche mittels sozialstaatlicher Eingriffe breitenwirksam zu initiieren, scheiterten. Das führte Mitte der siebziger Jahre dazu, daß auch die Honecker-Administration wieder stärker bemüht war, Historie als Sinn-und Identitätsstifter zu bemühen. Noch bevor die Historiker hier aktiv wurden, hatten Kunsthistoriker, Denkmalschützer, Restauratoren und Architekten eine Diskussion begonnen, die als „Erbe-und Traditionsdebatte“ bekannt wurde Die Wiederentdeckung Preußens durch die SED war dabei nur ein manifester Höhepunkt des Rückbesinnens auf ein verschüttetes Erbe. Spielfilme, Theater-stücke, Bücher und vor allem wiederaufgestellte bzw. restaurierte Denkmäler verliehen plötzlich Preußen, Sachsen, Luther oder Bismarck neuen „Glanz und Gloria“
Die Historikerin Ingrid Mittenzwei, die sich später einen Namen als Biographin von Friedrich II. machte, eröffnete die Debatte der Historiker 1978 mit einem Aufsatz über „Die zwei Gesichter Preußens“ Mittenzwei wollte die Aufmerksamkeit auf bisher unbeachtete „positive“ Seiten in der preußischen Geschichte richten. In den folgenden Jahren erschienen eine Reihe von programmatischen Artikeln und eine Vielzahl von historischen Studien, die zeitlich vom Mittelalter bis zur jüngsten Gegenwart Aspekte der deutschen Geschichte neu befragten oder interpretierten Im Ergebnis sind einige, auch in Westdeutschland gelobte historische Bücher publiziert worden die für DDR-Verhältnisse eine ungewöhnlich breiten-wirksame Aufnahme bei der Leserschaft fanden. Prinzipiell stellten aber, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen, weder Ernst Engelbergs Bismarck-Biographie (Band 1: 1985), Ingrid Mittenzweis Friedrich-Biographie (1979), Gerhard Brendlers Luther-(1983) und Müntzer-Biographien (1989) noch die bedeutsame Brecht-Biographie (1986) des Literaturwissenschaftlers Werner Mittenzwei das herrschende Geschichtsbild ernsthaft in Frage. Allerdings fanden sich Differenzierungen, die zwar die allgemeine Dichotomie von „Schwarz“ und „Weiß“ nicht herausforderten, aber in Zwischenräumen Grautöne zuließen. Das gilt vor allem für die voluminöse Brecht-Biographie von Werner Mittenzwei, der es verstand, historische Ereignisse und Interpretationen in sein Werk einzubauen, die für die Historiker weitgehend „weiße Flecken“ darstellten
Prinzipiell galt aber für die Geschichtswissenschaft, daß die gesamte deutsche Geschichte bis 1945 Eingang in die „Nationalgeschichte der DDR“ finden sollte. Damit war der Anspruch verbunden, daß die deutsche Geschichte bis 1945 lediglich die Vorgeschichte der DDR darstelle, diese Vorgeschichte sich in ihren „positiven Bezügen“ gleichsam zur Geschichte bündele und die DDR selbst krönender Höhe-und Schlußpunkt der deutschen Geschichte sei. Um diese „positiven Bezüge“ deutlich machen zu können, bedurfte es der Unterscheidung zwischen „Erbe“ und „Tradition“. Unter Erbe verstand man die gesamte deutsche Geschichte, die als Ergebnis die DDR hervorgebracht habe „Demgegenüber gehören zur historischen Tradition oder zum Traditionsbild der DDR nur diejenigen historischen Entwicklungslinien, Erscheinungen und Tatsachen, auf denen die DDR beruht, deren Verkörperung sie darstellt, die sie bewahrt und fortführt. Tradition und Traditionsbild umfassen also nur einen Teil der Geschichte, nur einen Teil des gesamten Erbes.“ Damit war ein Konstrukt geschaffen worden, das politischen Richtungsänderungen jederzeit angepaßt werden konnte und zugleich „die gesicherten Klassenpositionen des marxistischen Geschichtsbildes zur Voraussetzung“ hatte
Die entscheidenen Zielrichtungen dieser Diskussionen bestanden darin, erstens ein „DDR-Nationalbewußtsein“ zu erzeugen, zweitens eine „DDRNationalgeschichte“ von den Ursprüngen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gegenwart schreiben zu können und drittens -weniger nachweisbar -innerwissenschaftlich verschüttete Räume und Zeiten für die marxistisch-leninistische Geschichtsforschung freizulegen.
In den achtziger Jahren waren sich die Teilnehmer an der Erbe-und Traditionsdebatte einig darüber, daß die sich in der DDR entwickelnde sozialistische deutsche Nation „eine von den Positionen des siegreichen Sozialismus auf deutschem Boden geschriebene Nationalgeschichte der DDR“ benötige Diesem Ziel sei alles unterzuordnen. Nun wäre zu fragen, inwiefern den beteiligten DDR-Historikern dieses Unterfangen gelungen ist Wichtiger aber ist die Frage, inwieweit die „Erbe-und Traditionsdebatte“ tatsächlich geschichtswissenschaftliche Ergebnisse hervorgebracht hat, die die herrschenden Geschichtsbilder ins Wanken gebracht hätten. So sehr aber gerade westdeutsche Beobachter in den achtziger Jahren der DDR-Geschichtswissenschaft immer wieder bescheinig-ten, was sich alles verändert habe, bleibt unter dem Strich davon nicht allzuviel zu konstatieren.
Die Geschichtsschreibung zu der DDR, der Bundesrepublik, der Arbeiterbewegung, zum Nationalsozialismus, zu der Weimarer Republik, der Sowjetunion, zum Stalinismus usw. blieb den alten Interpretationen verhaftet. Es kam fast einem Satyrspiel gleich und war zugleich charakteristisch für den inneren Zustand der DDR-Geschichtswissenschaft, als die DDR-Historikerschaft auf ihrem letzten Kongreß im Februar 1989 förmlich den Atem anhielt, weil sie nun kollektiv (nicht-öffentlich) zu der Erkenntnis gelangte bzw. gelangen durfte, daß es tatsächlich einen geheimen Zusatz-vertrag zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 gegeben habe
Wenn man dies einmal als das sinnfälligste Bild und auch als eines der Ergebnisse der „Erbe-und Traditionsdebatte“ nimmt, kommt man kaum umhin, festzustellen, daß das zwar vielleicht für die DDR-Geschichtswissenschaft einen „riesigen“ Schritt bedeutete, aber unter allgemeinen wissenschaftlichen Kriterien nach Jahrzehnten des Verschweigens jeder Seriosität entbehrte und lediglich den parteilichen Charakter der DDR-Geschichtswissenschaft offenlegte
Natürlich sind auch Ergebnisse vorgelegt worden, die heute noch Bestand haben. Es wäre allerdings zu fragen, ob diese Arbeiten tatsächlich erst durch die Erbe-und Traditionsdebatte möglich gemacht worden sind Vielmehr stellt sich der Eindruck ein, daß sie ganz unberührt von diesen Diskussionen zustande gekommen sind. Vor allem aber ist, um auf Brinks zurückzukommen, nirgends auszumachen, daß die verstärkte Hinwendung zu bisher vernachlässigten Themen einschneidende Veränderungen an der nationalen Konzeption der SED oder ihrer Geschichtswissenschaft bewirkt hätte. Eine Bismarck-Biographie an sich beispielsweise nur deshalb als Vorreiterin der deutschen Einheit anzusehen, weil der Autor die deutsche Einheit von 1870/71 als „historischen Fortschritt“ pries, scheint schon deshalb kaum möglich, wenn man bedenkt, daß der Autor von einem Standpunkt aus schrieb, der unmißverständlich die DDR zum Höhepunkt der deutschen Geschichte erkoren hatte
Die Zwei-Nationen-These wurde von den DDR-Historikern bis zum Herbst 1989 „historisch begründet“. Dazu zählte zum Beispiel, daß die Historiker ganz bewußt DDR-Identität mittels Heimat-und Regionalgeschichtsschreibung erzeugen wollten Der gesamten Debatte um „Erbe und Tradition“ lag keine andere Ursache zugrunde, als ein „DDR-Nationalbewußtsein“ zu stiften Gerade in der Zeit von 1987 bis 1989 bemühte sich eine Vielzahl von Historikern, daran mitzuwirken. Es erschienen die berüchtigten Thesen zur 750-Jahr-Feier Berlins, die zum 70. Jahrestag der KPD-Gründung und eine Vielzahl von historischen Darstellungen anläßlich dieser und anderer Jubiläen (z. B. 40. Jahrestag der DDR) bis hin zu einer Monographie über die „sozialistische deutsche Nation“ Auch wenn gerade die Thesen innerhalb der Historikerschaft hinter geschlossenen Türen zu Diskussionen geführt haben sollen, bleibt festzustellen, daß die Werke von DDR-Historikern nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt von historisch Interessierten zur Kenntnis genommen wurden. Die hohen Auflagenzahlen können darüber nicht hinwegtäuschen. Der Flop mit der „DDR-Nation“ zeigte sich schließlich 1989 auf eindrucksvolle Weise.
IV.
Im Juni 1989 wies der Historiker Joachim Hof-mann, Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften und stellvertretender Direktor des dortigen Instituts für die Geschichte der Arbeiterbewegung, in einem vertraulichen Papier die SED-Führung darauf hin, daß die Konsolidierung der „DDR-Nation“ erst dann als „relativ abgeschlossen gelten“ könne, wenn das nationale Selbstverständnis „im Alltagsbewußtsein der Bürger der DDR fest verankert und verinnerlicht ist“ Dazu gehöre, daß die Bürger sich mit dem sozialistischen deutschen Staat identifizieren. „Die Profilierung des nationalen Selbstverständnisses der Bürger der DDR erfordert unbedingt die Propagierung und praktische Realisierung der Werte und Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft. Deren Verinnerlichung ist eine zentrale Frage der Bewußtseinsentwicklung.“ Als erfolgreich für ein „massenwirksames Geschichtsbild“ habe sich das Erbe-und Traditionskonzept erwiesen. „Nach wie vor erforderlich ist die konsequente Auseinandersetzung mit gesamtdeutschen 1 Doktrinen und Illusionen.“ Nur Wochen nach der Niederschrift dieses „Strategiepapiers“ setzte sich ein Flüchtlingsstrom von Tausenden von Menschen in Bewegung, neue oppositionelle Gruppen, Bewegungen und Parteien formierten sich, und die ersten freien Groß-demonstrationen fanden statt. Plötzlich ging alles sehr schnell: Demonstrationen, Verhaftungen, Rücktritte und Maueröffnung. Mit der SED verschwanden zahlreiche Institutionen und Instanzen, die an die SED-Herrschaft gebunden waren. Auch die DDR-Geschichtswissenschaft verschwand, zwar nicht spur-und geräuschlos, aber als Institution hörte sie 1990 auf zu existieren.
Die DDR-Historiker hatten sich an der DDR-Revolution nicht beteiligt. Einige wenige versuchen mittlerweile den Eindruck zu vermitteln, als hätten sie jahrelang nichts sehnlicher gewünscht, als endlich die kommunistische Diktatur zu überwinden Die meisten Historiker sind von ihren alten Arbeitsplätzen entfernt worden, einige arbeiten an neuen, viele aber sind im Vorruhestand, sind Rentner und/oder betätigen sich in einem der im Umfeld der PDS angesiedelten historischen Vereine
Bis auf wenige Ausnahmen schweigen die SED-Historiker seit der Revolution beharrlich über ihre Rolle in der DDR Es konnte nicht erstaunen, daß die SED-Historiker seit Ende 1989 verstummten. Die „Zwei-Nationen-Theorie“ war buchstäblich über Nacht zusammengebrochen. Sie mußten mitansehen, wie zwei verschiedene Nationen auf dem Ku’damm tanzten, eine Sprache sprachen und feierten, als Willy Brandt die Worte sprach: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Der Historiker Helmut Bock erregte sich sogar noch am 26. April 1990 in Bonn darüber, daß die Mauer „unter Mißachtung der Volkskammer“ bedingungslos geöffnet worden sei
Erstaunlich war weniger, daß sich die Mehrzahl der Historiker, die doch angeblich die deutsche Einheit mitvorbereitet hatten passiv verhielten. Mehr Verwunderung rief hervor, wie schnell sich einige Genossen Gesellschaftswissenschaftler den neuen Verhältnissen anpaßten und alte Theorien über Bord warfen Rolf Badstübner stellte bereits am 21. November 1989 fest, daß „die Ansätze nationalen Eigenlebens in der DDR zu einer Zwei-Nationen-Theorie überzogen“ worden seien Walter Schmidt, der Nationentheoretiker neben Alfred Kosing kam am 29. November 1989 zu der Überzeugung, daß „die Wirkungen neuer ökonomischer, sozialer, politischer und ideologischer Faktoren auf Veränderungen des nationalen Bewußtseins der DDR-Bürger überbewertet“ worden seien Und Stefan Doernberg zählte es gar am 2. Januar 1990 zu den fatalsten politischen Fehlentscheidungen der SED, „daß sie das Weiterbestehen der deutschen Nation kurzerhand leugnete“ Für alle stand außer Frage, daß der DDR-Sozialismus erneuert werden müßte. In einen neuen deutschen Nationalstaat hätte die DDR einen „humanistischen und demokratischen Sozialismus“ einzubringen. Und sogar in der Bundesrepublik „gibt es progressive Errungenschaften, die zu erhalten und auszubauen sind“
Im Laufe des Jahres 1990 gerieten die SED-Historiker in immer stärkere Bedrängnis. Die in einer breiten Öffentlichkeit geführten Diskussionen mündeten schließlich in der allgemeinen Erkenntnis, daß die DDR-Geschichtswissenschaft zu den am stärksten belasteten Wissenschaften in der DDR überhaupt zählte. Es gab daher in der Tat nicht viel Lohnendes zu bewahren
Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967, M. A.; Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, sachverständiges Mitglied der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Veröffentlichungen u. a.: (Mithrsg.) Berlin -Mainzer Straße. „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992; (Hrsg.) Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Berlin 1994; (Hrsg. zus. mit Armin Mitter/Stefan Wolle) Der Tag X -17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 19962; (Hrsg. zus. mit Ulrike Poppe/Rainer Eckert) Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995; Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front (i. E.).
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